Nicht nur Gewerkschaften sind gegen sachgrundlos befristete Arbeitsverträge. Zugleich werden sie gerne in Anspruch genommen

»Wir wollen Sicherheit und Verlässlichkeit für die Beschäftigten!
Deshalb müssen wir auch an die Befristung vieler Arbeitsverhältnisse ran.
Vor allem jungen Menschen wird zu viel zugemutet: Sie sollen eine ordentliche Ausbildung machen, sich im Job weiterbilden, sie sollen eine Familie gründen und wollen sich manchmal auch noch um ihre Eltern kümmern, sie sollen für Wohneigentum sorgen, und im Idealfall sollen sie sich auch noch ehrenamtlich engagieren.
Das alles geht nicht, wenn die eigene Zukunft auf wackligen Beinen steht! Das kann nicht unser Angebot für die Jugend sein!
Und darum werden wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen!«

Wer das gesagt hat? Die meisten werden richtig raten – Martin Schulz war das. In Bielefeld, auf dem Arbeitnehmerkongress der SPD im Februar dieses Jahres, wo er über „Arbeit in Deutschland“ gesprochen hat. Na gut, da geht einiges durcheinander, werden die pedantisch veranlagten Kenner der Materie einwerfen – geht es jetzt um Befristungen allgemein, um die „nur“ für die Jugend (und wann hört die auf – manche Eltern berichten von Jugendlichen in ihren Haushalten, die das 30. Lebensjahr überschritten haben) oder geht es um sachgrundlose Befristungen, was etwas anderes ist als eine Befristung mit Sachgrund, die man laut Schulz offensichtlich nicht abschaffen will? Die Debatte, die sich im Anschluss an diese Rede entzündet hat, sowie grundsätzliche Fragen der Befristungen von Arbeitsverhältnissen wurden bereits in dem Beitrag Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft am 23. Februar 2017 behandelt. Nun hat sich der DGB zu Wort gemeldet mit dieser Ansage: »Über 3,2 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in befristeten Arbeitsverhältnissen – Tendenz steigend. Befristungen schaffen neben beruflicher Unsicherheit auch niedrigere Löhne. Dabei nutzen Arbeitgeber gesetzliche Regelungen aus, die ursprünglich Arbeitslosigkeit bekämpfen sollten. Der DGB fordert den Gesetzgeber deshalb auf, die Möglichkeit der Befristung ohne sachlichen Grund zu beenden.«

Die Bestandsaufnahme hinsichtlich der befristeten Arbeitsverträge und die gewerkschaftlichen Forderungen sind vom Bundesvorstand des DGB in diese Veröffentlichung gepackt worden:

DGB (2017): Sachgrundlose Befristungen – ein Massenphänomen, Berlin, Juni 2017

Darin wird auf den Einschnitt hingewiesen, den das Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 mit sich gebracht hat. Bis dahin waren Befristungen, die über die Probezeit hinausgingen, nur zulässig, wenn ein besonderer sachlicher Grund vorlag. »Mit dem neuen Gesetz konnten Arbeitslose zunächst bis zu einem Jahr befristet eingestellt werden. Die Regelung war zunächst bis 1991 befristet, doch wurde es immer wieder verlängert und in den folgenden Jahren wurden die Möglichkeiten der Befristung zudem erweitert.« Und zwar befristet ohne irgendeinen Sachgrund. „Für einen Arbeitsuchenden ist eine – wenn auch zunächst nur befristete – Arbeit besser als gar keine Arbeit“, so stand es im Gesetzentwurf zum sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985.

Mittlerweile können Arbeitsverhältnisse nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) ohne einen Sachgrund bis zu zwei Jahre lang befristet und innerhalb dieses Zeitraums bis zu dreimal verlängert werden.

Hinzu kommt: Bei neugegründeten Unternehmen können die Arbeitsverträge ohne Sachgrund sogar bis zu vier Jahren abgeschlossen werden.

Und noch eine Sonderregelung: Wenn die Arbeitnehmer/innen das 52. Lebensjahr vollendet haben und vorher arbeitslos waren, ist sogar eine Befristung bis zu fünf Jahren zulässig.

Hinzu kommt, dass auch die Befristungen mit einem Sachgrund durchaus weit angelegt sind. Im TzBfG findet man acht Sachgründe für Befristungen (vgl. § 14 Abs. 1 TzBfG). Greifen wir an dieser Stelle daraus nur mal zwei heraus: Ein sachlicher Grund für eine Befristung liegt vor, wenn „der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht“. Aber wann genau ist das (nicht) der Fall? Wie sieht es mit dem Definitionsspielraum des Arbeitgebers aus und dem mehr als begrenzten bzw. gar nicht vorhandenen Kontrollspielraum des Arbeitnehmers?

Und ein weiterer sachlicher Grund liegt vor, wenn „der Arbeitnehmer aus Haushaltsmitteln vergütet wird, die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind, und er entsprechend beschäftigt wird“. Das wird gleich noch eine besondere Rolle spielen.

Den Arbeitgebern steht also eine breite Palette von Gründen mit und ohne Sachgrund zur Verfügung.

Man muss allerdings bei den Befristungen genauer hinschauen, denn es gibt durchaus nachvollziehbare Gründe auf der Arbeitgeberseite, Arbeitsverträge zu befristen oder dies tun zu müssen, auch wenn er gerne anders handeln würde. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen eine Kindertageseinrichtung, in der eine dort unbefristet beschäftigte Erzieherin in die Elternzeit geht, aber wiederkommen will und wird, beispielsweise nach zwei Jahren. Die Ersatzkraft für diese Mitarbeiterin kann vom Träger der Kita nur einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen für die Abdeckung dieses Zeitraums, außer der hat an anderer Stelle einen sicheren Arbeitskräftebedarf genau nach Rückkehr der unbefristet Beschäftigten.

In einer Studie von Hohendanner et al. (2016) wurden die zentralen Unterschiede zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft bei den Motivlagen für Befristungen herausgearbeitet:

»Als wichtigste Befristungsmotive nannten öffentliche Arbeitgeber Vertretungen und fehlende Planstellen. Für die Privatwirtschaft ist die Erprobung neuer Mitarbeiter der wichtigste Befristungsgrund.« Und: Öffentliche Arbeitgeber nutzen befristete Arbeitsverträge als zentrales Instrument der Personalanpassung.

Letztendlich werden wir Zeugen einer massiven Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen innerhalb des öffentlichen Dienstes. Auf der einen Seite haben wir hier die sichersten und – nicht nur bei Beamten – mit Unkündbarkeit ausgestattete Arbeitsplätze, auf der anderen Seite reagiert das System darauf spiegelbildlich mit der Schaffung einer hochgradig flexibilisierten Schicht an Beschäftigten, wo im starken Maße mit Befristungen gearbeitet wird (und aus Systemsicht gearbeitet werden muss) und in denen der Unsicherheitsfaktor kombiniert wird mit ausgeprägter Perspektivlosigkeit, was Anschlussoptionen angeht. Aus der Sicht der betroffenen Verwaltungen ist das aber irgendwie auch zwingend, denn eine grundsätzlich denkbare unbefristete Einstellung ist deshalb ein „Risiko“, weil der Arbeitgeber den Beschäftigten nicht wieder entlassen kann, wenn beispielsweise keine Mittel mehr zur Verfügung stehen für den besonderen Bereich, in dem die Stelle geschaffen wurde.

Auch wenn der DGB in seiner neuen Veröffentlichung andauernd zwischen den Befristungsebenen hin und her wechselt (beispielsweise werden bei den Zahlen alle befristeten Arbeitsverträgen herangezogen, das Papier ist aber überschrieben mit Sachgrundlose Befristungen – ein Massenphänomen), die Forderungen der Gewerkschaften kommen eindeutig daher (vgl. dazu DGB 2017: 8):


Sachgrundlose Befristung beenden: Arbeitsmarktpolitisch gibt es keine Notwendigkeit für die sachgrundlose Befristung, aber immer öfter wird dieses Instrument als verlängerte Probezeit missbraucht. Die sachgrundlose Befristung muss deswegen beendet werden. Denn wer befristet beschäftigt ist, kann sein Leben nicht planen und muss ständig fürchten, im Konfliktfall wieder auf der Straße zu stehen.

Aber auch bei den Befristungen mit Sachgrund fordert der DGB Veränderungen:


Änderungen bei Befristungen mit Sachgrund: Einige Befristungen mit Sachgrund sind manchmal sinnvoll und notwendig. Aber auch bei der begründeten Befristung sind Veränderungen notwendig, damit durch das Aneinander- reihen von Sachgründen nicht neue Kettenbefristungen entstehen. Derzeit können mehrere Befristungen mit verschiedenen Sachgründen aneinandergereiht werden.
Hinzu kommt, dass befristet Beschäftigte einen Anspruch auf bevorzugte Einstellung bekommen sollen. Außerdem fordert der DGB die Aufhebung des Sachgrundes „Befristung wegen befristeter Haushaltsmittel“. Hierbei handelt es sich um eine ausschließlich auf den öffentlichen Dienst bezogene Regelung. »Für eine solche Bevorzugung des öffentlichen Dienstes gibt es keinerlei Notwendigkeit. Die Regelung ist missbrauchsanfällig, weil durch die Jährlichkeit der Haushalte immer wieder neue Befristungsgründe geschaffen werden können.«

Gefordert wird mangels Wirksamkeitsnachweis auch die Aufhebung der Sonderregelung für Existenzgründer, außerdem – so der DGB – gilt für Kleinbetriebe ohnehin kein umfassender Kündigungsschutz.

Man könnte meinen, dass der DGB damit auf eine Wellenlänge liegt mit Martin Schulz, dem Kanzlerkandidaten der SPD. Denn der fordert ja auch eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen. Nur muss man hier wieder genauer hinschauen – der Befristungsanteil insgesamt im öffentlichen Dienst ist höher als in der Privatwirtschaft, die würde aber von der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung besonders betroffen sein (was man begrüßen oder kritisieren kann, wenn die tatsächlich überwiegend die Funktion einer verlängerten Probezeit angenommen hat – und darauf deuten auch Analysen hin mit dem Befund, dass je höher der Anteil sachgrundloser Befristungen an den in den Betrieben eingesetzten befristeten Beschäftigungsverhältnissen ist, umso höher fällt die Anzahl der innerbetrieblichen Übernahmen in unbefristete Beschäftigung aus), während die hohen Befristungsanteile im öffentlichen Dienst nicht deutlich reduziert werden könnten.

So hatte das IAB der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen einer Anhörung im Bundestag im Jahr 2013 anlässlich einer damals schon von den Linken geforderten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung in der Stellungnahme ausgeführt: »Die Anzahl sachgrundloser Befristungen hat sich zwischen den Jahren 2001 und 2013 von etwa 550.000 auf 1,3 Millionen erhöht … Damit hat sich der Anteil sachgrundloser Befristungen an allen im IAB-Betriebspanel erfassten Befristungen von 32 auf 48 Prozent erhöht.« Sachgrundlose Befristungen »werden verstärkt im Groß- und Einzelhandel oder im Verarbeitenden Gewerbe genutzt, während sie … in den öffentlichen und sozialen Dienstleistungen … eine untergeordnete Rolle spielen. Tendenziell zeigt sich, dass sachgrundlose Befristungen in Branchen mit einem hohen Befristungsanteil eher unterproportional genutzt werden.« Anders formuliert: Eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen von Arbeitsverträgen würde an dem besonders befristungsintensiven öffentlichen Dienst ziemlich vorbeigehen.

Allerdings unterscheiden sich die Forderungen des DGB in einem gewichtigen Punkt von der Forderung „nur“ nach Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen bei Martin Schulz (und übrigens auch in anderen Parteien, bei den Linken und den Grünen etwa). Denn der DGB fordert explizit die Aufhebung des Sachgrundes „Befristung wegen befristeter Haushaltsmittel“ – und der betrifft den öffentlichen Dienst und das Befristungsgeschehen dort im Kern.

Zu welchen mehr als fragwürdigen Exzessen die Befristungspraktiken im öffentlichen Dienst führen können, sei an diesem Beispiel illustriert: Polizei Köln verliert 62 Mitarbeiter, so ist ein Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger überschrieben.

»Insgesamt 62 Tarifbeschäftigte hatte die Behörde ab August 2016 eingestellt, jeweils befristet auf zwei Jahre.

Die Gehälter werden aus dem Maßnahmenpaket der Landesregierung für mehr Innere Sicherheit und bessere Integration bezahlt. Das Ziel der Regierung war es, mehr Polizisten auf die Straße zu bekommen. Die Idee: Die Tarifbeschäftigten sollen die Beamten vor allem aus Verwaltungstätigkeiten herauslösen.«

Die Angestellten arbeiten zum Beispiel in Geschäftszimmern, in der Liegenschaftsverwaltung oder in der Sachbearbeitung. Man habe „qualifizierte und engagierte“ Mitarbeiter gewonnen, so der Polizeipräsident. »Viele hätten für den Wechsel zur Polizei ihre bestehenden Jobs gekündigt.«
Der Polizeipräsident habe sich immer wieder für eine Entfristung der Verträge eingesetzt – bislang vergeblich. Die 62 Angestellten bei der Polizei müssen sich nun bald neue Jobs suchen.
»Zwar sollen die Stellen erst bis 2024 nach und nach abgebaut werden, aber bis dahin müssen sie alle zwei Jahre neu ausgeschrieben werden. Eine Weiterbeschäftigung über zwei Jahre hinaus ist rechtlich nicht möglich, es müssen also immer wieder neue Mitarbeiter eingearbeitet werden.« Ein doppelter Wahnsinn: Die eingearbeiteten Mitarbeiter müssen gehen, möglicherweise in die Arbeitslosigkeit, wenn sie keine Anschlussbeschäftigung finden. Ihre Stellenhülsen bleiben, müssen aber mit frischem Nachschub besetzt werden – und die müssen sich erst einmal einarbeiten, bis auch sie dann in die Nähe der 2-Jahres-Grenze kommen. Und um die Sache dann „abzurunden“: Ab 2024 sind die Stellen dann weg, dann müssen die normalen Polizeibeamten die Tätigkeiten wieder übernehmen.
Man muss das wohl nicht weiter kommentieren.

Und in dem Blog-Beitrag  Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft vom 23. Februar 2017 wurde auf eine weitere Auffälligkeit aus dem öffentlichen Bereich hingewiesen, die ein politisches Geschmäckle hat: Wie weit Theorie und Praxis in der wirklichen Wirklichkeit auseinanderliegen (können), verdeutlicht ein Blick auf das Haus der (bis vor kurzem) Bundesfamilienminusterin Manuela Schwesig (SPD), die selbst mal vor einiger Zeit mit Blick auf die (möglichen) Auswirkungen der Befristungen beklagt hat: „Befristete Jobs wirken wie die Anti-Baby-Pille.“ Und dann werden wir damit konfrontiert: »Im Familienministerium ist der Anteil der befristet Beschäftigten zwischen 2004 und 2013 rasant gestiegen: von 1,2 auf 18,6 Prozent … Damit gehört das Familienministerium zu den Spitzenreitern unter den befristenden Bundesministerien.«

Und das kann man aktualisieren: »Die SPD geißelt befristete Arbeitsverhältnisse. Umso brisanter sind deshalb neue Zahlen über Zeitverträge in verschiedenen Bundesministerien«, schreibt Sven Astheimer in seinem Artikel Befristungen steigen rasant in SPD-Ministerien. Er bezieht sich darin auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann von den Linken – »ausgerechnet in den SPD-geführten Ministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie für Arbeit und Soziales legte die Zahl der Befristungen zuletzt besonders stark zu.«

»Im Familienressort wuchs die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse zwischen 2013 und 2016 um rasante 37,5 Prozent auf insgesamt 440. Damit verfügt in dem bis Anfang Juni von der stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden Manuela Schwesig geführten Ministerium mehr als jeder fünfte Beschäftigte über einen Arbeitsvertrag mit Ablaufdatum. Im Arbeitsministerium von Parteifreundin Andrea Nahles stieg die Zahl der befristet Beschäftigten im selben Zeitraum um 26 Prozent. Von den rund 2700 Angestellten dort ist knapp jeder Zwölfte betroffen. Im Wirtschaftsministerium von Brigitte Zypries (ebenfalls SPD) blieb die Zahl der Zeitverträge mit 1765 dagegen gleich und im Verteidigungsressort von Ursula von der Leyen (CDU) sank sie sogar um 8,7 Prozent auf rund 3000.«

Im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, einer dem Bundesfamilienministerium nachgeordneten Behörde, liegt der Anteil der Befristungen sogar bei 27 Prozent – 22 Prozent sind sogenannte sachgrundlose Befristungen.

Sie wächst und wächst, „die“ Beschäftigung. Aber welche eigentlich? Eine Dekomposition der Erwerbstätigenzahlen

Kurz und knapp ist die Überschrift der Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit (BA) anlässlich der Bekanntgabe der Arbeitsmarktzahlen für den April 2017: „Gute Entwicklung setzt sich fort“. Die Zahl der arbeitslosen Menschen hat von März auf April um 93.000 auf 2.569.000 abgenommen. Es soll an dieser Stelle gar nicht auf die Zahl 2,6 Mio. Arbeitslose genauer eingegangen werden, liegt die „wahre“ Zahl der Arbeitslosen – wie schon in vielen früheren Beiträgen immer wieder hervorgehoben – doch tatsächlich mindestens um eine Million höher, also bei 3,6 Mio., ausweislich der Angaben der BA zur „Unterbeschäftigung“: »Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im April 2017 auf 3.603.000 Personen.«

Hier soll es um einen anderen Aspekt gehen: »Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben im Vergleich zum Vorjahr weiter kräftig zugenommen.« Und das Statistische Bundesamt hat die frohe Botschaft aus Nürnberg schon einen Tag zuvor mit dieser Ansage unterstrichen: März 2017: Erwerbstätigkeit mit stabilem Aufwärtstrend: » Im März 2017 waren nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) rund 43,8 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Gegenüber März 2016 nahm die Zahl der Erwerbstätigen um 641.000 Personen oder 1,5 % zu.« Die Abbildung am Anfang der Beitrags visualisiert die positive Entwicklung der Beschäftigtenzahlen des Statistischen Bundesamt – offensichtlich schreitet das deutsche „Jobwunder“ voran.

Nun haben solche Zahlen die Folge, dass sie zumeist unvollständig interpretiert und unters Volks gebracht werden. Dann kommen solche Meldungen dabei raus: Immer mehr Menschen haben Arbeit: »Im März sind 43,8 Millionen Menschen in Deutschland einer bezahlten Arbeit nachgegangen. Das hat das Statistische Bundesamt ausgerechnet.« Das ist nun nicht falsch, das kann man der erwähnten Pressemitteilung der Bundesstatistiker durchaus entnehmen, aber es kann problematisch werden, wenn man bedenkt, wie diese formal richtige Botschaft bei vielen Menschen ankommt, also wie die die Zahlen interpretieren. Denn zahlreiche Bürger haben – zumeist unbewusst – eine ganz bestimmte Vorstellung davon, was es heißt, einen Job zu haben oder wenn sie hören/lesen, von Januar 2014 bis zum März 2016 wurden (saisonbereinigt) 1,5 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen, was auch einige aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes abgeleitet haben.

Da denken viele Menschen irgendwie an „normale Jobs“, also eine Vollzeitbeschäftigung als Arbeitnehmer in einem Unternehmen. Die gibt es natürlich auch, aber sie sind nur eine Teilmenge dessen, was unter dem Oberbegriff „Erwerbstätige“ gezählt wird.

Bereits die offizielle Definition von Erwerbstätigen, wie man sie beim Statistischen Bundesamt finden kann, verdeutlicht die enorme Spannweite dessen, was da alles subsumiert wird. Der entscheidende Punkt: Die Zahl der Erwerbstätigen sagt nicht, dass es sich um halbwegs normale Jobs handelt, die hinter der Zahl stehen, das kann sein, muss aber nicht. Beispiel: Eine vollzeitbeschäftigte Mitarbeiterin im Einzelhandel (bislang also = 1 Erwerbstätige) wird ersetzt durch zwei teilzeitbeschäftigte Verkäuferinnen (= 2 Erwerbstätige) oder gar durch vier geringfügig Beschäftigte (= 4 Erwerbstätige) – obgleich die Arbeitszeit (40 Stunden pro Woche) gleich geblieben ist.

Der Zahl der Erwerbstätigen kann man eben nicht ansehen, wer da genau hinter steht. Eine auf 450-Euro-Basis, also geringfügig Beschäftigte, geht in die Statistik der Erwerbstätigen mit dem gleichen Gewicht ein wie eine mit 40 Wochenstunden angestellte und tariflich vergütete Angestellte.

Gemessen werden Köpfe, unabhängig ihres „Gewichts“ bezogen auf die tatsächliche Einbindung in Erwerbsarbeit. Ein erster Blick auf die Daten zeigt für die Jahre seit 2010, dass die „Kopfzahl“-Entwicklung bei den Erwerbstätigen und die Entwicklung der geleisteten Arbeitsstunden, also das Arbeitsvolumen, auseinanderlaufen. Die Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen geht deutlich über die Expansion der geleisteten Arbeitsstunden hinaus. Es ist naheliegend, dass das nur dann passieren kann, wenn der Anteil der Beschäftigten steigt, die von der Arbeitszeit her gesehen weniger als die Beschäftigten früher arbeiten.

Dass diese Vermutung durchaus seine Berechtigung hat, zeigt die Aufarbeitung der Entwicklungsdynamik der einzelnen Komponenten der Erwerbstätigenzahlen, die man beispielsweise in der Arbeitsmarkt-Prognose 2017 des IAB finden kann.

Die Zahl der „marginal Beschäftigten“ und auch die der Selbständigen hat seit 2010 abgenommen und die Zahl der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer hat nur unterdurchschnittlich zugelegt, gemessen an der Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen insgesamt.
Gleichsam nach oben geschossen und mit einem entsprechend überdurchschnittlichen Beitrag zur allgemeinen Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen sind die in regulärer Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer. Für 2017 gehen die Arbeitsmarktforscher des IAB von einer Teilzeitquote bei den beschäftigten Arbeitnehmern in Höhe von 39,4 Prozent aus.

Nun kann man an dieser Stelle argumentieren, eine alte Statistikerweisheit lautet: Auf das Basisjahr kommt es an. Und die bisherige Daten-Präsentation bezog sich auf die Jahre ab 2010. Aber natürlich kann man weiter zurückblicken, um zu prüfen, ob es in der langen Sicht vergleichbare Verschiebungen gegeben hat oder ob sich am aktuellen Rand etwas verändert gegenüber dem, was wir in der Vergangenheit feststellen konnten.

Hinzu liefert das Statistische Bundesamt Daten, die bis 1991 zurückreichen.
Und auch hier sehen wir wieder die unterdurchschnittliche Entwicklung bei den „Normalarbeitnehmern“, die der weit verbreiteten Vorstellung von einem „normalen“ Job entsprechen. Die haben nach 1991 sogar abgenommen, eine Trendwende dieses Abbauprozesses ist erst ab 2007 und mit einer gewissen Dynamik vor allem seit 2011 zu erkennen – das spiegelt sicher die insgesamt gute Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre in Verbindung mit den Engpasserfahrungen eines Teils der Unternehmen, die vor allem auch demografisch bedingt sind, wider. Am aktuelle Rand der Entwicklung nehmen die Vollzeitstellen im sozialversicherungspflichtigen Bereich wieder zu hinsichtlich ihres Beitrags zur Zahl der zusätzlichen Erwerbstätigen. Die veränderte allgemeine Arbeitsmarktlage schlägt sich auf nieder bei der Entwicklung der Selbständigen und darunter bei der Gruppe der Solo-Selbständigen. Deren Zahl hat sich bis 2012 stark erhöht, seitdem geht sie wieder zurück, was auch den Rückgang bei den Selbständigen insgesamt erklären kann. Sicher auch deshalb, weil bisherige Solo-Selbständige, die sich eher aus der Not heraus selbständig gemacht haben, nun wieder in abhängige Beschäftigungsverhältnisse wechseln.

Aber auch aktuell entfallen die meisten zusätzlichen Erwerbstätigen auf den Bereich der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit. Damit wird die langjährige Entwicklung fortgeschrieben. Das hat natürlich Auswirkungen, die sozialpolitisch bedeutsam sind. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat das eine geschlechterpolitische Dimension, denn Teilzeit ist immer noch primär eine Sache der Frauen. Hinzu kommt, dass Teilzeitarbeit überdurchschnittlich stark in Branchen vertreten ist, in denen wir mit einem niedrigen Lohnniveau konfrontiert sind – und selbst innerhalb der Branchen konnten Studien zeigen, dass es einen Lohnunterschied gibt zwischen Arbeitnehmern in Teil- und Vollzeit, vgl. dazu nur als ein Beispiel Elke Wolf: Lohndifferenziale zwischen Vollzeit- und Teilzeit­beschäftigten in Ost- und Westdeutschland. WSI-Diskussionspapier Nr. 174, Düsseldorf, Dezember 2010).

Sozialpolitisch besonders brisant ist die Tatsache, dass wichtige Teile unseres sozialen Sicherungssystems, von der Arbeitslosenversicherung bis hin (vor allem) zur Rentenversicherung, auf dem Modell der möglichst ohne Unterbrechungen praktizierten Vollzeit-Erwerbsarbeit mit einer (mindestens) durchschnittlichen Vergütung basieren, man denke hier nur an die Mechanik der Rentenformel (vgl. hierzu die §§ 64 ff. SGB VI). In der gesetzlichen Rentenversicherung hat man keine reale Chancen, eigenständig ausreichende Sicherungsansprüche aufzubauen, wenn man „nur“ und das über längere Zeiträume Teilzeit arbeitet. In Kombination mit den Merkmalen „Frauen“ und „Niedriglöhne“ hat man dann – wenn keine anderweitige abgeleiteten ausreichenden Sicherungsansprüche existieren oder diese wegbrechen – eine sichere Quelle zukünftiger Altersarmut.

Unabhängig davon und wieder zum Thema dieses Beitrags im engeren Sinne zurückkehrend sollte man an die Zahlen zur Beschäftigungsentwicklung mit großer Demut herangehen, man könnte auch zu größter Skepsis aufrufen. Dies wurde am 4. März 2017 in dem Beitrag Ein Wunder. Ein Beschäftigungswunder. 400.000 Arbeitnehmer sind wieder aufgetaucht. Die Bundesagentur für Arbeit und die Zahlen eindrücklich demonstriert.

Im ausführlichen Monatsbericht Januar 2017 der BA konnte man diese Aussagen lesen: »Der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung hat sich weiter fortgesetzt, wenn auch nicht mehr so stark wie im ersten Halbjahr 2016 … Seit Juni nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung monatsdurchschnittlich um 10.000 zu, nachdem sie von Januar bis Mai noch um 42.000 gewachsen war … Die saisonbereinigte Entwicklung und die Veränderung der Vorjahresabstände zeigen, dass der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zuletzt deutlich an Dynamik verloren hat, obwohl die reale Wirtschaftsleistung stetig wächst.« Und dann die Überraschung:

Nur wenige Wochen später, anlässlich der Arbeitsmarktzahlen für den Februar 2017 (vgl. dazu Der Arbeitsmarkt im Februar 2017 vom 01.03.2017), wird auf einmal ein ganz anderes Bild hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung gezeichnet: »Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat nach der Hochrechnung der BA von November auf Dezember saisonbereinigt um 82.000 zugenommen. Insgesamt waren im Dezember nach hochgerechneten Angaben 31,88 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 735.000 mehr als ein Jahr zuvor.« Moment, wird der eine oder andere an dieser Stelle aufmerken, noch einen Monat vorher wurden doch „nur“ 332.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als Vorjahr gemeldet und die rückläufige Dynamik beim Beschäftigungsaufbau beklagt. Die BA schiebt aber sogleich eine Erläuterung zu dieser nun wirklich nicht unerheblichen Differenz nach: » Die Angaben für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und die Erwerbstätigkeit wurden ab August 2016 deutlich nach oben korrigiert, weil es Anfang 2016 Datenverarbeitungsfehler von Beschäftigungsmeldungen gab. Erst jetzt hat sich herausgestellt, dass Meldungen in größerem Umfang nicht berücksichtigt wurden.«

Und schwuppdiwupp sind 400.000 verschütt gegangene Arbeitnehmer wieder zum Leben erweckt worden. Gott sei Dank, denn hätte man das nicht gemacht, würden die immer noch arbeiten und statistisch tot sein.

„Es werden oft Gespenster an die Wand gemalt“. Die Digitalisierung, die Roboter und die (angeblichen) Jobverluste

Wer hat nicht mittlerweile irgendwo schon mal davon gelesen oder gehört: Seit der Studie von Frey und Osborne aus dem Jahr 2013 geistert immer wieder die Zahl von der Hälfte der heutigen Jobs, die in den kommenden Jahren verloren gehen sollen aufgrund der Digitalisierung der Arbeitswelt, durch die mediale Landschaft. Das wird schon seit längerem kritisch begleitet (vgl. beispielsweise Max Rauner: Die Pi-mal-Daumen-Studie: »Eine düstere Warnung hat sich verselbstständigt: Angeblich ist jeder zweite Arbeitsplatz durch die Digitalisierung bedroht. Wer bietet mehr?«). Nun erreicht uns aus Österreich diese Botschaft: Studie: Viel weniger Jobs durch Roboter gefährdet als gedacht. Neun Prozent der Menschen in Österreich sind in Bereichen tätig, die potenziell durch neue Technologien ersetzt werden könnten. Das ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS), die im Auftrag des Sozialministeriums erstellt wurde (vgl. IHS 2017: Digitalisierung der Arbeit: Substituierbarkeit von Berufen im Zuge der Automatisierung durch Industrie 4.0). Zwar werde sich in der Arbeitswelt einiges ändern, die Realität sei aber deutlich weniger dramatisch, als das oft dargestellt werde. „Es werden oft Gespenster an die Wand gemalt“, so Martin Kocher vom IHS. 

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