Der Arbeitsmarkt und die vielen Zahlen: Von (halb)offiziellen Arbeitslosen über Flüchtlinge im statistischen Niemandsland bis zu dauerhaft im Grundsicherungssystem Eingeschlossenen

Um es gleich an den Anfang des Beitrags zu stellen: „Den“ Arbeitsmarkt gibt es sowieso nicht und wenn, dann nur in den Lehrbüchern mancher Ökonomen, die zudem auch noch suggerieren, dieser Markt würde in etwa so funktionieren wie der für Kartoffeln (und deshalb ist der Mindestlohn auch schlecht). Die Wirklichkeit ist wie immer (und je nach Gemütsverfassung) viel bunter bzw. grauer. Es gibt unzählige Einzelarbeitsmärkte und viele von denen sind auch noch lokal/regional begrenzt. Das erklärt einen nicht kleinen Teil der Probleme, die man mit Ausgleichsprozessen auf bzw. – noch schlimmer – zwischen diesen einzelnen Märkten hat. Der normale Arbeitnehmer weiß davon ein Lied zu singen, vor allem, wenn man eine neue Stelle sucht oder suchen muss. Aber das scheint ja immer seltener erforderlich z u sein, folgt man den (scheinbaren) Jubelmeldungen über die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland, wie sie in monatlichen Abständen aus Nürnberg über die Medien verbreitet werden.

„Der Arbeitsmarkt ist gut in das neue Jahr gestartet. Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist im Januar allein aus jahreszeitlichen Gründen gestiegen. Saisonbereinigt gab es einen Rückgang“, so wird der Noch-Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, am 31. Januar 2017 anlässlich der monatlichen Pressekonferenz in Nürnberg zitiert. Der Zusammenfassung des Monatsberichts Januar 2017 der BA kann man entnehmen:

»Der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung hat sich weiter fortgesetzt, wenn auch nicht mehr so stark wie im ersten Halbjahr 2016. Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern bewegt sich auf anhaltend hohem Niveau. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind allein aufgrund der üblichen Winterpause gestiegen, saisonbereinigt haben sie deutlich abgenommen. Die Arbeitslosigkeit liegt unter dem Vorjahreswert, die Unterbeschäftigung darüber, weil sie den zunehmenden Einsatz von Arbeitsmarktpolitik insbesondere für geflüchtete Menschen berücksichtigt. Ohne diesen Einfluss wäre auch die Unterbeschäftigung gesunken.« (S. 6)

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es seit Jahren ein leidiges Thema der Berichterstattung über den Arbeitsmarkt ist, dass die allermeisten Medien partout vollständig änderungsresistent sind gegenüber dem nun wirklich ebenfalls seit langem bekannten Problem, dass die offizielle Zahl der registrierten Arbeitslosen lediglich die Untergrenze abbildet. Nicht umsonst spricht die BA selbst in ihren Mitteilungen immer nach dieser Zahl gleich von der „Unterbeschäftigung“ – eine (nett formuliert) mehr als unglückliche Wortkrücke für real existierende Arbeitslosigkeit, man könnte auch von Rosstäuscherei sprechen.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht das Problem: Für Januar 2017 werden als Untergrenze 2,77 Mio. Arbeitslose ausgewiesen – und so gut wie alle Medien und auch die Agenturen übernehmen das bis in die Schlagzeilen, vgl. als eines der vielen Beispiel die übernommene Meldung der Agentur Reuters: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) registrierte im Januar 2,777 Millionen Arbeitslose«, die unter die Überschrift gestellt wurde: 2,77 Mio. ohne Job: Arbeitslosenzahl in Deutschland steigt moderat. Überall werden die Menschen mit dieser Zahl versorgt – nur macht es schon einen nicht nur rechnerischen Unterschied, ob man von 2,77 Mio. oder aber von 3,7 Mio., mithin also von 927.170 Arbeitslosen mehr berichten würde. Denn so groß ist die Zahl der „Unterbeschäftigten im engeren Sinne“. Wer darunter abgebucht wird, kann man der Abbildung entnehmen.

Und man muss jetzt doch nicht wirklich auch noch begründen, dass diese Zahl statt der 2,77 Mio. verwendet werden sollte. Denn dass die  über 158.000 Arbeitslosen über 58 Jahre, die aber seit einem Jahr kein Jobangebot mehr bekommen haben, faktisch arbeitslos sind, erschließt sich von selbst (und sie bekommen ja auch weiter ihre Leistungen), werden aber nicht gezählt. Und dass die Teilnehmer am sechsten Kurs „Wie bewerbe ich mich in Zeiten des Internets richtig“ selbstverständlich weiter arbeitslos sind, ist offensichtlich.

Aber es ist eben auch und vor allem ein Medienproblem. In Österreich beispielsweise wird immer die Zahl der Arbeitslosen und der in Maßnahmen befindlichen Menschen zusammen genannt, während bei uns die  mehr als 690.000 Maßnahmenteilnehmer in die „Unterbeschäftigung“ statistisch outgesourct werden.

Immer wieder wird das Thema mal aufgegriffen – so beispielsweise aktuell von Klaus Tscharnke von dpa in seinem Artikel Nicht jeder Arbeitsloser ist im Sinn der Statistik ohne Job. Er stellt die Tücken der Zahlen dar und weist dabei auch auf das Problem der „Unterbeschäftigung“ hin. Dabei zitiert er mich mit dieser Formulierung: »Der Koblenzer Arbeitsmarktforscher Professor Stefan Sell, der sich seit Jahren für mehr Transparenz auf dem Arbeitsmarkt einsetzt, nimmt die Bundesagentur in Schutz: „Die Bundesagentur veröffentlicht alles, man muss nur tief genug hineinsehen.“ Tatsächlich findet, wer sucht, auch Kenngrößen jenseits der reinen Arbeitslosenzahl. Seit ein paar Jahren enthalten Pressemitteilungen der Bundesagentur etwa die Unterbeschäftigung.«

Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, das alles ihn Ordnung ist, sondern die BA muss sich an die gesetzlichen Vorgaben, wer wann als Arbeitsloser Gestalt annehmen darf, halten. Sie versucht allerdings in ihren Mitteilungen seit einiger Zeit kontinuierlich, die Unterbeschäftigung direkt nach den kleingerechneten offiziellen Arbeitslosen aus- und damit darauf hinzuweisen. Es wäre die Aufgabe der Presse, hier endlich wirklichkeitsnäher zu berichten und die bessere Zahl zu verwenden.

Besser, aber bei weitem noch nicht die ganze Heterogenität abbildend. Tscharnke geht einen Schritt weiter und argumentiert in seinem Artikel: »Nimmt man es ganz genau, müsste man eigentlich noch jene Männer und Frauen dazurechnen, die Arbeitsmarktforscher unter dem Begriff „Stille Reserve“ zusammenfassen. Nach Schätzungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) … dürften es rund 271.000 sein.« Das nun ist nicht so ganz einfach, er beschreibt diese Gruppe so: „Das sind“, so die Lesart der Bundesagentur, „beispielsweise Personen, die nicht direkt nach Arbeit suchen und sich deshalb auch nicht bei der örtlichen Arbeitsagentur als arbeitssuchend registrieren lassen, sondern vielmehr abwarten, ob sich ein passender Job anbietet.“ Für andere besteht die „Stille Reserve“ hingegen aus Menschen, die die häufig erfolglose Jobsuche resigniert aufgegeben haben, obwohl sie eigentlich gerne arbeiten würden. Zur „Stillen Reserve“ vgl. auch den Fachbeitrag von Martina Rengers (2016): Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial in der Stillen Reserve. Ergebnisse für das Jahr 2015.

Soll man die nun mitzählen zu den Arbeitslosen? Und was wäre dann mit denen, die in „unfreiwilliger Teilzeit“ arbeiten müssen, also weniger, als sie wollen und oftmals eigentlich auch müssten, um über die Runden zu kommen? Dabei wären dann auch die zu bilanzieren, die gerne weniger arbeiten möchten (vgl. dazu weiterführend den Beitrag von Martina Rengers (2015): Unterbeschäftigung, Überbeschäftigung und Wunscharbeitszeiten in Deutschland).

Damit wären wir beim nächsten Punkt, an dem sich der Zahlensalat in seiner ganzen Größe zeigt. Die Fixierung auf die (offizielle) Zahl der Arbeitslosen wird nicht nur durch die hier diskutierte „Unterbeschäftigung“ fragwürdig, sondern die Größenordnung wird noch weitaus stärker unterzeichnet, wenn man einen Blick wirft auf die Zahl der Menschen, die sich im (kleinen), überschaubaren SGB III-System, also der Arbeitslosenversicherung, befinden und im SGB II-System, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV. Auch dazu veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit eine instruktive Statistik.

Man kann die so zusammenfassen: Von 2,77 Mio. offiziellen Arbeitslosen, 4,34 Mio. erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern bis hin zu über 6 Mio. Menschen im Grundsicherungssystem insgesamt und dazu noch eine Million Menschen in der Arbeitslosenversicherung. Das sind die relevanten Größenordnungen, um die es (nicht nur) in der politischen Diskussion gehen sollte.

Die Abbildung verdeutlicht zugleich, dass das, was umgangssprachlich als „Hartz IV-System“ bezeichnet wird, überaus heterogen ist und weit über die immer noch dominierende Vorstellung von „dem“ arbeitslosen Hartz IV-Empfänger hinausreicht. Denn von den 4,34 Mio. erwerbsfähigen SGB II-Leistungsberechtigten (hinzu kommen weitere 1,66 Mio. Nicht-Erwerbsfähige, vor allem Kinder bis 15 Jahre) tauchen „lediglich“ 1,767 Millionen in der Statistik der arbeitslosen Menschen auf (wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen sollte, dass mittlerweile nur noch 30 Prozent aller offiziellen Arbeitslosen vom SGB III, also der Arbeitslosenversicherung, erfasst werden, die doch eigentlich für die Absicherung des Risikos Arbeitslosigkeit zuständig sein sollte). Was ist mit den anderen? Die sind doch als erwerbsfähig klassifiziert? Darunter befinden sich beispielsweise die „Aufstocker“, also Menschen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beziehen. Oder die vielen Alleinerziehenden, die ein oder mehrere kleine Kinder zu betreuen haben. Oder Menschen, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Oder Auszubildende, die Leistungen beziehen. Man erkennt schnell, um was für ein buntes Universum ganz unterschiedlicher Lebenssachverhalte es sich handelt, wenn wir über „Hartz IV“ sprechen.

Und eine weitere Zahl kann man auch der Abbildung der BA entnehmen. Von den 1,767 Mio. Menschen, die im SGB II sind und als arbeitslos gezählt werden, sind 953.000 Menschen als Langzeitarbeitslose hervorgehoben – und diese Zahl ist auch noch eine Untergrenze, denn aufgrund der „schädlichen Unterbrechungen“ werden beispielsweise Hartz IV-Empfänger, die einen Ein-Euro-Job von sechs Monaten gemacht haben oder eine andere Maßnahme von z.B. drei Monaten nach dem Ende der Maßnahme statistisch wieder „jungfräulich“ gestellt, also ihre Arbeitslosigkeitszeit beginnt wieder bei Null, obgleich sie natürlich weiter faktisch langzeitarbeitslos sind (interessanterweise gelten diese „schädlichen Unterbrechungen“ dann nicht, wenn die Jobcenter Personen auswählen für bestimmte Förderprogramme, die das Merkmal „langzeitarbeitslos“ voraussetzen – woran man erkennen kann, wie willkürlich die statistische Regelung ist).

Und an dieser Stelle kommen wir abschließend zu den interessanten, zugleich teilweise erschreckenden Befunden einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der BA:

Seibert, Holger et al. (2017): Typische Verlaufsmuster beim Grundsicherungsbezug: Für einige Dauerzustand, für andere nur eine Episode. IAB-Kurzbericht, 04/2017, Nürnberg

Der Zusammenfassung kann man folgendes entnehmen:

»Der Bezug von SGB-II-Leistungen ist für die Betroffenen häufig von langer Dauer. Etwa eine Million Leistungsbezieher ist zwischen 2005 und 2014 ununterbrochen auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
Eine Sequenzmusteranalyse auf Basis detaillierter Prozessdaten gibt Aufschluss über typische Erwerbsverläufe von Personen, die 2007 erstmals SGB-II-Leistungen erhielten.

Einem guten Viertel gelingt es, den SGB-II-Leistungsbezug durch die Aufnahme einer ungeförderten Beschäftigung vergleichsweise schnell zu verlassen. Ein knappes Drittel verbleibt hingegen lange im Leistungsbezug und hat relativ wenig Kontakt zum Arbeitsmarkt.

Eine dritte Gruppe wiederum ist zwar relativ gut in den Arbeitsmarkt integriert, kann aber den Lebensunterhalt nicht ohne aufstockende SGB-II-Leistungen bestreiten.

Eine vierte Gruppe meistert den Ausstieg erst nach längerer Zeit.

Bei jüngeren Leistungsbeziehern zeigt sich, dass vor allem der Erwerb eines Ausbildungsabschlusses mittelfristig das Verlassen des Leistungsbezugs begünstigt. Unter denen, die keinen Bildungsabschluss erlangen, bleibt ein hoher Anteil längerfristig auf Leistungen angewiesen.«

In ihrem Fazit kommen die Forscher zu dem bereits angedeutet Ergebnis: »Es gibt eine Reihe von ganz unterschiedlichen aber typischen Muster im Leistungsbezug, wobei eine deutliche Polarisierung zu erkennen ist: Einerseits finden sich Verlaufsmuster, bei denen es den Personen bereits während der ersten Beobachtungsjahre gelingt, den Leistungsbezug meist nachhaltig zu verlassen. Andererseits gibt es Personen, die beständig auf Leistungen angewiesen sind und nur in äußerst geringem Umfang in Beschäftigung zurückfinden. Bei einem Teil dieser Gruppe scheinen auch die eingesetzten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in dieser längerfristigen Betrachtung von insgesamt sieben Jahren nicht zu einer nachhaltigen Integration zu führen. Allerdings fällt die Bildungsausstattung bei den Dauerbeziehern besonders niedrig aus: Hier dominieren fehlende Schulabschlüsse oder Hauptschulabschlüsse und nur eine Minderheit besitzt berufliche Bildungsabschlüsse. Aufgrund der Arbeitsmarktferne steht hier wohl eher ein langfristiges Heranführen an den Arbeitsmarkt im Vordergrund.« (Seibert et al. 2017: 8)

Nur genau dafür fehlen uns schlichtweg die sinnvollen Instrumente, beispielsweise eine moderne öffentlich geförderte Beschäftigung, gekoppelt mit Qualifizierung durch und über „echte“ Arbeit und nicht mehr (wenn überhaupt) das Maßnahmenhopping, das als Grundübel der deutschen Arbeitsmarktpolitik für diesen Personenkreis identifizierbar ist (vgl. dazu kritisch, aber auch mit Lösungsvorschlägen den Beitrag Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II vom 28. Juni 2016).
Und auch die Gruppe der „Aufstocker“ sollte nicht vergessen werden: »Auch andere Werdegänge sind zum Teil durch einen verstetigten Leistungsbezug gekennzeichnet, jedoch sind diese Personen nicht vom Arbeitsmarkt entkoppelt. Vielfach sind sie in Voll- oder Teilzeit beschäftigt, aufgrund ihres Beschäftigungsumfangs, der Entlohnung oder der Bedarfsgemeinschaftsgröße aber dennoch auf SGB-II-Leistungen angewiesen.«

Es geht hier nicht um eine überschaubar kleine Personengruppe, sondern Millionen Menschen sind auf dieses Gleis gesetzt. Das ist unerträglich für eine Gesellschaft, der Teilhabe von Bedeutung ist. Aber selbst, wenn wir mittlerweile in einer Gesellschaft angekommen sein sollten, in der das keine Rolle mehr spielt, muss man darauf hinweisen, dass das Einsperren dieser Menschen in ein eben nicht-bedingungsloses Grundsicherungssystem – mit zahlreichen Auflagen und zu erfüllenden Voraussetzungen aus einer Welt, in der es grundsätzlich ein eigenständiges Leben außerhalb von Hartz IV geben kann durch irgendeine Erwerbsarbeit – überaus fragwürdig daherkommt.

Minijobs diesseits und jenseits vom Mindestlohn sowie darüber hinaus die Frage: Muss und sollte es so bleiben mit den Minijobs?

Es ist ruhig geworden um den gesetzlichen Mindestlohn in den vergangenen Monaten. Seit dem 1. Januar 2015 ist er für (fast) alle in Kraft und zu Beginn dieses Jahres wurde er angehoben auf 8,84 Euro pro Stunde. Die vielen Kritiker der Lohnuntergrenze sind angesichts der nicht eingetretenen Beschäftigungskatastrophe leiser geworden und auf der anderen Seite hat das ausgelagerte Verfahren einer Anpassung des Mindestlohns in die Mindestlohnkommission für die Politik Druck rausgenommen angesichts der vielen Forderungen nach einem deutlich höheren Mindestlohn als das, was wir jetzt haben (vgl. dazu den Beitrag Der gesetzliche Mindestlohn und seine rechnerische Zähmung vom 29. Juni 2016). Nun aber schwappt das Thema wieder in den Strom der öffentlichen Aufmerksamkeit, ausgelöst von einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Thomas Öchsner hat darüber in seinem Artikel unter der Überschrift Millionen Minijobber werden mit illegalen Minigehältern abgespeist berichtet.

Diese Überschrift ist nicht unproblematisch, verleitet sie doch viele Leser nach der ersten, flüchtigen Kenntnisnahme zu dem Eindruck, dass das heute, im Januar 2017 so sei. Und er schreibt dann auch am Anfang seines Beitrags: »Viele Minijobber erhalten nicht den gesetzlichen Mindestlohn, obwohl er ihnen zusteht.« Wenn man dann aber weiterliest, erfahren wir:

»Demnach bekamen 2015 knapp die Hälfte dieser geringfügig Beschäftigten weniger als 8,50 Euro brutto die Stunde, die Arbeitgeber damals mindestens zahlen mussten … „Die Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass die Betriebe bei einem erheblichen Teil der Minijobber nicht wie gesetzlich vorgeschrieben die Löhne erhöht haben“, stellen die Studienautoren Toralf Pusch und Hartmut Seifert fest … Bei wie vielen 450-Euro-Stellen genau die Lohnuntergrenze unterlaufen wird, schreiben die Forscher nicht. Es dürfte sich aber um Millionen handeln.«

Einerseits wird auch hier der Eindruck erweckt, dass es sich um eine aktuelle Bestandsaufnahme handelt, andererseits sollte man die von Öchsner zitierte Jahreszahl – 2015 – nicht überlesen. Da lohnt doch ein Blick in das Original:

Toralf Pusch und Hartmut Seifert: Mindestlohngesetz. Für viele Minijobber weiterhin nur Minilöhne. WSI Policy Brief Nr. 9, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), Januar 2017

Für ihre Studie haben Pusch und Seifert Daten aus zwei Quellen ausgewertet: Dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betreut wird, sowie das Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS), das beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt ist. In beiden Panels wurden im Laufe des Jahres 2015 mehrere Tausend Arbeitnehmer zu Einkommen und Arbeitszeiten befragt. Die WSI-Forscher konzentrieren sich in ihrer Auswertung auf Menschen, für die der Minijob den Haupterwerb darstellt. Branchen, in denen der gesetzliche Mindestlohn für einen Übergangszeitraum legal unterschritten werden durfte, haben sie für ihre Analyse bereits herausgerechnet.

Nun muss man zwei Dinge wissen und bei der Interpretation der Studienergebnissen berücksichtigen:

  1. Auch wenn SOEP und PASS wichtige und überaus hilfreiche Datensätze sind – es handelt sich um Befragungsdaten und Stichproben. Damit verbunden sind zwei methodische Aspekte: Zum einen beruhen die Angaben zu Stundenlöhnen auf den Angaben der Befragten und sind Umrechnungen von deren Angaben, was sie in einem bestimmten Zeitraum, beispielsweise im der Befragung vorgelagerten Monat verdient haben und wie viel Stunden sie gearbeitet haben. Mithin haben wir hier natürlich einen nicht auflösbaren Unschärfebereich, der sich aus den unvermeidbaren Ungenauigkeiten von Befragungsdaten ergibt. Zum anderen kann die Stichprobegröße dazu führen, dass bei bestimmten speziellen Auswertungen, bei denen viele Merkmalsträger ausgeschlossen werden müssen, sehr kleine Fallzahlen resultieren, von denen dann auf die Grundgesamtheit hochgerechnet wird.
  2. Hinzu kommt, dass sich die Datenerhebung in der WSI-Studie auf das Frühjahr 2015 bezieht und damit auf einen Zeitraum kurz nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Damit verbunden sind zwei methodische Fragezeichen: Man kann davon ausgehen, dass sich am Anfang gerade im Bereich der Minijobs – neutral formuliert – noch zahlreiche Übergangs- und Anpassungsschwierigkeiten bei der Überführung der Minijobs in die neue Mindestlohnwelt beobachten lassen (von denen einen Teil im weiteren Verlauf der Zeit gelöst werden), so dass sich mit Blick auf den Jahresanfang 2017 eine Übertragung der Werte von selbst verbietet.

In der Studie selbst gibt es einen kleinen Hinweis auf den zuletzt angesprochenen Mechanismus. So schreibt Öchsner in seinem Bericht über die Studie: »So verdienten im Jahresdurchschnitt 2014 etwa 60 Prozent der Minijobber weniger als 8,50 Euro die Stunde. Dieser Anteil sank zunächst auf etwa 50 Prozent. Der durchschnittliche Zeitpunkt der Befragung war dabei der März 2015. Zieht man die Umfrageergebnisse vom Juni 2015 heran, erhielten immer noch 44 Prozent der Minijobber nicht die 8,50 Euro.« Ganz offensichtlich hatten wir es schon in den wenigen Monaten bis zur Jahresmitte 2015 mit einem beweglichen Ziel zu tun und es spricht nichts dagegen, dass sich die Werte in dem weitaus längeren Zeitraum bis heute weiter nach unten angepasst haben.

Das soll nicht verstanden werden als eine Botschaft dergestalt, dass alles in Ordnung sei in diesem Bereich, dass es keine Probleme mit den Minijobs geben würde. Aber man sollte korrekterweise und im Sinne der Sache darauf verzichten, a) den Eindruck zu erwecken, dass gegenwärtig die Hälfte der Minijobber nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn bekommen und b) dass das gesicherte Daten sind.

Diese Schwachstelle wurde dann auch sofort aufgegriffen von den fundamentalen Mindestlohnkritiker, dazu beispielsweise der Beitrag Inszenierter Minijob-Skandal von Dietrich Creutzburg: »Zumindest Mitarbeiter des Statistischen Bundesamts und der Mindestlohnkommission haben sich am Montag aber darüber gewundert – und zwar nicht nur deshalb, weil die Zahlen auf der recht wackligen Grundlage allgemeiner Haushaltsbefragungen stehen oder weil sie sich bei näherem Hinsehen nur auf das Frühjahr 2015 beziehen, also sehr kurz nach Einführung des Mindestlohns.« Das greift die auch in diesem Beitrag dargestellten kritischen Hinweise auf. Hinzu kommt:

»Vor allem weichen die Zahlen der Böckler-Stiftung stark von jenen ab, die das Statistische Bundesamt längst vorgelegt hat. Demnach waren im April 2015 bis zu 13 Prozent der Minijobber (und nicht 48,5 Prozent) zu Stundenlöhnen von unter 8,50 Euro tätig.
Die amtlichen Statistiker hatten dazu für die Mindestlohnkommission eigens eine Sondererhebung unter 6000 Betrieben mit 70.000 Beschäftigten durchgeführt. Deren im Juni 2016 veröffentlichten Ergebnisse waren bisher auch von Gewerkschaftsseite nicht bezweifelt worden.«

Er spricht hier offensichtlich den ersten Bericht der Mindestlohnkommission an, der im Juni 2016 veröffentlicht worden ist:  Erster Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, so ist das Werk überschrieben. Darin findet man auch die von ihm zitierten Daten (vgl. zur Kritik an diesem Bericht, die aus dem gewerkschaftlichen Lager vorgetragen wurde, den Beitrag Der Mindestlohn und seine Kommission. Die Arbeitnehmervertreter sind sauer über „gravierende Fehldarstellungen“ im ersten Bericht der Kommission über die Auswirkungen der Lohnuntergrenze vom 7. Juli 2016).

Auch wenn es bei der Missachtung der Mindestlohnregelung (wahrscheinlich) nicht mehr ganz so schlimm aussehen mag, wie von der WSI-Studie behauptet – die eigentlich relevante und über den Mindestlohn weit hinausreichende Frage sollte hier aufgerufen werden – denn die verdient eine vertiefende Diskussion:

Ob und wie weiter mit dem Beschäftigungsformat der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die völlig zu Recht seit Jahren immer wieder grundsätzlich kritisiert werden?

Nun muss man vorweg beim Blick auf die geringfügige Beschäftigung unterscheiden zwischen den ausschließlich geringfügig Beschäftigten, die also keiner weiteren Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht die Größenordnung, um die es hier geht: Nach den Daten der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im Juni 2016 von den 7,44 Mio. Minijobbern 4,86 Mio. ausschließlich geringfügig beschäftigt. Das waren immerhin 11,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Bis zum Sommer des letzten Jahres ist diese Zahl im Vergleich zu den Vorjahren gesunken – um 38.000 gegenüber dem Sommer 2015. Und im Juni 2015 wurden bereits 184.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigte gegenüber dem Jahr 2014 gezählt.
Daneben gibt es noch die Kategorie der Minijobber, die eine geringfügige Beschäftigung als Nebenjob, zusätzlich zu einer anderen Hauptbeschäftigung ausüben. Im Juni 2016 waren das mit 2,58 Mio. immerhin 8,2 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Deren Zahl ist übrigens anders als bei den geringfügig Beschäftigten in den zurückliegenden Jahren gestiegen: Um 98.000 gegenüber 2015 und auch da schon hatte es gegenüber 2014 einen Anstieg von 55.000 Nebenjobbern gegeben.

Hinsichtlich der Entwicklung der Minijobs seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gibt es interessante Neuigkeiten, auf die Markus Krüsemann in seinem Beitrag Minijobs 2016 wieder auf dem Vormarsch hinweist: Im Gefolge der Einführung der allgemeinen Lohnuntergrenze ist es zu einem Rückgang der geringfügigen Beschäftigung gekommen. Ein Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse ist verloren gegangen, etwa die Hälfte aber ist in sozialversicherungspflichtige Arbeit umgewandelt worden, so der Befund einer IAB-Studie (vgl. Arbeitsmarktspiegel. Entwicklungen nach Einführung des Mindestlohns (Ausgabe 1). IAB-Forschungsbericht 1/2016). Aber die neuen, bis Juni 2016 vorliegenden Zahlen der BA zeigen, so Krüsemann, dass es sich offensichtlich nicht um eine echte Trendwende bei den Minijobs gehandelt hat. »Die sind nämlich in den ersten Quartalen 2016 im Vergleich zu den Vorjahresquartalen wieder angestiegen.« Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt: Das erneute Wachstum bei den Minijobs geht allein auf die Zunahme von Personen zurück, die zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung eine geringfügige Beschäftigung im Nebenjob ausüben.

Das alles muss – weit über die Frage, ob sich die Entlohnung wirklich an die Mindestlohnvorgaben hält oder nicht – gesehen werden vor dem empirisch leider gesicherten Tatbestand, dass in vielen Minijobs elementare Arbeitnehmerrechte verletzt werden. Darauf wurde beispielsweise schon in dem Beitrag Die Minijobs mal wieder. Von neu erforschten alten „Defiziten“ bis hin zu unlösbaren strukturellen Problemen eines besonderen Beschäftigungsformats am 18.10.2015 hingewiesen. Dabei geht es um den Vorwurf, dass gerade Minijobbern oftmals ihnen zustehende Rechte aus dem Arbeitsverhältnis vorenthalten werden. Für diese Kritiklinie liefert eine Studie des IAB (vgl. Stegmaier, Jens et al.: Bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: In der Praxis besteht Nachholbedarf bei Minijobbern. IAB-Kurzbericht, 18/2015, Nürnberg 2015) entsprechendes Futter:

»Rund 35 Prozent der Minijobber berichten, keinen bezahlten Urlaub zu erhalten, ohne dass ein rechtlich zulässiger Grund dafür vorliegt. Von den Betrieben sagen etwa 15 Prozent ohne Angabe eines rechtlichen Grundes, dass ihre Minijobber keinen bezahlten Urlaub bekommen. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall liegen die Anteile bei rund 46 bzw. rund 21 Prozent …  Die Studie zeigt aber auch: Rund 50 Prozent der Betriebe, die angeben, ihren Minijobbern keinen bezahlten Urlaub zu gewähren, haben Kenntnis von der tatsächlichen Rechtslage. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fielen die Ergebnisse ähnlich aus.«

Und eigentlich ist das noch eine Beschönigung der Situation, denn man muss wissen: Die Studie bezieht sich auf die Situation in Betrieben mit mindestens elf Beschäftigten, das bedeutet, dass die Situation in den Kleinstbetrieben gar nicht abgebildet wird. Gerade für diesen Abschnitt dies Arbeitsmarktes muss man aber plausibel davon ausgehen, dass es erhebliche Diskrepanzen zwischen der Rechtslage und der tatsächlichen Umsetzung bei Minijobs geben wird.

Abschließend zu der bereits aufgerufenen Frage, ob und wie es weiter gehen sollte mit den Minijobs. Die Kritik an dieser eigenartigen Beschäftigungsform ist alt und entsprechende Abhandlungen füllen Schrankwände.

Bereits am 12. August 2013 wurde hier in dem Beitrag Blanke Not oder „gestiegene Konsumlust“? Vermutungen über eine Tatsache: Die Anzahl der Zweitjobs wächst weiter. Das Problem sind die Minijobs an sich darauf hingewiesen: Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die deregulierte geringfügige Beschäftigung dazu beigetragen hat, dass „gute“, weil „normale“ sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt wurde und wird in „schlechte“ Minijobs. Zu dieser wichtigen Frage hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit 2012 eine eigene Untersuchung veröffentlicht mit differenzierten, interessanten Befunden: »Hinweise auf die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs finden sich vor allem im Einzelhandel, im Gastgewerbe sowie im Gesundheits- und Sozialwesen … Indizien für die Verdrängung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Minijobs gibt es vor allem für kleine Betriebe mit unter zehn Beschäftigten. In diesem kleinbetrieblichen Segment gehen also der Aufbau von Minijobs und die Reduktion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Hand in Hand.« (Minijobs: Hinweise auf Verdrängung vor allem im Einzelhandel und Gastgewerbe).

Und immer wieder – nicht überraschend – wird darauf hingewiesen, welche desaströsen Auswirkungen die Minijobs auf die Arbeitsmarktpositionierung wie auch auf die soziale Sicherung der Frauen haben. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme von Carsten Wippermann hierzu wurde im Frühjahr 2013 seitens des Auftraggebers, des Bundesfamilienministerium, veröffentlicht, allerdings ohne die ansonsten üblichen Verlautbarungen und Werbeaktionen, was darauf hindeutet, dass man sich damals nicht besonders identifizieren wollte mit den Befunden der Studie, die hier aber besonders empfohlen sei: Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013.

Man kann es drehen und wenden, wie man will, viele Frauen bleiben in der „Geringfügigkeitsfalle“ hängen, da sie nichts anderes finden als Minijobs (man schaue sich nur die Stellengesuche des Einzelhandels an) und weil auch das deutsche Steuerrecht mit dem Institut des Ehegattensplitting und der unterschiedlichen Steuerklassen dies leider befördert. In diesem Kontext hatte sich auch die Bertelsmann-Stiftung mit einer Studie und Reformvorschlägen zu Wort gemeldet:

Werner Eichhorst, Tina Hinz, Paul Marx, Andreas Peichl, Nico Pestel, Sebastian Siegloch, Eric Thode, Verena Tobsch: Geringfügige Beschäftigung: Situation und Gestaltungsoptionen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2012

Das Handelsblatt berichtete damals in dem Artikel Minijobs verschärfen Fachkräftemangel über diese Studie: »Ursache des Problems sei zum einen der abrupte Anstieg der Abgaben- und Steuerbelastung an der oberen Verdienstgrenze der begünstigen Minijobs. Zusätzlich werde dieser „Fehlanreiz“ oft gerade für gut ausgebildete Ehefrauen noch durch die Effekte des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer verschärft, so die Studie: Jeder Mehrverdienst der Partnerin führe dann über den sinkenden Splittingvorteil zu einem überproportionalen Anstieg der Steuerlast. Nach den Daten der Studie leben allein zwei Millionen der rund sieben Millionen Minijob-Beschäftigten mit einem vollzeitbeschäftigten Ehepartner zusammen. Gleichzeitig haben mehr als drei Viertel der Minijobberinnen mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung, ermittelten die Forscher.«

Welche Schlussfolgerungen wurden damals gezogen? Es wurde für eine Verbindung aus Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting plädiert: Die bestmögliche Variante aus Sicht der Studienverfasser sieht vor, das gegenwärtige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting zu ersetzen. Die Minijobs sollten ab dem ersten Euro der Einkommensteuerpflicht unterliegen und steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung aufweisen. Damit würde die heute bestehende Regelung für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro auf den Bereich bis 400 Euro ausgedehnt. Das zusätzlich entstehende Steueraufkommen würde zur Absenkung des Einkommensteuertarifes verwendet.

Solche Ideen wirken über die Zeitschiene hinweg und tauchen dann später wieder auf. So hat sich aktuell der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Wort gemeldet – und ein Reformkonzept die Minijobs betreffend vorgelegt, in dem sich einige Inhalte wiederfinden: Schwarzarbeit und Willkür: Wie Minijobber ausgenutzt werden. DGB stellt Reformkonzept vor, so der DGB am 20.01.2017: »Sie arbeiten nur vier Stunden in der Woche, müssen sich aber rund um die Uhr für einen möglichen Einsatz parat halten: Für Minijobber in der Systemgastronomie ist das ganz normaler Alltag. Auf dem Bau wird mit schwarz bezahlten „Überstunden“ getrickst, in der Gebäudereinigung mit unerreichbaren Zeitvorgaben. Damit sich das ändert, müssen die Minijobs reformiert werden.«

Bei der Bestandsaufnahme der in der Praxis beobachteten Probleme taucht auch wieder der unterm Strich nicht gezahlte Mindestlohn wieder auf, nach einem bekannten Mechanismus:

»Nicht nur in der Systemgastronomie werden die Minijobs als Flexibilisierungsinstrument missbraucht. Beispiel Gebäudereinigung: Hier ist der Anteil an geringfügig Beschäftigten besonders hoch, viele Reinigungskräfte sind Frauen. Sie stecken in der Minijob-Falle fest und arbeiten oft viele Stunden unbezahlt. „Auf dem Papier wird die maximale Stundenanzahl eingehalten“, sagt Frank Schmidt-Hullmann von der IG BAU. „In der Praxis ist das Arbeitspensum aber so hoch, dass es in der vereinbarten und bezahlten Zeit gar nicht zu schaffen ist.“ Oft werden auch Tätigkeiten wie Umziehen oder Fahrten von einem Reinigungsobjekt zum nächsten nicht bezahlt.
Unter dem Strich verdienen die Minijobber also häufig deutlich unter Mindestlohn. Oder sie arbeiten einen Teil der Stunden schwarz – ohne, dass ihnen das bewusst ist. „Das passiert auf dem Bau sehr häufig“, berichtet Schmidt-Hullmann. „Die Arbeiter werden als Minijobber angestellt, aber Vollzeit beschäftigt. Alles, was über die 450 Euro hinausgeht, bekommen sie bar auf die Hand ausgezahlt. Viele wissen gar nicht, dass das Schwarzarbeit und strafbar ist, Migranten aus Osteuropa zum Beispiel.“«

Und was schlägt der DGB nun vor? Nach den Vorstellungen des DGB sollen Minijobs vom ersten Euro an in die Sozialversicherung einbezogen werden, zum Beispiel durch eine Gleitzonenregelung, also im Grunde einer Verlängerung dessen, was wir heute schon mit den sogenannten „Midi-Jobs“ zwischen 450,01 und 850 Euro haben, nach unten. Dabei sind die Beiträge der Beschäftigten am Anfang sehr niedrig und steigen dann schrittweise an, während die anfangs höhere Belastung der Arbeitgeber langsam sinkt. Darüber hinaus solle die pauschale Besteuerung abgeschafft und sichergestellt werden, dass bei Minijobs die gleichen Arbeitsbedingungen herrschen wie bei Vollzeitjobs.

Wer das genauer nachlesen möchte, wird hier fündig: Raus aus der Armutsfalle. DGB-Reformkonzept Minijob, so ist die Publikation, aus der auch die Abbildung mit der vorgeschlagenen Gleitzonenregelung entnommen ist, überschrieben.

Neben der Einbeziehung in die Sozialversicherung vom ersten Euro an ist das zweite Kernelement des Reformvorschlags die Beendigung der pauschalen Besteuerung. Dazu erfahren wir:

»Die pauschale Besteuerung der Einkommen aus Minijobs ist Kern des Problems. Deshalb sollten die Minijobs in das allgemeine Besteuerungssystem eingegliedert werden. Zur Anpassung der Arbeitsverhältnisse sind angemessene Übergangsfristen für die bestehenden Arbeitsverhältnisse notwendig. Um die Steuerbelastung für Ehepaare wirklichkeitsnäher vorzunehmen, soll das Faktorverfahren (Steuerklasse IV/IV mit Faktor) verpflichtend gelten. Das Faktorverfahren ist bereits geltendes Recht, muss derzeit aber vom Ehepaar aktiv beantragt werden.«

Aber was ist mit bestimmten Fallkonstellationen, wo man argumentieren könnte, dass der Minijob mit seiner Herausnehme aus dem allgemeinen System der Sozialabgaben- und Steuerbelastung Sinn machen kann? Man braucht ihn schlichtweg nicht, so der DGB, ohne auf Sonderregelungen verzichten zu müssen: »Bereits heute gibt es Beitrags- und Steuerfreibeträge für ehrenamtliche und karitative Tätigkeiten. Darüber hinaus bestehen weitere Sonderregelungen beim Zuverdienst zum Studium, zur Rente oder zur Arbeitslosenmeldung. Bei diesen Sonderregelungen handelt es sich um zielgenaue Instrumente, die durch den Gesetzgeber bei Bedarf angepasst werden können. Schüler/innen könnten zum Beispiel in Form einer Taschengeldregelung weiterhin sozialabgabenfrei Einkommen in einem bestimmten Rahmen verdienen. Somit braucht es den Minijob nicht.«

Aber werden dann nicht die Menschen in der Minijobzentrale arbeitslos? Auch hierzu gibt es vom DGB einen Vorschlag: »Auch reguläre Teilzeit mit wenig Stunden kann ohne bürokratischen Aufwand angeboten werden. Hier könnte die heutige Minijobzentrale neue Aufgaben übernehmen. Als „Teilzeitzentrale“ könnte sie die Anmeldung der „kleinen Teilzeit“ übernehmen, die Einhaltung der Sozialversicherungspflicht und der Entgeltgleichheit kontrollieren, für Beschäftigung im Haushalt zuständig bleiben und zusätzlich Kleinst-Unternehmen betreuen.«

Über Details muss diskutiert werden. Aber die Stoßrichtung sollte nach allen Erfahrungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt gemacht haben mit der geringfügigen Beschäftigung, klar sein: Weg mit diesem eigenartigen Beschäftigungsformat. Auch wenn der eine oder andere (übrigens nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer, die sich über einen Zweitjob notwendige Finanzmittel organisieren) erst einmal gegen einen solchen Schritt votieren wird.

Digitalisierung & Co.: Die Angst der Sachbearbeiter vor der Bedeutungslosigkeit. Und die ambivalenten Japaner: Weg mit den Jobs und zugleich her mit sinnlosen (?) Jobs

Die Diskussionen darüber, ob uns (wieder einmal) die Arbeit ausgeht, überschlagen sich (wieder einmal). Diesmal wird es ganz sicher passieren, so die Apologeten des Untergangs der Arbeitswelt, wie wir sie kennen.

Nun wird sich (übrigens wie schon immer), die Arbeitswelt weiter verändern, es werden Arbeitnehmer, die sich bislang sicher glaubten, über Bord fallen und andere werden hinzukommen. Wenn es einen Unterschied zu den letzten Rationalisierungs- und Automatisierungsdebatten gibt, dann muss das im Zusammenhang gesehen werden mit einer Verschiebung der (möglicherweise) Betroffenen hin zu den „Büroberufen“, von denen viele angenommen haben, sie seien anders als die Fabrikarbeiter auf der sicheren Seite.

Nehmen wir als Beispiel die Menschen, die bei Versicherungen arbeiten. Jeder Schadenbearbeiter ist ersetzbar, so hat Philipp Krohn seine Artikel überschrieben. Diese Aussage kommt von Jobst Landgrebe, der mit Hilfe künstlicher Intelligenz Vorgänge für Versicherungen automatisiert. Eine der Thesen ist, dass der jetzt anlaufende digitale Umbruch die Versicherungswirtschaft deutlich härter treffen wird als andere Branchen – und zwar deshalb, weil man hier bislang eher geschützt war vor der Automatisierung: »Durch die scharfe Regulierung von Produkten und Unternehmen gab es Markteintrittsbarrieren, durch die technische Innovationen lange nicht in die konservativen Branchen eindrangen. Außerdem sind die sprachlichen und bildlichen Inhalte, mit denen Versicherer zu tun haben, sehr komplex. Dadurch war es schwieriger, sie zu automatisieren, als in der Logistik oder im Online-Handel, wo nur Zahlen verarbeitet werden müssen.«

Das Gefühl, dass man vor den Unbilden der Automatisierung geschützt sei, wurde bislang sicher auch dadurch gefestigt, dass man darauf abstellen konnte, Tätigkeiten auszuüben, die sich schwer standardisieren lassen, wo man Einzelfälle entscheiden muss. Genau an dieser Stelle setzt der bevorstehende Rationalisierungsschub an:

„Immer wenn Vorgänge in großer Zahl repetitiv geschehen, kann man den Prozess beobachten und mathematisch abbilden“, sagt Landgrebe. Stellt ein Kunde einen Antrag bei einem Versicherer, kann dieser entweder zustimmen oder ablehnen. Diese binäre Struktur ist wie geschaffen für einfache Automaten. Der wichtigste Einwand aus der Branche lautet: Für solche Anträge bedarf es eines großen Maßes an Fingerspitzengefühl. Das könnten nur langjährige Schadenbearbeiter besitzen. „Das Gefühl für Expertise nennt man Varianz“, sagt Landgrebe. Um diese zu mathematisieren, müssten den Automaten also möglichst viele Fälle vorgelegt werden, so dass er alle entscheidungsrelevanten Faktoren berücksichtigen könne. So werde schließlich das Urteil der Fachleute durch mathematische Beziehungen abgebildet.«

Natürlich wird der eine oder andere an dieser Stelle die Frage aufwerfen, warum denn erst jetzt? Das ist ja an sich nicht neu, warum ist dann bislang in der Branche so wenig passiert? Die Rechnerkapazität heutiger Computer und die Fortschritte bei der Spracherkennung machen den Unterschied, so Landgrebe.

Überall da, wo es eine überschaubare Zahl an Vorgangstypen gibt, kann man automatisierend rein. „Am Ende ist der Sachbearbeiter dann nur noch für die Fälle da, die die Maschine nicht bearbeiten kann“, wird Landgrebe zitiert. Zum Beispiel wenn eine Handschrift unleserlich sei, könne ein Mensch sie viel besser entziffern. Einen Automaten für diesen Zweck zu entwickeln sei zu aufwendig.

Aber mehr und vor allem genauere Vorstellungen hinsichtlich der quantitativen Bedeutung für die Arbeitsplätze in der Versicherungswirtschaft erfahren wir nicht.

Da passt der Blick nach Japan. Aus diesem Land erreichen uns scheinbar ambivalente Botschaften, was Beschäftigung und Arbeitsmarkt angeht: Versicherer ersetzt zahlreiche Mitarbeiter durch künstliche Intelligenz, lautet beispielsweise eine Botschaft aus diesem Land: »Die Japaner haben offenbar weniger Bedenken gegen die Automatisierung als die Deutschen: Ein Versicherer dort ersetzt kurzerhand fast ein Drittel der Belegschaft durch IBMs Watson-System. Er ist kein Einzelfall«, berichtet Patrick Welter. Er nennt ein Beispiel: »Der Lebensversicherer Fukoku Mutual Life Insurance, einer der kleineren Versicherer in Japan, gab gerade bekannt, dass er vom Januar an künstliche Intelligenz in der Zahlungsabteilung einsetzen will, um die Produktivität zu heben. 34 Stellen oder fast 30 Prozent der Mitarbeiter in der betreffenden Abteilung sollen durch die Maschine ersetzt werden.«

Das Unternehmen nutzt dabei das Watson-System des amerikanischen Unternehmens IBM. Wie muss man sich, was das japanische Unternehmen da treibt, praktisch vorstellen?

»Das System soll unter anderem medizinische Berichte von Ärzten einlesen, verschlagworten und Informationen wie die Art der Operation oder die Länge eines Krankenhausaufenthalts sammeln, die für eine Auszahlung relevant sind. Berücksichtigt werden die persönliche Vorgeschichte des Versicherten und auch Details des Versicherungsvertrags. Über die endgültige Auszahlung sollen weiterhin Mitarbeiter entscheiden. Doch denkt das Unternehmen schon daran, mit dem System auch die Auszahlungen auf Korrektheit prüfen zu lassen.«

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Zahlen, die Welter gefunden hat zu den Einsparungen – und den Kosten des neuen Systems: »Das Unternehmen verspricht sich … Einsparungen von 140 Millionen Yen (1,1 Millionen Euro) im Jahr. Die Installation des Systems der künstlichen Intelligenz soll etwa 200 Millionen Yen kosten mit jährlichen Wartungskosten von 15 Millionen Yen.«

Zugleich erreichen uns aus Japan scheinbar wiedergelagerte Nachrichten, den Arbeitsmarkt betreffend: »Die Japaner haben die Antwort auf die kommende Ära der Job-stehlenden Maschinen und Roboter schon parat: Sie erfinden Jobs, die Deutschen sinnlos erscheinen – und könnten damit zum Vorbild werden«, meint beispielsweise Martin Kölling in seinem Artikel Sinnlose Jobs – die Zukunft der Arbeit.

Ausgangspunkt seiner Darstellung ist die Erfahrung, dass ihm Besucher aus Deutschland immer wieder diese Frage stellen: „Warum gibt es so viele Japaner, die so sinnlose Arbeiten machen?“. Nun enthält die Frage schon eine starke Wertung – also was muss man sich darunter konkret vorstellen, unter „sinnlose Arbeiten“?

»Am Bahnhof oder irgendwo sonst am Wegesrand sehen sie vielleicht einen menschlichen Schilderhalter, der auf eine Beerdigung oder die Besichtigung neugebauter Wohnungen verweist. Und selbst kleinste Baustellen werden von zwei bis drei Sicherheitskräften bewacht, die mit Fahnen oder Leuchtstäben graziös Fußgänger, Fahrrad- und Autofahrer an der Verkehrsstörung vorbeiwinken … In Supermärkten schieben uniformierte Sicherheitskräfte im Rentenalter Einkaufswagen hin- und her, fegen die Gänge oder betreuen den Fahrradparkplatz. Vereinzelt gibt es in einigen Kaufhäusern sogar die Aufzugführer- und häufiger –führerinnen noch, die für die Kunden die Knöpfe drücken, die Etagen ansagen, die Tür aufhalten und sich höflich verbeugen. Und Analysten beschweren sich, dass Japans Firmen oft zu viele Beschäftigte mit durchfüttern.«

Für Kölling steckt dahinter Methode und er geht noch einen Schritt weiter und stellt die Frage in den Raum, ob die Japaner nicht vielleicht sogar ein Vorbild im kommenden Zeitalter der Künstlichen Intelligenzen und Robotern werden. Seine Ausgangsthese: »In Japan herrscht unausgesprochen das Prinzip, dass Arbeitslosigkeit nach Möglichkeit nicht sozialisiert, sondern von Firmen und dem Staat privatisiert wird.«

Das habe auch damit zu tun, dass das soziale Netz in Japan sehr weitmaschig gestrickt sei, Arbeitslosengeld geben es für weniger als ein Jahr, danach kommt theoretisch die Sozialhilfe, aber viele scheuen aus Scham den Weg zum Amt, hinzu kommt die massive Verbreitung von Teilzeitjobs und die allgemeine Vorstellung, dass die Familien zuerst für sich selbst zu sorgen haben. Und dann ergänzt er das um eine interessante Aussage einer japanischen Kollegin: »Viele Japaner glaubten, dass selbst einfachste Jobs den Menschen mehr Struktur und Sinn im Leben geben und damit das soziale Gewebe stabiler und die Gesellschaft sicherer halten würden als sozial abgesichert arbeitslos zu Hause zu sitzen.«

Das führt dann zu einer uns besonders irritierenden Forderung von neoliberalen Volkswirten in Japan, die mitunter den Ausbau des sozialen Netzes fordern. »Denn dann, so der Hintergedanke, könnten Firmen wie in Europa die Gehaltsliste durch Entlassungen auf Kosten der Gesellschaft entlasten und so kursmaximierend ihre Kapitaleffizienz erhöhen.«

Dass das in Japan selbst keinen großen Resonanzboden hat liegt auch daran, dass man sich dort angesichts der demografischen Entwicklung und des sozialpolitischen Gefüges bewusst ist, dass »es künftig mehr noch als jetzt altersgerechte Hilfsjobs für greise Bürger geben (muss). Denn in einigen Jahren werden die Heerscharen der gering abgesicherten Teilzeitkräfte ohne den Vorzug einer auskömmlichen Rente ins Rentenalter kommen.« Und auch in Japan ist man sich bewusst, »dass Algorithmen und Roboter Mittelschichtsjobs kosten könnten, die bisher die Gesellschaft zusammenhalten.«

Und dass man offensichtlich in Japan bei aller Bereitschaft, Maschinen einzusetzen (man denke hier auch an die Offenheit bis hin zur Begeisterung gegenüber der Nutzung von Pflegerobotern), die dadurch erreichbaren Arbeitsplatzeinsparungen nicht isoliert gesehen werden, verdeutlicht auch das folgende Beispiel, das Kölling in seinem Artikel zitiert: Es geht um den italienischen Professor Adriano Alessandrini von der Universita Degli Studi Firenze und ein Projekt, in dem ein kleiner Roboterbus für den öffentlichen Personennahverkehr entwickelt worden ist.

»Durch die Abschaffung des Fahrers sei selbst im Kurzstreckenverkehr ein profitabler Busdienst möglich, erzählte er mir jüngst bei einer Tagung über selbstfahrende Autos. Doch in Japan würde das wohl nicht funktionieren. „Hier fragten mich die Planer, was denn mit den Jobs für die Fahrer passieren würde.“ Eine Lösungsidee sei gewesen, die freigesetzten Fahrzeuglenker als Stewards in den Bussen einzusetzen.«

Man könnte auch sagen: Vielleicht sollte diese japanische Sichtweise als echte Alternative zu der im Regelfall sehr einseitigen Ausrichtung bei uns gefördert werden. Im Interesse derjenigen, die ansonsten über Bord gehen.