Rundreise durch die Pflege-Landschaft: Von einem ethischen Tabubruch bei Demenzkranken über Babyboomer mit Ansprüchen bis hin zu neubauenden Betreibern von Pflegeheimen

Es würde locker für eine Vollzeitbeschäftigung reichen, wenn man erfassen und einordnen soll, wie viele unterschiedliche Gewerke derzeit auf der Dauerbaustelle Pflege unterwegs sind und was genau sie da so treiben. Und wo derzeit nicht gearbeitet wird, obgleich dringender Bedarf besteht. Der Blick in die aktuelle Berichterstattung in den Medien öffnet einen bunten Strauß an Themen- und Problemfeldern, die zugleich alle auch irgendwie, vor allem für die Betroffenen, mehr oder weniger stark miteinander in Wechselwirkung stehen.

Unter der trockenen Überschrift Tarifverhandlungen gescheitert wird beispielsweise über das Scheitern eines wichtigen Unterfangens berichtet: In Brandenburg platzen Verhandlungen über einen einheitlichen Tarifvertrag in der Altenpflege. »Die Gewerkschaft verdi hat die Gespräche mit den Spitzenverbänden in der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Brandenburg ausgesetzt, ein einheitlicher Tarifvertrag für die Altenpflege in Brandenburg ist vorerst vom Tisch. Die Verhandlungen begannen bereits vor knapp drei Jahren auf Initiative des brandenburgischen Arbeitsministeriums und verliefen bisher ergebnislos. Der Tarifvertrag sollte nach Angaben des Arbeitgeberverbands Pflege auch anderen Bundesländern als Blaupause dienen.« Wenn von Seiten der Gewerkschaft berichtet wird, dass »ein Teil der Gesprächspartner keine Tarifverhandlungen mit verdi führen will und zwei weitere Spitzenverbände beklagen, dass sie für eine Aufnahme von Tarifverhandlungen von ihren Mitgliedern nicht mandatiert werden«, dann kann man an diesem Beispiel das Problem erkennen, dass aufgrund der vielgestaltigen Arbeitgeberlandschaft „normale“ Tarifverhandlungen so gut wie unmöglich sind, denn neben den privaten Anbietern sind die Wohlfahrtsverbände und damit die Kirchen hier besonders aktiv – und die konfessionell gebundenen Arbeitgeber beharren auf dem „dritten Weg“ und den damit verbundenen Sonderrechten für die kirchlich gebundenen Arbeitgeber.

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Pflegestützpunkte: Sinnvolle Notwendigkeit oder eine sich bürokratisierende Fehlinvestition? Über das nicht nur institutionelle Gerangel im Umfeld des Pflegestärkungsgesetzes III

Betrachtet man die großkoalitionäre Gesetzgebung im Bereich der Pflege in der laufenden Legislaturperiode, dann kann man einen Vorwurf sicher nicht machen: Die haben nichts geschafft. Unabhängig, ob einem die Ergebnisse passen oder nicht: Aber die bereits in Kraft gesetzten Pflegestärkungsgesetze I und II haben so einige Veränderungen im Pflegesystem gebracht. Und wie heißt es so schön im Volksmund – aller Dinge sind drei. Also hat das Kabinett im Juni dieses Jahres den Entwurf für ein Pflegestärkungsgesetz III (PSG III) verabschiedet, der nun durch die parlamentarischen Mühlen geschickt wird. Der Gesetzentwurf ist auch im Bundesrat zustimmungspflichtig. Während es bei den ersten beiden Pflegestärkungsgesetzen um die Art und Höhe der Leistungen sowie der Installierung eines „Vorsorgefonds“ und um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ging, erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum dritten und noch nicht vollendeten Streich (vgl. hierzu die Pressemitteilung des BMG: Drittes Pflegestärkungsgesetz im Kabinett beschlossen, 28.06.2016): Mit dem PSG III solle die Pflegeberatung in den Kommunen gestärkt werden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhalten dadurch eine Beratung aus einer Hand, so die Hoffnung des BMG.

Dabei sind doch bereits heute in dem die Soziale Pflegeversicherung normierenden SGB XI Pflegeberatung und Pflegestützpunkte verankert, die Pflegeberatung im § 7a SGB XI und die Pflegestützpunkte im § 7c SGB XI.  Seit 2009 besteht ein Rechtsanspruch auf Pflegeberatung, der zum 1.1.2013 noch ausgeweitet wurde. Diese Pflegeberatung findet in Pflegestützpunkten statt -wenn es sie denn gibt, was eben nicht überall der Fall ist. Wenn es die nicht gibt, dann müssen die Pflegekassen das anbieten.

Und wie will man nun die Ausweitung im Sinne einer „Beratung aus einer Hand“ erreichen? Dazu erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium:

»Die Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen vor Ort soll verbessert werden. Dazu sollen Kommunen mit dem PSG III für die Dauer von fünf Jahren ein Initiativrecht zur Einrichtung von Pflegestützpunkten erhalten. Darüber hinaus sollen sie künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen können. Ergänzend zu ihren eigenen Beratungsaufgaben in der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe sollen sie auch Pflegebedürftige, die Pflegegeld beziehen, beraten können, wenn diese das wünschen. Außerdem sind Modellvorhaben zur Beratung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen durch kommunale Beratungsstellen in bis zu 60 Kreisen oder kreisfreien Städten für die Dauer von fünf Jahren vorgesehen. Über die Anträge von Kommunen, die an diesen Modellvorhaben mitwirken wollen, wird von den Ländern entschieden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen dadurch eine Beratung aus einer Hand erhalten zu allen Leistungen, die sie in Anspruch nehmen können wie z.B. der Hilfe zur Pflege, der Eingliederungshilfe oder der Altenhilfe.«

Das hört sich doch erst einmal gut an. Und dann solche Schlagzeilen: Pflegereform sorgt für Ärger bei Verbänden, berichtet die „Ärzte Zeitung“.  Der Ärger der Pflegeverbände entlädt sich vor allem an den geplanten Pflegestützpunkten – Beratungsstellen für Menschen mit Hilfebedarf und deren Angehörige, die Gemeinden und Landkreise laut dem neuen Gesetz errichten sollen:

»Das Selbsthilfenetzwerk Pro Pflege kritisiert deren „behördliche Strukturen“. „Die bereits gesetzlich vorgegebenen Beratungsverpflichtungen müssen durch die Pflegekassen verstärkt wahrgenommen werden“, schreibt Vorsitzender Werner Schell in einem offenen Brief an den Deutschen Bundestag.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) hingegen erachtet den Aufbau von Pflegestützpunkten zwar grundsätzlich als sinnvoll – ist jedoch ebenfalls kritisch, dass die Stützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht würden, sagte eine Sprecherin der „Ärzte Zeitung“.«

Und Anno Fricke berichtet in seinem Artikel Fehlinvestition oder sinnvoll?: »Die Wiederbelebung des Konzepts der Pflegestützpunkte durch die Regierung stößt auf harsche Kritik bei Pflegeverbänden. Von „Fehlinvestitionen“ ist die Rede. Auch der AOK geht der geplante Einfluss der Kommunen in der Pflege zu weit.«

Die Pflegestützpunkte bekommen ihr Fett weg. Sie seien „behördliche Strukturen“. Ihr Betrieb lasse allein die Träger dieser Institutionen profitieren. Die Stützpunkte seien „Fehlinvestitionen“, so wird der Vorsitzende des Selbsthilfenetzwerks Pro Pflege, Werner Schell, zitiert.
Das bereits angesprochene Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) teilt diese ablehnende Position in der Schärfe nicht, sondern hält die Pflegestützpunkte grundsätzlich für eine gute Sache. Aber:

Das KDA betont auch, »dass Pflegestützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe – nämlich der Entwicklung bedarfsgerechter und den Bedürfnissen der Ratsuchenden dienenden örtlichen Angebote – nicht im erforderlichen Maße nachkämen. Pflegestützpunktesollten nicht als verselbstständigte, bürokratisch denkende und handelnde Einrichtungen der Krankenkassen verstanden oder missbraucht werden. Zum Hintergrund: In den Stützpunkten sind meist Pflegeberater der Kassen als Fallmanager tätig.«

Was allerdings auch der Fall ist: Beide Organisationen, die hier als Kritiker der gesetzgeberischen Aktivitäten zitiert werden, weisen auf einen offensichtlichen Bedarf hin, denn sie plädieren dafür, »den verantwortlichen Planern und Kümmerern auf der örtlichen Ebene mehr Gestaltungsspielräume zu geben. Voraussetzung seien Strukturen, in denen Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer Wohnumgebung bleiben könnten. „Dazu benötigen wir mit kommunaler Hilfe professionelle Kümmerer, die sich der Entwicklung solcher Unterstützungssysteme nahe bei den Menschen annehmen, und so den Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ gestalten helfen“, heißt es in dem Schreiben von Pro Pflege an die Abgeordneten.«

Was ist da los? Einerseits kann ein solcher Hinweis aus dem Artikel von Anno Fricke weiterhelfen:

»Aus Sicht der AOK sind die geplanten Eingriffsrechte der Kommunen „zu tiefgehend“. Dadurch würde die Entscheidungsbefugnis der Pflegekassen „erheblich“ eingeschränkt.«

Der vom praktischen Leben geschulte Sozialpolitiker erkennt darin ein bekanntes und nicht selten frustrierendes Muster: Offensichtlich geht es a) um Geld und b) um Zuständigkeiten. Die Kassen fürchten, dass die Kommunen über das PSG III Zugriff auf ihre Mittel bekommen und dann auch noch die Inhalte der Arbeit in den Pflegestützpunkte maßgeblich beeinflussen können, im Sinne einer Ausweitung auf die Angelegenheiten der Pflegekassen selbst – mit der möglichen Folge eines „Kontrollverlustes“ auf Seiten der Kassen. Die Erläuterungen des Bundesgesundheitsministeriums zum PSG III könnte man durchaus so lesen:

»Die Kommunen sollen im Rahmen der Regelungen im jeweiligen Landesrecht und bei angemessener finanzieller Beteiligung für die Dauer von fünf Jahren das Recht erhalten, die Einrichtung von Pflegestützpunkten anzustoßen (Initiativrecht), Kranken- und Pflegekassen müssen sich in diesem Fall beteiligen. Damit können Landkreise, Städte und Gemeinden die Versorgung und Beratung vor Ort verbessern.
Bisher konnten kommunale Behörden Beratung nur im Bereich der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe durchführen. Mit der Umsetzung des Dritten Pflegestärkungsgesetzes können Kommunen künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen und verpflichtende Beratungen in der eigenen Häuslichkeit bei Empfängern von Pflegegeld durchführen, wenn diese das wünschen.«

Und dann kommt der entscheidende Passus für die Kassen:

»Für die Dauer von fünf Jahren können Landkreise und kreisfreie Städte in bis zu 60 Modellvorhaben Beratungsstellen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen einrichten. In den Modellkommunen geben die Pflegekassen die Pflegeberatung an diejenigen Stellen ab, die auch für die Beratung über die Hilfe zur Pflege zuständig sind. Hier kann dann die gesamte Beratung in allen Bereichen der Pflege durch kommunale Behörden abgedeckt werden.«

Nun könnte man einwenden, dass es eigentlich auch logisch ist, eine möglichst unabhängige Stelle zu schaffen, wenn man eine wirklich umfassende und primär die Interessen  der Betroffenen verpflichtete Pflegeberatung haben möchte. Man denke an dieser Stelle nur an die immer wieder vorgetragenen Zweifel des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), die für die Kassen die Einstufung der Pflegebedürftigen vornehmen. Auch hier werden immer wieder mögliche Interessenkollisionen diskutiert.

Man kann es auch so ausdrücken wie Sabine Kirchen-Peters, Lukas Nöck, Peter Baumeister und Birgit Mickey in ihrer Veröffentlichung Pflegestützpunkte in Deutschland. Die Sicht der Mitarbeitenden – Der rechtliche Rahmen – Die politische Intention (2016):

»Über die Pflegeberatung im Pflegestützpunkt lösen die Kranken- und Pflegekassen ihre Sicherstellungsverpflichtung zum bedarfsgerechten Case Management (§ 7 a SGB XI) und die zum versorgungsoptimierenden bzw. -steuernden Care Management (§ 12 SGB XI) ein. Wenn die Kranken- und Pflegekassen mit vertretbarem Finanzaufwand auch im entferntesten Winkel des Landes ihre hilfebedürftigen Versicherten bedarfsadäquat mit Pflegeberatung und Pflegebegleitung erreichen wollen, ist der gemeinschaftlich mit anderen Partnern betriebene Pflegestützpunkt die einzige effektive und effiziente Lösung. Sporadische Pflegeberatung, „virtuelle Pflegestützpunkte” sowie die Zuordnung von Care und Case Management auf unterschiedliche Institutionen erfüllen nicht die gesetzlich geforderten Voraussetzungen einer professionellen Pflegeberatung und Pflegebegleitung.« (S. 3)

Die Verfasser weisen darauf hin, dass Pflegeberatung im Pflegestützpunkt mehr ist als SGB-V- und SGB-XI-Beratung. Um die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit durch Angehörige zu sichern, werden auch die gesetzlich oder tarifvertraglich geregelten Freistellungsansprüche von Arbeitnehmern, die finanzielle Förderung altersgerechter Wohnungsgestaltung, das Wissen über technische Hilfen im Alltag und vieles mehr gebraucht. Hilfen aus unterschiedlichen Rechts- und Zuständigkeitsbereichen müssen sich gegenseitig ergänzen bzw. ineinandergreifen. »Deshalb sollten die Kranken- und Pflegekassen bzw. ihre Verbände sowie die kommunalen Gebietskörperschaften und die Länder kooperativ zusammenwirken und daher auch gleichverantwortlich gleichberechtigte Träger der Pflegestützpunkte sein«, so Kirchen-Peters et al. (2006: 3).

Grundsätzlich wird man diesem Ansatz nicht wirklich widersprechen können, denn die höchst komplexen Aufgaben rund um das Thema Pflege lassen sich nur vor Ort bündeln. Offensichtlich will der Gesetzgeber diesen Ansatz verfolgen, wieder einmal aber erst über den Modell-Ansatz, konkret über die bereits genannten 60 Modellkommunen, die das ausprobieren können. Dazu auch die Veröffentlichung von Rolf Hoberg, Thomas Knie und Gerd Künzel: Stärkung der Kommunen in der Pflege und die Modellkommunen. Vorschläge zur Umsetzung der jüngsten Reformen (2016). Sie unterstützen diesen Ansatz, weisen aber am Ende auch darauf hin, »dass wichtige Punkte weiterhin der Umsetzung harren: die Anerkennung der Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit von Behinderung und Pflege, die Einebnung von Leistungsdifferenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung in der Pflege, die eigenständige und gleichrangige berufliche Profilierung von care-Aufgaben neben cure-Aufgaben« (S. 4).

In einer anderen Veröffentlichung (Rolf Hoberg, Thomas Klie, Gerd Künzel: Pflege in Sozialräumen. Was muss eine Strukturreform Pflege und Teilhabe leisten?, Bonn 2016) weisen die Verfasser entsprechend und deutlich darauf hin:

»Auf institutioneller Ebene müssen Beratung und Koordination in der Region (Kreis- und Landesebene) zusammengeführt und in die kommunale Daseinsvorsorge als Pflichtaufgabe eingebettet werden, damit die Cure- und Care-Aufgaben übergreifend bearbeitet werden.
Nur in kommunaler Verantwortung können die widersprüchlichen Steuerungen von wettbewerbsorientierter Krankenversicherung, einheitlich und gemeinsam handelnder Sozialer Pflegeversicherung, wettbewerbsorientierten Leistungserbringern und einheitlichen Fürsorgeleistungen überwunden werden.«

Nun könnte man an dieser Stelle durchaus berechtigt einwenden, das mag zwar theoretisch richtig sein und es gibt sicherlich auch Kommunen, in denen der Resonanzraum für so einen Ansatz vorhanden wäre bzw. schon ist. Aber in vielen Kommunen eben nicht. Wobei das eben ein grundsätzliches Dilemma aller kommunalisierten Systeme ist – man denke hier an die Kinder- und Jugendhilfe: Von Alpha bis Omega ist alles dabei. Die Varianz der Umsetzung ist dann doch ganz erheblich.

Aber auch für einen anderen Blick auf das Feld wären einheitliche Beratungs- und Koordinierungsstrukturen hilfreich und wichtig. In dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 wurde mit Blick auf die vielen osteuropäischen  Betreuungs- und Pflegekräfte für eine „Mischstrategie der Regulierung und Förderung“ plädiert, wobei ein wesentlicher Bestandteil dieses Vorschlags die Organisierung und die Vernetzung der Frauen aus Osteuropa ist, sowie die Verknüpfung mit professionellen ambulanten Pflegediensten. Nur muss das organisiert und begleitet werden. Dafür würde sich ein flächendeckendes Netz an Pflegestützpunkten quasi „aufdrängen“.

Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle erschöpft angesichts der überwiegend abstrakten Darstellung der Thematik einwerfen, was denn die bereits bestehenden Pflegestützpunkt eigentlich so machen. Dazu diese beiden Artikel aus der Praxis: Zum einen der Artikel Hilfe im Alter: Diplom-Gerontologin Mareike Schütze vom Pflegestützpunkt berät Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sowie zum anderen der Beitrag Zwei behalten den Überblick, in dem über Heike Yalcin und Carmen Sichert aus dem Landkreis Alzey und ihrer Arbeit im Pflegestützpunkt vor Ort berichtet wird.

Fazit: Es gibt gute Argumente für eine Wiederbelebung und Ausweitung des übrigens schon einige Jahre alten Konzepts der Pflegestützpunkte als ein Bestandteil der anstehenden und erforderlichen Kommunalisierung der Pflege.

Zugleich muss man offen uns lösungsorientiert darüber diskutieren, wie man die durchaus plausiblen Argumente der Kritiker, dass sich die Pflegestützpunkte sowohl von den Betroffenen wie auch angesichts der Mischfinanzierung aus unterschiedlichen Haushalten von den beteiligten Institutionen ablösen, verselbständigen und nach einer vielleicht innovativen Aufbruchsphase vor sich hin ausbürokratisieren, außer Kraft oder zumindest abschwächen kann. Denn die damit angesprochene Gefahr ist mehr als plausibel.

Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun?

Immer wieder tauchen sporadisch solche Artikel in den Medien auf: »Rund um die Uhr, unterbezahlt und unversichert. „Pflegesklavinnen“ nennen manche diese Menschen, oft aus Osteuropa, die teilweise weniger als 800 Euro im Monat verdienen – für einen Job, für den es eigentlich drei Pflegekräfte bräuchte. Die Frauen, selten Männer, arbeiten als 24-Stunden-Kräfte, auch „Live-Ins“ genannt, in Privathaushalten. Von dort aus versorgen sie Menschen Tag und Nacht, gehen einkaufen, kochen, geben Tabletten und sind Gesprächspartner. Und weil sie keine Rechte haben, werden sie oft mit Füßen getreten.« Damit beginnt Daniel Drepper seinen Beitrag, den er unter die aufrüttelnde Überschrift Sklavinnen, die uns pflegen gestellt hat.

Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine Schattenwelt, was sich dann auch in den Zahlen niederschlagen muss: Experten schätzen, berichtet Drepper weiter, dass es zwischen 100.000 und 300.000 – ganz überwiegend Frauen – sind. Eine Studie für das polnische Arbeitsministerium geht davon aus, dass 94 Prozent dieser Frauen illegal in Deutschland arbeiten. 

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Abschied von einer Lebenslüge der deutschen Pflegepolitik reloaded? Eine „Mischstrategie der Regulierung und der Förderung“ mit Blick auf die „24-Stunden-Pflege“

So viele tun es. Und in aller Regel tun sie es in einer Schattenwelt, im halblegalen, wenn man es genau nimmt im illegalen Bereich. Sie viele Angehörige von Pflegebedürftigen, die sich eine „Svetlana“ oder „Olga“ ins Haus holen, für eine „24-Stunden-Pflege“ ihres Pflegefalls. Und seit Jahren wissen wir, dass das eine Schattenwelt in mehrfacher Hinsicht ist, eben nicht nur nach unseren rechtlichen Maßstäben, sondern auch mit Blick auf die Menschen, die überwiegend aus Osteuropa nach Deutschland kommen und teilweise Monate am Stück in den Wohnungen der Pflegebedürftigen ihre Arbeit verrichten.

Der Terminus „Lebenslüge“ wurde von dem Dramatiker Henrik Ibsen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Er prangerte damit scheinheilige Verlogenheit, Doppelmoral und krampfhaftes Festhalten am schönen Schein an, was in seiner Sicht typisch war für das Bürgertum seiner Zeit. Nun hat sich seither vieles verändert – unter anderem die pflegerische Versorgung alter Menschen –, aber die genannten Ausdrucksformen der Lebenslüge im Sinne von Ibsen haben sicherlich nichts an ihrer Bedeutung und Aktualität verloren. In vielen Bereichen der Sozialpolitik haben wir mit solchen Lebenslügen zu kämpfen und ein ganz besonders „prächtiges“ Exemplar können und müssen wir in der Pflegepolitik verorten. Gemeint ist hier die Tatsache, dass immer wieder Namen wie Olga, Svetlana oder Anna als letzte Rettung in Situationen der höchsten Not genannt werden, wenn es um die Versorgung und Betreuung eines pflegebedürftigen Menschen zu Hause geht, zugleich aber die meisten Familien, die eine Olga, Svetlana oder Anna beschäftigen, permanent „mit einem Bein im Knast stehen“, weil sie teilweise gegen mehrere Vorschriften gleichzeitig verstoßen – und verstoßen müssen, auch wenn sie es gar nicht wollen, womit wir uns dem Kern des Problems zu nähern beginnen. 

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Immer wieder die schwarzen Schafe. Unter den Pflegediensten. Und da gibt es nicht nur Betrug, sondern auch wirklich dreiste Versuche, Kontrolle zu verhindern

Stellen wir uns einmal vor, sie unterschreiben als Autofahrer eine Bescheinigung, dass sie auf gar keinen Fall dem TÜV erlauben, ihr Fahrzeug auf technische Mängel zu untersuchen. Sie verbitten sich ausdrücklich eine solche Prüfung und untersagen auch den Zugang zum Fahrzeug. Je nach Zustand der Rostlaube, mit der man (noch) unterwegs ist, wird der eine oder andere sicherlich Gefallen finden an einem solchen Gedankenspiel – aber die große Mehrheit wird erkennen, dass ein derartiges Ausklinken einzelner Autofahrer natürlich angesichts der Bedeutung einer regelmäßigen Inspektion der Fahrtauglichkeit für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer eine hanebüchene Vorstellung ist.

Nicht aber so in der Pflege. Bei pflegebedürftigen Menschen bleibt das offensichtlich nicht nur eine kabarettistisch daherkommende Einlage, sondern es wird in die Tat umgesetzt. Immer wieder wurde über betrügerische Aktivitäten in der Altenpflege berichtet. Und offensichtlich ist für jeden, der einen etwas genaueren Blick auf die Bedingungen wirft, unter denen die Pflegedienste ihre Leistungen abrechnen, dass das bestehende, höchst komplexe System Anreize setzt, an der einen oder anderen Stelle vom Pfad der Wahrheit abzuweichen und in einigen wenigen Fällen sogar ein ganzes Geschäftsmodell auf der systematischen Ausplünderung der Pflegekassen aufzubauen.

Über eine neue und wirklich mehr als dreiste Attacke gegen die (möglichen) Kontrollen, mit denen man betrügerisches Abrechnungsverhalten aufdecken könnte, erfährt man in diesem Artikel von Armin Geier so einiges: Geheimakte Pflege: Mieser Trick auf Kosten der Senioren, so lautet die Überschrift:

»Wo werden Pflegebedürftige schlecht versorgt? Wo wird Senioren mehr berechnet, als eigentlich geleistet wird? Das herauszufinden, ist unter anderem die Aufgabe des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MdK). Täglich kontrolliert die Pflege-Polizei in Heimen oder bei Menschen zu Hause, die dort von ambulanten Diensten gepflegt werden. Bei rund 350.000 Pflegebedürftigen allein in Bayern kein leichter Job – besonders da manche Pflegeanbieter alles dafür tun, die Arbeit der Kontrolleure zu erschweren.«

Und wie machen die das? Sie lassen Pflegebedürftige ein Formular unterschreiben, das jede Prüfung des MdK von vornherein verbietet. Und das soll funktionieren? Offensichtlich, denn: Wenn der Medizinische Dienst Patienten mit einer Pflegestufe befragen und untersuchen will, muss er diese erst um ihre Erlaubnis fragen. Das ist aus Datenschutzgründen so geregelt. Wenn die Betroffenen nicht einwilligen, dann dürfen die MdK-Prüfer theoretisch nicht einmal die Wohnung betreten, wenn Menschen zu Hause versorgt werden.

Und genau an dieser Stelle setzt nun die neueste Masche an, wie Armin Geier berichtet:

»Seit Wochen kursiert ein juristisches Schreiben, das manche ambulante Pflegedienste ihren Kunden vorlegen – und unterschreiben lassen. Darin heißt es unter anderem: „Weiterhin widerspreche ich bzw. wünsche ich ausdrücklich nicht, von den Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Rahmen der Qualitätsprüfung nach §§112 ff SGB XI angerufen, besucht und/oder befragt zu werden.“ Heißt im Klartext: „Ich will keine Kontrolle meiner Versorgung.“ Und das ist nicht alles: Sogar in die Pflegedokumentation darf der MDK keinen Blick mehr werfen.«

Der letzte Punkt ist natürlich vor dem Hintergrund der Vorwürfe und tatsächlichen Begebenheiten von Abrechnungsbetrug nur grotesk, denn wie soll man einen solchen nachweisen, ohne die Pflegedokumentation prüfen zu können.

Die Reaktionen sind entsprechend: „Hier wird versucht, unsere Arbeit regelrecht zu torpedieren“, so wird Ottilie Randzio vom bayerischen MdK zitiert. Und weiter: „Dieser Brief, den alte Menschen natürlich oftmals einfach unterschreiben, macht unsere Arbeit unmöglich“.
Der Pflegeexperte Claus Fussek: „Hier sichern sich einige ambulante Dienste ab. So können sie ohne jede Kontrolle machen, was sie wollen. Das geht gar nicht.“

Diese neue, wirklich beklagenswerte Entwicklung muss eingebettet werden in eine umfassende kritische Debatte über das, was in dem großen weiten Feld der Pflege leider auch an missbräuchlichen Ausformungen zu beobachten ist. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Extrem pflegebedürftig von Nadine Oberhuber. Und sie verweist gleich am Anfang ihres Beitrags auf das Geldvolumen, das im Bereich der Altenpflege bewegt wird: »Gut 61 Milliarden Euro fließen von staatlicher Seite und aus privaten Haushaltskassen in die Pflegebranche. Damit ließen sich die rund 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland schon ordentlich betreuen.« Aber solche Summen locken natürlich auch die schwarzen Schafe an wie das Licht die Motten – vor allem, da hätten wir schon eine Verbindung zum ersten Teil des Beitrags, wenn die Kontroll- und daraus resultierend die Verfolgungs- und Bestrafungswahrscheinlichkeit um ein Vielfaches geringer ist als beispielsweise auf illegalen Geschäftsfeldern oder sogar nicht existiert.

Und man sollte sich einfach mal die große Zahl der Anbieter verdeutlichen (aus der an sich schon ein echtes quantitatives Kontrollproblem erwächst, selbst wenn man kontrollieren darf): Bundesweit gibt es 12.300 ambulante Pflegedienste und 12.400 Pflegeheime. Um das an dieser Stelle gleich in aller Deutlichkeit zu sagen – die meisten dieser Dienste und Heime arbeitet legal, oftmals unter großem Engagement bis hin zur Aufopferung der Beschäftigten unter sicher nicht guten Rahmenbedingungen.
Gerade deshalb muss man kriminelle Machenschaften thematisieren und massiv verfolgen, droht ansonsten doch die Gefahr, dass alle Anbieter in eine Art Kollektivhaftung genommen werden.

Oberhuber zitiert Christoph Jaschke, Leiter des Bereichs Pflege und Betreuung bei Transparency International Deutschland, mit diesen Worten: „Wir haben schon seit Jahren Informationen darüber, dass es Bestechung und unglaubliche Betrügereien in der Branche gibt.“ Der eine oder andere wird an dieser Stelle an den kürzlich publik gewordenen Abrechnungsskandal denken, bei dem sich mutmaßlich vor allem von russisch-stämmigen Inhabern geführte Pflegedienste über nicht erbrachte Leistungen bereichert haben sollen. Vgl. dazu ausführlicher die Erläuterungen in meinem Blog-Beitrag Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe vom 18. April 2016.

Aber hat nicht die Politik zwischenzeitlich reagiert? Im Kontext der Pflegereformgesetzgebung hat sie in das letzte Pflegestärkungsgesetz (III) gleichsam im Endspurt der Gesetzgebung auch Maßnahmen zur Verhinderung von Pflegebetrug aufgenommen. Hierzu schreibt das Bundesgesundheitsministerium unter der Überschrift Fragen und Antworten zum Pflegestärkungsgesetz III:


Welche Maßnahmen zur Verhinderung von Pflegebetrug sieht das Dritte Pflegestärkungsgesetz vor?


Prüfung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege
Schon jetzt kann der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Qualität der Arbeit und die Abrechnungen ambulanter Pflegedienste prüfen. Bisher jedoch durfte der MDK systematisch nur diejenigen ambulanten Pflegedienste prüfen, die auch Pflegeleistungen im Auftrag der Pflegekassen erbringen. Dies soll durch das Dritte Pflegestärkungsgesetz geändert werden: Künftig kann der MDK auch ambulante Pflegedienste systematisch prüfen, die ausschließlich im Auftrag der Krankenkassen Leistungen der häuslichen Krankenpflege (HKP) erbringen.


Prüfung der Leistungen im häuslichen Umfeld
Die Gutachterinnen und Gutachter des MDK suchen bei ihren Prüfungen auch einzelne Personen auf und sehen sich die Versorgung durch den Pflegedienst vor Ort an. Auch Personen, die nur häusliche Krankenpflege erhalten, sollen zukünftig in diese Stichproben einbezogen werden.


Prüfung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Wohngruppen
Prüfungen durch den MDK sollen künftig auch in Wohngruppen stattfinden, in denen mehrere Pflegebedürftige gepflegt werden und stationsähnliche intensivpflegerische Leistungen der häuslichen Krankenpflege erhalten. Damit wird die Prüfung ermöglicht, ob und inwieweit abgerechnete Leistungen auch erbracht wurden – und zwar von dafür ausgebildeten Pflegekräften.


Mitwirkung der Pflegedienste an den Prüfungen
Die Pflegedienste der häuslichen Krankenpflege sollen verpflichtet werden, sich an den neu geregelten Qualitäts- und Abrechnungsprüfungen des Medizinischen Dienstes zu beteiligen. Darüber hinaus muss auch bei Leistungen der häuslichen Krankenpflege die Gesamtzeit der Leistungserbringung, d. h. die Zeit des Einsatzes des Pflegedienstes bei dem Versicherten, dokumentiert werden. Die Krankenkasse kann anhand dieser Angaben leichter einschätzen, ob die abgerechneten Leistungen in der angegebenen Zeit erbracht werden konnten.


Ausweitung der Prüfmöglichkeiten im Bereich der Pflegeversicherung
Schon jetzt hat der MDK regelmäßig im Rahmen der Qualitätsprüfungen auch die Abrechnungen eines Pflegedienstes zu prüfen. Mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz sollen künftig zudem die Landesverbände der Pflegekassen davon unabhängige Abrechnungsprüfungen veranlassen können, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Abrechnen gibt. Das gilt dann für sämtliche abgerechneten wie auch erstattete Pflegeleistungen im ambulanten und stationären Bereich, sowie auch für Leistungen für Unterkunft und Verpflegung in einem Pflegeheim.


Vorgehen gegen auffällig gewordene Anbieter
Die Pflegeselbstverwaltung vereinbart in den Bundesländern Rahmenverträge mit dem Ziel, eine wirksame und wirtschaftliche pflegerische Versorgung sicherzustellen. Diese Verträge sind für alle zugelassenen Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste verbindlich. Die Vereinbarungspartner auf Landesebene sollen nun gesetzlich verpflichtet werden, die Vorgaben für die Vertragsvoraussetzung und Vertragserfüllung so zu gestalten, dass nachhaltig und effektiv gegen bereits auffällig gewordene Anbieter vorgegangen werden kann. Damit soll sichergestellt werden, dass sich bspw. kriminelle Pflegedienste nicht einfach unter neuem Namen oder über Strohmänner eine neue Zulassung erschleichen können.

Man darf gespannt sein, wie vor diesem neuen gesetzlichen Umfeld die am Anfang dieses Beitrags geschilderte Variante mit dem „Verweigerungsschreiben“ der Betroffenen beurteilt wird. In dem zitierten Artikel Geheimakte Pflege: Mieser Trick auf Kosten der Senioren von Armin Geier erfahren wir dazu mit Blick auf das zuständige Staatsministerium von Melanie Huml (CSU): »Wie die tz erfuhr, wird in ihrem Haus derzeit überlegt, wie man gegen den Brief vorgehen kann.«