Der Höhepunkt des Jahres steht bevor, also für die Paketdienste in diesem Land: das Weihnachtsgeschäft. Auch wenn das Business das ganze Jahr über immer lauter und damit besser brummt, bleibt die Zeit vor Weihnachten der absolute Aktivitätsgipfel, vor allem für diejenigen, die das ganze Zeug zu den Kunden bringen müssen: die Paketzusteller.
Und deren Arbeitsbedingungen waren in der Vergangenheit schon regelmäßig im Fokus einer kritischen Berichterstattung in den Medien, auch mit angetrieben durch die Under cover-Recherchen des umtriebigen Günter Wallraff vor einiger Zeit, der sich selbst als Paketzusteller verdingt und eindrucksvolle Erfahrungen gesammelt hat. Berichte darüber findet man auch in dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive (zu DHL, GLS & Co. S. 167 ff.). Aber trotz der medialen Skandalisierung ist die Lage offensichtlich nicht besser geworden, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Zunehmend werden beispielsweise osteuropäische Wanderarbeiter eingesetzt, um noch billiger arbeiten zu lassen, mit mehr als skandalösen Bedingungen, denen die Menschen aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. Zugleich muss man beobachten, dass auch viele der Subunternehmer, an denen das gesamte Geschäftsmodell der Paketdienste hängt, in den existenziellen Abgrund gestoßen werden und ihren Ausflug in die „Selbständigkeit“, die sich in der Realität als perfide Form der Scheinselbständigkeit entpuppt, mit einer Schuldenfalle bezahlen, für die es dann nur noch den Exit Privatinsolvenz gibt.
Vor diesem Hintergrund war es Zeit, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Gewerkschaft ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland (in Kooperation mit der GUV-Fakulta, dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen, der TBS gGmbH Rheinland-Pfalz sowie der Regionalstelle für Arbeitnehmer- und Betriebsseelsorge Mainz) hat deshalb am 31.10.2015 in Mainz ein Tribunal Arbeit in der Paketzustellung veranstaltet, bei dem im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung die Branche angeklagt und die Vorwürfe vor einem „Gericht“ verhandelt wurden. Neben vielen Zeugen, vor allem Betroffenen aus der Branche, wurden als Sachverständige für die Befragung des „Gerichts“ Günter Wallraff und ich geladen.
Eine gute Zusammenfassung der Veranstaltung findet sich in dem Artikel „Arbeit in der Paketzustellung“: Betroffene berichten in Mainz, wie sie in einer boomenden Branche leiden – Unter ihnen: Günter Wallraff von Carina Schmidt. Die Zeugen, die „Gerichtspräsidentin“ und Moderatorin Margarete Ruschmann im voll besetzen Unterhaus befragte, boten ein erschütterndes Bild durch ihre Aussagen. Es herrscht ein unglaublicher Druck auf die Subunternehmer, was ein ehemaliger DPD-Niederlassungsleiter bestätigte. „Die Auftraggeber geben den Subunternehmern alles vor, also die Zeiten, die Anzahl der Pakete und den Betrag“, bestätigte Giovanni Berardi, Geschäftsführer vom Interessenverband selbstständiger Subunternehmer im Transportgewerbe (ISSiT).
Die Subunternehmen geben diesen Druck oft weiter an ihre Beschäftigte.
»Wie Gewerkschaftsekretärin Tanja Lauer informierte, würden die Subunternehmer überwiegend Geringfügigbeschäftigte anstellen: „Sie werden nicht nach Tarif bezahlt, sodass ihr Lohn knapp unter dem Mindestlohn liegt. Viele werden auch in eine Scheinselbstständigkeit gedrängt.“ Die Beschäftigten würden zu einem großen Teil aus Osteuropa stammen, die unter falschen Versprechungen über Lohn und Arbeitszeit nach Deutschland gelockt werden.«
Und da sind wir schon angekommen bei einem Teil des Tribunals, wo selbst diejenigen, die sich professionell mit den Arbeitsbedingungen in unserem Land beschäftigen (müssen), mehr als „beeindruckt“ waren – eine Zeugenaussage von zwei rumänischen Paketzustellern, die geschildert haben, wie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen hier bei uns in Deutschland aussehen und die auch Opfer geworden sind der von Tanja Lauer beschriebenen falschen Versprechungen, die man ihnen in Rumänien gemacht haben. Dazu Carina Schmidt in ihrem Artikel:
»Zwei Männer aus Rumänien … waren auf eine solche Masche reingefallen. „Unser Arbeitsalltag besteht aus 15 Stunden-Schichten ohne Pausen und einer Sechstagewoche und das bei einem Gehalt von 500 bis 700 Euro“, berichteten sie. Die Unterkunft werde vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt, wobei das Zimmer pro Person 250 Euro koste. Wie sie von dem übrigen Geld überhaupt leben könnten? „Von meinen Ersparnissen“, schilderte der Ältere. „Meine Eltern unterstützen mich“, sagte der Jüngere. Dabei sei das eigentlich mal umgekehrt gedacht gewesen.«
Hier noch eine Ergänzung von meiner Seite zu den Aussagen der beiden Rumänen: Ihnen wurde in Rumänien von – man muss sie so nennen – Menschenhändlern „Versprechungen“ gemacht, die so aussahen: Eine Tätigkeit in der Paketzustellung in Deutschland, von 4 Uhr morgens bis maximal 17 Uhr an fünf Tagen in der Woche und netto 1.400 Euro. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Zur Unterkunft: Zur Zeit sind mehr als 20 Rumänen bei dem Subunternehmer beschäftigt, der sie in einer Pension untergebracht hat auf einem Dorf außerhalb der Stadt, die Pension gehört offensichtlich einem Freund des Unternehmers, der daran kräftig verdient. Denn sie müssen 250 Euro pro Monat und Person Miete zahlen, obgleich sie oft zu zweit oder dritt auf einem Einzelzimmer sind. „Wie in einer Höhle“ seien sie untergebracht, so einer der beiden Zeugen. Sie haben dort auch kein Telefon, kein Internet – offensichtlich werden sie abgeschottet und isoliert. Essen bekommen sie nicht gestellt, sie müssen versuchen, irgendwo in der nächst größeren Ortschaft hin und wieder einzukaufen und sie haben eine Küche für alle Bewohner der Pension.
Hinzu kommt: Selbst der karge Lohn für die Sklavenarbeit, die sie machen auf dem deutschen Paketmarkt, wird ihnen oft vorenthalten. 20 andere Rumänen sind schon wieder zurück in ihrer Heimat, ohne dass sie den ihnen zustehenden Lohn vom Arbeitgeber erhalten haben. Wir reden hier über ganz üblen Lohnklau, den wir leider auch in anderen Bereichen immer wieder feststellen müssen, wenn es um osteuropäische Wanderarbeiter geht: in der Fleischindustrie und vor allem auf dem Bau, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Natürlich fragen sich viele, warum die das trotzdem machen, warum schmeißen sie das nicht hin? Auch hier muss man wieder eintauchen in die Realität des Manchester-Kapitalismus auf deutschem Boden im Jahr 2015: Wenn sie von sich aus kündigen würden, dann gibt es so genannte „Vertragsstrafen“ für die Nicht-Erfüllung der vereinbarten Leistung.
Das alles ist schon unglaublich skandalös. Aber es gibt einen zweiten Skandal hinter diesem Skandal. Und in der Addition dessen, was von Gewerkschaftsseite dazu berichtet wurde, muss man von einem echten „Systemversagen“ des Staates sprechen:
Der Gewerkschaftssekretär Sigurd Holler sagte vor dem Tribunal aus, dass er in einer vergleichbaren Angelegenheit, also der Beschäftigung von Rumänen bei einen Subunternehmer, der für DPD fährt und der mittlerweile andere Subunternehmer verdrängt, weil er billiger ist, Politiker, Verbände und vor allem staatliche Stellen informiert hat über die skandalösen Arbeit- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. Das bisherige Ergebnis: Von der Gewerbeaufsicht bekam er die Antwort, man könne derzeit keine Außenprüfungen mehr machen, weil der Landesrechnungshof ausgeführt hat, dort können weitere Stellen abgebaut werden, so dass man sparen müsse. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) erklärte sich nur für den Verkehr (auf Autobahnen) zuständig. Vom Zoll habe es überhaupt kein Lebenszeichen, das Arbeitsministerium in Rheinland-Pfalz zeigte sich betroffen, hat auch nachgefragt, seitdem aber hat sich noch nichts getan. Und die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass sie nur tätig werden könne, wenn ein Betroffener individuell Klage erhebe und am besten die Beweise gegen den Arbeitgeber gleich mitbringen würde. Auch GLS und DPD wurden informiert, von GLS gab es wie immer keine Reaktion und vom DPD die Aussage, man „prüfe“ das.
Was wir hier sehen ist das Ergebnis eines fatalen Zusammenspiels individueller Nicht-Zuständigkeiten, das sich im Kollektiv zu einem großen Systemversagen des Staates potenziert. Das wissen auch die Täter in der Branche und deshalb muss man von einer Mittäterschaft auf den Ebenen der Auftraggeber und der der staatlichen Kontrollbehörden sprechen.
Ich selbst habe in meiner „Aussage“ beim Tribunal versucht, das, was in dieser Branche passiert, systematisch einzubetten. Denn natürlich muss man die Frage stellen und zu beantworten versuchen, ob das nicht alles einige wenige „bedauerliche Einzelfälle“ sind oder ob dahinter ein System steckt, Strukturen erkennbar sind. Generell an dieser Stelle der Hinweis auf die Beiträge, die zum Thema Paketdienste und was da hinter der Fassade passiert, auf dieser Seite schon veröffentlicht worden sind.
„Das System lässt sich als eine organisierte Unverantwortlichkeit beschreiben. Denn durch die Subunternehmen können die Auftraggeber Druck ausüben und gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen“, erklärte er. Branchenführer sei die Deutsche Post DHL (mit Delivery). Hinzu kämen aber noch UPS, GLS, DPD und Hermes, so Carina Schmidt in ihrem Artikel.
Das ist die eine Dimension. Wir sind konfrontiert mit einer pyramidalen Organisationsstruktur der Branche, wo die großen Konzerne an der Spitzen stehen und sich zahlreicher Subunternehmer bedienen, die wiederum den Druck weitergeben (müssen) an die bei ihnen Beschäftigten. Die obere Ebene kann im wahrsten Sinne des Wortes ihre Hände immer in Unschuld waschen und darauf verweisen, man habe sich doch von den Subunternehmen unterschreiben lassen, dass die sich an Recht und Gesetz halten. Die Subunternehmen selbst versuchen, auf dem Weg der (Selbst-)Ausbeutung den Kostendruck irgendwie zu bewältigen. Diese Konstruktionsprinzipien führen im Ergebnis dazu, dass am Ende keiner der Akteure der vorgelagerten Stufen noch zuständig erscheint, das Risiko und die Verantwortung wird einfach nach ganz unten, letztendlich bis zum einzelnen Fahrer runter gedrückt. Die andere Dimension, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist die Rutschbahn nach unten, auf der sich die ganze Branche befindet. Wir haben (noch) eine „Mehr-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Branche. An der Spitze stehen die Paketzusteller der Deutschen Post DHL, ausgestattet mit Arbeitsverträgen aus der „alten“ Tarifvertragswelt der Post, die aber leider mittlerweile als Auslaufmodelle bezeichnet werden müssen, denn die „neue“ Welt ist die der Billigtöchter der Deutschen Post DHL, also die Delivery-GmbHs, von denen es mittlerweile 49 gibt (übrigens nur in 7 gibt es überhaupt einen Betriebsrat und aufgrund der Zersplitterung in 49 rechtlich selbständige GmbHs kann es auch keinen Gesamtbetriebsrat geben – neben den deutlichen Gehaltseinbußen im Vergleich zur DHL „alt“ sind die Beschäftigten also auch mit einer deutlichen Schwächung der betrieblichen Mitbestimmung konfrontiert). Die Subunternehmen stehen ganz unten, am Ende der Nahrungskette.
Übrigens – das, was wir hier studieren müssen am Beispiel der Paketdienste, ist ja keine Singularität dieser Branche, sondern bettet sich leider ein in eine branchenübergreifende Entwicklungslinie: Das, was die Deutsche Post DHL Group mit den Delivery-Gesellschaften macht, erleben wir derzeit bei der Lufthansa mit dem Eurowings-Konzept, also dem Ausbau der Billigflieger-Schiene im Konzern. Wir erleben das seit der Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags im Jahr 2000 im Einzelhandel in Form von Tarifflucht der Arbeitgeber und Lohndumping bei den Beschäftigten. Oder man denke an den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), wo es früher kommunale Verkehrsunternehmen gab und mittlerweile zahlreiche Strecken privatisiert wurden und von privaten Busunternehmen betrieben werden (zu häufig deutlich schlechteren Konditionen für die Beschäftigten).
Aber abschließend wieder zurück zu den Beschäftigten in den Paketdiensten. Sie bewegen sich auch deshalb in einer Boom-Branche, weil es eine sich entsprechend entwickelnde Nachfrage gibt. Insofern darf man die Kunden, also wir alle, nicht aus der Betrachtung und letztendlich Mitverantwortung entlassen. Ein wesentlicher Antreiber des Booms der Paketdienste ist die „Amazonisierung“ unserer Gesellschaft. Wenn man eine holzschnittartige Zusammenfassung bestimmter Trends auf der Kundenseite machen muss, dann könnte eine solche Gleichung rauskommen:
Online-Bestell-Boom + Billigmentalität und dann auch noch + tagsüber immer öfter keiner zu Hause, wohin aber bestellt wird = logistische Probleme der Paketzustellunternehmen und vor allem = Probleme für die Paketzusteller
Während die Paketzustellunternehmen versuchen, zum einen bei den Kunden oder einem Teil von ihnen, vor allem im Bereich der Städte, den „Do-it-yourself“-Trend zu verstärken (z.B. Paketboxen), sind die Auswirkungen der Entwicklung auf Seiten der Zusteller, also bei denjenigen, die die Arbeit machen, doppelt problematisch: Zum einen mehr Pakete pro Zusteller, zum anderen immer schwerere Pakete, denn anders als früher wird mittlerweile fast alles per Paketzustellung bestellt und versendet.
Es wird dringend Zeit, hier Ordnung zu schaffen, vorrangig im Interesse der Beschäftigten, aber auch vieler Subunternehmer, die als faktisch Scheinselbständige nur kleine Bausteine im großen Spiel der Konzerne sind. Dazu gehört neben Kontrollen und der Verfolgung der Missstände in der Branche eine Debatte über die Tarifverträge bis hin zur Allgemeinverbindlichkeit.
Aber auch die Auftraggeber können und müssen in die Verantwortung genommen werden bzw. sie können, das zeigt das folgende Beispiel, selbst aktiv Verantwortung übernehmen:
Den Beschäftigten der Stadt Kopenhagen ist es ab sofort untersagt, für Dienstreisen den Billigflieger Ryanair zu benutzen. Die Begründung: Das Lohndumping beim Konzern sei eine „Schweinerei“.
Es geht hier nicht um irgendeine kleine Kommune, sondern: Mit 45.000 Beschäftigten ist die Stadt Kopenhagen der größte Arbeitgeber des Landes. Wie begründet die Stadt diesen Schritt? Kopenhagen stelle gegenüber allen seinen Lieferanten die Bedingung, dass diese ihren Angestellten „anständige Lohn- und Arbeitsbedingungen garantieren“. Ansonsten würden diese bei Ausschreibungen und Lieferverträgen nicht berücksichtigt, erklärte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der dänischen Hauptstadt, Frank Jensen. Selbst wenn der Billigflieger Ryanair das preisgünstigste Angebot unterbreiten solle, disqualifiziere er sich selbst, solange er sich bei seinen Anstellungsverhältnissen nicht an dänische Arbeitsmarktvorschriften halte – zumindest für von Dänemark ausgehende Flüge.
Acht weitere dänische Kommunen haben einen ähnlichen Schritt wie Kopenhagen angekündigt oder bereits umgesetzt.
Wie ich das finde? Gut so! Man muss sein eigenes Arbeitsmarktmodell nicht mit Füßen treten lassen.