Wenn dein starker Arm will und macht, aber das Bundesarbeitsgericht eine teure Rechnung präsentiert. Das Streik-Urteil gegen die Gewerkschaft der Flugsicherung

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen. Und auch Arbeitskampfmaßnahmen landen immer wieder vor der Arbeitsgerichtsbarkeit, man denke hier nur an die Streiks der Lokführer. Oder denken wir zurück an den Anfang des Jahres 2012. Damals wurde der Flugverkehr auf dem Frankfurter Flughafen lahmgelegt durch einen Streik der in der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) organisierten „Vorfeldlotsen“.  Die GdF vertritt die berufs- und tarifpolitischen Interessen des Flugsicherungspersonals und hat bundesweit etwa 4.000 Mitglieder. Sie hatte mit der Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens – der Fraport AG (Fraport) – einen Tarifvertrag für die Beschäftigten in der Vorfeldkontrolle und Verkehrszentrale geschlossen. Die Regelungen in § 5 bis § 8 des Tarifvertrags waren erstmalig zum 31. Dezember 2017 kündbar, die übrigen bereits zum 31. Dezember 2011. Nach Teilkündigung des Tarifvertrags mit Ausnahme von § 5 bis § 8 durch die GdF zum 31. Dezember 2011 verhandelten diese und Fraport über einen neuen Tarifvertrag. Ein vereinbartes Schlichtungsverfahren endete mit einer Empfehlung des Schlichters.

Am 15. Februar 2012 kündigte die GdF gegenüber Fraport an, ihre Mitglieder zu einem befristeten Streik mit dem Ziel der Durchsetzung der Schlichterempfehlung aufzurufen. Der am 16. Februar 2012 begonnene Streik endete aufgrund einer gerichtlichen Unterlassungsverfügung am 29. Februar 2012. In der Folgezeit ging es los mit der juristischen Aufarbeitung des Streiks – so klagten zwei Airlines (Lufthansa und Air Berlin) auf Schadensersatz gegen die Gewerkschaft aufgrund der Flugausfälle. Diese wurden allerdings zurückgewiesen. Auch ihre gegen diese Entscheidungen gerichtete Revisionen vor dem Bundesarbeitsgericht hatten keinen Erfolg. Als Drittbetroffene haben sie keinen Schadensersatzanspruch, so das BAG, dass das breite in einem Urteil von 2015 so fixiert hat. Aber eine andere Entscheidung des höchsten Arbeitsgerichts trifft die Gewerkschaft schmerzhaft und materiell in Form eines Schadensersatzanspruchs der erfolgreichen Gegenseite (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14).

Unter der neutral daherkommenden Überschrift Arbeitskampf – Verletzung der Friedenspflicht – Schadensersatzanspruch teilt das Bundesarbeitsgericht nun mit:

»Ein Streik, dessen Kampfziel auch auf die Durchsetzung von Forderungen gerichtet ist, welche die in einem Tarifvertrag vereinbarte Friedenspflicht verletzen, ist rechtswidrig. Er verpflichtet bei schuldhaftem Handeln zum Ersatz der dem Kampfgegner entstandenen Schäden. Die streikführende Gewerkschaft kann nicht einwenden, die Schäden wären auch bei einem Streik ohne friedenspflichtverletzende Forderungen entstanden.«

Mit ihrer Klage hat die Fraport AG von der GdF den Ersatz ihr aufgrund des Streiks entstandener Schäden verlangt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die hiergegen von der Fraport AG eingelegte Revision hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts nun Erfolg.
Das Einfallstor für die höchstrichterliche Bewertung der Rechtswidrigkeit des Streiks sind die unterschiedlichen Laufzeiten der tarifvertraglichen Regelungen – denn die Regelungen in § 5 bis § 8 des Tarifvertrags waren erstmalig zum 31. Dezember 2017 kündbar, die anderen zum 31.12.2011 – sowie die Tatsache, dass die Empfehlung des Schlichters, für dessen Durchsetzung die Gewerkschaft zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen hatte,  auch Ergänzungen zu dem noch ungekündigten Teil des Tarifvertrags enthielt. An dieser Stelle dockt das Bundesarbeitsgericht an:

»Hinsichtlich dieser Regelungen galt nach wie vor die tarifvertraglich vereinbarte erweiterte Friedenspflicht. Diese verwehrte es der GdF, Änderungen mit Mitteln des Arbeitskampfes durchzusetzen. Ihr Einwand, sie hätte denselben Streik auch ohne die der Friedenspflicht unterliegenden Forderungen geführt (sog. rechtmäßiges Alternativverhalten), ist unbeachtlich. Es hätte sich wegen eines anderen Kampfziels nicht um diesen, sondern um einen anderen Streik gehandelt. Weil die GdF schuldhaft gehandelt hat, ist sie Fraport gegenüber aus Delikt und wegen Vertragsverletzung zum Ersatz von streikbedingten Schäden verpflichtet.«

Die genaue Höhe der Schadenersatzzahlungen muss nun das Hessische Landesarbeitsgericht festlegen. Die Fraport AG selbst hat im Verfahren von Einnahmeverluste in Höhe von 5,2 Mio. Euro durch Hunderte ausgefallene Flüge gesprochen.

Der Fall betrifft aber nicht nur die kleine Gewerkschaft der Flugsicherung. »Das Grundsatzurteil zum Streikrecht kann nach Einschätzung von Fachleuten Auswirkungen auf Arbeitskämpfe auch anderer Gewerkschaften haben. Schadenersatzzahlungen von Gewerkschaften für die Folgen von Arbeitskämpfen sind bisher in Deutschland eher die Ausnahme«, kann man dem Artikel Fraport gewinnt gegen Vorfeldlotsen entnehmen.

Tina Groll kommentiert die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts schon in ihrer Überschrift mehr als deutlich: Streik-Urteil ist fatal für Arbeitnehmerrechte. Der gesamte Streik sei auf illegaler Grundlage erfolgt, argumentierten die höchsten Arbeitsrichter, weil einzelne Forderungen der Gewerkschaft noch der Friedenspflicht unterlagen. Die Vorinstanz, das hessische Landesarbeitsgericht, hatte hier noch eine andere Rechtsauffassung vertreten. Denn die Arbeitsniederlegung hätte so oder so stattgefunden, weil die wesentlichen Forderungen eben nicht mehr der Friedenspflicht unterlegen hätten.

Tina Groll bewertet das so: »Das Urteil ist fatal für Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte. Es schwächt die Arbeitnehmervertreter und kann auf lange Sicht zu einem noch stärkeren Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt führen.«

Wie kommt sie zu so einer Einschätzung?

» … auch wenn der von den obersten Arbeitsrichtern ausgedrückte Formalismus juristisch korrekt sein mag, trifft die Rechtsprechung nicht die Realität in der Arbeitswelt. Branchen, Unternehmen und Geschäftsmodelle werden immer flexibler, nicht zuletzt durch den digitalen Wandel. Entsprechend rasant verändern sich die Arbeitsbedingungen, die ebenso agil angepasst werden müssen. Darauf müssen Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter aber genau so schnell und flexibel reagieren können, um soziale und materielle Standards für die Beschäftigten abzusichern – etwa in Tarifverhandlungen. Daher sind die Forderungen dort meist ein Paket von Einzelpunkten, die miteinander zu tun haben … Genau hier könnte die BAG-Rechtsprechung aber negative Folgen haben: Tarifarbeit wird unmöglich, wenn aus formaljuristischen Gründen für einzelne Details nicht gestreikt werden darf, die sehr wohl wesentlich für das Gesamtpaket sind.«

Wenn mögliche millionenschwere Schadensersatzansprüche wie ein Damoklesschwert über Tarifauseinandersetzungen hängen, dann wird sich das Kräfteverhältnis zuungunsten der Gewerkschaften verschieben, die sich dann sehr gut überlegen müssen, ob sie zu Arbeitskampfmaßnahmen greifen (können).

Und das angesprochene Kräfteverhältnis weist bereits eine erhebliche Asymmetrie auf. Dazu Groll: »Immer mehr Unternehmen wandeln sich massiv, auch um sich vor der sozialen Verantwortung für die Beschäftigten zu drücken und damit Kosten zu sparen. Da werden Töchter als tariflose Gesellschaften ausgegründet. Da werden Abteilungen und Unternehmensteile umstrukturiert, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abgebaut und stattdessen Freelancer, Leiharbeiter oder Dienstleister beschäftigt. All das unterläuft Flächentarife und mit ihnen die Gewerkschaften.«

Foto: © Stefan Sell

Wohnungslosigkeit: Kein wirkliches Dach über dem Kopf. Inmitten der statistischen Dunkelheit ein Lichtblick aus Nordrhein-Westfalen mit zugleich trauriger Botschaft

Vor einem Jahr, am 29. Juli 2015, wurde hier der Beitrag Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik veröffentlicht. Darin wurde problematisiert, dass es in Deutschland keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage gibt. Seit Jahren fordert das beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), die auch regelmäßig Zahlen zu den wohnungslosen Menschen veröffentlicht, die aber aufgrund der statistischen Leerstelle immer auf Schätzungen basieren müssen (vgl. hierzu Keine Wohnungslosenstatistik in Deutschland – nur Schätzung möglich). Die Schätzergebnisse: »2014 waren ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstieg um ca. 18 %. Die Zahl der Menschen, die „Platte machen“, die also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg seit 2012 um 50 % auf ca. 39.000 in 2014 (ca. 26.000 in 2012).« So die BAGW.

Aber warum gibt es keine genauen Zahlen? „Es gibt keinen technischen Grund. Die Bundesregierung befasst sich nicht mit dem Thema, weil öffentlich verfügbare Daten das Problem jedes Jahr wieder auf den Tisch legen würden“, so Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW. Und im vergangenen Jahr wurde berichtet, dass die Grünen im Bundestag über eine Anfrage  an die Bundesregierung (Einführung einer bundesweiten Wohnungs- und Obdachlosenstatistik, BT-Drs. 18/5345) wissen wollten, was es denn mit der fehlenden Statistik auf sich habe. Sie bekamen auch eine Antwort (BT-Drs. 18/5654). Und der konnte man entnehmen: »Eine Wohnungslosenstatistik sei nicht realisierbar, weil der „finanzielle und bürokratische Aufwand für die Einführung einer neuen Statistik auf Bundesebene mit sehr begrenzter Aussagekraft nicht zu rechtfertigen“ sei.«

Aber bereits im vergangenen Jahr wurde auch darauf hingewiesen, dass es Lichtblicke in dieser Welt des statistischen Nicht-Wissen-Wollens gibt: Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gibt es sehr wohl eine offizielle Statistik zur Wohnungslosigkeit – im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seit Jahrzehnten werden dort Daten von den Kommunen abgefragt, um „ordnungsrechtlich Untergebrachte“ zu erfassen, Menschen, die beispielsweise in Notunterkünften wohnen. Seit 2011 werden diese Zahlen ergänzt, indem das Land die freien Träger fragt, wie viele Wohnungslose bei ihnen „sozialhilferechtlich“ untergebracht sind.

Und das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat nun die Wohnungslosenstatistik 2015 veröffentlicht, eine Stichtagserhebung zum 30. Juni 2015. Berücksichtigt wurden Personen, die in Obdachlosenunterkünften, in anderen Einrichtungen oder bei Bekannten untergekommen waren:

Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2015 in Nordrhein-Westfalen. Struktur und Umfang von Wohnungsnotfällen, Düsseldorf 2016

Matthias Korfmann hat seinen Artikel zu den neuen Zahlen so überschrieben: Mehr Menschen in NRW sind ohne feste Wohnung. »Rund 21.000 Menschen hatten im vergangenen Jahr in NRW keine Wohnung. Das sind etwa 5.000 Wohnungslose mehr als im Jahr 2011 und 500 mehr als im Vorjahr.«
Etwa jeder zwölfte Wohnungslose ist jünger als 18 Jahre. Drei Viertel der Betroffenen sind Männer. Etwa jeder Dritte hat einen Migrationshintergrund. Interessant vor dem Hintergrund der allgemeinen Armutsdiskussion, in der immer wieder darauf hingewiesen wird, dass im Ruhrgebiet die Armutsquoten steigen und sich die Probleme hier immer weiter verstärken:

»Obdachlosigkeit ist demnach vor allem in den großen rheinischen Städten ein Thema, nicht so sehr im Ruhrgebiet. Mitte 2015 wurden in Düsseldorf 29 Wohnungslose je 10.000 Einwohner gezählt. Insgesamt waren dort 1750 Menschen betroffen. In Köln lebten 4683 Wohnungslose (45 je 10.000 Einwohner), in Bonn 683 (22 je 10.000 Einwohner). Zum Vergleich: In Duisburg hatten drei von 10.000 Einwohnern keine feste Wohnung, in Gelsenkirchen vier und in Essen 15. Relativ viele Wohnungslose gibt es in Münster und Bielefeld.«

Der Flüchtlingszuzug spielt in dieser Statistik fast keine Rolle, weil die Kommunen bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige Flüchtlinge aufgenommen hatten.

Das Ministerium selbst hat sich natürlich auch zu Wort gemeldet: NRW setzt verstärkt auf die Prävention von Wohnungslosigkeit. Sozialminister stellt Wohnungslosenstatistik 2015 vor: »Das Sozialministerium habe sein Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ neu justiert und werde künftig präventive Ansätze verstärkt fördern.«

Und wie soll das geschehen?

»In diesem Jahr sind zwei vom Land geförderte Modellprojekte zur Prävention neu angelaufen. Im Rhein-Sieg-Kreis betreibt der SKM (Katholischer Verein für Soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis e.V.) eine zentrale Fachstelle zur präventiven Wohnungsnotfallhilfe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen bei Mietschulden, Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen durch Beratung und Begleitung der Betroffenen. Die jeweiligen Kommunen und Gemeinden reichen eingehende Räumungsklagen an die Fachstelle weiter, die dann umgehend den Kontakt zu den Betroffenen sucht, um einen Wohnungsverlust nach Möglichkeit noch zu vermeiden.

Und im Oberbergischen Kreis entwickelt die Diakonie Michaelshoven gemeinsam mit allen verantwortlichen kommunalen Akteuren und Jobcentern ein Konzept zur Prävention von Wohnungslosigkeit. Menschen, denen ein Verlust ihrer Wohnung droht, sollen ein auf ihre individuelle Situation zugeschnittenes Hilfeangebot erhalten. Dies beispielsweise durch frühzeitige Kontaktaufnahme sowie Beratung und Unterstützung bei der Beantragung von Mietschuldenübernahmen etc.

Mit seinem Aktionsprogramm gegen Wohnungslosigkeit unterstützt das Sozialministerium die für die Unterbringung wohnungsloser Menschen zuständigen Kommunen sowie freie Träger der Wohnungslosenhilfe unter anderem durch die Förderung von Modellprojekten. Hierfür stehen jährlich 1,12 Millionen Euro zur Verfügung.«

Und was sagt das Ministerium zu dem Anstieg der Zahl der wohnungslosen Menschen in Nordrhein-Westfalen?

»Die seit dem Jahr 2011 völlig neu gestaltete Statistik liefert sehr viel konkretere Aussagen über Art und Umfang der Wohnungslosigkeit als je zuvor. Außerdem erfasst sie erstmals neben den von den Kommunen ordnungsrechtlich untergebrachten Wohnungslosen auch Personen, die von den freien Trägern betreut werden … In der ersten Wohnungslosenstatistik für NRW im Jahr 2011 wurden insgesamt 15.826 wohnungslose Menschen gezählt. Die höheren Zahlen für die Folgejahre sind ganz wesentlich auf eine methodisch verbesserte Erfassung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und zusätzliche Maßnahmen zur Qualitätskontrolle zurückzuführen. Eine Vergleichbarkeit der Zahlen für die einzelnen Jahre wird erst nach einer Konsolidierung der statistischen Erfassung möglich sein.«

Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Thema Wohnen um eine existenzielle Angelegenheit handelt, sind diese Zahlen beunruhigend und eine Aufforderung zum Handeln. Wobei das einfacher daherkommt, als es in der Praxis dann ist. Zugleich werden wir mit der realistischen Gefahr konfrontiert, dass die Zahlen weiter und stärker ansteigen werden, wenn man sich anschaut, welche Verwerfungen wir derzeit schon haben auf vielen lokalen Wohnungsmärkten im Segment des billigen Wohnraums. Das wird ohne massives Gegensteuern in der vor uns liegenden Zeit weiter stark zunehmen.

Aber: Erneut zeigt sich, dass solche notwendigen Debatten nicht stattfinden oder es sehr schwer haben, wenn es gar kein Datenmaterial gibt. Insofern muss man sagen, wenigstens hat Nordrhein-Westfalen eine Wohnungslosenstatistik und andere Bundesländer sowie der Bund sollten sich daran ein Beispiel nehmen.

Foto: © Reinhold Fahlbusch

Die eigenen Kinder auf der Rolltreppe nach unten und McKinsey macht sich Sorgen angesichts der zunehmenden Ungleichheit

Es ist in weiten Teilen der die deutsche Gesellschaft tragenden Mittelschicht ein mehr oder weniger fundiertes Gefühl der Abstiegsbedrohung vorhanden, oft weniger bezogen auf die selbst erreichte Position, sondern vor allem mit Blick auf die eigenen Kinder. Das ist in Zeiten, in denen die Babyboomer ihre Kinder auf die Arbeitsmärkte und ins eigene Leben entlassen, eine durchaus brisante Mischung, denn zum einen gibt es viele Babyboomer und zum anderen ist die Sorge, dass es die eigenen Kinder schlechter haben (könnten), ein doppelte Ohrfeige für diese Generation, denn zum einen haben sie sehr viel investiert in die eigenen Kinder angesichts der eigenen Erfahrung, dass es immer „zu viele“ gab und man sich permanent im Wettbewerb mit den vielen anderen bewähren musste, zum anderen wird mit der Aussicht (bzw. der erfahrbaren Realität), dass es für die nachwachsende Generation nicht nach oben geht, ein bundesdeutscher Grundkonsens verletzt. Den man auch wie Astrid Herbold in ihrem Artikel Kindern und Enkeln geht es schlechter so beschreiben kann:

»Der Großvater war noch ein Fabrikarbeiter, die Großmutter ein ungelerntes Dienstmädchen. Die Kinder schafften schon die mittlere Reife und arbeiteten später als Angestellte. Die Enkel und Enkelinnen haben es noch weiter gebracht: Sie konnten studieren, rückten in Führungsetagen auf oder gründeten sogar eigene Unternehmen. – So oder ähnlich klingt sie, die typische deutsche Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts. Der stetige soziale Aufstieg war zwar nicht programmiert, aber im Westdeutschland der Nachkriegsjahre durchaus möglich. Wirtschaftliche Entwicklung, steigende Löhne, höhere Bildungsabschlüsse begünstigten den Trend. „Intergenerationale Mobilität“ nennen Soziologen das Phänomen.«

Intuitiv wird der eine oder andere sagen, das war einmal. Der Sozialwissenschaftler braucht für so eine Bewertung Daten und kann dafür beispielsweise auf das SOEP zurückgreifen – das „Sozio-oekonomische Panel“, das am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin angesiedelt ist. »1983 ins Leben gerufen, ist das SOEP heute eine der größten und ältesten Langzeitstudien der Welt. Über 22 000 Teilnehmer aus rund 11 000 Haushalten werden jedes Jahr nach Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung und Gesundheit befragt«, so Astrid Herbold. Weitere Informationen findet man auf dieser Seite: www.diw.de/soep.

Der lange Zeitraum dieses Panels ist von Bedeutung, denn: „Wir haben jetzt, nach rund 30 Jahren, erste empirische Ergebnisse, ob es den Kindern besser geht als ihren Eltern“, erklärt Jürgen Schupp, Direktor des SOEP. Denn nach drei Jahrzehnten ausgiebiger Familienbefragungen weiß man nun, wie sich der jeweilige Nachwuchs einer Familie langfristig beruflich entwickelt hat. Erstmals können die Lebensumstände der Eltern direkt mit denen ihrer Kinder in Verbindung gesetzt werden.
Und die Daten aus dem SOEP bestätigen das, was viele ahnen oder wissen – die besondere Bedeutung der Herkunft in unserem Land.

»Die Schule kann familiäre Einflüsse teilweise kompensieren, aber die zentralen Weichen werden lange vor Beginn der Schulzeit gestellt. „Wie Menschen sich entwickeln, wird in der Familie in der frühen Kindheit geprägt“, sagt Schupp. Das Fundament der kognitiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten, das hier gelegt (oder auch nicht gelegt) wird, wirkt lebenslang nach.«

Und Deutschland schneidet auch im internationalen Vergleich nicht berauschend ab. So haben zwei Wissenschaftler die SOEP-Daten genutzt, um die langfristige Bildungsmobilität in Deutschland im Vergleich zu den USA und Großbritannien zu untersuchen. Ihr Ergebnis: „Wir fanden heraus, dass die Bildungsmobilität über einen längeren Zeitraum in Deutschland deutlich geringer ist als in den beiden anderen Ländern.“

Wir können und dürfen die gewaltige Kraft des familialen Hintergrundes in Deutschland nicht unterschätzen:

»Schon 2013 hatte Wirtschaftswissenschaftler Daniel Schmitzlein anhand der SOEP-Daten nachgewiesen, dass sich 40 Prozent der Ungleichheit beim individuellen Arbeitseinkommen durch den Familienhintergrund erklären lassen. Beim Bildungserfolg ist der Faktor sogar noch größer: 66 Prozent der Ungleichheit bei Bildungsabschlüssen gehen in Deutschland auf familiäre Einflüsse zurück«, berichtet Herbold in ihrem Artikel.

Eine im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren undurchlässiger und ungleicher werdenden Gesellschaft ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern lässt sich auch im internationalen Vergleich diagnostizieren.

Genau an dieser Stelle passt der Hinweis auf eine neue Studie des McKinsey Global Institute:

McKinsey: Poorer than their parents? Flat or falling incomes in advanced economies, Washington, July 2016

Zu den Ergebnissen der Studie: In immer mehr Haushalten in entwickelten Ländern sinkt oder stagniert das Einkommen: Von 2005 bis 2014 stieg der Anteil der Haushalte mit rückläufigen oder stagnierenden Einnahmen aus Arbeit und Kapital auf fast 70 Prozent. Damit waren mehr als 500 Millionen Menschen von dieser Entwicklung betroffen. In der Zeitspanne 1993 bis 2005 stagnierten oder sanken die Einnahmen nur bei zwei Prozent der Haushalte.

McKinsey hat alle Einkommensgruppen in den sechs Ländern Frankreich, Italien, Niederlande, Schweden, Großbritannien und den USA detailliert betrachtet.

Gründe für Rückgang und Stagnation der Haushaltseinkommen seien die steigenden Arbeitslosenzahlen und geringeren Lohnsteigerungen in Folge der Finanzkrise sowie geringere Kapitalerträge. Die Studie zeigt: Vor allem für die größer gewordene Gruppe geringqualifizierter Arbeitnehmer und arbeitsloser Jugendlicher ist die Gefahr groß, den Anschluss zu verlieren. Allerdings sind darüber hinaus in den sechs untersuchten Ländern Haushalte nahezu aller Einkommensklassen betroffen: In Italien sind es 97 Prozent, in den USA 81 Prozent, in den Niederlanden und Großbritannien 70 Prozent und in Frankreich 63 Prozent. Einzig in Schweden ist es gelungen, u.a. durch enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften während der Finanzkrise, eine unternehmensfreundliche Steuerpolitik sowie eine vergleichsweise niedrige Staatsverschuldung das verfügbare Einkommen gegen den Trend für die meisten Haushalte zu steigern, so McKinsey in einer Pressemitteilung zu der neuen Studie.

Natürlich kann man überaus kritisch auf diese Studie schauen, wie beispielsweise Susan Bonath in ihrem Artikel Abstieg der Jungen: »Der Generation von morgen droht die Verarmung, warnt »McKinsey«. Die Berater ­müssen es wissen: Sie haben den Niedergang mit zu verantworten.«

Die wachsende Perspektivlosigkeit und drohende Verarmung habe längst die Mittelschicht erfasst. Dies werde »einschneidende soziale Folgen« haben, so die Wirtschaftsberater. Es wachse eine Generation heran, der es »spürbar schlechter geht als ihren Eltern« … Die Autoren befürchten auch wachsende Kritik am Kapitalismus. Eine »erhebliche Zahl« der vom Absturz Bedrohten habe »den Glauben in unser globales Wirtschaftssystem verloren«.

Und Bonath erinnert dann an die von ihr mit Bezug auf Helga Spindler so bezeichnete Rolle als »Ghostwriter der Hartz-IV-Kommission«, gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung.

Man kann es aber auch so lesen: Zunehmend  zeigen sich Institutionen im Herz des kapitalistischen Systems beunruhigt von den faktischen Auswirkungen des lange Jahre angemahnten Polarisierungsprozesses zwischen oben und unten. Hat man den Bogen überspannt? Diese Frage bewegt auch die OECD, den IWF und die Weltbank. Vgl. dazu auch meine Blog-Beiträge Ungleichheit. Der Blick darauf und das Reden darüber ist erheblich irritierender als das ewige Lamento über „die Armut“ vom 21. Juli 2016 sowie Wenn Ungleichheit und sogar Armut zum Top-Thema werden, weil Ökonomen sich der Sache annehmen. Bedenkenswerte Aspekte einer ökonomischen Kritik der Ungleichheit und ihre Grenzen vom 16. März 2016.

Man kann das alles auch als eine Chance sehen für diejenigen, die der Ungleichheitsentwicklung kritisch gegenüberstehen, zugleich aber auch wissen, dass man die Menschen mitnehmen muss bei der Entwicklung von Alternativen.

Die OECD – um ein Beispiel zu nennen –  bewegt sich seit längerem, dazu aus meinem Beitrag vom 16. März 2016:

»Bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Schlussfolgerungen der OECD fällt auf, dass darauf hingewiesen wird, dass es eben nicht ausreicht so viel Erwerbsarbeit wie nur möglich zu schaffen, egal, wie die ausgestaltet ist. Die OECD-Ökonomen plädiere für eine Beschäftigungsförderung in Verbindung mit einer Ausrichtung auf Jobs guter Qualität. Die vielen Jobs schlechter Qualität, von denen wir gerade im angeblichen „Jobwunderland“ Deutschland ein Lied singen können, haben nach den vorliegenden Analysen in vielen Ländern, auch bei uns, dazu beigetragen, dass die Ungleichheit zugenommen hat und weiter ansteigen wird, wenn sich nichts ändert. Und auch hinsichtlich der Gestaltung des Steuer-Transfer-Systems für eine effiziente Umverteilung streuen die OECD-Ökonomen Salz auf die Wunden vieler Umverteilungsgegner: Die OECD fordert, dass die Progression im Steuersystem wieder ausgebaut wird, sie plädiert für eine Erhöhung der Einkommenshilfen für untere Einkommensgruppen und betont die antizyklische Ausgestaltung der Sozialausgaben, was eben bedeuten würde, sie in Krisen gerade nicht zu kürzen. Alles Teufelszeug für viele, die sich ansonsten immer auf „die“ Ökonomen berufen.«

Und offensichtlich treibt das die OECD weiter an, wie man diesem Artikel entnehmen kann: A Shrinking World Spurs Calls to Rewrite the Tax Guidebook. The argument against taxing capital income relatively more than wages is losing its force.
Darin findet man den folgenden Passus, in dem Pascal Saint-Amans, OECD Director of Taxes, mit diesen Worten zitiert wird:

“For the past 30 years we’ve been saying don’t try to tax capital more because you’ll lose it, you’ll lose investment. Well this argument is dead, so it’s worth revisiting the whole story.”

Da geht noch was.