Fundamentale Veränderungen kommen in aller Regel nicht in einem Rutsch, sondern schleichend fressen sie sich in das gesellschaftliche Gefüge, Schritt für Schritt, oftmals am Anfang garniert mit Heilsversprechen oder dem Hinweis auf Freiwilligkeit, so dass man sich ja entziehen könne, wenn man nicht mitmachen will. Und häufig mit einem positiv aufgeladenen Image, das sich verfestigen kann, bevor die Schattenseite der Medaille so richtig erkennbar wird. Und diejenigen, die frühzeitig warnen oder zweifeln, werden als Fortschrittsfeinde oder Berufspessimisten etikettiert.
Nehmen wir ein „hippes“ Beispiel aus der Apple & Co.-Welt dieser Tage: Der Fitnesstrend im Zusammenspiel mit einer technikverliebten Selbstüberwachung des eigenen Körpers, der Sucht, alles zu erfassen, abzuspeichern, in Zahlen auszudrücken. Ein ganz großes Wachstumsfeld der App-Ökonomie unserer Zeit. Und immer mehr Krankenversicherungen beginnen auf diesen Zug aufzuspringen – mit einer durchweg lebensbejahenden, mithin eigentlich nicht kritisierbaren Message: Wenn die Leute Sport treiben, dann ist das gesund, sie beugen Krankheiten und den damit verbundenen Kosten vor. Sie ersparen der Gesellschaft und den anderen Mitgliedern der Solidargemeinschaft unnötige Ausgaben. Und sie spiegeln die Sperrspitze der individualisierten Gesellschaft. Die sich um sich selbst kümmern, die anderen nicht zur Last fallen wollen. Wer kann was dagegen haben? Also kann es nur folgerichtig sein, diesen Trend zu verstärken, beispielsweise in dem man die Anschaffung von Fitness-Apps oder gar einer Apple Uhr monetär begleitet – bis hin zu dem Angebot, weniger Geld für die eigene Krankenversicherung zahlen zu müssen, weil man sich um seine eigene Gesundheit so vorbildlich kümmert. Die Ego-Krankenversicherung zeigt ihre ersten Umrisse, wohlig daherkommend in Gestalt günstiger Tarife.
Da stellt sich natürlich sofort die Anschlussfrage: Kann man denn den Versicherten auch trauen? Tun sie vielleicht nur so, als ob sie sich gesundheitsförderlich verhalten und betätigen? Messung, Kontrolle und dann Belohnung ist ein Dreischritt der zahlengetriebenen Welt, den wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen. Und der wird sich Bahn brechen müssen in der Logik der herrschenden Systeme.
Bereits am 22. November 2014 wurde in diesem Blog der Beitrag Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung veröffentlicht: »Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail und das erste hier anzuführende Detail ist der „Nachweis“ des Lebensstils, der zu den Vergünstigungen berechtigt. Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil.« Das war damals Thema. Ein Beitrag über den Eisbrecher sozusagen.
Und schon damals wurde dieser Ansatz äußerst kritisch bewertet, gerade weil man gezwungen ist »angesichts des fortschreitenden radikalen Individualisierung zu konstatieren, dass es sich bei dem Ansatz von Generali um ein sehr passendes Projekt handelt. Immer stärker fällt die Fokussierung auf den Einzelnen, seine Eigenverantwortung, seine Selbsthilfe(potenziale) auf – damit aber auch die Kehrseite dieser Medaille, die vor allem daraus besteht, dass der einzelne Mensch „Schuld“ hat an dem, was im widerfährt, weil wenn er nicht geraucht hätte, wenn er regelmäßig Nordic Walking betrieben hätte, dann … Aber gerade im Gesundheitsbereich ist es eben nicht so einfach, man erkrankt auch trotz Fitnessübungen und man muss dann eingebettet sein in eine starke Gemeinschaft, die auch dann eine Menge umverteilen muss.«
Am 14. August 2015 wurde das dann aktualisiert mit dem Beitrag Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems. Während es 2014 noch „nur“ um einen Vorstoß aus den Reihen der privaten Krankenversicherung ging, musste im vergangenen Jahr eine Diffusion in den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen und damit in einen Kernbereich des Sozialversicherungssystems diagnostiziert werden. Da wurde beispielsweise von der AOK Nordost berichtet, die den Kauf einer Apple Watch bezuschusst. Und auch den Erwerb entsprechender Apps kann man sich subventionieren lassen.
Der angesprochene Diffusionsprozess in die Sozialversicherung hinein bekommt nun einen neuen Schub, gleichsam in doppelter Potenz: Techniker Krankenkasse will auf Fitnessdaten zugreifen, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Die angesprochene doppelte Potenz stellt ab auf die Verknüpfung des Themas Überwachung des individuellen Verhaltens mit der höchst umstrittenen elektronischen Patientenakte: »Fitnessarmbänder liefern wichtige Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Nutzer – die Techniker Krankenkasse hat nun vorgeschlagen, die Daten stärker zu nutzen.« Interessant wird es bei der Frage, wie das erfolgen soll.
Das folgende Zitat sollte man sich in aller notwendigen Ruhe durchlesen und vor allem durchdenken:
»Mit Schrittzählern, Geschwindigkeits- und Pulsmessern überprüfen viele Sportler ihre Fitness. Die Daten, die sogenannte Wearables erfassen, könnten aber auch für die Krankenkassen interessant sein: Wie gesund lebt ein Versicherter? Wie viel bewegt er sich? Wie fit ist er? Und in letzter Konsequenz: Soll er weniger Leistungen erhalten als andere? Der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, hat nun … den Vorstoß gewagt, die Informationen künftig stärker nutzen zu wollen. In einem Interview schlägt er vor, dass Daten von Fitness-Trackern künftig in der geplanten elektronischen Patientenakte gesammelt und von den Kassen verwaltet werden sollen.«
An dieser Stelle muss man sich in Erinnerung rufen, was da mit der elektronischen Patientenakte auf uns zu kommen wird:
»Das im Dezember verabschiedete E-Health-Gesetz der Bundesregierung sieht eine insgesamt stärkere Digitalisierung des Gesundheitswesens vor. Künftig sollen auf der elektronischen Gesundheitskarte viel mehr Patientendaten gespeichert werden, ab 2018 etwa Röntgenaufnahmen oder Ergebnisse von Blutuntersuchungen. In einem Patientenfach sollen Versicherte auch eigene Daten, etwa von Wearables und Fitness-Armbändern, ablegen können. Bisher ist geplant, dass die Patienten allein darüber entscheiden, wer Zugriff darauf hat.«
Jeder, der sich ein wenig auskennt in den (Un)Sicherheitsfragen des Internets, wird erschaudern müssen angesichts dieser Perspektiven. Die Ergebnisse von Blutuntersuchungen in einer Datei im Netz? Hallo? »Kritiker warnen, Hacker könnten die Informationen abgreifen oder manipulieren.« Das ist noch mehr als höflich formuliert. Wir wandern stolpernd aber sicher in den Überwachungskapitalismus, dessen Ausformungen sich viele schlichtweg nicht vorstellen können/wollen.
Dazu passt dann dieser Beitrag von Timot Szent-Ivanyi: Sorgloser Umgang mit Fitness-Trackern. Er schreibt:
»Fitness-Tracker, die den Puls messen oder Schritte zählen. Das ist bisher vielleicht Spielerei, aber weitere Funktionen sind denkbar oder bereits in der Entwicklung, wie die Messung der Körpertemperatur, des Blutdruckes oder des Blutzuckerspiegels. Man muss kein medizinischer Experte sein um zu verstehen, dass sich aus diesen Daten nicht nur der körperliche Zustand sondern auch große Teil des Lebenswandels herauslesen lassen. Das weckt Begehrlichkeiten, aus denen die Industrie auch keinen Hehl macht.«
Und auch er legt den Finger in die offene, klaffende Wunde: »Der Patient soll die Hoheit über seine Daten behalten, wird stets versichert. Aber hat irgendjemand überhaupt einen Überblick, welche Daten Apps tatsächlich übertragen? Wird aus der Freiwilligkeit nicht ein Zwang, wenn Krankenversicherungen preiswerte Tarife nur gegen Aufgabe der Datenhoheit anbieten?«
Aber ist nicht schon die Rettung nahe? Der Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) will prüfen lassen, „die Verwendung bestimmter Gesundheitsdaten auf Grundlage des neuen EU-Datenschutzrechts einzuschränken“. Seine Meinung nach müssen die Bürger über sensible Daten „frei und selbstbestimmt“ entscheiden können. Und dann wird er so zitiert: „Mit dieser Freiheit ist es nicht weit her, wenn Krankenkassen Tarifmodelle entwickeln, bei denen Sie den günstigen Tarif nur dann bekommen, wenn Sie einwilligen, dass Ihre kompletten Gesundheitsdaten ständig übermittelt werden.“
Dazu Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel: »Das reicht aber noch nicht: Für Geräte und Apps, die sensible Informationen erfassen, muss es klare gesetzliche Regelungen geben. Wer nicht will, dass seine Daten weitergegeben werden, muss sich sicher sein können, dass sie das eigene Smartphone nicht verlassen.«
Wir befinden uns bereits auf einer ganz gefährlichen Rutschbahn. Und zum Abschluss eine Denksportaufgabe: Was hat das alles mit der gegenwärtig diskutierten Abschaffung des Bargelds zu tun? Die Dinge hängen mehr zusammen, als wir denken.