Akademiker sind keine Schweine. Aber sind sie gefangen im Schweinezyklus? Und dann noch Ingenieure und Naturwissenschaftler, die Aushängeschilder eines (angeblichen) Fachkräftemangels?

Wenigstens einige Gewissheiten muss es doch geben. Beispielsweise einen Fachkräftemangel bei den Ingenieuren, die so wichtig sind für die deutsche Volkswirtschaft. Jedenfalls behaupten das viele Unternehmen und vor allem die Wirtschaftsfunktionäre. Und das darf dann nicht fehlen in den Sonntagsreden der Politiker, garniert mit der Aufforderung an junge Menschen, doch bitte ein Studium in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurs- und Naturwissenschaften sowie Technik) aufzunehmen – die Aussichten seien himmlisch. Und begleitend legt man zahlreiche Förder- und sonstige Programme auf, Hauptsache, es geht irgendwie um MINT, denn man muss ihn ja bekämpfen, den Fachkräftemangel. Nun gab es schon immer kritische Zeitgenossen, deren differenzierte Vertreter zwar nicht grundsätzlich die Problematik eines möglichen Fachkräftemangels bestreiten, aber darauf hinweisen, dass man da schon genauer hinschauen muss und gerade bei den prominenten Vertretern des angeblichen Mangels – also eben den Ingenieuren – die Lage sehr unterschiedlich ist, was auch damit zusammenhängen kann, dass Arbeitgeber bereits von einem Fachkräftemangel sprechen, wenn auf eine offene Stelle nur noch einige wenige Bewerbungen eingehen, statt wie früher waschkörbeweise. Aus ihrer betriebswirtschaftlichen Sicht ist das verständlich, aber die Bewerber werden das sicherlich anders bewerten.
Und wenn wir schon bei Gewissheiten sind – angehende Ökonomen sollten im ersten Semester bei der Behandlung der Preisbildungsprozesse auf Märkten einen wichtigen Begriff lernen: Schweinezyklus. Aber was hat der Schweinezyklus mit den Akademikern, in diesem Fall vor allem den aus den so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden MINT-Akademikern zu tun? 

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Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hält Wort beim Thema Leiharbeit und Werkverträge

Wobei die richtige Formulierung so lauten muss: Sie hält sich genau an die Worte, die in der Bibel der Großen Koalition niedergeschrieben worden sind, also dem Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013. Es bleibt ihr angesichts ihres nicht mehr vorhandenen Spielraums innerhalb der Großen Koalition hinsichtlich jedweder Regulierungsvorhaben auf dem Arbeitsmarkt – losgelöst von ihrer Sinnhaftigkeit – auch gar nichts anderes übrig, denn die Unionsfraktion würde weitergehende Maßnahmen schon aus Prinzip verhindern. Frau Nahles hat in der ersten Phase mit dem Mindestlohn und der „Rente mit 63“ bekommen, was der Sozialdemokratie besonders wichtig war. Also aus Sicht der Koalitionsarithmetiker. Jetzt ist Schluss.

Nun liegt endlich ein Referentenentwurf zu den beiden noch offenen Arbeitsmarkt-Baustellen vor, die man in den Koalitionsverhandlungen als regelungsbedürftig vereinbart hat. Da ist eine Menge Zeit vergangen, waren doch andere Baustellen viel größer und teurer – Rentenpaket 2014 und Mindestlohn. Da mussten sich die Leiharbeit und die Werkverträge hinten anstellen. Nun aber soll es in die gesetzgeberische Zielgerade gehen und – für den einen oder anderen vielleicht irritierend – hat Frank Specht seine Meldung zum Referentenentwurf in der Online-Ausgabe des Handelsblatts so überschrieben: Nahles verlängert Leiharbeitsdauer. War das nicht anders, also genau anders herum geplant gewesen?

Werfen wir zuerst einen Blick in den Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013, was denn genau vereinbart worden ist.

Zum Thema Leiharbeit findet man dort auf S. 49-50 die folgenden Ausführungen:

»Arbeitnehmerüberlassung weiterentwickeln
Wir präzisieren im AÜG die Maßgabe, dass die Überlassung von Arbeitnehmern an einen Entleiher vorübergehend erfolgt, indem wir eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten gesetzlich festlegen. Durch einen Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche oder aufgrund eines solchen Tarifvertrags in einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung können unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Stammbelegschaften abweichende Lösungen vereinbart werden.
Die Koalition will die Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen hin orientieren. Das AÜG wird daher an die aktuelle Entwicklung angepasst und novelliert:
• Die Koalitionspartner sind sich darüber einig, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer künftig spätestens nach neun Monaten hinsichtlich des Arbeitsentgelts mit den Stammarbeitnehmern gleichgestellt werden.
• Kein Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern als Streikbrecher.
• Zur Erleichterung der Arbeit der Betriebsräte wird gesetzlich klargestellt, dass Leiharbeitnehmer bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu berücksichtigen sind, sofern dies der Zielrichtung der jeweiligen Norm nicht widerspricht.«  

Und was ist rausgekommen?

»Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wird die Höchstüberlassungsdauer bei der Leiharbeit nicht strikt auf 18 Monate begrenzen. „In einem Tarifvertrag der Einsatzbranche oder aufgrund eines solchen Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung können abweichende Regelungen vereinbart werden“, heißt es im Referentenentwurf …  „In tarifgebundenen Unternehmen sind damit längere Einsatzzeiten von über 18 montan möglich“, heißt es in dem Entwurf weiter. Ausgenommen von der Ausnahmeregel sind aber Unternehmen, die zwar Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind, aber nicht der Tarifbindung unterliegen (sogenannte OT-Mitgliedschaft).«

Ganz offensichtlich will man mit diesem Regelungsansatz zwei Fliegen mit einer Klapper schlagen: Zum einen soll den Unternehmen im Prinzip die Option offen gelassen werden, Leiharbeiter auch länger wie 18 Monate zu nutzen, also wie bisher. Zugleich verknüpft man dieses Entgegenkommen damit, dass es sich um tarifgebundene Unternehmen handeln muss. Die anderen bleiben außen vor. Zur „18-Monats-Frage“ vgl. ausführlicher die Darstellung in meinem Blog-Beitrag 18 Monate und nicht länger. Oder darf es doch mehr, also länger sein? Die Leiharbeit und die Versuche, sie zu re-regulieren vom 1. August 2015.

Und wie sieht es aus mit den Werkverträgen?

Dazu auch hier ein Blick in den Koalitionsvertrag (S. 49):

»Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen verhindern
Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden. Dafür ist es erforderlich, die Prüftätigkeit der Kontroll- und Prüfinstanzen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu konzentrieren, organisatorisch effektiver zu gestalten, zu erleichtern und im ausreichenden Umfang zu personalisieren, die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats sicherzustellen, zu konkretisieren und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu sanktionieren. Der vermeintliche Werkunternehmer und sein Auftraggeber dürfen auch bei Vorlage einer Verleiherlaubnis nicht bessergestellt sein, als derjenige, der unerlaubt Arbeitnehmerüberlassung betreibt. Der gesetzliche Arbeitsschutz für Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer muss sichergestellt werden. Zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden werden die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt.«

Und was ist rausgekommen (soweit man das anhand der Meldungen der Nachrichtenagentur sagen kann, denn der Entwurf ist noch nicht unter die Leute gebracht worden, sondern die Nachrichtenagentur AFP wird als Quelle angegeben)?

»Die Informationsrechte von Betriebsräten über den Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten werden gestärkt. Wann ein Werkvertrag vorliegt, soll anhand von acht Kriterien definiert werden, die bislang nur in der Rechtsprechung verwendet wurden. Nun werden sie explizit gesetzlich festgeschrieben.«

Da dürfen wir gespannt sein, wie man die Abgrenzungsfrage zu einem hyperkomplexen Themen- und Minenfeld wie der Abgrenzung von „echten“ Werkverträgen und illegaler Arbeitnehmerüberlassung rechtssicher mit acht Kriterien hinbekommen will.  

Insofern bewegt sich das, was sich nunmehr abzeichnet für die gesetzgeberische Umsetzung, im Rahmen dessen, was ich in meinem Blog-Beitrag Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24.09.2015 als Ausblick so formuliert habe:

»Von der nun anstehenden gesetzlichen Neuregelung der Werkverträge – auch wenn sich der Aktionstag hier ausdrücklich an Berlin gerichtet hat – werden sich die Gewerkschaften außer einem Informationsrecht für Betriebsräte nicht viel erwarten dürfen. Das von ihrer Seite aus geforderte Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte wird es nicht geben. Dazu ist der Widerstand der Arbeitgeber an dieser Stelle viel zu groß und die politischen Handlungsspielräume der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) innerhalb der Großen Koalition sind zu klein bzw. gar nicht mehr vorhanden, was weitere Regulierungen angeht. Die Formulierung im Koalitionsvertrag spricht nur von Informations-, nicht aber von Mitbestimmungsrechten, so dass sich die Union hier auch nicht weiter wird bewegen müssen.«

Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen werden passend gemacht: Für den Mindestlohn keine Arbeitnehmer, für die Statistik sehr wohl

Mit Beginn dieses Jahres haben wir gelernt: Es gibt eine gesetzliche Lohnuntergrenze, den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde, für alle Arbeitnehmer. Nun ja, für fast alle. Also ein paar sind ausgenommen oder bekommen erst etwas später die 8,50 Euro auf die Hand. Aber grundsätzlich für alle. Vor diesem Hintergrund wird man aufmerksam, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Urteil: Kein Mindestlohn für behinderte Menschen in Behindertenwerkstatt. Oder dieser Bericht hier: Beschäftigte in Behinderten-Werkstätten sind grds. keine Arbeitnehmer – Kein Mindestlohnanspruch. Ausgangspunkt beider Artikel ist eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel (Arbeitsgericht Kiel 19.6.2015, 2 Ca 165 a/15). Die Kernaussage des Urteils: »Behinderte Menschen können für ihre Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte nicht den gesetzlichen Mindestlohn beanspruchen. Denn diesen können nur Arbeitnehmer, nicht aber arbeitnehmerähnliche Beschäftigte verlangen, entschied das Arbeitsgericht Kiel in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 19. Juni 2015.«

Auf der anderen Seite wurden die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen – immerhin sprechen wir hier deutschlandweit von mehr als 300.000 Menschen – im vergangenen Jahr explizit als „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in die Statistik mit aufgenommen und haben dadurch (zusammen mit mehr als 30.000 Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder etwa Berufsbildungswerken beschäftigt sind, sowie knapp 80.000 meist junge Leute, die ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst leisten) die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 350.000 Personen nach oben gehoben. Wie praktisch, denn: »Ohne die zusätzlichen Personengruppen wäre nach dem neuen Konzept die sozialversicherte Beschäftigung absolut sogar um 67.000 Personen gesunken. Nun aber wird das Beschäftigungsniveau rein rechnerisch um 347.000 Personen höher ausfallen«, so der DGB im vergangenen Jahr: Geänderte BA-Statistik: Plötzlich 414.000 Beschäftigte mehr.  Dazu auch die methodischen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Aber werfen wir zuerst einen Blick auf das neue Urteil den Nicht-Mindestlohnanspruch der Beschäftigten in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreffend. Die dem Verfahren zugrundeliegende Fallkonstellation erläutert der Sozialverband VdK in seinem Artikel so:

»Geklagt hatte ein unter Betreuung stehender Schwerbehinderter, der in einer Werkstatt für Behinderte im Gemüseanbau und der Verpackung tätig war. Außerdem belieferte er zweimal wöchentlich Kunden auf einer festen Fahrtour mit Lebensmittelkisten. Laut Werkstattvertrag erhielt er zuletzt für eine 38,5-Stunden-Woche eine Nettovergütung in Höhe von monatlich 216,75 Euro. Der Kreis Rendsburg Eckernförde hat als Träger der Eingliederungshilfe die Kosten für die teilstationäre Betreuung des Klägers in der Werkstatt übernommen.
Der Kläger meinte, dass die Vergütung viel zu gering sei. Wegen seiner Leistungsfähigkeit und seiner positiven Persönlichkeitsentwicklung habe sich das arbeitnehmerähnliche Arbeitsverhältnis in ein reguläres Arbeitnehmerverhältnis umgewandelt. Er habe letztlich aber nur einen sittenwidrigen Stundenlohn von 1,49 Euro erhalten.
Für das Jahr 2014 müsse ihm daher ein „angemessener Lohn“ von mindestens sechs Euro gezahlt werden. Ab Januar 2015 greife der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro.
Doch das Arbeitsgericht urteilte, dass dem Schwerbehinderten weder für 2014 eine „angemessene Vergütung“ noch ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn zustehe. Eine „angemessene Vergütung“ könne nach dem Gesetz nur verlangt werden, wenn die Entlohnung im Vertrag nicht geregelt oder sittenwidrig ist.
Hier sei der Werkstattvertrag nicht sittenwidrig. Die darin enthaltene Vergütung orientiere sich an den gesetzlichen Bestimmungen für in einer anerkannten Werkstat tätige behinderte Menschen.«

Aber was ist mit dem gesetzlichen Mindestlohn ab dem 1. Januar 2015 für alle Arbeitnehmer mit Ausnahme derjenigen, die explizit ausgenommen worden sind (wozu die WbM-Beschäftigten erst einmal nicht gehören)? Dazu wieder der VdK:

»Der Kläger sei auch kein Arbeitnehmer. „Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu“, stellte das Arbeitsgericht klar.
Nur weil der Kläger ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeitsleistung erbringt, bestehe noch kein Arbeitsverhältnis. Außerdem sei bei dem Schwerbehinderten eine sozialversicherungsrechtliche Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden. Der Bericht der Werkstatt über die Entwicklung des Klägers zeige zudem, dass dieser weiterhin auf Förderung angewiesen sei. Dies spreche gegen eine „wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses“, urteilte das Arbeitsgericht.«

Um es juristisch noch genauer zu fassen, lohnt ein Blick in die Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel, denn die rekurriert auf eine Unterscheidung zwischen einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis iSd. §§ 136 ff. SGB IX und einem Arbeitsverhältnis. Und das geht dann so:

»Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu. Eine Werkstatt für behinderte Menschen ist gemäß § 136 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das selbige. Sie stellt ein Angebot für behinderte Menschen dar, die aufgrund ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, diese dennoch zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis zu beschäftigen … Dabei ist der Umstand, dass ein schwerbehinderter Mensch ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringt, kein Kennzeichen für ein Arbeitsverhältnis, sondern Aufnahmevoraussetzung für die Werkstatt nach § 136 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Ein Arbeitsverhältnis liegt erst dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch wie ein Arbeitnehmer auch in quantitativer Hinsicht wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringt, also der Hauptzweck seiner Beschäftigung das Erbringen wirtschaftlich verwertbarer Leistung ist und nicht der vorgenannte Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX im Vordergrund steht.«

Zugegeben – schwere Kost. Aber die Richter setzen noch einen drauf:

»… gegen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses spricht neben der sozialversicherungsrechtlich festgestellten Erwerbsunfähigkeit auch ausdrücklich der aktualisierte Entwicklungsbericht, wonach der Kläger gerade der weiteren arbeitspädagogischen Begleitung und Förderung bedarf.«

Die Sondersituation ergibt sich also aus Sicht der Richter aus der „sozialversicherungsrechtlich restgestellten Erwerbsunfähigkeit“ – der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle sogleich aber daran denken, dass doch arbeitsmarktstatistisch genau diese Menschen seit 2014 zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gezählt werden. Ja, so ist das. Man kann sich seinen Teil denken.

Die Grundproblematik wurde in diesem Blog bereits am 25.10.2014 aufgerufen mit dem Beitrag Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen und Bundesfreiwillige als Budgetbremse für die Rentner? Ein Exkurs über die faktische Kraft der Statistik in der realen Sozialpolitik. Damals ging es darum, dass die Rentenerhöhung 2015 für die gut 20 Millionen Rentner niedriger ausfallen musste aufgrund der Aufblähung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zudem noch – Beschäftigte in WfbMs und Buftis – mit sehr niedrigen Einkommen in die Statistik eingeflossen sind.

Fazit:  Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese (im Jahr 2014) zusätzlich rund 400.000 Personen als sozialversicherungspflichtig beschäftigt gelten, nicht nur irgendwie als erwerbstätig, was ja auch Selbständige, geringfügig Beschäftigte oder Beamte sind. Also irgendwie „richtige“ Arbeitnehmer. So werden sie auch gezählt. Aber beim Mindestlohn gilt das dann wieder nicht, dann sind sie keine „richtigen“ Arbeitnehmer. Das Thema und die dahinter liegende Problematik ist nicht  trivial. Dazu beispielsweise die Veröffentlichung Zwischen Entgelt und Geltung: Zur Problematik von Lohnsystemen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung von Caroline Richter und Alexander Bendel aus dem August 2014. Ihre Zusammenfassung verdeutlicht bereits das Minenfeld, in dem wir uns hier bewegen:

»Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) ermöglichen Beschäftigung zu einem der Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis, so schreibt es § 136 Abs. 1 S. 1 im Sozialgesetzbuch (SGB) IX bereits seit 2001 vor. Während das „Ob“ der leistungsgerechten Ent­geltgestaltung gesetzlich vorgegeben ist, muss das „Wie“ hingegen durch die Werkstätten selbst konkretisiert und bemessen werden. Der rechtliche Rahmen gibt lediglich vor, dass das Entgelt der Beschäftigten – neben einem festgelegten Grundbetrag – auf Basis der individuellen Leistung, Menge und Güte der erbrachten Arbeit zu entrichten ist (§ 138 Abs. 2 S. 2 SGB IX). In den vergangenen 13 Jahren wurden bundesweit in mehr als 700 WfbM geeignete Ansätze zur Bemessung individueller Arbeitsleistung und zur Gestaltung geeigneter Entgeltordnungen gesucht, die Ergebnisse aber kaum thematisiert. Die Suche nach Orientierung bleibt vakant und wird durch aktuelle Entwicklungen brisanter: Wie kann die individuelle Arbeitsleistung, Arbeitsmenge und Arbeitsgüte in einem Tätigkeitsfeld bemessen werden, in dem der rehabilitative Auftrag wichtiger als die ökonomische Rationalität ist?«

Über den Wolken muss die Freiheit der Ausbeutung annähernd grenzenlos sein. Der Billigflieger Ryanair mal wieder

Wenn man über Billigflieger sprechen muss, dann assoziieren das viele Menschen mit dem irischen Unternehmen Ryanair. Und das sicher nicht grundlos. Seit 1993 wird diese Fluglinie von  Michael O’Leary geführt, der sich durch seine extravaganten Auftritte und Eskapaden den Ruf des „enfant terrible“ der Luftfahrtbranche „erarbeitet“ hat. Er hat die ursprüngliche Strategie der Gründerfamilie Ryan nicht fortgesetzt, sondern von Anfang an voll auf das Billigflug-Konzept (niedrigste Preise und keine Extras) gesetzt, das er von der der US-amerikanischen Fluggesellschaft Southwest Airlines kopierte. Unrentable Strecken wurden eingestellt und man hat sich auf nur einen Flugzeugtyp fokussiert. Ryanair dreht an vielen Stellschrauben, um als Kosteneffizienzmaschine der Konkurrenz zuzusetzen. Und das Unternehmen ist „wirtschaftlich“ (in einem sehr begrenzten Verständnis davon) mehr als erfolgreich. Und zwar so erfolgreich, dass derzeit in Deutschland die nächste Angriffswelle gegen die Konkurrenz anzulaufen beginnt: Ryanair eröffnet einen neuen Preiskampf, muss man beispielsweise gerade in diesen Tagen in der Presse lesen. Nachdem Ryanair in Ländern wie Spanien, Italien und Großbritannien stark gewachsen ist, hat man sich nun offensichtlich den deutschen Markt besonders herausgegriffen – sicher auch, weil man die Schwächen und Schieflagen der heimischen Linien wie Lufthansa und Air Berlin Geiselhaft zur Kenntnis genommen hat. Das Unternehmen hat eine neue Basis in Berlin eröffnet (also nicht mehr auf irgendeinem abseitigen und hoch subventionierten Regionalflughafen, fast 400 zusätzliche Jets bestellt und will den Marktanteil in Deutschland mittelfristig auf 20 Prozent steigern. 

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Arbeit in der Paketzustellung: Verheddert im System der organisierten Unverantwortlichkeit

Der Höhepunkt des Jahres steht bevor, also für die Paketdienste in diesem Land: das Weihnachtsgeschäft. Auch wenn das Business das ganze Jahr über immer lauter und damit besser brummt, bleibt die Zeit vor Weihnachten der absolute Aktivitätsgipfel, vor allem für diejenigen, die das ganze Zeug zu den Kunden bringen müssen: die Paketzusteller.

Und deren Arbeitsbedingungen waren in der Vergangenheit schon regelmäßig im Fokus einer kritischen Berichterstattung in den Medien, auch mit angetrieben durch die Under cover-Recherchen des umtriebigen Günter Wallraff vor einiger Zeit, der sich selbst als Paketzusteller verdingt und eindrucksvolle Erfahrungen gesammelt hat. Berichte darüber findet man auch in dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive (zu DHL, GLS & Co. S. 167 ff.). Aber trotz der medialen Skandalisierung ist die Lage offensichtlich nicht besser geworden, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Zunehmend werden beispielsweise osteuropäische Wanderarbeiter eingesetzt, um noch billiger arbeiten zu lassen, mit mehr als skandalösen Bedingungen, denen die Menschen aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. Zugleich muss man beobachten, dass auch viele der Subunternehmer, an denen das gesamte Geschäftsmodell der Paketdienste hängt, in den existenziellen Abgrund gestoßen werden und ihren Ausflug in die „Selbständigkeit“, die sich in der Realität als perfide Form der Scheinselbständigkeit entpuppt, mit einer Schuldenfalle bezahlen, für die es dann nur noch den Exit Privatinsolvenz gibt.
Vor diesem Hintergrund war es Zeit, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Gewerkschaft ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland (in Kooperation mit der GUV-Fakulta,  dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen, der TBS gGmbH Rheinland-Pfalz sowie der Regionalstelle für Arbeitnehmer- und Betriebsseelsorge Mainz) hat deshalb am 31.10.2015 in Mainz ein Tribunal Arbeit in der Paketzustellung veranstaltet, bei dem im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung die Branche angeklagt und die Vorwürfe vor einem „Gericht“ verhandelt wurden. Neben vielen Zeugen, vor allem Betroffenen aus der Branche, wurden als Sachverständige für die Befragung des „Gerichts“ Günter Wallraff und ich geladen.

Eine gute Zusammenfassung der Veranstaltung findet sich in dem Artikel „Arbeit in der Paketzustellung“: Betroffene berichten in Mainz, wie sie in einer boomenden Branche leiden – Unter ihnen: Günter Wallraff von Carina Schmidt. Die Zeugen, die „Gerichtspräsidentin“ und Moderatorin Margarete Ruschmann im voll besetzen Unterhaus befragte, boten ein erschütterndes Bild durch ihre Aussagen. Es herrscht ein unglaublicher Druck auf die Subunternehmer, was ein ehemaliger DPD-Niederlassungsleiter bestätigte. „Die Auftraggeber geben den Subunternehmern alles vor, also die Zeiten, die Anzahl der Pakete und den Betrag“, bestätigte Giovanni Berardi, Geschäftsführer vom Interessenverband selbstständiger Subunternehmer im Transportgewerbe (ISSiT).
Die Subunternehmen geben diesen Druck oft weiter an ihre Beschäftigte.

»Wie Gewerkschaftsekretärin Tanja Lauer informierte, würden die Subunternehmer überwiegend Geringfügigbeschäftigte anstellen: „Sie werden nicht nach Tarif bezahlt, sodass ihr Lohn knapp unter dem Mindestlohn liegt. Viele werden auch in eine Scheinselbstständigkeit gedrängt.“ Die Beschäftigten würden zu einem großen Teil aus Osteuropa stammen, die unter falschen Versprechungen über Lohn und Arbeitszeit nach Deutschland gelockt werden.«

Und da sind wir schon angekommen bei einem Teil des Tribunals, wo selbst diejenigen, die sich professionell mit den Arbeitsbedingungen in unserem Land beschäftigen (müssen), mehr als „beeindruckt“ waren – eine Zeugenaussage von zwei rumänischen Paketzustellern, die geschildert haben, wie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen hier bei uns in Deutschland aussehen und die auch Opfer geworden sind der von Tanja Lauer beschriebenen falschen Versprechungen, die man ihnen in Rumänien gemacht haben. Dazu Carina Schmidt in ihrem Artikel:

»Zwei Männer aus Rumänien … waren auf eine solche Masche reingefallen. „Unser Arbeitsalltag besteht aus 15 Stunden-Schichten ohne Pausen und einer Sechstagewoche und das bei einem Gehalt von 500 bis 700 Euro“, berichteten sie. Die Unterkunft werde vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt, wobei das Zimmer pro Person 250 Euro koste. Wie sie von dem übrigen Geld überhaupt leben könnten? „Von meinen Ersparnissen“, schilderte der Ältere. „Meine Eltern unterstützen mich“, sagte der Jüngere. Dabei sei das eigentlich mal umgekehrt gedacht gewesen.«

Hier noch eine Ergänzung von meiner Seite zu den Aussagen der beiden Rumänen: Ihnen wurde in Rumänien von – man muss sie so nennen – Menschenhändlern „Versprechungen“ gemacht, die so aussahen: Eine Tätigkeit in der Paketzustellung in Deutschland, von 4 Uhr morgens bis maximal 17 Uhr an fünf Tagen in der Woche und netto 1.400 Euro. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Zur Unterkunft: Zur Zeit sind mehr als 20 Rumänen bei dem Subunternehmer beschäftigt, der sie in einer Pension untergebracht hat auf einem Dorf außerhalb der Stadt, die Pension gehört offensichtlich einem Freund des Unternehmers, der daran kräftig verdient. Denn sie müssen 250 Euro pro Monat und Person Miete zahlen, obgleich sie oft zu zweit oder dritt auf einem Einzelzimmer sind. „Wie in einer Höhle“ seien sie untergebracht, so einer der beiden Zeugen. Sie haben dort auch kein Telefon, kein Internet – offensichtlich werden sie abgeschottet und isoliert. Essen bekommen sie nicht gestellt, sie müssen versuchen, irgendwo in der nächst größeren Ortschaft hin und wieder einzukaufen und sie haben eine Küche für alle Bewohner der Pension.

Hinzu kommt: Selbst der karge Lohn für die Sklavenarbeit, die sie machen auf dem deutschen Paketmarkt, wird ihnen oft vorenthalten. 20 andere Rumänen sind schon wieder zurück in ihrer Heimat, ohne dass sie den ihnen zustehenden Lohn vom Arbeitgeber erhalten haben. Wir reden hier über ganz üblen Lohnklau, den wir leider auch in anderen Bereichen immer wieder feststellen müssen, wenn es um osteuropäische Wanderarbeiter geht: in der Fleischindustrie und vor allem auf dem Bau, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Natürlich fragen sich viele, warum die das trotzdem machen, warum schmeißen sie das nicht hin? Auch hier muss man wieder eintauchen in die Realität des Manchester-Kapitalismus auf deutschem Boden im Jahr 2015: Wenn sie von sich aus kündigen würden, dann gibt es so genannte „Vertragsstrafen“ für die Nicht-Erfüllung der vereinbarten Leistung.

Das alles ist schon unglaublich skandalös. Aber es gibt einen zweiten Skandal hinter diesem Skandal. Und in der Addition dessen, was von Gewerkschaftsseite dazu berichtet wurde, muss man von einem echten „Systemversagen“ des Staates sprechen:

Der Gewerkschaftssekretär Sigurd Holler sagte vor dem Tribunal aus, dass er in einer vergleichbaren Angelegenheit, also der Beschäftigung von Rumänen bei einen Subunternehmer, der für DPD fährt und der mittlerweile andere Subunternehmer verdrängt, weil er billiger ist, Politiker, Verbände und vor allem staatliche Stellen informiert hat über die skandalösen Arbeit- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. Das bisherige Ergebnis: Von der Gewerbeaufsicht bekam er die Antwort, man könne derzeit keine Außenprüfungen mehr machen, weil der Landesrechnungshof ausgeführt hat, dort können weitere Stellen abgebaut werden, so dass man sparen müsse. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) erklärte sich nur für den Verkehr (auf Autobahnen) zuständig. Vom Zoll habe es überhaupt kein Lebenszeichen, das Arbeitsministerium in Rheinland-Pfalz zeigte sich betroffen, hat auch nachgefragt, seitdem aber hat sich noch nichts getan. Und die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass sie nur tätig werden könne, wenn ein Betroffener individuell Klage erhebe und am besten die Beweise gegen den Arbeitgeber gleich mitbringen würde. Auch GLS und DPD wurden informiert, von GLS gab es wie immer keine Reaktion und vom DPD die Aussage, man „prüfe“ das.

Was wir hier sehen ist das Ergebnis eines fatalen Zusammenspiels individueller Nicht-Zuständigkeiten, das sich im Kollektiv zu einem großen Systemversagen des Staates potenziert. Das wissen auch die Täter in der Branche und deshalb muss man von einer Mittäterschaft auf den Ebenen der Auftraggeber und der der staatlichen Kontrollbehörden sprechen.

Ich selbst habe in meiner „Aussage“ beim Tribunal versucht, das, was in dieser Branche passiert, systematisch einzubetten. Denn natürlich muss man die Frage stellen und zu beantworten versuchen, ob das nicht alles einige wenige „bedauerliche Einzelfälle“ sind oder ob dahinter ein System steckt, Strukturen erkennbar sind. Generell an dieser Stelle der Hinweis auf die Beiträge, die zum Thema Paketdienste und was da hinter der Fassade passiert, auf dieser Seite schon veröffentlicht worden sind.

„Das System lässt sich als eine organisierte Unverantwortlichkeit beschreiben. Denn durch die Subunternehmen können die Auftraggeber Druck ausüben und gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen“, erklärte er. Branchenführer sei die Deutsche Post DHL (mit Delivery). Hinzu kämen aber noch UPS, GLS, DPD und Hermes, so Carina Schmidt in ihrem Artikel.

Das ist die eine Dimension. Wir sind konfrontiert mit einer pyramidalen Organisationsstruktur der Branche, wo die großen Konzerne an der Spitzen stehen und sich zahlreicher Subunternehmer bedienen, die wiederum den Druck weitergeben (müssen) an die bei ihnen Beschäftigten. Die obere Ebene kann im wahrsten Sinne des Wortes ihre Hände immer in Unschuld waschen und darauf verweisen, man habe sich doch von den Subunternehmen unterschreiben lassen, dass die sich an Recht und Gesetz halten. Die Subunternehmen selbst versuchen, auf dem Weg der (Selbst-)Ausbeutung den Kostendruck irgendwie zu bewältigen. Diese Konstruktionsprinzipien führen im Ergebnis dazu, dass am Ende keiner der Akteure der vorgelagerten Stufen noch zuständig erscheint, das Risiko und die Verantwortung wird einfach nach ganz unten, letztendlich bis zum einzelnen Fahrer runter gedrückt. Die andere Dimension, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist die Rutschbahn nach unten, auf der sich die ganze Branche befindet. Wir haben (noch) eine „Mehr-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Branche. An der Spitze stehen die Paketzusteller der Deutschen Post DHL, ausgestattet mit Arbeitsverträgen aus der „alten“ Tarifvertragswelt der Post, die aber leider mittlerweile als Auslaufmodelle bezeichnet werden müssen, denn die „neue“ Welt ist die der Billigtöchter der Deutschen Post DHL, also die Delivery-GmbHs, von denen es mittlerweile 49 gibt (übrigens nur in 7 gibt es überhaupt einen Betriebsrat und aufgrund der Zersplitterung in 49 rechtlich selbständige GmbHs kann es auch keinen Gesamtbetriebsrat geben – neben den deutlichen Gehaltseinbußen im Vergleich zur DHL „alt“ sind die Beschäftigten also auch mit einer deutlichen Schwächung der betrieblichen Mitbestimmung konfrontiert). Die Subunternehmen stehen ganz unten, am Ende der Nahrungskette.

Übrigens – das, was wir hier studieren müssen am Beispiel der Paketdienste, ist ja keine Singularität dieser Branche, sondern bettet sich leider ein in eine branchenübergreifende Entwicklungslinie: Das, was die Deutsche Post DHL Group mit den Delivery-Gesellschaften macht, erleben wir derzeit bei der Lufthansa mit dem Eurowings-Konzept, also dem Ausbau der Billigflieger-Schiene im Konzern. Wir erleben das seit der Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags im Jahr 2000 im Einzelhandel in Form von Tarifflucht der Arbeitgeber und Lohndumping bei den Beschäftigten. Oder man denke an den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), wo es früher kommunale Verkehrsunternehmen gab und mittlerweile zahlreiche Strecken privatisiert wurden und von privaten Busunternehmen betrieben werden (zu häufig deutlich schlechteren Konditionen für die Beschäftigten).

Aber abschließend wieder zurück zu den Beschäftigten in den Paketdiensten. Sie bewegen sich auch deshalb in einer Boom-Branche, weil es eine sich entsprechend entwickelnde Nachfrage gibt. Insofern darf man die Kunden, also wir alle, nicht aus der Betrachtung und letztendlich Mitverantwortung entlassen. Ein wesentlicher Antreiber des Booms der Paketdienste ist die „Amazonisierung“ unserer Gesellschaft. Wenn man eine holzschnittartige Zusammenfassung bestimmter Trends auf der Kundenseite machen muss, dann könnte eine solche Gleichung rauskommen:

Online-Bestell-Boom + Billigmentalität und dann auch noch + tagsüber immer öfter keiner zu Hause, wohin aber bestellt wird = logistische Probleme der Paketzustellunternehmen und vor allem = Probleme für die Paketzusteller

Während die Paketzustellunternehmen versuchen, zum einen bei den Kunden oder einem Teil von ihnen, vor allem im Bereich der Städte, den „Do-it-yourself“-Trend zu verstärken (z.B. Paketboxen), sind die Auswirkungen der Entwicklung auf Seiten der Zusteller, also bei denjenigen, die die Arbeit machen, doppelt problematisch: Zum einen mehr Pakete pro Zusteller, zum anderen immer schwerere Pakete, denn anders als früher wird mittlerweile fast alles per Paketzustellung bestellt und versendet.

Es wird dringend Zeit, hier Ordnung zu schaffen, vorrangig im Interesse der Beschäftigten, aber auch vieler Subunternehmer, die als faktisch Scheinselbständige nur kleine Bausteine im großen Spiel der Konzerne sind. Dazu gehört neben Kontrollen und der Verfolgung der Missstände in der Branche eine Debatte über die Tarifverträge bis hin zur Allgemeinverbindlichkeit.

Aber auch die Auftraggeber können und müssen in die Verantwortung genommen werden bzw. sie können, das zeigt das folgende Beispiel, selbst aktiv Verantwortung übernehmen:

Den Beschäftigten der Stadt Kopenhagen ist es ab sofort untersagt, für Dienstreisen den Billigflieger Ryanair zu benutzen. Die Begründung: Das Lohndumping beim Konzern sei eine „Schweinerei“.
Es geht hier nicht um irgendeine kleine Kommune, sondern: Mit 45.000 Beschäftigten ist die Stadt Kopenhagen der größte Arbeitgeber des Landes. Wie begründet die Stadt diesen Schritt? Kopenhagen stelle gegenüber allen seinen Lieferanten die Bedingung, dass diese ihren Angestellten „anständige Lohn- und Arbeitsbedingungen garantieren“. Ansonsten würden diese bei Ausschreibungen und Lieferverträgen nicht berücksichtigt, erklärte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der dänischen Hauptstadt, Frank Jensen. Selbst wenn der Billigflieger Ryanair das preisgünstigste Angebot unterbreiten solle, disqualifiziere er sich selbst, solange er sich bei seinen Anstellungsverhältnissen nicht an dänische Arbeitsmarktvorschriften halte – zumindest für von Dänemark ausgehende Flüge.
Acht weitere dänische Kommunen haben einen ähnlichen Schritt wie Kopenhagen angekündigt oder bereits umgesetzt.

Wie ich das finde? Gut so! Man muss sein eigenes Arbeitsmarktmodell nicht mit Füßen treten lassen.