In der Online-Ausgabe der BILD-Zeitung wurde man mit dieser Meldung konfrontiert: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) verschärft die Gangart gegenüber Hartz-IV-Empfängern. Schärfer ahnden sollen die Ämter laut einer neuen internen BA-Weisung „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.« Das hat Spiegel Online aufgegriffen: Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren. Dort erfahren wir mit Bezug auf den BILD-Artikel, der sich wiederum auf eine neue Weisung der BA an die Jobcenter beruft: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will … schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.«
Was muss man sich denn darunter vorstellen – „sozialwidriges Verhalten“? Beginnen wir mit der „mildesten“ Variante, weil sie immer wieder gerne angeführt wird und sich vielen Beobachtern auch als ein bewusstes Fehlverhalten darstellt, das man ahnden kann/soll: »Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben«, die fallen unter diese Kategorie, wobei hier gar nicht thematisiert werden soll, dass es in praxi gar nicht so einfach ist, diesen Tatbestand eindeutig festzustellen.
Aber die neue Weisungslage hat es in sich: »Betroffen seien etwa Berufskraftfahrer, die den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verlieren und dann auf Hartz IV angewiesen sind … Die schärferen Bestimmungen könnten demnach auch Mütter treffen, die sich weigern, die Namen der Väter ihrer Kinder zu nennen. Denn dieser müsste möglicherweise Unterhalt zahlen, das Jobcenter müsste dann weniger Leistungen an die Mütter überweisen.«
An dieser Stelle mal provokativ gefragt: Da geht doch noch mehr. Wie wäre es mit Übergewichtigen, die durch ihr „sozialwidriges“, weil die Hilfebedürftigkeit verlängerndes Essverhalten, einen „Schaden“ verursachen, den man doch bitte zurückfordern muss? Und wenn man schon dabei ist – wie verhält es sich mit Ganzkörpertätowierten, die nicht in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen, weil die Arbeitgeber sie aufgrund der – nun ja – mehr oder weniger künstlerischen Veredelung der Hautpartien von vornherein ablehnen? Tragen die nicht auch zu einer Verlängerung und Aufrechterhaltung ihrer Hilfebedürftigkeit bei, weil sie sich ja durch ihre Entscheidung selbst ins arbeitsmarktliche Aus geschossen haben?
Was mit diesen Zuspitzungen angedeutet werden soll, liegt auf der Hand: Die offensichtlich in der Weisung genannten Beispiele sind eben in der Lebenswirklichkeit alles andere als eindeutige Fallkonstellationen, an die man derart schwerwiegende Rechtsfolgen binden kann (auch wenn man diese nicht grundsätzlich ablehnen, sondern für legitim halten würde). Nehmen wir das Beispiel Berufskraftfahrer: Dahinter steht die Vorstellung, dass der verantwortungsvoll handelt, wenn es um seinen Führerschein geht – und sollte er wegen Trunkenheit seinen Lappen verlieren, dann hat der die andere Seite, die ihm dann Unterstützung gewähren muss, bewusst geschädigt. So die Vorstellung – aber wie ist es, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, der aus welchen Gründen auch immer eine Suchtkrankheit ausgebildet hat und deswegen seinen Führerschein verloren hat. Bestrafen wir dann die Folgen einer Krankheit?
Die hier vorgebrachte Skepsis lässt sich auch auf ein anderes Beispiel, das ebenfalls in dem Artikel erwähnt wird, übertragen. Dort wird mit Blick auf Hartz IV-Empfänger ausgeführt: »Bisher konnten sie nur zur Rückerstattung gezwungen werden, wenn sie ihre Notlage selbst verursacht haben – etwa durch den Verlust ihres Vermögens beim Glücksspiel.«
Wohlgemerkt, das war bisher schon so – aber deshalb nicht etwa richtiger: Schon mal was von Spielsucht als Krankheit gehört? Das gleiche Problem wie bei unserem Berufskraftfahrer.
Und bezogen auf die Alleinerziehende, die den Namen des Vaters angeben soll, damit die Jobcenter versuchen können, sich dort das Geld für den Kindesunterhalt zu besorgen. Hört sich einfach an, ist es aber in vielen Fallkonstellationen nicht – vor allem nicht hinsichtlich der sowieso in der politischen Praxis viel zu selten bis gar nicht bedachten Konsequenzen: Was tun, wenn es mehrere potenzielle Väter gibt – müssen die alle angegeben werden und müssen sich die dann einem Vaterschaftstest unterziehen? Und wenn die Betroffene gar nicht angeben kann, welche potenziellen Kandidaten es gegen hat, dann kann das zum einen tatsächlich der Versuch sein, sich den Vorgaben des Gesetzgebers zu entziehen, so dass die Hilfebedürftigkeit selbst verursacht, aufrechterhalten oder erhöht wird. Es kann aber schlichtweg auch so sein, dass die Betroffene es nicht weiß, also nicht angeben kann. Und nun? Daumen hoch oder runter?
Ganz offensichtlich sieht die Bundesagentur für Arbeit selbst das hier angesprochene Dilemma. Denn in den Fachlichen Weisungen § 34 SGB II. Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten findet man u.a. diese „Erläuterung“ für die Jobcenter-Mitarbeiter. Unter der Überschrift „1. Eintritt der Ersatzpflicht“ findet man diesen Absatz:
»Nicht jedes vorwerfbare Verhalten ist als sozialwidrig im Sinne des § 34 einzustufen. Ein Ersatzanspruch besteht nur dann, wenn das Verhalten in seiner Handlungstendenz auf die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw. den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit gerichtet ist. Zwischen dem Verhalten und der Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II muss eine spezifische Beziehung oder ein innerer Zusammenhang bestehen. So führt beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund einer Inhaftierung nicht in jedem Fall zum Eintritt der Ersatzpflicht, wenn die strafbare Handlung keinen Bezug zu der Erwerbstätigkeit hatte … Auch die Tilgung eigener Schulden sowie riskante Vermögensanlagen, die zur Bedürftigkeit führen, sind nur dann sozialwidrig, wenn eine Handlungstendenz erkennbar ist, die auf die Herbeiführung der Bedürftigkeit abzielt.«
Das hört sich super konkret an und verspricht eine Menge Arbeit. Die ist auch mit so einer „fachlichen Weisung“ verbunden:
»War das schuldhafte Verhalten nur einer von mehreren Gründen, die zur Bewilligung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende geführt haben, findet § 34 nur Anwendung, wenn dieses Verhalten die überwiegende Ursache war.«
Viel Spaß bei der Differenzierung und den sich mit Sicherheit daraus ergebenden Widersprüchen und Klageverfahren.
Aber die Frage der (Un)Bestimmtheit dessen, was nun eigentlich „sozialwidriges Verhalten“ (noch nicht) ist, stellt nur das eine Problem dar. Das andere ist verbunden mit den massiven Verschärfungen, die diese Weisungen, die eine Umsetzung des gerade verabschiedeten 9. SGB II-Änderungsgesetzes darstellen, für die betroffenen Hartz IV-Empfänger darstellen.
Es sei hier erneut aus dem Artikel Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren zitiert:
»Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern … Ab sofort solle die Rückerstattung … auch für jene Fälle gelten, in denen die Betroffenen während des Hartz-IV-Bezugs nichts tun, um aus ihrer Notlage herauszukommen oder diese verschärfen.«
Und mit welchen Folgen?
»Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen … Selbst der Wert von Essensgutscheinen müsste dann erstattet werden … die Jobcenter … (können) künftig sämtliche Leistungen zurückverlangen. Das gelte auch für die gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.«
Fazit: Wir werden Zeugen einer ganz massiven und überaus fragwürdigen Rechtsverschärfung (unter dem Deckmantel einer als „Rechtsvereinfachung“ und „Bürokratieabbau“ gestarteten Änderung des SGB II). Diese Änderungen werden Quelle zahlreicher Streitigkeiten zwischen Betroffenen und der Jobcenter-Bürokratie sein, die als sichere Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Sozialgerichte fungieren werden.
Es geht hier noch nicht einmal „nur“ um die bereits von vielen kritisierten befristeten Sanktionen im Sinne einer temporären Reduzierung der Hartz IV-Leistungen, es geht hier um die bis auf drei Jahre rückwirkend mögliche Zurückforderung gezahlter Leistungen! Selbst – was der Perversion die Krone aufsetzt – Lebensmittelgutscheine, die bei Totalsanktionierung gewährt werden müssen, um das physische Überleben wenigstens zu sichern, müssen dann anteilig wieder „zurückgezahlt“ werden. Nicht nur eigentlich der totale Bankrott eines „Sozialstaates“.
Wurde das denn nicht im Vorfeld gesehen und kritisiert? Doch, natürlich wurde das im Gesetzgebungsverfahren thematisiert und scharf kritisiert – aber es wurde von der Mehrheit der Abgeordneten schlichtweg ignoriert und nicht korrigiert, was möglich gewesen wäre. Das alles ist gut dokumentiert, denn diese Kritik wurde beispielsweise verschriftlicht für die Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 stattgefunden hat. Die schriftlichen Stellungnahmen sind dokumentiert in der Ausschussdrucksache 18(11)649 vom 27. Mai 2016, dort findet man auf den Seiten 127-133 auch meine schriftliche Stellungnahme zum 9. SGB II-Änderungsgesetz.
Unter der Abschnittsüberschrift „Von einer (gute gemeinten?) Rechtsvereinfachung zu einer faktischen Rechtsverschärfung?“ auf S. 131 f. habe ich mit Blick auf das hier interessierende Thema folgende Ausführungen gemacht:
»Im § 34 SGB II – „Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten“ – sollen hoch problematische Änderungen vorgenommen werden, die faktisch zu einem neuen Sanktionsregime im SGB II führen würden … Die praktischen Folgen – auch mit Blick auf die Aufwandsseite der Jobcenter – müssen klar benannt werden: Neben den Sanktionen nach § 31 SGB II müsste nun immer zudem ein Ersatzanspruch – also ob grobe Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz vorzuwerfen ist – geprüft werden, wenn durch Verhalten, die Hilfebedürftigkeit nicht reduziert wurde … Die neue „Qualität“ dieser Regelung kann man sich so verdeutlichen: Bislang galt eine Ersatzpflicht nur in Ausnahmefällen, etwa bei kriminellen Handlungen. Neu wäre ein erhebliche Ausweitung dieser Ersatzpflicht, etwa bei „Erhöhung oder Aufrechterhaltung der Hilfebedürftigkeit“, zum Beispiel durch selbst verschuldeten Jobverlust. Aber wer die Praxis kennt weiß, dass die Feststellung, ob das jemand selbst verschuldet hat oder beispielsweise im Vorstellungsgespräch ein „sozialwidriges“ Verhalten an den Tag gelegt hat, eben nicht widerspruchsfrei und einfach zu treffen ist und durchaus auch eine missbräuchliche Inanspruchnahme dieses nur scheinbar eindeutigen Sachverhalts zuungunsten des Hilfebedürftigen möglich ist.
Die Härte dieser Regelung wird auch daran erkennbar, dass die Ausweitung des Ersatzanspruches selbst für Sachleistungen gilt, also Lebensmittelgutscheine, die Sanktionierte vom Jobcenter erhalten, damit sie nicht hungern müssen. Würde der Änderungsvorschlag aus dem Bundesarbeitsministerium umgesetzt, dann wäre so ein Lebensmittelgutscheine nicht mehr geschenkt, sondern muss dem Amt durch großzügige Aufrechnung von 30 Prozent des Regelbedarfes zurückgezahlt werden.
Eines kann man an dieser Stelle vorhersagen: Die Entgrenzung der „Ersatzansprüche“ bei „sozialwidrigem Verhalten“ wird zu mehr Widersprüchen und sozialgerichtlichen Verfahren, mithin also zu zusätzlichem Aufwand führen.«
Auch andere Sachverständige und Institutionen haben im Kontext der Anhörung und der Stellungnahmen kritisch auf diese massiven Rechtsverschärfungen hingewiesen. Es möge also keiner sagen, man habe das nicht kommen sehen.
Nachtrag: Eine gute Zusammenfassung mit Blick auf die Frage, was bislang galt und wo die Neuerungen liegen sowie unter Berücksichtigung der – nun ja – „interessanten“ Reaktion der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf die Berichte findet man in diesem Artikel von Florian Diekmann auf Spiegel Online: So hart können Hartz-IV-Empfänger nun bestraft werden.