Betrachtet man die großkoalitionäre Gesetzgebung im Bereich der Pflege in der laufenden Legislaturperiode, dann kann man einen Vorwurf sicher nicht machen: Die haben nichts geschafft. Unabhängig, ob einem die Ergebnisse passen oder nicht: Aber die bereits in Kraft gesetzten Pflegestärkungsgesetze I und II haben so einige Veränderungen im Pflegesystem gebracht. Und wie heißt es so schön im Volksmund – aller Dinge sind drei. Also hat das Kabinett im Juni dieses Jahres den Entwurf für ein Pflegestärkungsgesetz III (PSG III) verabschiedet, der nun durch die parlamentarischen Mühlen geschickt wird. Der Gesetzentwurf ist auch im Bundesrat zustimmungspflichtig. Während es bei den ersten beiden Pflegestärkungsgesetzen um die Art und Höhe der Leistungen sowie der Installierung eines „Vorsorgefonds“ und um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ging, erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum dritten und noch nicht vollendeten Streich (vgl. hierzu die Pressemitteilung des BMG: Drittes Pflegestärkungsgesetz im Kabinett beschlossen, 28.06.2016): Mit dem PSG III solle die Pflegeberatung in den Kommunen gestärkt werden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhalten dadurch eine Beratung aus einer Hand, so die Hoffnung des BMG.
Dabei sind doch bereits heute in dem die Soziale Pflegeversicherung normierenden SGB XI Pflegeberatung und Pflegestützpunkte verankert, die Pflegeberatung im § 7a SGB XI und die Pflegestützpunkte im § 7c SGB XI. Seit 2009 besteht ein Rechtsanspruch auf Pflegeberatung, der zum 1.1.2013 noch ausgeweitet wurde. Diese Pflegeberatung findet in Pflegestützpunkten statt -wenn es sie denn gibt, was eben nicht überall der Fall ist. Wenn es die nicht gibt, dann müssen die Pflegekassen das anbieten.
Und wie will man nun die Ausweitung im Sinne einer „Beratung aus einer Hand“ erreichen? Dazu erfahren wir vom Bundesgesundheitsministerium:
»Die Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen vor Ort soll verbessert werden. Dazu sollen Kommunen mit dem PSG III für die Dauer von fünf Jahren ein Initiativrecht zur Einrichtung von Pflegestützpunkten erhalten. Darüber hinaus sollen sie künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen können. Ergänzend zu ihren eigenen Beratungsaufgaben in der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe sollen sie auch Pflegebedürftige, die Pflegegeld beziehen, beraten können, wenn diese das wünschen. Außerdem sind Modellvorhaben zur Beratung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen durch kommunale Beratungsstellen in bis zu 60 Kreisen oder kreisfreien Städten für die Dauer von fünf Jahren vorgesehen. Über die Anträge von Kommunen, die an diesen Modellvorhaben mitwirken wollen, wird von den Ländern entschieden. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen dadurch eine Beratung aus einer Hand erhalten zu allen Leistungen, die sie in Anspruch nehmen können wie z.B. der Hilfe zur Pflege, der Eingliederungshilfe oder der Altenhilfe.«
Das hört sich doch erst einmal gut an. Und dann solche Schlagzeilen: Pflegereform sorgt für Ärger bei Verbänden, berichtet die „Ärzte Zeitung“. Der Ärger der Pflegeverbände entlädt sich vor allem an den geplanten Pflegestützpunkten – Beratungsstellen für Menschen mit Hilfebedarf und deren Angehörige, die Gemeinden und Landkreise laut dem neuen Gesetz errichten sollen:
»Das Selbsthilfenetzwerk Pro Pflege kritisiert deren „behördliche Strukturen“. „Die bereits gesetzlich vorgegebenen Beratungsverpflichtungen müssen durch die Pflegekassen verstärkt wahrgenommen werden“, schreibt Vorsitzender Werner Schell in einem offenen Brief an den Deutschen Bundestag.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) hingegen erachtet den Aufbau von Pflegestützpunkten zwar grundsätzlich als sinnvoll – ist jedoch ebenfalls kritisch, dass die Stützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht würden, sagte eine Sprecherin der „Ärzte Zeitung“.«
Und Anno Fricke berichtet in seinem Artikel Fehlinvestition oder sinnvoll?: »Die Wiederbelebung des Konzepts der Pflegestützpunkte durch die Regierung stößt auf harsche Kritik bei Pflegeverbänden. Von „Fehlinvestitionen“ ist die Rede. Auch der AOK geht der geplante Einfluss der Kommunen in der Pflege zu weit.«
Die Pflegestützpunkte bekommen ihr Fett weg. Sie seien „behördliche Strukturen“. Ihr Betrieb lasse allein die Träger dieser Institutionen profitieren. Die Stützpunkte seien „Fehlinvestitionen“, so wird der Vorsitzende des Selbsthilfenetzwerks Pro Pflege, Werner Schell, zitiert.
Das bereits angesprochene Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) teilt diese ablehnende Position in der Schärfe nicht, sondern hält die Pflegestützpunkte grundsätzlich für eine gute Sache. Aber:
Das KDA betont auch, »dass Pflegestützpunkte ihrer eigentlichen Aufgabe – nämlich der Entwicklung bedarfsgerechter und den Bedürfnissen der Ratsuchenden dienenden örtlichen Angebote – nicht im erforderlichen Maße nachkämen. Pflegestützpunktesollten nicht als verselbstständigte, bürokratisch denkende und handelnde Einrichtungen der Krankenkassen verstanden oder missbraucht werden. Zum Hintergrund: In den Stützpunkten sind meist Pflegeberater der Kassen als Fallmanager tätig.«
Was allerdings auch der Fall ist: Beide Organisationen, die hier als Kritiker der gesetzgeberischen Aktivitäten zitiert werden, weisen auf einen offensichtlichen Bedarf hin, denn sie plädieren dafür, »den verantwortlichen Planern und Kümmerern auf der örtlichen Ebene mehr Gestaltungsspielräume zu geben. Voraussetzung seien Strukturen, in denen Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer Wohnumgebung bleiben könnten. „Dazu benötigen wir mit kommunaler Hilfe professionelle Kümmerer, die sich der Entwicklung solcher Unterstützungssysteme nahe bei den Menschen annehmen, und so den Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ gestalten helfen“, heißt es in dem Schreiben von Pro Pflege an die Abgeordneten.«
Was ist da los? Einerseits kann ein solcher Hinweis aus dem Artikel von Anno Fricke weiterhelfen:
»Aus Sicht der AOK sind die geplanten Eingriffsrechte der Kommunen „zu tiefgehend“. Dadurch würde die Entscheidungsbefugnis der Pflegekassen „erheblich“ eingeschränkt.«
Der vom praktischen Leben geschulte Sozialpolitiker erkennt darin ein bekanntes und nicht selten frustrierendes Muster: Offensichtlich geht es a) um Geld und b) um Zuständigkeiten. Die Kassen fürchten, dass die Kommunen über das PSG III Zugriff auf ihre Mittel bekommen und dann auch noch die Inhalte der Arbeit in den Pflegestützpunkte maßgeblich beeinflussen können, im Sinne einer Ausweitung auf die Angelegenheiten der Pflegekassen selbst – mit der möglichen Folge eines „Kontrollverlustes“ auf Seiten der Kassen. Die Erläuterungen des Bundesgesundheitsministeriums zum PSG III könnte man durchaus so lesen:
»Die Kommunen sollen im Rahmen der Regelungen im jeweiligen Landesrecht und bei angemessener finanzieller Beteiligung für die Dauer von fünf Jahren das Recht erhalten, die Einrichtung von Pflegestützpunkten anzustoßen (Initiativrecht), Kranken- und Pflegekassen müssen sich in diesem Fall beteiligen. Damit können Landkreise, Städte und Gemeinden die Versorgung und Beratung vor Ort verbessern.
Bisher konnten kommunale Behörden Beratung nur im Bereich der Hilfe zur Pflege, der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe durchführen. Mit der Umsetzung des Dritten Pflegestärkungsgesetzes können Kommunen künftig Beratungsgutscheine der Versicherten für eine Pflegeberatung einlösen und verpflichtende Beratungen in der eigenen Häuslichkeit bei Empfängern von Pflegegeld durchführen, wenn diese das wünschen.«
Und dann kommt der entscheidende Passus für die Kassen:
»Für die Dauer von fünf Jahren können Landkreise und kreisfreie Städte in bis zu 60 Modellvorhaben Beratungsstellen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen einrichten. In den Modellkommunen geben die Pflegekassen die Pflegeberatung an diejenigen Stellen ab, die auch für die Beratung über die Hilfe zur Pflege zuständig sind. Hier kann dann die gesamte Beratung in allen Bereichen der Pflege durch kommunale Behörden abgedeckt werden.«
Nun könnte man einwenden, dass es eigentlich auch logisch ist, eine möglichst unabhängige Stelle zu schaffen, wenn man eine wirklich umfassende und primär die Interessen der Betroffenen verpflichtete Pflegeberatung haben möchte. Man denke an dieser Stelle nur an die immer wieder vorgetragenen Zweifel des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), die für die Kassen die Einstufung der Pflegebedürftigen vornehmen. Auch hier werden immer wieder mögliche Interessenkollisionen diskutiert.
Man kann es auch so ausdrücken wie Sabine Kirchen-Peters, Lukas Nöck, Peter Baumeister und Birgit Mickey in ihrer Veröffentlichung Pflegestützpunkte in Deutschland. Die Sicht der Mitarbeitenden – Der rechtliche Rahmen – Die politische Intention (2016):
»Über die Pflegeberatung im Pflegestützpunkt lösen die Kranken- und Pflegekassen ihre Sicherstellungsverpflichtung zum bedarfsgerechten Case Management (§ 7 a SGB XI) und die zum versorgungsoptimierenden bzw. -steuernden Care Management (§ 12 SGB XI) ein. Wenn die Kranken- und Pflegekassen mit vertretbarem Finanzaufwand auch im entferntesten Winkel des Landes ihre hilfebedürftigen Versicherten bedarfsadäquat mit Pflegeberatung und Pflegebegleitung erreichen wollen, ist der gemeinschaftlich mit anderen Partnern betriebene Pflegestützpunkt die einzige effektive und effiziente Lösung. Sporadische Pflegeberatung, „virtuelle Pflegestützpunkte” sowie die Zuordnung von Care und Case Management auf unterschiedliche Institutionen erfüllen nicht die gesetzlich geforderten Voraussetzungen einer professionellen Pflegeberatung und Pflegebegleitung.« (S. 3)
Die Verfasser weisen darauf hin, dass Pflegeberatung im Pflegestützpunkt mehr ist als SGB-V- und SGB-XI-Beratung. Um die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit durch Angehörige zu sichern, werden auch die gesetzlich oder tarifvertraglich geregelten Freistellungsansprüche von Arbeitnehmern, die finanzielle Förderung altersgerechter Wohnungsgestaltung, das Wissen über technische Hilfen im Alltag und vieles mehr gebraucht. Hilfen aus unterschiedlichen Rechts- und Zuständigkeitsbereichen müssen sich gegenseitig ergänzen bzw. ineinandergreifen. »Deshalb sollten die Kranken- und Pflegekassen bzw. ihre Verbände sowie die kommunalen Gebietskörperschaften und die Länder kooperativ zusammenwirken und daher auch gleichverantwortlich gleichberechtigte Träger der Pflegestützpunkte sein«, so Kirchen-Peters et al. (2006: 3).
Grundsätzlich wird man diesem Ansatz nicht wirklich widersprechen können, denn die höchst komplexen Aufgaben rund um das Thema Pflege lassen sich nur vor Ort bündeln. Offensichtlich will der Gesetzgeber diesen Ansatz verfolgen, wieder einmal aber erst über den Modell-Ansatz, konkret über die bereits genannten 60 Modellkommunen, die das ausprobieren können. Dazu auch die Veröffentlichung von Rolf Hoberg, Thomas Knie und Gerd Künzel: Stärkung der Kommunen in der Pflege und die Modellkommunen. Vorschläge zur Umsetzung der jüngsten Reformen (2016). Sie unterstützen diesen Ansatz, weisen aber am Ende auch darauf hin, »dass wichtige Punkte weiterhin der Umsetzung harren: die Anerkennung der Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit von Behinderung und Pflege, die Einebnung von Leistungsdifferenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung in der Pflege, die eigenständige und gleichrangige berufliche Profilierung von care-Aufgaben neben cure-Aufgaben« (S. 4).
In einer anderen Veröffentlichung (Rolf Hoberg, Thomas Klie, Gerd Künzel: Pflege in Sozialräumen. Was muss eine Strukturreform Pflege und Teilhabe leisten?, Bonn 2016) weisen die Verfasser entsprechend und deutlich darauf hin:
»Auf institutioneller Ebene müssen Beratung und Koordination in der Region (Kreis- und Landesebene) zusammengeführt und in die kommunale Daseinsvorsorge als Pflichtaufgabe eingebettet werden, damit die Cure- und Care-Aufgaben übergreifend bearbeitet werden.
Nur in kommunaler Verantwortung können die widersprüchlichen Steuerungen von wettbewerbsorientierter Krankenversicherung, einheitlich und gemeinsam handelnder Sozialer Pflegeversicherung, wettbewerbsorientierten Leistungserbringern und einheitlichen Fürsorgeleistungen überwunden werden.«
Nun könnte man an dieser Stelle durchaus berechtigt einwenden, das mag zwar theoretisch richtig sein und es gibt sicherlich auch Kommunen, in denen der Resonanzraum für so einen Ansatz vorhanden wäre bzw. schon ist. Aber in vielen Kommunen eben nicht. Wobei das eben ein grundsätzliches Dilemma aller kommunalisierten Systeme ist – man denke hier an die Kinder- und Jugendhilfe: Von Alpha bis Omega ist alles dabei. Die Varianz der Umsetzung ist dann doch ganz erheblich.
Aber auch für einen anderen Blick auf das Feld wären einheitliche Beratungs- und Koordinierungsstrukturen hilfreich und wichtig. In dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier „Sklavinnen“ unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 wurde mit Blick auf die vielen osteuropäischen Betreuungs- und Pflegekräfte für eine „Mischstrategie der Regulierung und Förderung“ plädiert, wobei ein wesentlicher Bestandteil dieses Vorschlags die Organisierung und die Vernetzung der Frauen aus Osteuropa ist, sowie die Verknüpfung mit professionellen ambulanten Pflegediensten. Nur muss das organisiert und begleitet werden. Dafür würde sich ein flächendeckendes Netz an Pflegestützpunkten quasi „aufdrängen“.
Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle erschöpft angesichts der überwiegend abstrakten Darstellung der Thematik einwerfen, was denn die bereits bestehenden Pflegestützpunkt eigentlich so machen. Dazu diese beiden Artikel aus der Praxis: Zum einen der Artikel Hilfe im Alter: Diplom-Gerontologin Mareike Schütze vom Pflegestützpunkt berät Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sowie zum anderen der Beitrag Zwei behalten den Überblick, in dem über Heike Yalcin und Carmen Sichert aus dem Landkreis Alzey und ihrer Arbeit im Pflegestützpunkt vor Ort berichtet wird.
Fazit: Es gibt gute Argumente für eine Wiederbelebung und Ausweitung des übrigens schon einige Jahre alten Konzepts der Pflegestützpunkte als ein Bestandteil der anstehenden und erforderlichen Kommunalisierung der Pflege.
Zugleich muss man offen uns lösungsorientiert darüber diskutieren, wie man die durchaus plausiblen Argumente der Kritiker, dass sich die Pflegestützpunkte sowohl von den Betroffenen wie auch angesichts der Mischfinanzierung aus unterschiedlichen Haushalten von den beteiligten Institutionen ablösen, verselbständigen und nach einer vielleicht innovativen Aufbruchsphase vor sich hin ausbürokratisieren, außer Kraft oder zumindest abschwächen kann. Denn die damit angesprochene Gefahr ist mehr als plausibel.