Die Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung zwischen Behandlungsschein und Karte

Die Diskussion über die Flüchtlinge hat sich merklich verschoben: In den letzten Monaten ist die Zahl der Neuankömmlinge in Deutschland deutlich zurückgegangen, die Schließung der Balkan-Route und das Aufstauen der Flüchtlinge in Griechenland werden auch bei uns sichtbar. Nur noch wenige schaffen es bis auf den deutschen Boden. Auch die Medienberichterstattung reagiert auf die veränderte Lage – einerseits. So muss man derzeit immer öfter solche Berichte zur Kenntnis nehmen: Diese Unterkunft hat alles – außer genug Flüchtlinge: »Auf dem alten Flughafen in Calden steht eine der modernsten Flüchtlingseinrichtungen Hessens. Das Problem mit dem Millionenprojekt: Es wäre Platz für 1500 Zuwanderer da – doch kaum jemand kommt.« Und immer öfter auch solche Recherchenergebnisse: Flüchtlinge als Geschäftsmodell: »Viele Heimbetreiber kassieren absurd hohe Preise für die Unterbringung von Geflüchteten. Ahnungslose Städte und Landkreise sind ideale Geschäftspartner für die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften. Manche Kommunen zahlen dreimal so viel für die Unterbringung wie andere – und viele Städte wissen gar nicht, wie hoch ihre Kosten sind. Was läuft falsch?« 

Es ist auf der einen Seite immer wichtig, (mögliche) Verfehlungen oder gar Bereicherungen anzuprangern, auf der anderen Seite sollte einem unbefangenen Beobachter beispielsweise beim Blick auf die Abbildung klar werden, dass eine Planung von Unterbringungskapazitäten angesichts der erkennbaren Entwicklung äußerst schwierig ist. Die Kommunen haben es gleichsam mit einem überaus beweglichen Ziel zu tun. Noch am Ende des vergangenen Jahres mussten die Kommunen von deutlich höheren Zuweisungszahlen ausgehen, für die man entsprechende Unterbringungen planen und organisieren musste – und nun oftmals für mehr Menschen, als dann tatsächlich in den Wochen seit dem Jahresbeginn gekommen sind. Aber kann man wirklich jetzt, im Mai 2016, annehmen, dass der Rückgang der Zahlen anhält? Oder könnt es auch wieder aufwärts gehen, wenn das Wetter besser wird und alternative Routen zur geschlossenen Balkan-Route gefunden und benutzt werden? Wer kann das heute wirklich abschätzen?

Auf der anderen Seite verschafft das eigentlich die dringend notwendige Luft, die Verhältnisse hier im Land zu ordnen und  in den Griff zu bekommen. Aber auch mit Blick auf die bereits vorhandenen Flüchtlinge stellt sich die aktuelle Lage mehr als unübersichtlich dar.

Das Bamf bleibt im Stress, berichtet Anna Reimann: »Deutlich weniger Flüchtlinge kommen nach Deutschland, aber die Schlüsselbehörde Bamf steht weiter unter Druck. Der Berg der Asylanträge wächst.«
Dazu passen dann leider solche Meldungen: Arbeitskreis Asyl kritisiert Bearbeitungsdauer. Gemeint ist das Beispiel Rheinland-Pfalz:

»Der Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz hält die Bearbeitungszeiten für Asylanträge weiterhin für unzumutbar. Die Fristen zwischen Antragstellung und Entscheid seien in den vergangenen Monaten in vielen rheinland-pfälzischen Regionen gestiegen. Der Arbeitskreis stützt seine Kritik nach eigenen Angaben auf Zahlen der Bundesregierung. Demnach vergingen zum Beispiel in der Trierer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aktuell im Schnitt zwei Jahre, bis somalische und pakistanische Flüchtlinge einen Bescheid bekämen, bei Iranern summiere sich die Wartezeit auf zweieinhalb Jahre.«

Und zu den großen Baustellen gehört natürlich auch die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge. Das ist nicht nur mit Blick auf jeden einzelnen Betroffenen ein originär sozialpolitisches Thema, sondern auch angesichts des „Vergiftungspotenzials“ für die gesellschaftliche Debatte. Immer wieder wird man konfrontiert mit Aussagen, die in die Richtung gehen, dass die Flüchtlinge, kaum sind sie hier, sich ein Rundumversorgungspaket abholen können und medizinische und andere gesundheitsbezogene Leistungen bekommen, auf die auch der „Normalbürger“ einen Anspruch hat. Ebenfalls immer wieder kritisiert werden die Auswirkungen auf den Krankenkassenbeitrag, denn darüber müssen die Leistungen für die Flüchtlinge finanziert werden, so ein immer wieder kolportierter Vorwurf.
Nun könnte und muss man an dieser Stelle einwerfen, so einfach ist es dann doch nicht. In den ersten 15 Monaten stehen den Flüchtlingen/Asylbewerbern eben nicht die gleichen Leistungen des Gesundheitssystems wie den normal Versicherten zu.
Wie sieht es wirklich aus mit den Leistungen? Dazu die Hinweise auf der Website www.gesundheit-gefluechtete.info:

»Der Leistungsumfang der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter ist in den §§ 4, 6 AsylbLG geregelt. Eine medizinische Versorgung ist im Krankheitsfall (bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen) mit ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung zu gewährleisten, einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen. Zudem sind die amtlich empfohlenen Schutzimpfungen inbegriffen, ebenso wie alle Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt (Vgl. § 4 AsylbLG). Darüber hinaus können laut der Öffnungsklausel § 6 AsylbLG „sonstige Leistungen […] insbesondere […] wenn sie im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerläßlich“ sind, abgerechnet werden.«

Mit Blick auf den letzten Passus in dem Zitat hat Irene Berres in ihrem Artikel So werden Flüchtlinge medizinisch versorgt ausgeführt: »Alles kann, kaum etwas muss.« Und wer entscheidet das? Die Kommunen finanzieren und organisieren die gesundheitliche Versorgung in den ersten Monaten des Aufenthalts. Wie diese geregelt ist, kann deshalb von Ort zu Ort unterschiedlich sein und ist es auch.
Daraus resultiert wieder einmal eine unübersichtliche Situation, die bereits in dem Beitrag Der föderale Flickenteppich und die Flüchtlinge: Die einen kriegen eine Chipkarte, die anderen müssen zum Amt. Am Gelde hängt’s vom 10. März 2016 angesprochen wurde. Der Normalfall sieht so aus, dass die Flüchtlinge in den Sozial- bzw. teilweise damit betrauten Gesundheitsämtern eine Behandlungsschein beantragen müssen. »In der Regel urteilen in den Ämtern keine Ärzte, sondern nicht fachkundige Sachbearbeiter darüber, wie sehr eine Behandlung drängt. „Die Gefahr, dass gesundheitliche Risiken falsch eingeschätzt werden, ist hoch, gerade auch bei kranken Kindern“, kritisierte die Ethikkommission der Bundesärztekammer bereits 2013. Fehlende notwendige Behandlungen könnten Krankheiten chronifizieren, zu Folgeschäden führen und teurere Therapien nach sich ziehen«, berichtet Irene Berres in ihrem Artikel
»Viele Flüchtlinge brauchen für einen Arztbesuch einen Behandlungsschein vom Amt. Die Gesundheitskarte sollte das Verfahren vereinfachen, doch viele Kommunen sind dagegen«, so der Artikel Warten auf die Gesundheitskarte für Flüchtlinge. Die Einführung einer Gesundheitskarte für Geflüchtete kommt nur sehr schleppend voran.

»Zu uneinig sind sich die zuständigen Bundesländer und Kommunen. Flächendeckend eingeführt ist die Krankenversichertenkarte für Asylbewerber bisher nur in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin sowie in Schleswig-Holstein. Einige andere Länder haben zwar die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen, ihre Kommunen setzen sie aber nicht um … .«

Hauptgrund dafür bei vielen Kommunen ist die Befürchtung höherer Kosten. 


»Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen  …  haben mit den Krankenkassen zwar entsprechende Rahmenvereinbarungen geschlossen, umgesetzt werden müssen die aber von den Kommunen – und in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz zieht bislang keine einzige Kommune mit. In Nordrhein-Westfalen sind es von 396 Kommunen bislang nur 20, die meisten davon größere Städte.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Erfolgsmodell an. Natürlich geht es vor allem ums Geld: »Die Kommunalverbände ärgern sich über hohe Zusatzkosten durch die Verwaltungspauschale von acht Prozent für die Krankenkassen.«
Das wird auch aus Rheinland-Pfalz vorgetragen, so Anfang Mai 2016 in diesem Artikel: Kommunen beklagen hohe Kosten:

»Am 2. Februar hatten das Sozial- und Gesundheitsministerium sowie zehn Krankenkassen eine Rahmenvereinbarung zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge unterzeichnet. Danach erstatten die Landkreise und Städte den Kassen die Leistungen für die ihnen zugewiesenen Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für die entstehenden Verwaltungskosten zahlen die Kommunen zusätzlich einen Satz von acht Prozent der Kosten für die medizinische Leistung. „Das ist viel zu teuer“, kritisiert der Geschäftsführende Direktor des Landkreistags, Burkhard Müller. Zudem gebe es technische Probleme, um über die Karte sicherzustellen, dass Asylbewerber nur Anspruch haben, akute Erkrankungen und Schmerzen behandeln zu lassen – während die elektronische Gesundheitskarte der sonstigen Kassenpatienten einen größeren Leistungsumfang ermöglicht. Damit seien „Manipulationen Tür und Tor geöffnet“, befürchtet Müller.«

Aus Pirmasens wird berichtet, dass es vier bis fünf Mal teurer wäre, wenn man die Gesundheitskarte einführen würde. Das bisherige Verfahren sei bei den Verwaltungskosten einfach günstiger.
Auch aus Nordrhein-Westfalen erreichen uns vergleichbare Meldungen: Gesundheitskarte bisher nur in wenigen Kommunen:

»Die kleine Karte macht den Unterschied – für das Sozialamt und für etwa 500 Flüchtlinge im rheinischen Alsdorf. „Die Entlastung für die Behörde ist spürbar“, sagt ein Mitarbeiter des Sozialamts in einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa. Die 50.000-Einwohner-Kommune bei Aachen hat zu Jahresbeginn die Krankenversichertenkarte für Flüchtlinge eingeführt. Sie sind nun direkt bei einer Krankenkasse versichert und müssen nicht erst auf dem Amt einen Behandlungsschein für den Gang zum Arzt holen.
Das Ziel: eine bessere Gesundheitsversorgung der Neuankömmlinge und eine Entlastung der Behörden. Vor allem große Städte setzen darauf: Köln, Düsseldorf, Bochum, Münster, Bonn und Oberhausen machen mit. Düsseldorf hat inzwischen etwa 5.000 Karten ausgegeben.«

Aber warum dann nur in einer Minderheit der Kommunen, denn nur 20 von 396 NRW-Kommunen haben sich bislang entschlossen, ihren Flüchtlingen eine Gesundheitskarte zu geben?
»Die kommunalen NRW-Spitzenverbände halten die Vereinbarung für zu teuer. Durch die Verwaltungspauschale von acht Prozent entstünden „extrem hohe Zusatzkosten“, bemängelt der Städte- und Gemeindebund NRW, der für 359 Kommunen spricht … Hinzu komme das Haftungsrisiko bei Missbrauch oder Verlust der Gesundheitskarte.«
Aber die anderen, die den Schritt gewagt haben, hören sich gar nicht so pessimistisch an, wie das Beispiel Monheim verdeutlicht (»Als erste hatte Monheim am Rhein, ein wohlhabende kleine Stadt im Süden von Düsseldorf, die Einführung der Gesundheitskarte für die derzeit 676 Flüchtlinge beschlossen. Die Bilanz sei rundum positiv, erklärt Dietmar Marx, Abteilungsleiter Soziales im Rathaus: eine Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter, Ärzte haben weniger Rückfragen, die Kooperation mit der Krankenkasse läuft«):

»Viele Kommunen in NRW zahlen pro Flüchtling zunächst einen Abschlag von 200 Euro pro Monat auf zu erwartenden Gesundheitskosten. Abgerechnet wird hinterher. Die Verantwortlichen in Monheim haben spitz gerechnet und mit der Krankenkasse eine Pauschale von 130 Euro pro Flüchtling und Monat vereinbart. Weniger als andere. Nach dem ersten Quartal gab es Geld zurück. Und sollte der Abschlag doch nicht ausreichen, wird er wieder erhöht.«

Nach 15 Monaten ist das vorbei. Dann haben die betroffenen Menschen einen Anspruch auf eine „normale“ Krankenversicherung – und die ist dann bekanntlich mit der Karte. 
Und auch bei der Finanzierung kann (teilweise) Entwarnung gegeben werden. Entweder der Flüchtling arbeitet und führt auf seinen Lohn den Sozialversicherungsbeitrag ab. Oder aber er oder sie befinden sich unter dem Dach der Jobcenter (nach der Anerkennung als Asylberechtigter) und die zahlen dann eine Pauschale in Höhe von 90 Euro pro Monat an die Krankenversicherung. Ob das nun wiederum ausreicht, um die Kosten zu decken, wäre eine eigene Diskussion. Auf alle Fälle ist das dann kein originäres Flüchtlingsproblem, denn wenn es eine Unterdeckung durch die staatlich vorgegebenen Pauschalen gibt, dann ist das ein Problem, dass letztendlich alle Hartz IV-Empfänger treffen würde – und auch wieder nicht, denn es handelt sich ja immer um Durchschnittsbeträge über alle Angehörige einer bestimmten Personengruppe.

Sozialpolitik besteht aus Fortsetzungsgeschichten. Über die hübsch verpackte, aber gefährliche Rutschbahn in eine individualisierte Krankenversicherungswelt

In mehreren Beiträgen wurde hier bereits auf eine gefährliche Entwicklungslinie in der Krankenversicherungswelt aufmerksam gemacht: So wurde am 12. Juli 2015 der Beitrag Die Entsolidarisierung kommt auf leisen Sohlen, oftmals unbeachtet, weil so abseitig, dann aber Fahrt aufnehmend und ein ganzes System verändernd. Beispielsweise die Krankenversicherung veröffentlicht. Daran anschließend am 14. August 2015 der Artikel Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems. Und aus dem laufenden Jahr sei auf diesen Beitrag hingewiesen, in dem auch das „Rutschbahn-Bild“ schon in der Überschrift auftaucht: Das war ja zu erwarten. Krankenkassen wollen Fitnessdaten nutzen. Auf der Rutschbahn in eine Welt, die nur am Anfang nett daherkommen wird vom 9. Februar 2016. Der Kern des kritischen Blicks auf die Entwicklung im Bereich der individuellen Gesundheitsdaten und des (möglichen) Zugriffs der Krankenkassen darauf wurde in diesem Interview mit mir herausgearbeitet: „Eine fundamentale Endsolidarisierung“. Krankheiten sind nicht nur Ausdruck der eigenen Lebensführung. Bezugnehmend auf das wachsende Interesse der Versicherungswirtschaft, künftig auf die mit Fitnessarmbändern, Smartphone oder Smartwatch gewonnenen Gesundheitsdaten der Versicherten zugreifen zu wollen – wobei das gerade am Anfang nur positiv verkauft bzw. verpackt wird, um das (mögliche) eigentliche, langfristige Interesse zu überdecken (vgl. dazu nur als ein Beispiel so ein Artikel: Jeder Vierte läuft mit digitalem Fitness-Helfer: »Digitale Trainingsunterstützung liegt im Trend – und das nicht nur bei der technikaffinen Jugend, sondern auch bei älteren Menschen.
Insbesondere in der Reha könnten Apps & Co. zur Motivation beitragen.« Wer kann was dagegen haben, wenn die Effektivität der Reha-Maßnahmen durch diese neue Instrumente verbessert wird? Das nützt doch den Patienten – sei hier auf mein Hauptargument verwiesen:

»Wir werden auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt. Am Ende steht die Verwirklichung einer radikalen Individualisierung der Krankenversicherung, bei der immer passgenauer nach »guten« und »schlechten« Risiken differenziert werden kann. Wobei die Definition von Risiken von übergeordneten, der Schadensökonomie verpflichteten Maßstäben bestimmt sein wird.« Und weiter hinsichtlich des derzeit bei der Verkaufe der neuen Ansätze als positiv daherkommendes eingesetzte Argument, dass das ein positiver Ansatz sei, weil man doch die individuelle Gesundgerhaltung und Vermeidung von Krankheitsfällen fördere: Das setzt voraus, »dass „Gesundheit“ bzw. „Krankheit“ ausschließlich individuell determiniert und dann auch noch durch persönliche Aktivitäten beeinflussbar ist. Aber viele Erkrankungen sind genetisch oder – weitaus komplexer und gefährlicher für die Betroffenen – durch die Lebenslagen bestimmt. Im Ergebnis muss das dazu führen, dass die „guten Risiken“ auch noch finanziell entlastet und die anderen noch stärker belastet oder gar irgendwann einmal ausgeschlossen werden. Der Sozialversicherungscharakter würde so ad absurdum geführt.«

Ein wichtiges Argument, warum die Versicherungswirtschaft so ein Interesse an dieser Entwicklung haben muss, lautet: Es »ist auf alle Fälle versicherungsbetriebswirtschaftlich überaus rational, denn durch die umfassende Preisgabe immer mehr persönlicher Messwerte verlieren die Versicherten ihren »Vorteil«, mehr über sich zu wissen als die Versicherungen – das war und ist bislang das größte Hindernis für eine risikobezogene Differenzierung der Beiträge.«

Wir sind in diesem Fall konfrontiert mit einer echten versicherungsökonomischen Herausforderung, auch bekannt als „asymmetrische Information“ zwischen den Versicherten und den Versicherungsunternehmen, die im Fall der privaten Krankenversicherungen – wenn überhaupt – nur in der Lage sind, wahrscheinlichkeitsstatistisch abgeleitete Aussagen über das Kollektiv oder eine bestimmte Kohorte machen zu können. In diesem Kontext wird dann auch verständlich, warum man so ein großes Interesse an der elektronischen Patientenakte und den dort abgelegten Daten über die individuelle Krankheitsbiografie hat oder haben könnte – und warum es in dieser Systemlogik „wunderbar“ wäre, wenn die individuellen Daten zu dem, was schon passiert ist, verknüpft werden könnten mit Daten zum Lebenswandel, aus denen man individuelle Risikoprofile für die Zukunft ableiten könnte:

»Die eigentliche Herausforderung ist die elektronische Patientenakte: Man muss man verhindern, dass die Krankheitsbiographie – und die Lebensstildaten – hier abgelegt werden. Wenn das erst einmal passiert, dann bekommt man die Verwertungs- und Missbrauchsinteressen kaum noch in den Griff. Es beginnt mit Beitragsvorteilen für die einen und wird in einer fundamentalen Entsolidarisierung der Krankenversicherung enden.«

Offensichtlich stehe ich nicht allein mit dieser für den einen oder anderen gerade in der aktuellen Frühphase der Entwicklung eher übertrieben bis apokalyptisch daherkommenden Sichtweise auf ein Feld, das derzeit doch ganz überwiegend und gestützt von entsprechenden Marketingaktivitäten als eine „schöne neue Welt“ der individuellen Gesundheitsoptimierung gemalt wird.
Nicola Jentzsch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat das Anfang Februar 2016 in ihrem Kommentar Auflösung der Privatsphäre – Ende der Solidarität? aufgegriffen und mit er ökonomischen Diskussion verzahnt:

»Ökonomen kennen die scheinbar freiwillige Offenlegung ökonomisch relevanter Informationen seit den 80er Jahren aus Signalspielen. Sie ist unter dem Namen Unraveling (englisch für Auflösung, Aufdeckung) bekannt. Sobald Akteure einen Anreiz haben, verifizierbare Informationen offenzulegen, werden die „besten Typen“ (jene mit besonders gutem Signal) dies auch tun. Dies wären im Versicherungsbeispiel alle aktiven Sportler. Jeder, der nicht offenlegt, wird mit den „schlechten Typen“ in einen Topf geworfen und muss einen höheren Preis bezahlen. Um dies zu verhindern, werden immer mehr Menschen ihre Daten preisgeben, schon weil sie sich hohe Tarife nicht leisten können oder wollen.«

Und sie verweist auf die großen „Fragen nach Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität in Bezug auf Unraveling“, wenn sie schreibt:

»So besteht die Gefahr, dass für manche Versicherten die Preise durch die zunehmende Tarifdifferenzierung steigen. Sollte dies eintreten, wäre zu fragen, wieviel Solidarität und Privatsphäre wir Effizienzgewinnen opfern wollen. Zwei Beispiele hierzu. Eine alleinerziehende, erwerbstätige Mutter mit zwei Kindern wird wohl kaum die Zeit und Energie finden, fünf Mal die Woche zu trainieren. Soll sie statt beim Fitnesstraining bei der Hausarbeit überwacht werden? Ein sehr fitter Sportler, der einen Ermüdungsbruch erleidet und auf ärztlichen Rat hin nicht mehr fünf Mal die Woche trainiert (obwohl er gerne würde und dies in der Vergangenheit nachweislich getan hat), soll der ab jetzt mehr bezahlen? Wie weit soll Personalisierung in diese Lebenssituationen vordringen?
Ist der Unraveling-Prozess einmal in Gang gekommen, ist er nur schwer aufzuhalten, zumal Offenlegung zu einer sozialen Norm werden könnte, sobald das Gegenteil mit Stigma belegt ist.«

Nun wird der eine oder andere einwenden: Alles Theorie und Spekulation. Gibt es denn schon heute Hinweise aus der Realität, die das angesprochene Gefahrenpotenzial belegen können?

Die gibt es, in Form vieler Indizien, die man zitieren kann, wenn man will. Eine kleine Auswahl – mit einem besonderen Blick auf die Problematik, die sich aus einer sukzessive im Ausbau befindlichen zentralen Speicherung individueller Daten ergeben (können), wo die „Lebensstil“-Daten, die über Apps und andere Formen erhoben werden, nur ein Teil der relevanten Datensammlung darstellen:
Die Nachrichtenagentur dpa berichtete am 12. März 216: Datenleck bei der Barmer – Krankenkasse widerspricht:

»Bei Deutschlands zweitgrößter Krankenkasse Barmer GEK gibt es nach einem Bericht der „Rheinischen Post“ ein Datenleck. Unbefugte können demnach durch das Vortäuschen einer falschen Identität mit wenigen Telefonaten und ein paar Mausklicks Details zu Diagnosen, verordneten Arzneien, Klinikaufenthalten und andere intime Informationen abfragen. Einem von der Zeitung beauftragten Tester sei es gelungen, sich über einen Online-Zugang der Kasse in Patientendaten einzuloggen.«

Jeder, der sich mit den modernen Datensystemen etwas intensiver beschäftigt hat, weiß um die Fragwürdigkeit, wenn nach außen Sicherheitsgarantien abgegeben werden, dass man nicht auf personenbezogene Daten zugreifen könne (und damit ist noch nicht einmal das langfristige Risiko angesprochen, dass sich aus solchen Datensammlungen ergeben könnte, wenn denn einmal die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die (bisherige Nicht-)Nutzung verschoben werden).

Ein weiteres Beispiel aus der realen Welt: Am 25. Februar konnten man in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung diesen Artikel von Claus Hulverscheidt lesen: „Plötzlich drogensüchtig. Patientendaten-Klau in den USA zeigt Risiko der Gesundheitskarte“. Zeitgleich erschien in der FAZ dieser Beitrag: „Hacker erbeuten Patientenakten. Schaden von 20 Milliarden Dollar / Der Schwarzmarkt blüht“. Was ist passiert? Dazu Hulverscheidt:

»Der sogenannte Identitätsdiebstahl ist in den USA schon länger einer der am schnellsten wachsenden Kriminalitätsbereiche – nun aber erreicht er eine neue, manchmal lebensgefährliche Dimension: Immer öfter werden die Daten von Krankenversicherten entwendet, die seit Inkrafttreten der großen Gesundheitsreform von 2010 elektronisch gespeichert werden. Weit mehr als 2,3 Millionen Amerikaner sind nach einer Studie des Forschungsinstituts Ponemon von den Diebstählen betroffen. Auch für die deutschen Behörden, die seit Jahren die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für die Krankenversicherten vorantreiben, ist das eine alarmierende Nachricht.
„Der Raub medizinischer Identitäten bringt Kriminellen heute erheblich mehr Geld ein als etwa der Klau von Bankdaten“, sagt Ann Patterson von der Verbraucherschutzorganisation Medical Identity Fraud Alliance. Wichtigster Grund: Während sich Scheck- oder Kreditkarten bei einem Betrugsverdacht rasch sperren lassen, fällt der Diebstahl einer medizinischen Identität oft monatelang nicht auf. In dieser Zeit ordern die Diebe in großem Stil rezeptpflichtige Medikamente, die sie weiterverhökern, etwa an Drogensüchtige. Andere verkaufen die Identitäten an Kranke, die sich keine Versicherung leisten können, wieder andere rechnen Leistungen ab, die niemand erhalten hat, oder erschwindeln staatliche Zuschüsse.«

Und das hat heute schon in den USA ganz handfeste Konsequenzen für die davon Betroffenen:

»Erfährt der betroffene Patient von dem Diebstahl, etwa bei der Quartalsmitteilung seines Versicherers, hat er oft größte Mühe, die korrekten und die fälschlich unter seinem Namen abgerechneten Posten wieder voneinander zu trennen. In zwei Dritteln aller Fälle bleibt er auf einem Teil des Schadens sitzen, laut Ponemon-Studie sind es im Schnitt 13500 Dollar. Manche Patienten gelten plötzlich als Drogensüchtige oder als Raucher, doch selbst damit nicht genug: Durch die Vermischung von echten und gefälschten Krankendaten kommt es zu Fehldiagnosen, Behandlungsfehlern und anderen gravierenden Gesundheitsgefahren. „Im schlimmsten Fall erhält jemand bei einem Unfall eine Bluttransfusion der falschen Blutgruppe, weil seine Daten geändert wurden“, sagt Steve Weisgerber, Jura-Professor an der Bentley-Universität in Massachusetts.«

Aber die elektronische Patientenakte bei uns in Deutschland wird sicher ganz sicher sein.

Und auf eine komplementäre Entwicklung hinsichtlich der Individualisierung und einer damit einhergehenden Verhaltens- und Tarifdifferenzierung in „gute“ und „schlechte“ Risiken in einem anderen Zweig der Versicherungswirtschaft muss hier hingewiesen werden – und wir erkennen die gleichen Strukturmuster wie im Bereich der Krankenversicherungen:
Philipp Seibt, Fabian Reinbold und Florian Müller haben ihren Artikel kurz und knapp so überschrieben: Daten her, Geld zurück: »Ob Auto oder Gesundheit: Immer mehr Versicherer bieten Überwachungs-Tarife an. Wer sich ausspähen lässt und brav ist, zahlt weniger.«  Immer mehr Versicherungen bieten ihren Kunden Daten-Deals an, bei denen für die Überwachung Rabatte winken. Das könnte letztlich zum Problem werden für die, die ihre Daten nicht preisgeben wollen.

»Nun hat die größte deutsche Versicherung Allianz ihren ersten sogenannten Telematik-Tarif für die Kfz-Versicherung vorgestellt. Dabei geht es um die Kontrolle des Fahrverhaltens und einen Bonus für vorsichtiges Fahren. Es ist ein Zeichen: Nach einigen kleineren Versicherungen setzt nun auch der Marktführer auf die Daten der Kunden. Die Versicherer haben mit ihren Produkten insbesondere eine junge, technikaffine Zielgruppe im Blick. Da ist vom „Spartarif“ die Rede, von „Preisnachlässen“, „Prämien“ und „Belohnungen“. Zur Zielgruppe passt es, dass viele Angebote mit Smartphone-Apps funktionieren.«

Und auch der größte deutsche Autoversicherer – gemessen an der Zahl der Versicherten – hat sich hier positioniert: Am 21.04.2016 konnte man der Print-Ausgabe der FAZ diesen Artikel entnehmen: „HUK-Coburg durchleuchtet Autofahrer“. Für die bedeutet das neue Angebot neben dem Einbau einer kleinen schwarzen Box ins eigene Auto: »Um den Vorteil eines günstigeren Tarifs zu erhalten, müssen sie einwilligen, dass die Black Box rund um die Uhr Daten über den Fahrstil sammelt, dass permanent aufgezeichnet wird, wie stark der Fahrer beschleunigt oder wie rasant er die Kurven nimmt. Aus alledem errechnet die Versicherung einen Punktewert, der in die Versicherungsprämie einfließt.«

Bei der Kfz-Versicherung lassen sich so bis zu 40 Prozent der Versicherungsprämie sparen. Hört sich doch erst einmal nach einem guten Geschäft an, aber: Die Kopplung der Versicherungsprämie an die Herausgabe von Daten kann problematisch werden, »wenn es kein Bonus mehr ist für die, die mit freiwilliger Einwilligung mitmachen, sondern ein Malus für die, die nicht mitmachen wollen«, wird die Datenschutzbeauftragte des Landes NRW, Helga Block, zitiert.

»Zugespitzt formuliert: Wenn alle gesunden, sportlichen Vorzeige-Autofahrer im Daten-Tarif sind, dann bleiben in den normalen Tarifen nur noch die rauchenden Raser übrig – und die, die ihre Daten nicht hergeben wollen. Für die könnte es dann langfristig teurer werden«, so Seibt et al. in ihrem Artikel.

Man könnte diese Liste mühelos verlängern. Zumindest sind das wichtige Hinweise darauf, dass man diesen Entwicklungen, gerade weil sie am Anfang so positiv daherkommen und kommuniziert werden und bei vielen individualisierten Menschen sicher auch auf fruchtbaren Boden fallen,  kritisch-reflektierend gegenüber stehen sollte.

Berichte aus der Welt der Privaten Krankenversicherung (PKV) verdeutlichen, wie anschlussfähig das Thema ist hinsichtlich der strategischen Ausrichtung, die dort diskutiert oder vorhergesehen wird. Dazu beispielsweise der Artikel PKV sieht sich als Gesundheitscoach: »Tarife von der Stange? Die wird es in der PKV nach einer Studie künftig nicht mehr geben. Die Branche setzt vielmehr auf individuelle Tarife und Gesundheitscoaching.« Und aus einer Studie zur Zukunft der PKV, erstellt vom Software-Hersteller Adcubum und dem Assekuranz-Dienstleister Versicherungsforen Leipzig, wird das zitiert: »Etwas mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer hält es für wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich, dass sich die Produkte der Krankenversicherer weg von starren Tarifen hin zu personenbezogenen Tarifen bewegen, bei denen die Tarifierung auf den zur Verfügung gestellten Gesundheitsdaten basiert.«

Eine kritische Perspektive taucht auch immer öfter im politischen Raum auf: Unter der Überschrift Geld gegen Gesundheitsdaten berichtet der Deutschlandfunk: »Erste Krankenkassen bieten sie bereits an: Boni-Programme für Kunden, die mit Fitness-Apps jeden Klimmzug vermessen. Nicht nur bei Datenschützern sind die Anwendungen umstritten. Für klare Regeln setzen sich auch Gesundheitsexperten im Bundestag ein.« Und weiter erfahren wir:

»Die Entwicklung ruft Datenschützer wie Gesundheitspolitiker auf den Plan. Experten von Bund und Ländern warnten am Donnerstag auf einer Konferenz in Schwerin vor „Risiken, insbesondere für das Persönlichkeitsrecht“. Zahlreiche Gesundheits-Apps und andere Fitness-Tracker gäben die aufgezeichneten Daten an andere Personen oder Stellen weiter, ohne dass die Nutzer hiervon wüssten, heißt es in einer Erklärung der Datenschutz-Beauftragten.

Auch die gezielte Nutzung solcher Daten durch Krankenkassen stößt bei den Bund-Länder-Experten auf Vorbehalte: Die Konferenzteilnehmer rufen die Politik auf zu prüfen, ob im Zusammenhang mit Fitness-Apps und anderen Geräten zur Selbstvermessung „die Möglichkeit beschränkt werden sollte, materielle Vorteile von der Einwilligung in die Verwendung von Gesundheitsdaten abhängig zu machen“. Im Klartext: Ob das Tauschgeschäft Daten gegen Prämien gesetzlich geregelt werden muss.«

Die in dem Zitat angesprochene Entschließung der Datenschutz-Beauftragten geht zurück auf die 91. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder am 6./7. April 2016 und ist überschrieben mit: Wearables und Gesundheits-Apps – Sensible Gesundheitsdaten effektiv schützen!

Für die Wissenschaft tun sich hier übrigens ganz neue und spannende Forschungsfragen und damit neue Betätigungsfelder auf: Wie werden die Menschen mit der zunehmenden individualisierenden datentechnischen Abbildung ihres Lebens umgehen, wenn ein Teil von ihnen begriffen hat, in welches Korsett sie hier gelockt worden sind bzw. werden? Wird es Umgehungsstrategien geben, werden sie manipulativ gegenzusteuern versuchen? Was ist mit denen, die sich entziehen (wollen)? Kann sich eine „Meine Daten gehören mir“-Bewegung überhaupt noch geben in Zeiten von Facebook & Co.? Fragen über Fragen.

Welches Medizinstudium soll es sein? Und wie viele sollen das machen (dürfen)? Zum „Masterplan Medizinstudium 2020“ in Zeiten der Mangels und des Überschusses

Es sind auf den ersten Blick widersprüchliche Zahlen, die einem hinsichtlich der ärztlichen Versorgung präsentiert werden: Auf der einen Seite wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der berufstätigen Ärzte noch nie so hoch war wie heute – wie kann man da von einem „Ärztemangel“ sprechen? Auf der anderen Seite klagen zahlreichen Krankenhäuser über massive Probleme, ihre offenen Stellen besetzen zu können. Auch aus dem Bereich der niedergelassenen Ärzte kommen entsprechende Mangel-Anzeigen, viele Praxisinhaber, die derzeit in den Ruhestand gehen (wollen), finden keine Nachfolger, vor allem in den ländlichen und kleinstädtischen Regionen. Die Zahl der ärztlich tätigen Mediziner ist im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent auf 365.247 weiter angestiegen – und gleichzeitig wird teilweise der Zusammenbruch der ärztlichen Versorgung an die Wand gemalt. Wie immer im Leben muss man differenzierter hinschauen. Denn es geht hier nicht nur um Quantitäten. Es gibt bekanntlich nicht „die“ Ärzte, sondern neben der Frage, ob wir über den Bereich Krankenhäuser oder niedergelassene Kassenärzte sprechen, muss man natürlich auch die Fachrichtung berücksichtigen, also nicht nur die große Trennlinie zwischen Haus- und Fachärzte, sondern darüber hinaus die teilweise erhebliche Spezialisierung innerhalb der fachärztlichen Strukturen.

Auf all das vorbereiten und zugleich den Nachschub liefern soll das Medizinstudium. Das ist die notwendig zu erwerbende Eintrittskarte in die Welt der ärztlichen Versorgung und nicht nur deshalb ein Schlüsselthema für die zukünftige Gesundheitsversorgung der Menschen, denn neben der Tatsache, dass Ärzte dieses Studium absolviert haben müssen, hat man auch zur Kenntnis zu nehmen, dass die gesundheitliche Versorgung in Deutschland immer noch und durchaus abweichend von der Situation in anderen Ländern extrem arztzentriert ist, man muss hinsichtlich der Kompetenzen und Funktionen von einer pyramidalen Struktur sprechen mit den Ärzten an der Spitze und zahlreichen „Heil- und Hilfsberufen“ unter der Ebene der Ärzte, die gleichsam als Zulieferer bzw. Erlediger der vom Arzt angeordneten Maßnahmen zu fungieren haben. 

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Eine fundamentale Frage: Ist ein Krankenhaus ein kommerzielles Unternehmen oder kann das Gemeinwohl Zuschüsse notwendig machen, die das EU-Wettbewerbsrecht nichts angehen?

Wenn man die Menschen auf der Straße danach befragen würde, ob sie es für gerechtfertigt oder gar für anstrebenswert halten, dass man mit Krankenhäusern Gewinne machen kann bzw. gar muss, dann wird – vielleicht nicht mehr so eindeutig viele wie noch vor ein paar Jahren aufgrund der Ökonomisierung auch des Denkens – die Mehrheit mit einem Nein antworten. Und wenn man die Frage stellt, ob eine Bezuschussung der Verluste eines Krankenhauses gerechtfertigt sind, dann werden viele mit ja antworten, gerade wenn und weil sie davon ausgehen, dass die Kliniken dem Gemeinwohl und damit dem Bürger sehr unmittelbar verpflichtet sind. Nun wissen alle, dass sich die Krankenhauslandschaft seit langem verändert – auch, vielleicht gerade dieser Bereich wurde und wird einer umfassenden Ökonomisierung unterworfen. Das macht sich nicht nur, aber eben auch fest an den gewaltigen Verschiebungen hinsichtlich der Trägerschaft der Krankenhäuser.

Seit Beginn der 1990er Jahren sind wir Zeugen eines stetigen Niedergangs der öffentlichen, also kommunalen Trägerschaft von Krankenhäusern – deren Zahl hat erheblich abgenommen, spiegelbildlich müssen wir eine massive Ausbreitung privater, auf Gewinn ausgerichteter Krankenhausträger zur Kenntnis nehmen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Wenn aus einem bislang städtischen Krankenhaus ein kirchliches wird und eine der ersten Amtshandlungen aus der Abschaltung von Betriebsrat und Tarifbindung besteht. Wieder einmal die Kirchen und ihr Sonderrecht vom 17. Märt 2016). An der Börse notierten Krankenhausbetreibern werden regelmäßig rosige Zukünfte bescheinigt. Dass eine Klinik zuallererst eine existenzielle Aufgabe hat und wenn, dann in einem zweiten oder dritten Schritt die Frage nach den Kosten und deren Finanzierung von Relevanz sein sollte, diese über lange Jahre gepflegte und durchaus begründbare Hierarchie hat sich im Zuge der Ökonomisierung des Gesundheitswesens sukzessive wenn nicht aufgelöst, so dann doch auf alle Fälle an Gewicht verloren.

Diese grundsätzlichen Aspekte bilden den Hintergrund eines konkreten Rechtsstreits, der bis vor den Bundesgerichtshof getrieben wurde. Un der hat sich nun mit einer Pressemitteilung ein neues Urteil betreffend an die Öffentlichkeit gewandt: Bundesgerichtshof zur Notifizierungspflicht von Zuwendungen eines Landkreises an eine Kreisklinik bei der Europäischen Kommission, so ist die sperrig daherkommend überschrieben.

Bei der vom BGH zu entscheidenden Frage ging es darum, unter welchen Voraussetzungen Zuwendungen eines Landkreises an ein öffentliches Krankenhaus von der Pflicht zur Anmeldung bei der Europäischen Kommission befreit sind. Offensichtlich geht es hier um eine ganz große, weil europarechtliche Nummer an einem Beispiel aus der südwestdeutschen Provinz. Schauen wir uns den zu verhandelten Sachverhalt einmal genauer an:

»Der Kläger ist der Bundesverband Deutscher Privatkliniken, der mehr als 1.000 private Krankenhäuser vertritt. Der Beklagte, der Landkreis Calw, ist Gesellschafter der Kreiskliniken Calw gGmbH, die Krankenhäuser in Calw und Nagold betreibt. Diese Kreiskrankenhäuser sind in den Krankenhausplan des Landes Baden-Württemberg aufgenommen und vom Beklagten … mit der Erbringung medizinischer Versorgungsleistungen als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut worden.
Nachdem der Jahresabschluss der Kreiskliniken Calw für das Jahr 2011 einen Fehlbetrag von mehr als 3 Millionen Euro und derjenige für das Jahr 2012 einen Fehlbetrag von mehr als 6 Millionen Euro ausgewiesen hatten, fasste der Kreistag des Beklagten im Jahr 2012 den Beschluss, die Verluste der Kreiskliniken für die Jahre 2012 bis 2016 auszugleichen. Außerdem gewährte er in den Jahren 2010 bis 2012 den Kreiskliniken Ausfallbürgschaften zur Absicherung von Investitionsdarlehen, ohne hierfür Avalzinsen zu verlangen, und Investitionszuschüsse.«

Der Kläger, also die Interessenvertretung der Privatkliniken, sieht in den Zuwendungen des Beklagten an die Kreiskliniken Calw staatliche Beihilfen, die mangels Anmeldung (Notifizierung) bei der Kommission rechtswidrig seien. Er hat den Beklagten auf Unterlassung des Verlustausgleichs für die Jahre 2012 bis 2016, der Übernahme von Bürgschaften und der Gewährung von Investitionszuschüssen verklagt.

Der Beklagte, also der Landkreis Calw, hat eingewandt, die Zuwendungen seien nicht notifizierungspflichtig, weil sie dem Ausgleich von Kosten für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse dienten, mit denen er die Kreiskliniken betraut habe.

Man kann die grundsätzliche Frage auch so auf den Punkt bringen, wie es die IVKK (Interessenvertretung kommunaler Krankenhäuser) auf ihrer Facebook-Seite so gepostet hat: »Ist ein Krankenhaus ein kommerzielles Unternehmen, dass sich wettbewerbsrechtlichen Verhaltensregeln unterwerfen muss, oder sind Kliniken Institutionen der Daseinsvorsorge, die nach anderen Maßstäben zu behandeln sind?«

Man muss wissen, dass der Kläger, also die Privatkliniken, in zwei Instanzen vor dem BGH gescheitert sind mit ihrem Begehren. Dazu der BGH:

»Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob die Zuwendungen des Beklagten an die Kreiskliniken staatliche Beihilfen darstellen. Selbst wenn dies der Fall wäre, verstießen sie nicht gegen das Verbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV, staatliche Beihilfen ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission zu gewähren. Die Zuwendungen seien gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV für die Erbringung von Dienstleistungen im allgemeinen Interesse erforderlich und deshalb nach der Freistellungsentscheidung 2005/842/EG der Kommission von der Notifizierungspflicht befreit.«

Und wie hat nun der BGH entschieden?

Wie immer in solchen Fällen muss man das Juristendeutsch dechiffrieren:

»Der Bundesgerichtshof hat auf die Revision des Klägers die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, soweit sich der Kläger gegen den Ausgleich der Verluste der Kreiskliniken für die Jahre 2012 und 2013 wendet, und im Übrigen die Revision zurückgewiesen.«

Also grundsätzlich sagt der BGH, dass solche Zuschüsse in Ordnung sind und nicht angemeldet werden müssen bei der EU-Kommission – wenn denn die Leistungen, für die Zuschüsse gewährt werden, genau bzw. genauer beschrieben werden. Oder anders formuliert:

»Aufatmen bei den Städten und Kreisen: Die kommunalen Zuschüsse für ihre Kliniken sind grundsätzlich zulässig. Doch auch die private Konkurrenz kann sich teils bestätigt sehen. Der BGH stellt Bedingungen«, so die Interpretation in dem Artikel Kommunale Zuschüsse unter Bedingungen zulässig: »Die gängige Bezuschussung finanziell angeschlagener Kliniken von Städten und Kreisen ist nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) grundsätzlich nicht zu beanstanden – Voraussetzung ist aber, dass zuvor allgemein festgelegt wurde, für welche Leistungen Zuschüsse erteilt werden. Wenn das transparent genug erfolgt ist, müssen die Zuschüsse nicht bei der EU angemeldet werden.«

Oder in den Worten des BGH: »Die Leistungen des Beklagten dienen der Aufrechterhaltung des Betriebs der defizitär arbeitenden Krankenhäuser Calw und Nagold. Bei den medizinischen Versorgungsleistungen der Kreiskrankenhäuser handelt es sich um Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Aus der Aufnahme der Krankenhäuser Calw und Nagold in den Krankenhausplan ergibt sich, dass ihr Betrieb zur bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung notwendig ist.«

»Der Calwer Landrat Helmut Riegger (CDU) hatte darauf verwiesen, dass ohne die Finanzspritze die Krankenhausversorgung gerade im ländlichen Raum gefährdet wäre. Im Gegensatz zu Privatklinken müssten Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft eine ortsnahe und hochwertige Notfallversorgung rund um die Uhr über das ganze Jahr garantieren. „Wir können uns nicht die Rosinen herauspicken“, so der Landrat beim BGH«, so der Artikel in der Online-Ausgabe der Stuttgarter Nachrichten.

Fazit: Grundsätzlich sind die Zuschüsse der öffentlichen Hand an die öffentlichen Kliniken zulässig in dem Sinne, dass sie nicht bei der EU angezeigt werden müssen, im konkreten Fall wurde aber eine Rücküberweisung an das OLG Stuttgart zur Abklärung bestimmter Zuschüsse festgestellt, denn »der Kreis hätte zuvor festlegen müssen, für welche Leistungen er seinen Kliniken Zuschüsse zahlt. Weil er das in der Vergangenheit teilweise versäumt habe, verweisen die höchsten deutschen Zivilrichter den Fall zurück an das Oberlandesgericht Stuttgart.«

Damit haben wir erneut eine Situation des „Nicht Fisch-Nicht Fleisch“, denn zu wünschen gewesen wäre eine klare Entscheidung nach diesem Muster:

Die »Europäische Union (und das Recht, welches sie schafft) darf nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts (Lissabon-Urteil) nicht in die Kernbereiche der grundgesetzlichen Ordnung eingreifen, wozu die Sozialstaatsgarantie und auch die Unantastbarkeit der Menschenwürde zählt. Beides ist aber berührt, wenn ein Krankenhaus wie ein kommerzieller Betrieb geführt und reglementiert werden würde. Denn die menschliche Gesundheit ist untrennbar mit der Menschenwürde verbunden. Eine Herabstufung zum kommerziellen Produktionsfaktor in einem Wirtschaftsunternehmen wäre ein Verstoß gegen den Artikel 1 des Grundgesetzes. Sagt … der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichtes, Siegfried Broß.«

Und das es hier bei der Frage der Zulässigkeit kommunaler Subventionierung der Aufrechterhaltung einer ordentlichen Krankenhausversorgung keineswegs um einen Einzelfall handelt und mit Blick auf die Zukunft handeln wird, verdeutlicht dieser Artikel: Krankenhäuser im Südwesten stehen vor schwerer Zukunft:

„Mehr als zwei Drittel der größten regionalen Krankenhausverbünde in Baden-Württemberg sind defizitär“, sagt Peter Magunia, Leiter des Healthcare Bereichs von Roland Berger. Insgesamt hätten 2014 mehr als die Hälfte der landesweit 270 Kliniken rote Zahlen geschrieben. Roland Berger kommt bei der Addition der Defizite allein der größten Klinikverbünde auf 125 Millionen Euro … 97 der 270 Häuser sind in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft, sodass die Defizite unmittelbar die kommunalen Haushalte belasten.

Die einen hadern mit der lahmen Anerkennungsbürokratie, die anderen warnen vor „zu vielen“ – und beide müssen sich Fragen gefallen lassen. Es geht um ausländische Ärzte in Deutschland

So ist das bei allen sozialpolitischen Themen. Auch wenn sie nur punktuell mal aufschimmern in der öffentlichen Wahrnehmung oder es gar für einige Tage bis in die Talkshows schaffen – danach verschwinden die meisten in der Versenkung und der nicht professionell damit beschäftigte oder inhaltlich selbst betroffene Mensch könnte zu dem Eindruck gelangen, das Thema ist weg, hat sich erledigt, ist gelöst oder auf sonstige Art und Weise erledigt worden.
Dem ist aber meistens nicht so. Sondern der Mantel des Schweigens hat sich über die Angelegenheit gelegt (bzw. wurde gelegt). Bis es wieder eine Gelegenheit gibt, sich daran zu erinnern, dass da doch mal was war.

Auch in diesem Blog kann man nur auf den ersten Blick erstaunliche Wiederholungen bestimmter Themen nachvollziehen, wenn man denn will. Aber in unserer schnelllebigen Zeit ist es auch die Pflicht der Medien und damit der Berichterstatter, immer wieder nachzuschauen, was denn aus einer Sache geworden ist. Insofern passen aktuelle Meldungen zu einem Beitrag, der hier vor fast einem Jahr, am 27. April 2015, unter der Überschrift Ärztemangel und Ärzteimport: Immer mehr und doch zu wenig. Und dann das Kreuz mit der deutschen Sprache veröffentlicht worden ist. Der damalige Beitrag wurde beendet mit dieser Feststellung: » … wenn man irgendwann feststellen sollte, dass man zu wenig Mediziner ausgebildet hat, dann wird man das nicht per Knopfdruck heilen können. So eine Ausbildung muss organisiert werden und sie dauert einige Jahre.« Und genau daran könnte man anknüpfen, wenn man aktuelle Berichte aus der Krankenversorgungswelt zur Kenntnis nimmt – zugleich Artikel, die den medaillenhaften Charakter vieler sozialpolitischen Themen verdeutlichen können, in dem Sinne, dass eine Medaille immer zwei Seiten hat. 

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