Die Schweizer sind für echte Überraschungen gut. Noch nie ist es dort gelungen, über eine Volksabstimmung einen Ausbau des Sozialstaats auf den Weg zu bringen. Man denke hier als ein Beispiel an den 5. Juni 2016, da haben die Schweizer über eine Initiative abgestimmt, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen – gegen den Antrag einen neuen Art. 110a der Bundesverfassung betreffend haben dann 76,9 Prozent derjenigen Schweizer gestimmt, die den Weg an die Wahlurne gefunden haben (vgl. dazu den Beitrag Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016).
Schweiz
Ein Teil der unmöglichen „24-Stunden-Betreuung“ ist nun auch in der Schweiz höchstrichterlich gegen die Wand gefahren
Blicken wir kurz zurück in den Sommer des nunmehr vergangenen Jahres 2021. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat damals für einen dieser so typischen kurzen Momente der öffentlichen Aufmerksamkeit hohe Wellen geschlagen. Unter der trockenen Überschrift Gesetzlicher Mindestlohn für entsandte ausländische Betreuungskräfte in Privathaushalten wurde uns vom Bundesarbeitsgericht (BAG) am 24.06.2021 mitgeteilt: »Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten.« Das BAG hat nicht nur die grundsätzliche Mindestlohnfrage geklärt, sondern auch noch die offene Wunde der mindestlohnrelevanten Arbeitszeit-Frage aufgeworfen. In diesem Punkt formuliert das höchste Arbeitsgericht die Anforderung, den tatsächlichen Umfang der geleisteten Arbeitszeit jenseits der in einem Vertrag festgehaltenen angeblichen Arbeitszeit zu erheben. Zu dem Urteil aus dem vergangenen Jahr vgl. ausführliche die Besprechung in dem Beitrag Aus der Schattenwelt des deutschen Pflegesystems: Die un-mögliche „24-Stunden-Betreuung“ als Geschäftsmodell ist beim Bundesarbeitsgericht aufgelaufen vom 24. Juni 2021.
Unmittelbar nach dem Urteil rauschte es durch das mediale Universum – die Reaktionen auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu den Betreuungskräften aus Osteuropa bewegten sich zwischen Panik bis hin zu einer Fortsetzung der bisher dominanten Form der Nicht-Auseinandersetzung nach dem Modell der drei Affen (nichts sehen, nichts hören und vor allem nichts sagen). Da war mit Blick auf die Panikattacken von „Schock für viele, die Angehörige zu Hause pflegen“ bis hin zu einem sozialverbandsoffiziellen „Armageddon der häuslichen Pflege“ die Rede. Dabei musste und muss man immer wieder darauf hinweisen, dass die große Mehrzahl der hier adressierten Betreuungskräfte gar nicht unter das Urteil fallen, da sie sowieso im illegalen Bereich arbeiten.
Viele Pflegekräfte haben die Nase voll von den Arbeitsbedingungen und chronischem Personalmangel. Auch in der Schweiz. Dort wird das Volk über eine „Pflegeinitiative“ abstimmen können
Es sieht nach einem Kantersieg aus: Wenn die Schweizerinnen und Schweizer am 28. November 2021 an die Urnen gehen, werden sie bei der Pflege-Initiative ein dickes Kreuz beim Ja machen. Nach Umfragen kann das Volksbegehren auf große Zustimmung hoffen. »Ganze 78 Prozent sagen derzeit Ja zum Volksbegehren, davon sind ebenfalls 48 Prozent „bestimmt dafür“. Mager ist hingegen der Nein-Anteil: Nur 15 Prozent sind gegen die Initiative, sieben Prozent können sich nicht entscheiden.«
»Die Pflegenden haben die Nase voll von miesen Arbeitsbedingungen und chronischem Personalmangel«, so beginnt der Artikel Patient Pflege von Gianna Blum und Sermîn Faki. Sie werfen die Frage auf, wie es eigentlich um die Pflege in der Schweiz bestellt ist.