Zwischen Ad hocerie-Dominanz und Masterplan-Illusion: Die Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Segeln auf Sicht und viele Köche rühren in der Suppe

Es kommen immer mehr Menschen als Flüchtlinge nach
Deutschland. Darunter viele, die hier werden bleiben dürfen, beispielsweise
Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Aber auch immer noch viele, beispielsweise aus
den Staaten des Westbalkans, die mit über 99 prozentiger Sicherheit keine
Chance bekommen werden, hier Asyl zu erhalten. Viele von ihnen werden wieder
zurück gehen oder auch abgeschoben, andere tauchen schlichtweg unter und
verschwinden von der offiziellen Bildfläche, leben aber als Illegale unter uns.
Und dann sind da auch noch die Flüchtlinge, die eigentlich zurück müssten, weil
ihr Asylantrag abgelehnt worden ist, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen
als „Geduldete“ hier bleiben dürfen, da man sie nicht abschieben kann. Bereits
diese noch vollkommen grobschlächtige Aufzählung verdeutlicht einerseits, dass
es eben nicht „die“ Flüchtlinge gibt, sondern eine Vielzahl an
unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Konstellationen zu bedenken sind. Die
andererseits auch deshalb von Bedeutung sind, weil mit ihnen ganz
unterschiedliche Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit, eine Arbeit oder
Ausbildung aufzunehmen, verbunden sind.

Wer sich da vertiefend mit beschäftigen will, der kann sich
beispielsweise die an Arbeitgeber gerichtete Informationsbroschüre Potenziale
nutzen – geflüchtete Menschen beschäftigen
der Bundesagentur für Arbeit
heranziehen. Da wird darauf hingewiesen, dass es Asylsuchende mit einer
Aufenthaltsgestattung, anerkannten Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis oder
eben Geduldete gibt.
Nun wird nicht nur darüber diskutiert, wie viele Menschen
eigentlich zu uns kommen werden – wer erinnert sich nicht daran, wie
„beweglich“ diese Größe ist: Anfang des Jahres hieß es, es könnten 450.000
Menschen sein, die im laufenden Jahr kommen werden. Dann wurde bzw. musste die
Prognose auf 800.000 angehoben werden und mittlerweile gibt es gar Stimmen aus
der Bundesregierung, die eine Million Zuwanderer für möglich halten. Eines der
zentralen Probleme in den vor uns liegenden Monaten der kalten Jahreszeit wird
die existenzielle Frage sein, wie und wo man diese Menschen überhaupt halbwegs
erträglich unterbringen kann. Darüber hinaus läuft aber eine Diskussionslinie
parallel, die sich mit der Frage der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge
beschäftigt. Aber auch die steht vor einem vergleichbaren Problem wie bei der
Unterbringungsfrage: Letztendlich ist es immer eine (quantitative) Frage von
Angebot und Nachfrage und dann in einem zweiten Schritt eine (qualitative)
Frage der Passungsfähigkeit von konkreten Stellen und den Einzelpersonen.

Die in den Medien geführte Debatte über die
Arbeitsmarktperspektiven der Flüchtlinge ist vor diesem zweifachen Hintergrund
auffällig unterkomplex. Während die eine Seite die Gefahren und Probleme
herausstellt bis hin zu der Warnung, dass es eine gefährliche Mixtur werden
würde, wenn sich »Dienstleistungsproletarier und prekär Wohlhabende … in
einem diffusen Misstrauen gegen das gesellschaftliche System in Deutschland
verbünden«, so der Soziologe Heinz Bude in seinem Gastbeitrag für die FAZ unter
der Überschrift Die
Koalition der Angst
, wird an anderer Stelle die Vision eines „neuen
Wirtschaftswunders“ durch die vielen Zuwanderer in den Raum gestellt, so
beispielsweise Daimler-Chef
Zetsche hält neues Wirtschaftswunder für möglich
.  In der Meldung wird er so zitiert:

»Mehr als 800.000 Menschen aufzunehmen, sei eine
Herkulesaufgabe, sagte Zetsche … „Aber im besten Fall kann es auch eine
Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden – so wie die
Millionen von Gastarbeitern in den 50er und 60er Jahren ganz wesentlich zum
Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben.“ Natürlich sei nicht jeder
Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer, sagte
Zetsche. Aber wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert. „Genau
solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land.“«

Sie
steigern das Bruttosozialprodukt!
, so die scheinbar folgerichtige
Überschrift eines Artikels von Ingo Arzt in der taz, der allerdings sogleich
anmerkt: »Doch der Ökonomisierung von
Menschen sind Grenzen gesetzt.« Auch Kristiana Ludwig arguemntiert in die
ökonomische Richtung. In ihrem Artikel in der Print-Ausgabe der Süddeutschen
Zeitung vom 17.09.2015 unter der Überschrift „Flüchtlinge als Wirtschaftsmotor“
schreibt sie: »Zuwanderer helfen der Konjunktur – weil sie öffentliches Geld
ausgeben.« Sie bezieht sich auf Ferdinand Fichtner, der die Abteilung
Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) leitet. »Wenn dieses Jahr zu Ende geht,
werden voraussichtlich 800000 Menschen nach Deutschland gekommen sein.
Zuwanderer, die Lebensmittel kaufen und zum Friseur gehen. Die Kleidung
brauchen und Decken, Möbel und Mietwohnungen. Flüchtlinge bringen nicht viel
mit, aber sie bekommen Geld vom Staat und werden es ausgeben – für deutsche
Produkte. Die „konsumnahen Unternehmen“ werden am meisten von Flüchtlingen
profitieren.« Das DIW schätzt, dass Bund, Länder und Kommunen im kommenden Jahr
insgesamt 9,2 Milliarden Euro in die Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen investieren werden.


Und dann kommt vom DIW auch was zum hier besonders
interessierenden Arbeitsmarkt:
Das DIW »schätzt, das dem Arbeitsmarkt in diesem Jahr
zusätzlich 47.000 erwerbstätige Flüchtlinge zur Verfügung stehen werden. In den
kommenden zwei Jahren seien es jeweils etwa 120.000. Zusammen mit den
Zuwanderern aus den europäischen Nachbarstaaten glichen sie den demografischen
Wandel aus.« Was sich hinter dieser Formulierung verbirgt, mag die folgende
Abbildung verdeutlichen, die ich erstellt habe auf der Grundlage der jährlichen
Arbeitsmarktberichte des IAB, in dem immer auch die Arbeitsangebotsseite
behandelt wird, also wie viele Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen, was nicht bedeutet, dass sie auch arbeiten (können).

Für das laufende Jahr schätzt das IAB, dass der Verlust an
Arbeitsangebot durch die demografische Entwicklung, also dadurch, dass mehr
Menschen altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen als „unten“ an jungen
Erwerbspersonen nachkommen, vor allem durch den Migrationseffekt, also aus der
Zuwanderung, kompensiert werden kann.
Aber das sind erst einmal nur nackte Zahlen über
Größenordnungen. Angebot und Nachfrage müssen nicht immer zueinander passen und
bekanntlich ist genau dieses Auseinanderfallen auf dem Arbeitsmarkt ein
zentrales Problem. Mit Blick auf die Flüchtlinge wird das offensichtlich: Auch
wenn man zeitweise den Eindruck hatte, es kommen nur noch hoch qualifizierte
Kräfte nach Deutschland, vor allem aus Syrien, so muss man doch konstatieren,
dass der syrische Neurochirurg eher die absolute Ausnahme ist.
Umso erstaunlicher bzw. entlarvender ist die Tatsache, dass
Ökonomen in der Debatte gerne die eine oder die andere Seite der angeblichen
Qualifikation heranziehen, um ganz andere, nämlich ihre Interessen unter das
Volk zu bringen. Zwei Beispiele dazu:
Da gibt es zum einen die Vorreiter derjenigen, denen es vor
allem darum geht, das Arbeitsangebot – das wie gezeigt allein aus
demografischen Gründen stark rückläufig ist – wieder zu erhöhen, denn
bekanntlich gilt die Regel, dass der Preis steigen müsste, wenn das Angebot zurück
geht, die Nachfrage aber gleich bleibt oder gar steigen sollte. Der Preis auf
dem Arbeitsmarkt sind die Löhne. Protagonist dieser Richtung ist Michael
Hüther: »Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft fordert die
Politik auf, Flüchtlinge und Zuwanderer stärker nach den Bedürfnissen des
Arbeitsmarktes zu steuern. Er hält jährlich 500.000 Zuwanderer für verkraftbar«,
verkündet er in einem Interview.
Und dann legt er richtig los: » Keiner muss wegen der Flüchtlinge um seinen Job
fürchten – … Sogar der Bundeshaushalt mit seiner schwarzen Null bietet
derzeit genug Spielraum, um die Integration zu finanzieren.« Dann ist ja alles
gut. Arbeitsmarktlich besonders relevant ist dann so eine Äußerung: »Viele
Zuwanderer sind hoch qualifiziert. Zehn Prozent aller erwachsenen Zuwanderer
haben einen Hochschulabschluss in einem MINT-Fach. In der Gesamtbevölkerung
Deutschlands sind es nur sechs Prozent.« Punkt.

Nun wird sich der eine oder
andere kritische Geist vielleicht trauen zu fragen: Woher weiß er das
eigentlich? Ist es nicht vielmehr so, dass wir keine wirklich validen
Erkenntnisse haben, wie der Qualifikationsstand der Flüchtlinge, die es zu uns
geschafft haben, ist?

So ist das. Was wir derzeit haben sind alles nicht
repräsentative Daten dazu. Das IAB der Bundesagentur für Arbeit hat die
Qualifikationsstruktur der Flüchtlinge zusammengestellt. Hier die Ergebnisse,
die sich auf Befragungsdaten des SOEP aus dem Jahr 2013 (!) und auf
Asylbewerber und Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis, die sich schon relativ
lange in Deutschland aufhalten, beziehen:
Hochschulabschluss 13%, mittlerer Bildungsabschluss 24%,
kein Berufsabschluss 58%
Bei den erst vor kurzem eingereisten Flüchtlingen ist die
Lage noch ungünstiger. Eine Befragung unter 20.000 Teilnehmern am ESF-
geförderten „Bleiberechtsprogramm“ ergab folgendes:
24 Prozent haben eine berufliche Bildung abgeschlossen. 18
Prozent haben eine Hochschule besucht, unter ihnen haben 40 Prozent ihr Studium
abgeschlossen. Rund zwei Drittel der Befragten verfügten über keine
abgeschlossene Berufsausbildung. Eine Befragung unter den Teilnehmern an Early
Intervention kam zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. IAB: Asyl- und
Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland
. Aktuelle Berichte
8/2015, Nürnberg 2015). So viel dazu.
Und auch andere Interessenvertreter rühren fleißig in der
Suppe. So die Ökonomen, die lange gegen einen gesetzlichen Mindestlohn  gewettert haben und jetzt – bei ausbleibenden
Katastrophenmeldungen vom Arbeitsmarkt, die sie vorhergesagt haben (vgl. dazu
meinen Beitrag Es
tut doch gar nicht weh … Gewerkschaften zwischenbilanzieren den – natürlich
erfolgreichen – Mindestlohn und die Gegenseite greift auf Flüchtlinge zurück,
um es noch mal zu versuchen
vom 15. September 2015) – versuchen, über die
Flüchtlinge den zum Leben erweckten gesetzlichen Mindestlohn  wieder zu kippen. Protagonist dieser Seite
ist Hans-Werner Sinn. In einem Artikel mit der knackigen Überschrift Ohne
Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit
doziert er:
»Viele Migranten sind schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme. Damit sie
trotzdem eine Arbeit finden, bedarf es einer stärkeren Lohnspreizung in
Deutschland.« Ja was denn nun, wird sich der eine oder andere an dieser Stelle
völlig zu Recht fragen. Und man wird sich daran erinnern, was Zetsche und
Hüther gesagt haben, wenn man diese Zeilen liest:

»Die Menschen, die kommen, sind jung und arbeitswillig, aber
im Durchschnitt nur wenig gebildet. So ist der Anteil der Analphabeten unter
ihnen sehr viel höher als unter der in Deutschland ansässigen Bevölkerung. Deutschland
wird viel Geld aufwenden müssen, um die Flüchtlinge auszubilden und
einzugliedern. Daher ist die Bedeutung, die die Zuwanderer für die deutsche
Wirtschaft haben, nicht vergleichbar mit der Rolle der Flüchtlinge nach dem
Zweiten Weltkrieg, die dank ihres Könnens damals ganz erheblich zum
wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands beitrugen.«

Und es ist für den Mainstream der deutschen
„Volkswirtschaftslehre“ nicht verwunderlich, dass sich dann bei der
Legitimation der eigentlichen Zielsetzung, also den Mindestlohn wieder
aufzubohren, die betriebswirtschaftliche Denke Bahn bricht:

»Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt
zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr
Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen
nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen
arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden
sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Die gleiche
Argumentation haben wir im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen
Mindestlohnes hören müssen.

Das führt uns nicht wirklich weiter. In der Realität sind
wir hingegen mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich daraus
ergeben, dass die gewachsenen Regelsysteme 
enorme Probleme haben, mit dieser Ausnahmesituation klar zu kommen.
Zahlreiche Beispiele findet man in solchen Artikeln: Heute
Flüchtling, morgen Arbeitsloser?
von Kolja Rudzio  So
schwer ist es, Jobs für Flüchtlinge zu schaffen
von Timo Stukenberg oder Flüchtlinge
einstellen ist kompliziert
von Stefan Sauer.
Fazit: Wenn es einem um wirkliche Arbeitsmarktintegration
geht, dann muss man aktuell klare Prioritäten setzen – und bei denen steht an
erster Stelle der Aspekt der Sprach- und Integrationskurse. Und die so schnell
wir möglich. Auch wenn davon möglicherweise Flüchtlinge profitieren, die nicht
hier werden bleiben können. Egal. Aber die Sprachkenntnisse – in Verbindung mit
einer Einführung und Heranführung an unser Gesellschaftssystem – sind das A und
O einer Gelingensmöglichkeit von echter Arbeitsmarktintegration. Dazu müsste
man jetzt sehr viel Geld in die Hand nehmen – aber wenn man überlegt, was die
Betroffenen später an Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abdrücken, wenn
sie eine Ausbildung und eine Arbeit bekommen, dann ist das eine richtig
spannende Investition. Von oben betrachtet, nicht vom Einzelfall. Zugleich sind
diese Kompetenzen, die man erst einmal schaffen muss, unabdingbare
Voraussetzung für eine Integration in Berufsausbildung, gerade im Handwerk und
der klassischen Facharbeit in der Industrie. Und die muss man ebenfalls
fördern, beispielsweise durch das 3+2-Modell bei den geduldeten Flüchtlingen,
also man garantiert den Menschen, die eine Ausbildung machen, dass sie diese
absolvieren können und nicht abgeschoben werden. Und wenn sie die bestanden
haben, dann können sie noch (mindestens) zwei Jahre arbeiten. Das alles wird
aber erst einmal erhebliche Investitionen erforderlich machen, man stelle sich
einfach mal mit Blick auf die Sprache vor, wir würden in den arabischen Raum
flüchten müssen und sollen nun die dortige Sprache erlernen. So geht es gerade
vielen Flüchtlingen. Auch den besser Qualifizierten.
Aber da beißt die Maus keinen Faden ab – man muss darauf
hinweisen, dass sich die Konkurrenzsituation vor allem in den unteren Etagen
des Arbeitsmarktes in der vor uns liegenden Zeit massiv verschärfen wird. Und
nicht nur das: Wir werden einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit unter
den Flüchtlingen erleben. Auch der BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der heute „in
Personalunion“ auch noch Präsident des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge geworden ist (vgl. dazu meine kritischen Anmerkungen in dem Beitrag
Aber
selbst einer, der Herkules wäre, kann nicht zugleich noch Odysseus sein. In
Deutschland wird gerade genau das mal ausprobiert
auf der Facebook-Seite
dieses Blogs), sieht das, was auf uns zukommt: Vielen
Flüchtlingen droht Arbeitslosigkeit
. Daraus:

»Für das laufende Jahr hält Weise an der Prognose von knapp
2,8 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt fest, da die Konjunktur gut
sei und viele Flüchtlinge wegen des Registrierungsprozesses in der
Arbeitsmarkt-Statistik schlicht noch nicht auftauchten. 2015 verzeichnet die
Arbeitsagentur bislang rund 380 000 neue Arbeitssuchende aus den klassischen
Herkunftsländern Afrikas oder des Nahen Ostens. Genauso viele Menschen aus
diesen Regionen seien schon in Deutschland sozialversichert beschäftigt … Eine
… Hürde ist die geringe Qualifikation vieler Flüchtlinge. Laut erster Daten
der Agentur dürfte mehr als die Hälfte keine abgeschlossene Berufsausbildung
haben …  Selbst bei vorhandener
Qualifikation stehen einer erfolgreichen Vermittlung an Arbeitgeber häufig noch
mangelnde Deutschkenntnisse im Weg, sagt Weise … „Die vielen
Geringqualifizierten bringen mehr Druck in die Arbeitswelt“, schätzt Weise.«

 Mehr Druck in die Arbeitswelt – das lassen wir mal so im
Raum stehen. 

Auf der Rutschbahn direkt in Hartz IV. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte ist davon bei Arbeitslosigkeit betroffen. Was ein wenig helfen würde und wo die (System-)Grenze ein Dilemma ist

Also „normalerweise“ sollte es so sein, dass das Risiko der Erwerbsarbeitslosigkeit durch „vorrangige“ Sicherungssysteme aufgefangen wird, also durch die Arbeitslosenversicherung und nicht durch eine bedürftigkeitsabhängiges Fürsorgesystem wie Hartz IV. Mittlerweile haben sich diese Verhältnisse umgekehrt und fast 70% der registrierten Arbeitslosen befinden sich im Grundsicherungssystem (SGB II), während etwas mehr als 30% im Versicherungssystem (SGB III) abgesichert sind. Das hängt auch damit zusammen, dass aufgrund der Veränderungen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem deren Ausbreitung und der für viele dauerhaften Exklusion von stabileren Formen der Beschäftigung – die Voraussetzungen für den Bezug von Versicherungsleistungen nicht oder immer seltener erfüllt werden (können), wie beispielsweise die notwendige Vorbeschäftigungszeit innerhalb einer vom Gesetzgeber festgelegten Rahmenfrist, um beim Eintritt des „Schadensfalls“ Arbeitslosigkeit Leistungen zu bekommen.
Das führt dann zu solchen Meldungen, die auf eine neue Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit beruhen, die vom DGB in regelmäßigen Abständen vorgenommen wird: Jeder fünfte Beschäftigte rutscht bei Arbeitslosigkeit sofort in Hartz IV: »Demnach waren in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 264.000 Beschäftigte schon zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit auf Hartz IV angewiesen. Das waren 21,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Jobverlust. Besonders angespannt ist die Lage in der Zeitarbeitsbranche. Dort wurden im ersten Halbjahr 183.000 Arbeitkräfte entlassen. Davon waren rund 68.000, also 37 Prozent, direkt im Anschluss auf staatliche Grundsicherung angewiesen.«

Wer das Original lesen möchte, kann die Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit und vor allem die sozialpolitischen Schlussfolgerungen des DGB hier als PDF-Datei abrufen:

Wilhelm Adamy: 12 Monate mehr: Wie die Arbeitslosenversicherung besser vor Verarmung schützen kann. Auswertung aktueller Arbeitsmarktzahlen (1. Halbjahr 2015), Berlin 2015.

»Der Weg vom Beschäftigten zum Hartz-IV-Empfänger kann sehr kurz sein«, so Wilhelm Adamy in seiner Analyse: »Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten, die sich neu arbeitslos melden müssen, haben eine berufliche Ausbildung oder waren als Spezialist oder Experte (z.B. Ingenieur) beschäftigt. Das Hartz IV-Risiko bei Eintritt der Arbeitslosigkeit nimmt zwar mit dem Qualifikationsniveau ab, liegt bei ehemaligen Fachkräften aber immer noch bei knapp einem Fünftel. Bei den arbeitslosen Helfern sind nach einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt sogar 42 Prozent auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen.«

Und jetzt kommt ein Problem, auf das die derzeitige Debatte zielt:

»Viele mit und ohne Berufsabschluss haben zwar gearbeitet und ein ganzes Jahr Beiträge zur Versicherung gezahlt. Sie haben es aber nicht innerhalb der letzten zwei Jahre (der gesetzlichen Rahmenfrist) schaffen können, weil sie befristet oder unstetig beschäftigt waren. Infolge der zu kurzen Beitragszahlungen oder einer länger zurück liegenden Beschäftigung führt dies zum sofortigen Sturz in das Hartz-IV-System. Insbesondere prekär Beschäftigte, kurzfristig Beschäftigte und Leiharbeitskräfte kommen oftmals gar nicht in den Schutz der Versicherung.«

„Beeindruckend“ im negativen Sinne sind hier die für die Leiharbeit präsentierten Daten:

»Im Verleihgewerbe sind im ersten Halbjahr 2015 bereits 183.000 Leiharbeitskräfte arbeitslos geworden, rund 68.000 davon sind direkt auf Hartz IV angewiesen. Diese Zugänge aus Leiharbeit in Arbeitslosigkeit entsprechen fast einem Viertel des Beschäftigungsbestandes dieser Branche. Heuern und Feuern ist hier immer noch an der Tagesordnung, wenn im Schnitt ein Viertel der Belegschaft im Verleihgewerbe innerhalb eines halben Jahres Erfahrung mit Arbeitslosigkeit machen muss. Rund 37 Prozent der vormaligen Leiharbeitskräfte sind bei Eintritt der Arbeitslosigkeit zugleich auf Hartz IV angewiesen.«

Hinsichtlich des diskutierten und vom DGB auch geforderten Veränderungsbedarfs muss man darauf hingewiesen, dass es sich um den Vorschlag handelt, eine alte, also früher schon mal bestehende Regelung in der Arbeitslosenversicherung wieder einzuführen, also nichts wirklich Neues oder gar Revolutionäres. Dem DGB-Papier können wir dazu entnehmen:

»Laut Koalitionsvertrag sollen Beschäftigte künftig wieder 36 Monate Zeit haben, um zwölf Monate Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Dieser Zeitraum ist die Voraussetzung, um Arbeitslosengeld I zu beziehen. Von dieser Reform würden insbesondere Menschen profitieren, die häufig nur für kurze Zeit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Die so genannte Rahmenfrist lag vor 2006 ebenfalls bei 36 Monaten und wurde dann auf 24 Monate verkürzt.«

Der DGB „erinnert“ nun die Bundesregierung lediglich an das eigene Vorhaben, das man im Koalitionsvertrag beschlossen hat:

»Der DGB fordert, die gesetzliche Rahmenfrist endlich zu verlängern (im Koalitionsvertrag war Anfang 2015 als Start genannt worden). Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen, die Ausgaben würden pro Jahr um rd. 300 Mio. Euro steigen. Gleichzeitig würde das Hartz-IV- System schrumpfen. Bund und Kommunen würden jährlich um fast 100 Mio. Euro entlastet.«

Man sollte aber vor dem Hintergrund der Gesamtzahl an Arbeitslosen und an Zugängen in Arbeitslosigkeit den Effekt einer solchen Veränderung nicht überbewerten – für die einzelnen Betroffenen wäre das sicher eine wichtige Verbesserung, aber das angesprochene Grundproblem einer seit vielen Jahren beobachtbaren Verschiebung der „Absicherung“ von Phasen der Erwerbslosigkeit aus der (eigentlich zuständigen) Arbeitslosenversicherung in die (eigentlich nur als letztes Auffangnetz vorgesehene) Fürsorge wird dadurch nur in einer überschaubaren Art und Weise etwas korrigiert.

Zu den Zahlen: Im 1. Halbjahr 2015 haben 1,238 Mio. Menschen ihren sozialversicherten Job verloren und sind arbeitslos geworden.  Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 2015 den Job verloren, sind schon zu Beginn der Arbeitslosigkeit in Hartz IV gerutscht. Absolut waren dies 264.000 bzw. 21,3 Prozent der sozialversichert Beschäftigten mit Jobverlust.
Was würde nun die eigentlich vereinbarte Verlängerung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre bringen? Hier werden zwei Zahlen genannt: Im DGB-Papier findet man dazu den Hinweis: »Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen.« In dem Artikel der Saarbrücker Zeitung wird eine etwas andere Zahl genannt: »Nach Angaben des DGB-Arbeitmarktexperten Wilhelm Adamy könnten dadurch im Jahresschnitt bis zu 35.000 Personen vor dem sofortigen Abdriften in Hartz IV bewahrt werden.«

35.000 bis 50.000 sind eine Menge. Aber nur ein Teil der Betroffenen:

Für die große Mehrheit der Arbeitslosen, die derzeit direkt „weitergereicht“ werden in das Hartz IV-System, bleibt das beschriebene Dilemma erheblicher Sicherungslücken in dem „eigentlich“ für ihr Problem zuständigen Versicherungssystem bestehen. Das Dilemma resultiert aus dem Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung, die zwar eine Sozialversicherung ist, aber eben auch Versicherungsprinzipien folgen muss. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitslosenversicherung ist ein geeignetes Aufgang- und (bei entsprechender Höhe der Leistungen) Absicherungssystem für die betroffenen Arbeitnehmer, wenn der Schadensfall der Arbeitslosigkeit nur als Ausnahmefall und dann temporär eintritt, also nach einer überschaubaren Zeit wieder beendet werden kann durch die Aufnahme einer neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Die Versicherung als solche stößt an ihre (System-)Grenze, wenn die Arbeitslosigkeitsphasen oft und dann auch noch lange anhaltend auftreten. Vor diesem strukturellen Problem stehen alle – grundsätzlich wichtigen und eigentlich notwendigen – Ansätze einer Weiterentwicklung der „tradierten“ Arbeitslosen- hin zu einer modernen „Beschäftigungsversicherung“, seit Jahren richtigerweise gefordert, aber bislang noch nicht wirklich überzeugend konzeptualisiert. Das ist keineswegs ein Plädoyer, darüber nicht weiter zu diskutieren. Aber derzeit bleibt hier ein großes Fragezeichen.

Eine „Beschäftigungsversicherung“ würde nicht nur vor dem Problem stehen, dass die Fälle besser abgesichert werden müssen, um die es bislang in diesem Beitrag ging, die also häufig und länger anhaltend arbeitslos werden aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die ganze „Aufstocker“-Thematik aus dem Grundsicherungssystem müsste hier berücksichtigt werden, also die Mischung aus Erwerbstätigkeit und einer aufstockenden Leistungsgewährung angesichts der nicht ausreichend hohen Einkommen aus der Erwerbstätigkeit, sei sie nun sozialversicherungspflichtig, als geringfügige Beschäftigung oder in Form der Selbständigkeit ausgeübt.

Hartz IV Austria? Jetzt natürlich auch noch die Zumutbarkeit von Arbeit. Ein Update.

In Österreich steigt die Arbeitslosigkeit und auch dort kann
bzw. muss man ein bekanntes Muster in solchen Phasen beobachten: Schnell wird
die öffentliche Diskussion auf „die“ Arbeitslosen gelenkt und es wird
nach „Ursachen“ für die Arbeitslosigkeit gesucht, die in der Person
der Arbeitslosen begründet liegen. Gerne wird dabei dann auch auf die angeblich
falschen Anreizwirkungen der Arbeitslosenunterstützung verwiesen und in deren
Absenkung ein „Lösungsansatz“ gesehen. In Deutschland hat diese Debatte
eine lange Traditionslinie, Stichworte wie – eher technisch –  „Lohnabstandsgebot“ oder – nur populistisch –
„soziale Hängematte“ mögen hier genügen. Die Arbeitsmarktforschung hat zeigen
können, dass es ein immer wiederkehrendes Muster des Auf und Ab dieser Debatten
gibt, das eng mit der Arbeitslosigkeitsentwicklung korreliert. Und mit bevorstehenden Wahlen. Auf diesen Aspekt haben beispielsweise schon Frank Oschmiansky, Silke Kull und Günther Schmid in ihrer 2001 veröffentlichten Studie Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte hingewiesen. Sie belegen für Deutschland schon vor der Hartz IV-Zeit, dass das Thema „Faule Arbeitslose“ seit Mitte der 1970er Jahren regelmäßig politisch und medial hochgespielt wird – veranlasst nicht etwa durch neue Erkenntnisse, sondern durch bevorstehende Wahlen. Die Forscher sprechen vom ei­ nem „deutlichen politischen Kalkül“ und einem wiederkehren­ den Zeitpunkt, nämlich ein bis eineinhalb Jahren vor einer Bundestagswahl, und dies besonders ausgeprägt in Zeiten schwächelnder Konjunktur. 

Die aktuelle Debatte in Österreich wurde ausgelöst durch
Äußerungen in einem Interview mit dem österreichischen Finanzminister Hans-Jörg
Schelling von der ÖVP (Schelling:
Arbeitsloseneinkommen in Österreich ist zu hoch
) mit völlig falschen
Aussagen der Herrn Finanzministers wie: „Es ist auch deshalb schwer,
Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist
wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das
offenbar besser funktioniert“ – aber  seitdem wird landauf, landab darüber geredet,
ob Arbeitslose in Österreich zu viele Jobangebote ablehnen, die Notstandshilfe
zu lange gewährt wird, die Mindestsicherung streng genug kontrolliert wird und
ob nicht nach deutschem Hartz-IV-Vorbild mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt
werden sollte, öfters schlechtbezahlte Teilzeitjobs anzunehmen. Vgl. zu der
ersten Runde der Diskussion in Österreich im Anschluss an die mehr bzw.
eigentlich weniger gehaltvollen Ausführungen des Herrn Ministers den
Blog-Beitrag Hartz
IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen.
Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik
vom 26.
Juli 2015.

Und es überrascht nicht, dass auch wieder – wie in
Deutschland – sofort die beliebte Karte der Zumutbarkeit von Arbeit gezogen
wird, genau an dieser Stelle hat der österreichische Finanzminister dann auch
nachgelegt: Schelling:
Arbeitslose sollen weniger Jobs ablehnen dürfen
. Da ist es dann auch schon
fast egal, dass selbst das Vorstandsmitglied des österreichischen
Arbeitsmarktservices (AMS), also dem dortigen Pedant zur Bundesagentur für
Arbeit, Johannes Kopf, klar Stellung bezogen hat: Zumutbarkeit
kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit
. Aber hier geht es ja auch nicht um
Fakten, sondern um Emotionen.

Und wieder einmal geht es viel zu selten um die Menschen,
die davon betroffen sind, über die geredet und so manches behauptet wird und
deren Schicksale unter den großen Etiketten wie „Langzeitarbeitslose“ oder
„Hartz IVler“ in der Regel verschüttet und damit unsichtbar gemacht werden.

Vor diesem Hintergrund ist es ein kleiner, aber wichtiger
Beitrag gegen die populistische Dampfwalze, die sich in Bewegung gesetzt hat,
wenn in Medien der Blick geöffnet wird für die individuelle Seite der Medaille.
Die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ hat das anhand von zwei
Porträts versucht: Langzeitarbeitslos
in Wien: „Die Wohnung wird zum Gefängnis“
stellt uns einen
47-jährigen Wiener Akademiker vor, der seit vier Jahren verzweifelt einen Job sucht
und mit Blick auf Deutschland der Artikel Langzeitarbeitslos
in Berlin: „Freunde kann ich mir nicht mehr leisten“
, da geht es
um den 52-jährigen Potsdamer Jürgen Weber, der seit 14 Jahren arbeitslos ist und
seit zehn Jahren von Hartz IV lebt.

Und als ein weiteres Schlaglicht auf die Situation der
deutschen Grundsicherungsempfänger im Hartz IV-System in Deutschland – und vor
allem, wie unerwartet und schnell man da rein und kaum oder gar nicht mehr
rauskommen kann – vgl. diese Fallgeschichte: Armut
ist ein Vollzeitjob. Christine Schultis und ihr Absturz an den Rand der
Gesellschaft
.

Ein besonderes Problem in Deutschland – da sollten die Österreicher genau hinschauen – ist die Tatsache, dass wir in den vergangenen Jahren eine enorme „Verfestigung“ bzw. „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beobachten mussten, eine dauerhafte Exklusion, deren Ausbreitung im allgemeinen Gerede über das deutsche „Jobwunder“ leider viel zu oft ausgeblendet bzw. verschwiegen wird. Auch hier kann neben allen Statistiken die Sicht der Betroffenen helfen: Vgl. dazu das Video 10 Jahre leben mit Hartz IV: Betroffene berichten auf der Seite O-Ton Arbeitsmarkt. Es geht im Schatten des zehnjährigen „Jubiläums“ von Hartz IV um Langzeitarbeitslose, für die das auch ein persönliches ist, denn so lange sind sie schon im Leistungsbezug: »Beim Heilbronner Beschäftigungsträger Aufbaugilde sind drei Betroffene ehrenamtlich beschäftigt. O-Ton Arbeitsmarkt haben sie ihre Geschichte erzählt und den Leiter der örtlichen Agentur für Arbeit mit ihren Problemen konfrontiert.«

Hartz IV-Austria ante portas? Österreich soll am deutschen Hartz IV-Wesen genesen. Für so einen Vorschlag gibt es Fassungslosigkeit und viel Kritik

Deutschland ist bekanntlich eine weltmeisterliche Exportmaschine – und offensichtlich gehen nicht nur Autos der Premiumklasse, Maschinen aus dem Schwabenland, Chemieprodukte für Landwirtschaft und Kriegsführung über den Ladentisch, sondern auch politische Vorlagen. Griechenland muss das gerade erleben – und jetzt werden aus unserem Nachbarland Österreich Importwünsche hinsichtlich eines der in Deutschland selbst umstrittensten sozialpolitischen Produkte der jüngeren Vergangenheit angemeldet: Hartz IV.

Konkret geht es nicht um irgendwelche Hinterbänkler, die das Sommerloch füllen wollen, sondern um den österreichischen Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP), der in einem Interview so zitiert wird: »Es ist auch deshalb schwer, Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitsloseneinkommen fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.« Diese Äußerung hat nun eine breite und heftige Diskussion ausgelöst. Hartz IV kommt in Österreich an, so ist einer der Artikel dazu überschrieben.

Allerdings gibt es parteiübergreifend heftigen Gegenwind: Zu hohes Arbeitsloseneinkommen: Hagel an Kritik für Schelling. Zuerst einmal eine kurze Skizzierung des bestehenden Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit in Österreich, denn dann wird verständlich, warum das auf so viel Widerspruch stößt.

In »manchen Punkten ist das österreichische Arbeitslosengeld-System … sogar schlechter als die deutschen Hartz-Regelungen. Wer in Österreich seine Arbeit verliert, bekommt unmittelbar nach dem Jobverlust weniger Arbeitslosengeld als in Deutschland. Zumindest, was die Nettoersatzrate betrifft: In Deutschland beträgt das Arbeitslosengeld 65 Prozent des vorher verdienten Nettolohns, in Österreich sind es nur 55 Prozent. Sie wurde seit den 1990er Jahren sukzessive reduziert. 1993 sank die Nettoersatzrate, die von der Höhe des letzten Gehalts berechnet wird, von 57,9 Prozent auf 57 Prozent 1995 auf 56 Prozent und in weiterer Folge im Jahr 2000 auf 55 Prozent. Österreich hat damit eine der niedrigsten Nettoersatzraten beim Arbeitslosengeld Europas. Die Bezugsdauer ist gestaffelt, je nach Alter und Beschäftigungsdauer erhält man 20, 30, 39 bzw. 52 Wochen lang Arbeitslosengeld … Danach kann man Notstandshilfe beantragen. Sie ist unbefristet und macht 95 Prozent des vorher bezogenen Arbeitslosengeldes. Das wiederum ist vergleichsweise viel im internationalen Vergleich. Wer also in Österreich länger arbeitslos bleibt, für den ändert sich bei der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Notstandshilfe wenig. Langzeitarbeitslose in Deutschland stürzen dagegen ab.« (Hervorhebungen nicht im Original). Die Sozialhilfe der Bundesländer ist mittlerweile ersetzt worden durch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung besteht aus 2 Teilen: 620,87 Euro Grundbetrag und  206,96 Euro Wohnkostenanteil pro Monat. Zusammen sind das 827,83 Euro. Für Kinder gibt es jeweils 149,01 Euro. Je nach Bundesland können höhere Beiträge sowie Ergänzungsleistungen ausgezahlt werden, z.B. wenn die tatsächlichen Wohnkosten höher sind. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe niedriger ist als die Mindeststandards der Bedarfsorientierten Mindestsicherung und kein relevantes Vermögen vorhanden ist, kann eine ergänzende Mindestsicherungsleistung bezogen werden.
Wie man unschwer sehen kann, finden wir in Österreich eine Systematik, die es auch mal in Deutschland mit dem Arbeitslosengeld und der (unbefristeten, ebenfalls am ehemaligen Arbeitseinkommen orientierten) Arbeitslosenhilfe gegeben hat, bis die Arbeitslosenhilfe mit der damaligen Sozialhilfe nach dem BSHG zum Arbeitslosengeld II nach dem SGB II zusammengelegt wurde. Zum anderen ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzer als die beim Arbeitslosengeld I in Deutschland, danach aber gibt es die Notstandshilfe, die bei marginaler Absenkung dem vorherigen Arbeitslosengeld entspricht.

Insofern wäre eine Orientierung am deutschen Hartz IV-Modell tatsächlich für viele Arbeitslose ein herber Einschnitt.

Wie auch bei uns in Deutschland wird die Debatte mit den gleichen Vorurteilen und auch schlichten Unwahrheiten geführt, bei denen es lediglich darum geht, Stimmung zu machen gegen die Arbeitslosen. Bislang der einzige, der den Finanzminister öffentlich unterstützt, ist der  ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel, der mit diesen Worten zitiert wird: Der Finanzminister habe »vollkommen recht, dass Arbeitsanreize fehlen, wenn die erhaltenen Leistungen ohne Arbeit fast genauso hoch sind wie ein Arbeitseinkommen. Genau hier gilt es anzusetzen.« Fast genauso hoch wie ein Arbeitseinkommen ist angesichts der schon skizzierten Ersatzraten beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe kein Euphemismus mehr, sonder schlichtweg falsch. So auch die innerösterreichische Kritik:

»“Fassungslos über so viel arrogante Unwissenheit“ reagieren die Grünen Abgeordneten Birgit Schatz und Judith Schwentner. „Bei einer Nettoersatzrate von 55 Prozent könne man kaum davon sprechen, dass das Arbeitslosengeld auch nur annähernd so hoch sei wie ein angemessenes Erwerbseinkommen. Fakt sei vielmehr, dass Arbeitslosigkeit in Österreich wegen des niedrigen Arbeitslosengeldes der Einstieg in die Armut sei. Für Sozialsprecherin Schwentner ist mit Schellings Aussagen klar, dass dieser keine Ahnung von der Realität habe.«

Dazu auch der Blog-Beitrag Weltfremde Politik: Die Mär vom faulen, reichen Arbeitslosen mit ein paar Rechenbeispielen.

Wie bei uns wird natürlich reflexhaft das Argument der mangelnden Arbeitsanreize wie eine Monstranz von denen vor sich hergetragen, die auf eine Absenkung der Sozialleistungen zielen. Dazu hat sich auch das Arbeitsmarktservice (AMS) als österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit zu Wort gemeldet:

»AMS-Chef Johannes Kopf hielt in einem früheren Interview … die Anreize eine Arbeit aufzunehmen, in Österreich für groß genug. Einen Sonderfall ortete er aber: „Wenn zum Beispiel eine Frau mit den Kindern zu Hause ist und der Vater ein Fall für die Mindestsicherung, dann ist diese für die Familie so hoch, wie er oftmals kaum allein verdienen kann. Das ist eine Inaktivitätsfalle. Da müsste es die Möglichkeit geben, die Mindestsicherung bei der Arbeitsaufnahme teils weiter zu beziehen.“«

Damit beschreibt er eine Problematik, die wir auch in Deutschland kennen, die aber primär mit den Sicherungsdefiziten in anderen Bereichen wie dem Familienlastenausgleich zu tun haben.

Und zu der Ausgangsthese von dem angeblich zu hohen Arbeitslosengeld in Österreich finden wir bei der OECD in dem Anfang Juli veröffentlichten aktuellen Beschäftigungsausblicks für unser Nachbarland den folgenden Hinweis: »Besonders hoch ist in Österreich laut OECD die Einkommensungleichheit. Dies lasse sich durch chronische Arbeitslosigkeit, niedriges Kompetenzniveau einiger Bevölkerungsgruppen und das generell niedrige Arbeitslosengeld erklären« (OECD: Österreich sollte AMS-Budget aufstocken). Das Budget für das Arbeitsmarktservice (AMS) sollte erhöht werden, schlägt die OECD vor.

Man kann nur hoffen, dass sich die Österreicher nicht in die Hartz IV-Falle locken lassen. Die müssen nicht die gleichen Fehler machen wie wir.

Arbeitslosigkeit und Beschäftigung in den OECD-Staaten: Schritt für Schritt wieder zurück auf Start vor 2007. Vor allem aber die Langzeitarbeitslosen bleiben auf der Strecke

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt vor den langfristigen Folgen von Arbeitslosigkeit. Hintergrund ist die Veröffentlichung des OECD Employment Outlook 2015: »Jobs outlook improving slowly but millions risk being trapped at bottom of economic ladder«, so formuliert das zusammenfassend die OECD. In den 34 OECD-Staaten sind 42 Millionen Menschen arbeitslos, zehn Millionen mehr als vor Ausbruch der Finanzskrise im Jahr 2007. Im Schnitt der OECD-Staaten ist der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung wieder fast so hoch ist wie vor Ausbruch der Finanzkrise.

Allerdings werden weitere Probleme identifiziert. »Die OECD hält aber nicht nur die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, Spanien und Italien für gefährlich. Sie findet auch den starken Anstieg der Zahl junger Leute bedenklich, die komplett vom Radar verschwinden: Sie haben weder einen Job noch sind sie in einer Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme. Eine solche Situation in den ersten Berufsjahren hat laut der Studie gravierende Folgen. Demnach hängt der gesamte berufliche Lebensweg stark davon ab, wie die ersten zehn Jahre des Arbeitslebens verlaufen«, so Alexander Hagelüken in seinem Artikel 16 Millionen seit langem ohne Arbeit über den neuen OECD-Bericht. Das passt zu Befunden, die das IAB im vergangenen Jahr veröffentlicht hat in der Studie Verfestigung von früher Arbeitslosigkeit: Einmal arbeitslos, immer wieder arbeitslos? von Achim Schmillen und Matthias Umkehrer. Die Autoren untersuchen den Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit in den ersten acht Erwerbsjahren und derjenigen in den darauffolgenden 16 Erwerbsjahren. Die Ergebnisse zeigen: Arbeitslosigkeit zu Beginn des Erwerbslebens geht mit einem deutlich erhöhten Arbeitsmarktrisiko im späteren Erwerbsverlauf einher. Im späteren Erwerbsverlauf waren Personen mit ausgeprägter Jugendarbeitslosigkeit sowohl von häufigeren als auch von längeren Episoden der Arbeitslosigkeit betroffen.

Und noch ein zweiter Befund muss beunruhigen neben der allgemeine Tatsache, dass Millionen Menschen von Erwerbslosigkeit betroffen sind. Dazu Alexander Hagelüken:

»In den Industriestaaten gibt es inzwischen 16 Millionen Langzeitarbeitslose, drei Viertel mehr als vor der Krise. Die Hälfte von ihnen sind sogar mehr als zwei Jahre ohne Stelle. Die OECD betont das Risiko, dass diese Gruppe vom Arbeitsmarkt entfremdet wird: Vor allem durch die Entwertung der erworbenen Qualifikationen und den Frust, der die Motivation reduziert. Es gebe etwa in den südeuropäischen Staaten Anzeichen dafür, dass sich der konjunkturbedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit verfestige – und somit viel schwerer zu korrigieren sei als in anderen Zeiten.«

An dieser Stelle fällt Deutschland negativ auf: »Die Langzeitarbeitslosigkeit ist einer der wenigen Bereiche, in denen Deutschland nicht so gut dasteht: Fast jeder zweite Arbeitslose sucht schon länger als ein Jahr nach Arbeit, mehr als im OECD-Schnitt und doppelt so viel wie in den USA.«

Generell gilt: Viele, die ihren Job in der Fabrik oder am Bau verloren, müssen sich komplett umstellen: Sie brauchen neue Qualifikationen, um einen Dienstleistungsjob zu finden, sonst landen sie im Abseits, schreibt Hagelüken in seinem Beitrag.

In der deutschsprachigen Zusammenfassung OECD‐Beschäftigungsausblick 2015 gibt es noch einige weitere Hinweise auf interessante Aspekte, die in dem Bericht diskutiert werden:

»In der überwiegenden Mehrzahl der OECD‐Länder nimmt die Ungleichheit zu … Neue Daten zu den Informationsverarbeitungskompetenzen der Erwerbsbevölkerung aus der OECD‐Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) machen deutlich, welche wichtige Rolle Kompetenzen als Erklärungsfaktor für Unterschiede zwischen den Ländern in der Lohnspreizung spielen, die ein entscheidender Faktor für die Einkommensungleichheit zwischen den Haushalten ist … In Ländern mit einer unausgewogeneren Kompetenzverteilung ist auch die Lohnungleichheit höher.« Es kann an dieser Stelle allerdings nur darauf hingewiesen, nicht aber ausführlicher diskutiert werden, dass der Kompetenz-Ansatz der OECD nicht unumstritten ist, er bildet ja auch die Basis für die PISA-Studien.

Hervorzuheben ist, dass die OECD sich nicht nur die quantitativen Dimensionen anschaut, sondern explizit auch eine Annäherung an und Berücksichtigung der „Qualität“ von Arbeit versucht.
»Inwieweit sich die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Verdienstungleichheit in langfristiger Ungleichheit bei den Erwerbseinkommen niederschlägt, hängt vom Grad der Verdienstmobilität ab, worunter der Auf‐ und Abstieg auf der Verdienstleiter bzw. Übergänge von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit und umgekehrt zu verstehen sind …  (Auf der Basis einer Simulationsstudie für 24 OECD-Staaten) zeigte sich, dass durchschnittlich drei Viertel der in einem gegebenen Jahr festgestellten Ungleichheit von Dauer sind, während der verbleibende Teil im Lebensverlauf infolge der Mobilität ausgeglichen wird. Die Mobilität ist in Ländern mit größerer Ungleichheit offenbar nicht höher. Chronische Arbeitslosigkeit, unzureichende kognitive Kompetenzen, atypische Beschäftigungsverhältnisse und Unternehmen mit geringer Produktivität sind die wichtigsten Erklärungsfaktoren langfristig geringer Verdienste. Die Arbeitslosenversicherung spielt eine wichtige Rolle bei der Absicherung der beruflichen Laufbahn, indem sie die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Einkommensrisiken verringert.«

Das OECD‐Konzept der Beschäftigungsqualität versucht diese anhand von drei Kriterien zu erfassen: Einkommensqualität (Kombination von Durchschnittsverdiensten und Einkommensungleichheit), Arbeitsmarktsicherheit (gemessen am Risiko von Arbeitslosigkeit und extrem niedrigen Verdiensten) und Qualität des Arbeitsumfelds (gemessen an der Häufigkeit von Arbeitsstress oder sehr langen Arbeitszeiten). Nun gibt es immer wieder die These, dass man sich das „nicht leisten“ könne, weil es einen Bis gebe zwischen (mehr) Beschäftigungsqualität und (mehr) Beschäftigung (und damit weniger Arbeitslosigkeit). Abweichend dazu die OECD:
»Im Hinblick auf die Politikgestaltung zeigt die Erfahrung der am besten abschneidenden OECD‐Länder, dass eine hohe Beschäftigungsqualität mit einem hohen Beschäftigungsniveau vereinbar ist. Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsqualität sollten also nicht zwangsläufig als Bremse für das Beschäftigungswachstum betrachtet werden.«