Es geht bergauf. Immer mehr Menschen auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Das passt in die Debatte über Altersarmut und Rente – und auch wieder nicht

In der vergangenen Woche haben sich ganz viele Medien mit dem Thema Altersarmut und dem Zustand der Rentenversicherung beschäftigt. Grundlage dafür war eine Meldung des WDR, die – auf allerdings teilweise grotesk verzerrter Datenbasis (dazu der Beitrag Viele Menschen stehen vor der Altersarmut, wenn sich im System nichts ändert. Aber gleich mehr als 25 Millionen Menschen? Wohl kaum vom 12. April 2016) – eine Vorhersage in die Welt gesetzt hat, nach der mit Blick auf das Jahr 2030 jedem Zweiten die Altersarmut drohen soll. Die Talk-Sendung „Anne Will“ machte das am Sonntag zu ihrem Thema (vgl. dazu die Besprechung von Frank Lübberding unter der bezeichnenden Überschrift Das große Renten-Vergessen) und selbst in der Bundesregierung ist eine Rentendebatte ausgebrochen, in der wir Zeugen werden nicht-alltäglicher Bündnisse. So gibt ein Horst Seehofer (CSU) bekannt, in der Rentenfrage sei er der gleichen Auffassung wie Andrea Nahles (SPD). Bei anderen, beispielsweise dem Namensgeber und heutigen Profiteur der Riester-Rente, liegen die Nerven offensichtlich blank angesichts der erneuten Tiefschläge gegen ihre Kapitaldeckungsprodukte, wo doch die Geschäfte bereits seit längerem mehr als schlecht laufen, weil immer mehr Menschen begriffen haben, wer hier was abzieht. So meldet sich Walter Riester, der ehemalige Bundesarbeitsminister der rot-grünen Bundesregierung, zu Wort und kritisiert die Kritik an der privaten Altersvorsorge: „Immer wieder kommt diese saudumme Debatte, die wirklich Millionen Menschen verunsichert“, wird Riester zitiert.

Und als ob Öl ins Feuer gegossen werden soll, kommen dann auch noch neue Zahlen vom Statistischen Bundesamt über die Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. In der trockenen Sprache der Statistiker liest sich die Überschrift zur Meldung dann so: 1.038.000 Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Dezember 2015: »Im Dezember 2015 hatten rund 536 000 beziehungsweise 51,6 % der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung die Altersgrenze erreicht oder überschritten und erhielten somit Grundsicherung im Alter … Knapp 502 000 beziehungsweise 48,4 % der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung waren im Alter von 18 Jahren bis unter die Altersgrenze. Sie erhielten diese Leistungen aufgrund einer dauerhaft vollen Erwerbsminderung.

Die Abbildungen verdeutlichen, dass es sich um zwei Leistungsbereiche (nach dem SGB XII) handelt – zum einen die Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung, wenn man also nicht mehr arbeiten kann, aber noch nicht im Rentenalter ist, zum anderen die Grundsicherung im Alter, um die es derzeit u.a. bei der Debatte über Altersarmut geht.
Deren Entwicklung in den Jahren seit 2003 kann kurz und knapp zusammengefasst werden: Die Inanspruchnahme hat sich von 257.000 innerhalb weniger Jahre auf über 536.000 mehr als verdoppelt. Und sie steigt von Jahr zu Jahr weiter an.

An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass das nur als Untergrenze zu verstehen ist, denn wir gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus, also Menschen, die im Grunde Anspruch hätten auf diese Leistungen, aber auf einen Leistungsbezug verzichten. Dazu die Hinweise in dem Beitrag Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig vom 7. August 2015: »Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat … 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Die Ergebnisse ihrer Studie bezogen sich auf das Jahr 2007: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent.

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Hinzuweisen wäre auch auf den Tatbestand, dass die Einkommens- und vor allem die Vermögensanrechnung im SGB XII, wo die Grundsicherung im Alter normiert ist, restriktiver erfolgt als im SGB II, also im „normalen“ Hartz IV-System.«

Aber auch wenn noch mehr ältere Menschen in den offiziellen Grundsicherungszahlen auftauchen würden, so wäre es dennoch falsch, das Thema Altersarmut auf die Quote der diese Leistung beziehenden Menschen abzubilden. Das dafür immer noch gültige Maß ist die relative Einkommensarmut bzw. im Statistiker-Deutsch Armutsgefährungsschwelle. Und von Armut oder Armutsgefährdung spricht man nach internationalen Konventionen, wenn man weniger als 60 Prozent des Medieneinkommens in der Gesellschaft, in der man lebt, zur Verfügung hat. Und dann wird aus den 3 Prozent, die Grundsicherungsleistungen im Alter beziehen, gleich ein ganz anderer Prozentwert.

In der im April 2015 veröffentlichten Publikation Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut führt Johannes Geyer vom DIW aus, dass 2013 »14,9% aller Personen ab 65 Jahren als armutsgefährdet galten, in der jüngeren Bevölkerung lag der Wert mit 16,4% nur unwesentlich höher.«

Und im neuen Armutsbericht des Paritätischen und anderer Sozialverbände, der Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde ( Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016), heißt es mit Blick auf das Jahr 2014: »Während in neun Bundesländern die Armutsquoten 2014 gesunken seien, belegt der Bericht einen Anstieg der Armut in den bevölkerungsreichen Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote rasant gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege … Die Armut verharre mit 15,4 Prozent auf hohem Niveau.«
Erstmals über dem Durchschnitt – und rückblickend wird sich dieses Jahr als das erweisen, in dem die Entwicklung der Armutsbetroffenheit in der älteren Generation weiter an Fahrt aufnehmen wird, wenn sich denn nichts grundlegend ändert.

Aber die hier präsentierten und in Abbildungen gegossenen neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes weisen noch auf einen anderen wichtigen Aspekt hin, der in der gegenwärtigen Debatte über Altersarmut und Rentenversicherung völlig ausgeblendet wird und ansonsten auch immer ein Schattendasein fristet: Betrachtet man die Entwicklungsdynamik der Grundsicherungsleistungen, dann kann man erkennen, dass wir den stärksten Anstieg nicht bei den Älteren haben, sondern im Bereich der Menschen, die wegen einer vollen Erwerbsminderung auf Hilfe angewiesen sind.
Die finanzielle Situation der voll erwerbsgeminderten Menschen ist hoch problematisch (vgl. dazu beispielsweise aus dem Jahr 2013 Johannes Steffen: Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug
Ursachen und Handlungsoptionen) – schon in der Gegenwart und angesichts der im Regelfall sicheren Perspektive, in der Altersarmut zu landen.

Die Ursachen für den beobachtbaren Anstieg der Erwerbsminderungsfälle sind vielschichtig und berühren zahlreiche Arbeitsmarktprozesse und natürlich immer auch individuelle Dispositionen.
Als Beispiel aus der Forschung vgl. Ralf Müller: Erwerbsminderungsrente in Bremen: Berufsgruppen im Spiegel von Arbeitsbelastung und Arbeitslosigkeit. Schriftenreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen 02 | 2015, Bremen 2015.

Das soll nur andeuten, was wir alles berücksichtigen müssen, wenn es um eine wirkliche Rentenreform gehen sollte, die das Alterssicherungssystem vor allem hinsichtlich der vielen, die ansonsten unter die Armutsschwelle gedrückt werden, wetterfest machen soll.

(Auch) Sinnkrisen treiben Pflegekräfte aus ihrem Beruf – und nicht wenige in die Erwerbsminderungsrente

Es ist nicht allein eine als zu gering empfundene Entlohnung, die Pflegekräfte aus dem Beruf treibt. Vielmehr erleben viele Pflegende den Konflikt zwischen ihrem ursprünglichen Berufsideal und dem betrieblichen Alltag als so belastend, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben wollen oder können, so der Artikel Sinnkrisen treiben Pflegekräfte aus dem Beruf, der in der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts publiziert wurde. Dabei stützt man sich auf die Studie Erwerbsminderungsrenten in der Krankenpflege. Erklärungsansätze und Handlungsempfehlungen von Laura Schröder, die vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) veröffentlicht wurde.

In der Diskussion über das Problem eines frühzeitigen Berufsausstiegs von Pflegekräften wird immer auf die (zu) hohe Arbeitsbelastung hingewiesen, die durch die Ökonomisierungsprozesse in den Krankenhäusern vorangetrieben und verschärft wird. In der Studie wird aber auch der Aspekt des Wandels des pflegerischen Berufsbildes aufgerufen. Die Studie kommt in der Zusammenführung der quantitativen und qualitativen Analyse zu dem Ergebnis, »dass die Beantragung einer EM-Rente als die individualisierte Lösung eines strukturellen Konfliktes gesehen werden (kann). Die Pflegekraft verlässt mit der gesellschaftlich legitimierten Begründung „schwere Krankheit“ das Berufsfeld. Die hohen Erwartungen durch die Berufsausbildung können in der „Fabrik Krankenhaus“ nicht mehr befriedigt werden. Durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist ein Wandel des Berufsbildes erkennbar, welcher das berufliche Selbstverständnis der Pflegenden in Frage stellt und dazu führt, dass eigene Ansprüche sogar trotz erhöhtem Engagement nicht mehr befriedigt werden können. Für Pflegekräfte, welche es sich aufgrund partnerschaftlicher Absicherung finanziell leisten können, kann die Beantragung einer EM-Rente eine Möglichkeit des Ausstiegs sein.« (Schröder 2016: 15).

Mit Blick auf den heute schon real existierenden Fachkräftemangel besonders relevant ist diese Aussage: »Es ist davon auszugehen, dass das Ungleichgewicht bei der Beschäftigtengruppe, welche gut ausgebildet ist und weiterhin in ihrem Ausbildungsberuf beschäftigt ist, dessen Rahmenbedingungen aber persönliche Berufsideale konterkarieren, am höchsten ist.« (Schröder 2016: 15). Das wird gedeckt durch die Befunde der quantitativen Analyse, dass erhöhte Zahl von Erwerbsminderungsrenten-Fällen bei den gut qualifizierten Pflegekräften mittleren Qualifikationsniveaus zu beobachten ist. Für diese Häufung im mittleren Qualifikationsbereich liefert Schröder (2016: 15) folgenden Erklärungsansatz:

»Pflegekräfte, welche sich mittels Weiterbildung spezialisiert haben, konnten aufgrund der Möglichkeit eines Wechsels von der Pflege-am-Bett zu einer administrativen Tätigkeit innerhalb ihres Berufes eine Lösung finden, womit ein positiveres Verhältnis von Anforderung und Belohnung einhergeht. Die weniger qualifizierten Kräfte (z.B. Helfer/innen) dürften einen Konflikt zwischen Berufsethos und Realität im Krankenhaus weniger stark empfinden, da sie häufig angelernte Kräfte aus anderen Arbeitsgebieten, zum Beispiel der Gastronomie, sind und Pflege tendenziell mehr als Job sehen und somit geringere Ansprüche an die Sinnhaftigkeit des Berufes haben.«

Die Studie diskutiert auch mögliche Handlungsempfehlungen (S. 16 ff.). Wenn man davon ausgeht, dass bei den Krankenpflegekräften ein starkes Ungleichgewicht zwischen Leistung und Belohnung vorliegt, dann ist es natürlich naheliegend, durch die Erhöhung einer Belohnungskomponente, wie beispielsweise einer Steigerung des Einkommens, die „Gratifikationskrise“ aufzulösen. Allerdings, folgt man den Erkenntnissen der Studie, liegt darin für die Befragten keine wirkliche Lösung des Problems, da es ihnen darum geht, »die Diskrepanz zwischen Berufsethos und betrieblicher Realität zu verringern.«

Vor diesem Hintergrund werden unterschiedliche Ansatzpunkte zur Diskussion gestellt:

  • Umstrukturierung der pflegerischen Tätigkeit / Aufwertung der Pflege als Profession: Die Arbeitsbedingungen sind der „Dreh- und Angelpunkt“ bei der Prävention von Erwerbsminderungsrenten in der stationären Krankenpflege. »Konkret bedeutet das, eine bessere Einbindung der Pflegekräfte in die Planung von Pflegeprozessen und ein größeres Zeitbudget für die Betreuung der Patient(inn)en.« Von großer Bedeutung scheint das Ungleichgewicht der beiden Professionen Pflege und Medizin im Krankenhaus zu sein. Die Betroffenen wünschen sich laut Studie eine Aufwertung und Anerkennung der pflegerischen Tätigkeit, wie dies beispielsweise in den skandinavischen Ländern der Fall sei. 
  • Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements: »Konzepte, welche berufsspezifische Faktoren und Risiken zum Inhalt haben, könnten die Pflegekräfte dazu befähigen, sich besser von ihrer Tätigkeit abzugrenzen und mehr auf die eigene Gesundheit zu achten.« Angesichts der vorliegenden Forschungsbefunde, nach denen das Führungsverhalten zu den wichtigsten Faktoren der Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten zählt, ist es nicht überraschend, dass in diesem Kontext dem Training der Führungskräfte eine große Bedeutung zugeschrieben wird. Der Handlungsbedarf ist bekannt und hat sich auch bei den Pflegekräften in Erwerbsminderungsrente, die in der Studie untersucht wurden, niedergeschlagen: Alle »nannten konflikthafte Arbeitsstrukturen als Einflussfaktor auf die Entscheidung zur Beantragung der EM-Rente.«
  • Optimierung und Erweiterung bestehender Rehabilitationskonzepte: Bestehende Rehabilitationskonzepte bei Pflegekräften sollten optimiert und angepasst werden. Die Studie hat zeigen können, dass gerade psychisch erkrankte Pflegekräfte vor dem Beginn der ersten Rehabiliationsmaßnahme über einen längeren Zeitraum erkrankt waren. Hier wäre eine Verbesserung der Zugangswege zu Rehabiliationsmaßnahmen ein möglicher Ansatz. 
  • Berufsbezogene Rehabilitation: »Berufsbezogene Rehabilitationskonzepte könnten … an der übersteigerten Verausgabungsneigung ansetzen und Beschäftigte darin stärken, besser mit den Belastungen umzugehen. Pflegekräfte müssen in dieser Perspektive ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen erkennen, um sich selbst Grenzen zu setzen um sich somit vor Überforderung und Erschöpfung zu schützen.«
  • Ambulante Rehabilitationsangebote: Es wird für mehr (ambulante) Angebote plädiert, die möglichst nah am Wohn- oder Arbeitsort der Versicherten sind und flexible Angebote – auch in der Nachbetreuung – anbieten können.
  • Präventive Rehabilitationsangebote: Ein Kritikpunkt, den die Studie ermittelt hat, lässt sich so zusammenfassen, dass in der gegebenen Hierarchie „Reha vor Rente“ die Prävention als erster Schritt vernachlässigt oder ausgeblendet wird. Es gibt bereits nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI ein präventives Rehabilitationskonzept der Deutschen Rentenversicherung, das medizinische Leistungen für Versicherte zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit vorsieht, die eine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung ausüben. Davon kann man bei den Pflegekräften ausgehen. Das vorhandene Instrument müsste stärker beworben und genutzt werden, man muss hier an sich nichts Neues erfinden.

Die Studie zeigt einen ganzen Strauß an möglichen Interventionen auf, die den Zugang zu der Problematik einer Vernutzung der Pflegekräfte lösungsorientiert adressiert. Es bleibt natürlich daneben der nicht zu vergessende Hinweis, dass die enorme Arbeitsverdichtung, der Personalmangel und die andauernde Erhöhung der Pflegeintensität Parameter sind, die endlich und verlässlich – beispielsweise über Mindeststandards der Personalschlüssel in den Krankenhäusern – angegangen werden müssen.

Krankheit und ihre Kosten. Und wo Gewinner sind, müssen Verlierer sein. Krebspatienten und die PKV als „Lohnnebenkostensenker“

Diagnose: Krebs. Das ist für jeden ein großer Schock. Für die Betroffenen ist es dann wichtig, dass sie sich darauf konzentrieren können, wieder gesund zu werden – wenn sie denn überhaupt eine Chance haben. Die Krankheit hat für viele Patienten aber auch finanziell erhebliche Konsequenzen.
Darüber berichtet dieser Beitrag: Armutsrisiko Krankheit.

Wie schnell man abstürzen kann, vermittelt dieses Beispiel aus dem Beitrag:

»Frühjahr 2015: Ein Mann, Mitte 30, geht nach gesundheitlichen Beschwerden zum Arzt. Er hat drei Kinder und ist zu diesem Zeitpunkt der Hauptverdiener in seiner Familie. Im Monat verdient er etwa 2.600 Euro. Dann erhält er die Diagnose – er hat Krebs. Weil der Vater deshalb länger nicht arbeiten kann, bekommt er zunächst Krankengeld, also etwa zwei Drittel seines Einkommens. Eigentlich kann man dieses Krankengeld bis zu anderthalb Jahre lang bekommen. Aber in der Praxis sieht das anders aus, erklärt der Leiter des Sozialdienstes am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg, Jürgen Walther.
„Theoretisch ja, aber faktisch ist das nicht so. Wenn sich vorher bestätigt, dass die Erwerbsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, dann kann die Krankenkasse dafür sorgen, dass dieser Mensch aus dem Krankengeld in die Erwerbsminderungsrente geht. Und wenn jemand ein normales durchschnittliches Einkommen hatte, dann ist diese Belastung oftmals extrem hoch.“ Auch bei dem mehrfachen Vater meldet sich die Krankenkasse und stellt fest – er soll in Zukunft Erwerbsminderungsrente erhalten. Das bedeutet für ihn etwas mehr als 1.000 Euro im Monat.«

Das ist leider kein Einzelfall: »Im Jahr 2014 sind rund 20.000 Krebskranke in die Erwerbsminderungsrente gerutscht. Die lag dort durchschnittlich unter der Armutsgrenze, also bei weniger als 980 Euro im Monat.«

Das hat Folgen, an die viele Gesunde gar nicht denken: »Diese Belastung kann die Gesundheit der Betroffenen zusätzlich schwächen. Manche finden ihre wirtschaftliche Situation sogar belastender als ihre Krankheit. Sie können ihre Kinder nicht mehr gut versorgen, geben ihre Karriere auf und können es sich nicht mehr leisten, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Manche haben auch Probleme, die Anfahrt zur Therapie alleine zu bezahlen.«

Wie so oft in der sozialpolitischen Praxis wissen wir noch viel zu wenig: »Noch gibt es keine belastbaren Daten darüber, wie hoch das Armutsrisiko von Tumorpatienten allgemein ist. Eine erste Studie mit 65 Krebskranken hat aber gezeigt, dass ein Drittel von ihnen unter finanzieller Not leiden.« Größere Studien sind geplant.

Die Praktiker aus der Sozialberatung haben schon mal zwei konkrete Verbesserungsvorschläge:

1. Auf der einen Seite ein verlässlicher längerer Anspruch auf Krankengeld.
2. Auf der anderen Seite ein Anheben des Erwerbsminderungsrentenniveaus, das ist ein klassisches Armutsrisiko. Denn dieses Niveau ist in den vergangenen Jahren erheblich gesunken.

Im Jahr 2014 bezogen branchenübergreifend in Deutschland ca. 1,7 Mio. Personen eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente. Über 170.000 Arbeitnehmer müssen jedes Jahr aus gesundheitlichen Gründen ihren Job vor Erreichen des Rentenalters aufgeben und sind dann auf die Erwerbsminderungsrente angewiesen. Aber ist bei dieser Leistung mit dem Rentenpaket 2014 der Bundesregierung nicht alles besser geworden? Bei den Erwerbsminderungsrenten (die sich in den vergangenen Jahren besonders schlecht entwickelt haben und ein Ticket in die Altersarmut darstellen, wenn man nicht auf maßgebliche andere Einkommensquellen zurückgreifen kann: vgl. hierzu ausführlicher die Analyse von Johannes Steffen: Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug. Ursachen und Handlungsoptionen, Bremen, Mai 2013) hat man an zwei Stellschrauben graduelle Verbesserungen vorgenommen:

1.) Die sogenannte Zurechnungszeit wurde von 60 auf 62 Jahre angehoben. Die Rente wird dann so berechnet, als ob Erwerbsgeminderte bis zum 62. Lebensjahr Beiträge bezahlt hätten (und nicht wie bislang unterstellt bis 60). Das erhöht die Durchschnittsrente um etwa 40 Euro monatlich – laut Rentenversicherung beträgt die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente rund 700 Euro.

2.) Für die Höhe der Erwerbsminderungsrente ist auch entscheidend, wie der Verdienst ermittelt wird, der für die Zurechnungszeit fortgeschrieben wird. Bislang wurde die Zurechnungszeit auf Grundlage des Durchschnittsverdiensts während des gesamten Erwerbslebens bis zum Eintritt der Erwerbsminderung bewertet. Das hat man geändert durch die „Günstigerprüfung“: Nun wird geprüft, ob die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung gegebenenfalls diese Bewertung negativ beeinflussen, etwa weil in dieser Zeit wegen Einschränkungen bereits Einkommenseinbußen zu verzeichnen waren. Das ist häufig der Fall, etwa weil die Menschen in dieser Zeit schon oft krank waren, oder krankheitsbedingt nicht mehr so viel bzw. gar nicht mehr arbeiten konnten. Mindern die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung die Ansprüche, fallen sie künftig aus der Berechnung heraus. Die Abbildung des BMAS verdeutlicht das Zusammenspiel der beiden Änderungen an einem Beispiel.

Aber angesichts der niedrigen (und in den Jahren vor dem Rentenpaket 2014 erheblich gesunkenen) Zahlbeträge bei der Erwerberbsminderungsrente ist das nur ein erster Korrekturschritt, wenn man die Armutsfalle, die für viele mit dem Verweis auf diese Sicherungsleistung verbunden ist, beseitigen möchte. Davon sind wir noch ein ordentliches Stück weit weg.

Man kann also sagen, dass wir auch bei vielen Krebspatienten mit dem Phänomen konfrontiert sind, dass es eine Verlagerung der Kostenträgerschaft – in diesem Fall der Krankheitsfolgekosten – auf die Betroffenen selbst gibt, was natürlich andere „entlastet“ – im Ergebnis aber nichts anders darstellt als eine Verschiebebahnhof zulasten der schwächsten Glieder in der Kette.

Und wenn wir schon beim Verschieben von Kosten sind, dann bietet es sich an, einen Blick zu werfen auf eine neue Studie, die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) veröffentlicht worden ist:

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw): Lohnzusatzkosten – die Bedeutung des Wettbewerbs zwischen GKV und PKV, München 2016

Das klingt sehr allgemein gehalten, der Inhalt ist aber überaus handfest und mit konkreten Euro-Beträgen versehen. Andreas Mihm hat zentrale Befunde aus dieser Studie in seinem Artikel Wirtschaft lobt die private Krankenversicherung zusammengefasst: Die Unternehmen sparen jedes Jahr Lohnnebenkosten von gut 1,3 Milliarden Euro durch die private Krankenversicherung. Wie das?

»Der Grund dafür liege in den niedrigeren Beiträgen, die die Arbeitgeber für ihre zwar hochbezahlten, aber privat kranken- und pflegeversicherten Beschäftigten entrichteten. Die Privaten dürfen nur Arbeitnehmer versichern, die mehr als 56.250 Euro im Jahr verdienen.
Die Kosten der Privatversicherung lägen im Schnitt bei 460 Euro im Monat, wovon der Arbeitgeber die Hälfte trage, also 230 Euro, heißt es in der dieser Zeitung vorliegenden Analyse. Dagegen fielen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung im vorigen Jahr bei Einkommen von 4150 Euro oder mehr im Monat Kosten von 639,38 Euro an, wovon der Arbeitgeber 301,13 Euro übernahm. Auf das Jahr gerechnet sind das für einen privat krankenversicherten Arbeitnehmer 850 Euro weniger Nebenkosten. Da auch die private Pflegeversicherung günstiger sei, kämen weitere 414 Euro Ersparnis hinzu, heißt es in der Untersuchung.
Auf das Jahr gerechnet summiere sich der Sparbetrag damit auf 1267 Euro. Die gegebenenfalls höhere Arbeitgeberleistung für privat mitversicherte Angehörige (bis zur Hälfte des Kassensatzes) sei berücksichtigt. Der Rest ist Multiplikation: Bei 1,26 Millionen privatversicherten Arbeitnehmern ergibt das einen jährlichen Sparbeitrag von 1,33 Milliarden Euro.«

Dieser Vorteil für die Arbeitgeber ergibt sich aus der Dualität der Krankenversicherungen in Deutschland, also dem Nebeneinander von GKV und PKV. Durch die Konstruktionsbedingungen verursacht sind es vor allem die „guten Risiken“, die sich dem Umverteilung- und Solidarsystem der Gesetzlichen Krankenversicherung entziehen und sich in privaten Krankenversicherungen organisieren können.  Ein Sprecher des Spitzenverbandes der GKV wird entsprechend in dem Artikel so zitiert: „Selbst wenn die PKV-Mitgliedschaft eines Mitarbeiters im Einzelfall für ein Unternehmen einen finanziellen Vorteil mit sich bringt, beruht dieser lediglich darauf, dass die private Krankenversicherung sich der gesellschaftlichen Solidarität entzieht und im Windschatten der gesetzlichen Krankenversicherung ihr Geschäft betreibt“.

Aber der Gewinner dieser Kostenumverteilung hat natürlich kein Interesse, daran etwas – und sei es für das Ziel eines übergeordneten Lastenausgleichs – zu verändern. Folgerichtig wird die Studie seitens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft dazu genutzt, einer Aufhebung der Trennung zwischen GKV und PKV zu widersprechen und dessen Beibehaltung zu fordern: Ohne die private „Rückversicherung“ müssten die Arbeitgeber milliardenhohe Zusatzkosten tragen. Die PKV leiste „einen wichtigen Beitrag, die Kosten im Rahmen zu halten“, wird der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung, Bertram Brossardt, zitiert.

Nun kann man – wenn man denn will oder muss – einige Argumente für die Beibehaltung der getrennten Systeme finden und vortragen, aber das Argument vom „Lohnnebenkostensenker“ PKV kommt schon arg gezwungen und irgendwie auch mehr als kleinkrämerisch daher, wenn man es aus der Perspektive des Gesamtsystems betrachtet, also mit Blick auf das Volumen, über das wir hier sprechen. Dazu und ohne weitere Kommentierung die entsprechende Anmerkung von Andreas Mihm: »Gemessen an den 1,5 Billionen Euro, die die Arbeitgeber 2014 für Löhne, Gehälter und Nebenkosten aufgewandt haben, erscheinen allerdings auch jene 1,3 Milliarden Euro bescheiden. Es ist gerade einmal ein Anteil von einer Promille.«

Abbildung: www.rentenpaket.de, BMAS