Mindestlohn-Bashing in Zukunft tabu? Die Stimme „der“ Wirtschaft wird vom Bundesverwaltungsgericht allgemeinpolitisch beschnitten. Das ist auch sozialpolitisch relevant

Man kennt das aus den vielen sozialpolitischen Debatten, ob es nun um den Mindestlohn, die Mütterrente oder um die Rente mit 63 geht – immer findet man auch Stellungnahmen der Industrie- und Handelskammern (IHK) und ihres Dachverbands, also des DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) mit oft sehr eindeutiger Positionierung, beispielsweise gegen den Mindestlohn. Dabei behaupten die Kammern und ihr Dachverband fortwährend, dass sie die Stimme „der“ Wirtschaft seien, was ihnen natürlich in der politischen Arena und in der Medienberichterstattung eine entsprechende Aufmerksamkeit eröffnet.

Die 79 Industrie- und Handelskammern gehören zum Kernbereich des besonderen korporatistischen Arrangements in Deutschland. Das wird auch an ihrem besonderen Status erkennbar. Auf der einen Seite stehen sie für die Idee der Selbsthilfe durch Zusammenschluss und das Recht, dass Unternehmen ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich regeln können, durchaus mit demokratischen Strukturelementen wie der Wahl ihrer Vertreter. Zugleich hat der Staat diese an sich auf Freiwilligkeit basierenden Strukturen gleichsam inkorporiert und aus den Kammern berufsständische Körperschaften des öffentlichen Rechts gemacht, wodurch sich neben der klassischen Interessenvertretung ihrer Mitglieder als zweite Aufgabensäule die Zuweisung an sich staatlicher Funktionen ergeben hat, man denke hier an den Bereich der Berufsbildung ( dazu gehören 555.000 Zwischen- und Abschlussprüfungen in der Ausbildung und 164.000 Prüfungen in der Weiterbildung). Insgesamt haben die IHK mehr als 50 Aufgaben, die ihnen vom Staat übertragen sind, so der DIHK. Sie begleiten Firmengründer, geben Auskunft bei Rechts- und Steuerfragen oder beraten bei der Expansion in internationale Märkte. Damit verbunden ist eine Staatsaufsicht, aber eben auch eine gesetzliche Pflicht zur Mitgliedschaft in diesen Einrichtungen, denen man sich nicht durch autonome Entscheidung entziehen kann, wenn man zum definierten Kreis der Zwangsmitglieder gehört.

Das ist wie (fast) alles in Deutschland in einem eigenen Gesetz geregelt worden – konkret mit dem Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern aus dem Jahr 1956. Das Gesetz ist ein Bundesgesetz und man hatte dadurch divergierende Modelle in den Bundesländern ausgeschlossen und eine bundeseinheitliche Regelung getroffen. Dort ist auch die seit langem umstrittene Pflichtmitgliedschaft in den Kammern geregelt.

An dieser Stelle nur eine kleine historische Fußnote: Nach dem Kriegsende lehnte die Militärverwaltung in der amerikanischen Besatzungszone die Pflichtmitgliedschaft der Gewerbetreibenden in der IHK ab, ebenso in der britischen und französischen Zone. Im Zuge der Gründung der Bundesländer wurde in vielen Ländern festgelegt, dass die IHKs paritätische Institutionen sein sollten. Dem wurde allerdings auch Einhalt geboten von den Besatzungsmächten.

Die Zwangsmitgliedschaft an sich ist aus unterschiedlichen Gründen und aus verschiedenen Lagern immer wieder in der Kritik, die – auch wieder typisch für Deutschland – eine eigene Institutionalisierung gefunden hat: den Bundesverband für freie Kammern, einer bundesweiten Vereinigung von Unternehmern, Handwerksbetrieben, Freiberuflern und Pflegekräften, die den Kammerzwang ablehnen. Schon diese Selbstbeschreibung der Kammerzwanggegner verweist mit den Pflegekammern auf eine höchst aktuelle sozialpolitische Baustelle, die aber hier nicht weiter besichtigt werden soll.

Nun kann man wie angesprochen aus ganz unterschiedlichen Gründen gegen eine Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer sein. Für viele „Kammergegner“ sind es vor allem die finanziellen Folgen dieser Regelung, denn sie müssen auch gegen ihren Willen den Zwangsbeitrag abführen. Das kann man dann grundsätzlich anlehnen mit dem Hinweis darauf, dass eine Mitgliedschaft freiwillig sein müsste, man kann auch argumentieren, dass die Beiträge zu hoch seien, da die bzw. einige Kammern offensichtlich erhebliche Überschüsse erwirtschaften.

Vgl. dazu höchst aktuell den Artikel IHK Köln verliert vor Gericht: »Drei Mitgliedsunternehmen hatten geklagt, weil sie die Beiträge für das Jahr 2015 für fehlerhaft hielten. Im Kern warfen die Kläger der IHK vor, rechtswidrig Vermögen angehäuft zu haben … Seit 2011 wies die Kammer … positive Jahresabschlüsse in Millionenhöhe aus. Nach Einschätzung der klagenden Unternehmer sind diese Gewinne bei der Festsetzung der Höhe ihres Beitrages zu Unrecht unberücksichtigt geblieben. Stattdessen wurden Gewinne vorgeschrieben und in verschiedene Rücklagen verbucht … Das Gericht hat nun zwei der drei Klagen stattgegeben.« Und ebenfalls sehr aktuell dieser Artikel: IHK Berlin zahlt 13 Millionen Euro zurück: »Die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) hat festgestellt, dass sie zu viel kassiert hat und schüttet nun Geld an Tausende Mitglieder aus.« Dazu der Hintergrund, der auch gut überleitet zu dem in diesem Beitrag hier relevanten Punkt: »Berlins IHK reagiert mit dem Schritt auf ein im Dezember 2015 vom Bundesverwaltungsgericht gefälltes Urteil gegen die IHK Koblenz (Az.: BVerwG 10 C 6.15). Damit setzten die Richter dem Kammern bei der Bildung von Rücklagen enge Grenzen. Die Veröffentlichung der Urteilsbegründung vergangenen Februar hatte für große Aufregung unter den 79 IHKen und beim Dachverband DIHK gesorgt. Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben soll Anfang März eine Krisensitzung zum Thema im Bundeswirtschaftsministerium besucht haben, hört man – und zwar in Begleitung von zwei Dutzend besorgten Kammervertretern. Diese trugen offenbar teils abenteuerliche Begründungen vor, mit denen sie ein Einbehalten von Beiträgen rechtfertigen wollten: Zum Beispiel Vorsorge für die Zerstörung aller IHK-Daten durch einen Hackerangriff.«

Und nun geht es schon wieder um eine Entscheidung des bereits erwähnten Bundesverwaltungsgerichts. Das Urteil stammt schon aus dem März 2016 (vgl. dazu die Pressemitteilung des BVerwG vom 23.03.2016: Kammermitglied kann Austritt seiner IHK aus dem Dachverband verlangen, wenn dieser sich allgemeinpolitisch betätigt), nun wurde es auch in Gänze, also mit der ausführlichen Begründung veröffentlicht (vgl. dazu Az.: BVerwG 10 C 4.15).

Werfen wir einen Blick auf den dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt:

»Geklagt hatte ein Unternehmen der Windenergiebranche aus Münster, das unter anderem bemängelte, der (frühere) Präsident des DIHK habe sich wiederholt zu allgemeinpolitischen Themen sowie einseitig zu Fragen der Umwelt- und Klimapolitik geäußert. Der Kläger ist gesetzliches Mitglied der örtlichen Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen, die ihrerseits dem DIHK angehört. Er forderte die örtliche Kammer schon 2007 zum Austritt aus dem Dachverband auf, weil dessen Tätigkeit den gesetzlichen Kompetenzrahmen der Industrie- und Handelskammern überschreite. Als die Kammer sich weigerte, erhob der Kläger gegen sie Klage auf Austritt aus dem Dachverband. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.«

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und dem Kläger Recht gegeben. Zur Begründung hatte das BVerwG ausgeführt, »dass ein Unternehmen durch die gesetzliche Pflicht, einer berufsständischen Kammer anzugehören, in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit beschränkt wird. Deshalb muss es die Tätigkeit der Kammer nur in dem Rahmen hinnehmen, den das Gesetz der Kammer zieht … die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen ist ausdrücklich ausgenommen.«

Und grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass sich die einzelnen Industrie- und Handelskammern zu einem Dachverband zusammenschließen: »Die Interessen der Gewerbetreibenden werden auch durch überregionale Fragen berührt, weshalb die Kammern sich zu einem Dachverband wie dem DIHK zusammenschließen dürfen, um ihre Belange gegenüber den Ländern, dem Bund oder der Europäischen Union zu vertreten.«

Aber dann wirft das BVerwG eine gewichtige Einschränkung in den Raum:

»Das setzt aber voraus, dass der DIHK sich seinerseits innerhalb des den Kammern gesetzlich gezogenen Kompetenzrahmens bewegt. Äußert der DIHK sich demgegenüber auch zu allgemeinpolitischen oder zu sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Themen, so darf keine Kammer dies dulden. Dasselbe gilt, wenn der DIHK die Interessen der Kammern einseitig oder unvollständig repräsentiert, namentlich beachtliche Minderheitspositionen übergeht, oder wenn die Art und Weise seiner Äußerungen den Charakter sachlicher Politikberatung verlässt und die Gebote der Sachlichkeit und Objektivität missachtet. In derartigen Fällen kann jedes Kammermitglied von seiner Kammer verlangen, das Nötige zu tun, dass der DIHK weitere Kompetenzüberschreitungen unterlässt; bei Wiederholungsgefahr kann es von seiner Kammer verlangen, aus dem DIHK auszutreten.«
Thomas Öchsner hat seinen Artikel über die nunmehr veröffentlichte ausführlich Begründung unter diese Überschrift gesetzt: Bundesrichter setzen Lobbyisten Grenzen: »Als Beispiel nannte das Gericht kritische Äußerungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zum Mindestlohn, zur Mütterrente, zur Rente mit 63 … Alle diese Stellungnahmen seien „nicht mehr von der Kammerkompetenz gedeckt.“«

Auch „polemisch überspitzte Stellungnahmen, die auf eine emotionalisierte Konfliktaustragung zielen, sind unzulässig“. Bei Mehrheitsentscheidungen seien „gegebenenfalls beachtliche Minderheitspositionen darzustellen“. Dieser rechtlich enge Rahmen gelte auch für den Dachverband DIHK.

Das ist von großer Bedeutung für die weiter Zwangsmitglieder bleibenden Mitglieder, die sich völlig falsch vertreten sehen von vielen – bisherigen – sozialpolitischen Stellungnahmen.

Beispiel Mindestlohn: In der Öffentlichkeit wurde transportiert, dass „die“ Wirtschaft, „die“ Unternehmen gegen den gesetzlichen Mindestlohn seien, dass der Mindestlohn Schaden anrichten werde. Nun kann es nicht nur theoretisch Unternehmen geben, sondern es gibt sie faktisch auch, die eine ganz andere Sichtweise auf den Mindestlohn haben, die seine Existenz und die sanktionsbewährte flächendeckende Durchsetzung der Lohnuntergrenze in allen Betrieben gerade auch aus Sicht der Unternehmen, die sich ordentlich verhalten, als positiv befürworten und darin ein Instrument gegen wettbewerbsverzerrendes Lohndumping sehen. Die müssen dann durch ihre Mitgliedsbeiträge, denen sie sich anders als Gewerkschafter oder Mitglieder in Arbeitgeberverbänden nicht durch Austritt entziehen können, die einseitige Propaganda der Funktionäre mitfinanzieren.

Thomas Öchsner erkennt in dem Urteil politischen Sprengstoff, so seine Wertung in dem Kommentar Eingeschränkt politisch.  Er stellt klar: »Das Urteil ist kein Maulkorb für den Wirtschaftsverband. Dieser kann sich weiter zu Themen äußern, bei denen es um die Interessen der Kammern geht. Als Beispiel nennt das Gericht etwa Ganztagsschulen oder duale Studiengänge.« Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des Bundesverbands für freie Kammern, wird mit diesen Worten zitiert: „Die allgemeinpolitischen Eskapaden des Dachverbands wie etwa sein Nein zum Mindestlohn dürften damit vorbei sein“.

Und das ist auch gut so. Der DIHK selbst hat in einer sehr kurzen Pressemitteilung vom 21.06.2016 ausgeführt: »Der DIHK wird selbstverständlich zukünftig den vom Gericht neu konkretisierten rechtlichen Rahmen einhalten.« Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass wenigstens von dieser Seite keine mehr als einseitigen sozialpolitischen Stellungnahmen zu befürchten sind. Für die es übrigens ganz andere Institutionen gibt, die das noch viel „besser“ können. Richtig gut wäre es, wenn die Heterogenität der Mitglieder in den IHKn besser abgebildet wird bei sehr strittigen Fragen in der Öffentlichkeitsarbeit, also der, die weiterhin zulässig ist. Aber das ist jetzt ein Problem für die Kammern.

Kopfschütteln über 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge. Das BSG bremst die Jobcenter bei Sanktionen. Und RTL greift ganz tief nach unten

Man ist immer wieder unangenehm überrascht, was man sich in Berlin offensichtlich auszudenken in der Lage ist, um an sich schon mehr als komplexe Politikfelder noch komplizierter werden zu lassen. Im Zuge des derzeit im Bundestag behandelten „Integrationsgesetzes“ wurde bekannt, dass das Bundesarbeitsministerium in diesem Rahmen auch die Idee umsetzen will, 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge aus Bundesmitteln einzurichten. Am Anfang ging der kritische, aber wohlmeinende Beobachter noch davon aus, dass das so abläuft, dass der Bund das Geld den Kommunen gibt, denn die sind ja für die neu angekommenen Flüchtlinge und für die Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Antrag zuständig und im Asylbewerberleistungsgesetz gibt es im § 5 schon die Möglichkeit, Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet) durchzuführen, was in einigen Kommunen durchaus intensiv gemacht wurde und wird. Man hätte auch auf den schon eigentlich naheliegenden, allerdings systemüberwindenden Gedanken kommen können, dass das doch die machen können, die später sowieso für fast alle Flüchtlinge zuständig sind, also die Jobcenter, die ebenfalls Arbeitsgelegenheiten (§ 18d SG II) haben. Doch weit gefehlt.

Herausgekommen ist nun eine Metastasierung des an sich schon komplexen Gebildes, wenn der Gesetzentwurf Realität wird: »Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen)«, so meine Zusammenfassung in dem Beitrag  „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? vom 12. Juni 2016. Und das ist schon alles schlimm genug, aber man setzt offensichtlich noch einen drauf: Die neuen „Flüchtlings-Arbeitsgelegenheiten“ sollen anders als die normalen „Ein-Euro-Jobs“ nur mit einer Mehraufwandsentschädigung von 80-Cent pro Stunde versehen werden. Der zitierte Beitrag hat den Unsinn, der sich hier Bahn zu brechen versucht, analysiert und bewertet.

Das ist jetzt auch im Bundestag aufgeschlagen, wie Claudia Kade in ihrem Artikel Kopfschütteln über Nahles‘ Pläne für Flüchtlingsjobs berichtet:

»In einer Anhörung vor dem Arbeitsausschuss des Bundestags sprach der Vertreter des Deutschen Städtetages, Helmut Fogt, von einem „unverhältnismäßigen Aufwand“, wenn über die Mehraufwandsentschädigung einzeln abgerechnet werden müsse. Der Städtetag plädiert nach dem Protokoll der Sitzung vom vergangenen Montag dafür, die allgemein üblichen 1,05 Euro zu zahlen – „weil das auch administrativ wesentlich einfacher zu handhaben ist“.
Der Deutsche Landkreistag reagierte ebenfalls mit Unverständnis: Wenn Belege von Flüchtlingen gesammelt werden müssten als Nachweis dafür, dass ihnen ein Kostenaufwand entstanden sei, der über der Entschädigung von 80 Cent pro Stunde liegt, wäre der Aufwand höher als der Nutzen. „Die Belege müssten dann entsprechend im Sozialamt geprüft werden“, sagte die Vertreterin des Landkreistags, Irene Vorholz, in der Anhörung. „Sie müssten dokumentiert werden. Es muss dann eine Entscheidung getroffen werden.“ Deswegen sei ein einheitlicher fester Betrag von 1,05 pro Stunde sinnvoll, „ohne eine Abweichungsmöglichkeit in welche Richtung auch immer“.«

Wie weit weg die politischen Entscheidungsträger von der Wirklichkeit sind, verdeutlicht dieser Passus aus dem Artikel:

»Kerstin Griese, Vorsitzende des Arbeitsausschusses, wies die Kritik zurück. „Den Vorwurf neuer Bürokratie verstehe ich nicht“, sagte die SPD-Politikerin. „Denn die gemeinnützigen Träger, die die Arbeitsgelegenheiten stellen, kennen sich mit der Abrechnung bestens aus.“ Sie machten das bei den Arbeitsgelegenheiten für Hartz-IV-Bezieher ebenfalls, wenn es Bedarf gebe. „Ich mache mir keine Sorgen um Bürokratie.“«

Hier wird wieder einmal unterschätzt, was das an Aufwand (der in keiner Relation steht zu dem, was damit erreicht werden kann) vor Ort bedeutet.

Aber unabhängig davon ist als eigentlich entscheidender Einwand darauf hinzuweisen, dass dieses geplante Programm für 100.000 Arbeitsgelegenheiten für (noch nicht anerkannte) Asylberechtigte, wenn man es denn überhaupt für sinnvoll hält, eigentlich viel zu spät kommt, denn das BAMF weist darauf hin, dass in den kommenden Monaten die Zeiträume bis zur Asylantragstellung und dann bis zur Anerkennung bzw. Ablehnung des Asylantrags massiv verkürzt werden (können). Dann stellen sich die Herausforderungen vor allem in dem System, das für die anerkannten Flüchtlinge zuständig ist, also das SGB II und damit die Jobcenter. Vor diesem Hintergrund muss man auch die angestrebte Größenordnung (100.000 AGHs für Flüchtlinge) sehen, denn im gesamten Hartz IV-System gibt es bundesweit derzeit etwa 80.000 Arbeitsgelegenheiten, wohlgemerkt für alle Hartz IV-Bezieher.
Hinzu kommt, dass die Fixierung auf die geplanten 100.000 AGHs für eine (wahrscheinlich) immer weniger werdende  Klientel die an sich notwendige Ausrichtung auf die wirklich erforderlichen arbeitsmarktpolitischen Bemühungen bei den meisten geflüchteten Menschen unnötigerweise blockieren würde, also eine Verbindung von (möglichst betriebsnah aufgestellter) Beschäftigung, Qualifizierung, Sprachförderung.

Fazit: Einfach sein lassen, was da geplant wurde.

Auch im derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen „Integrationsgesetz“ geht es um „Fordern“ und „Fördern“ analog zum SGB II und es wird an dieser Stelle viele nicht überraschen, dass die Sanktionen als ein Element des Forderns nun auch im Integrationsgesetz eine wichtige Bedeutung bekommen sollen. Die nun sind im Hartz IV-System seit langem und grundsätzlich hoch umstritten und erst vor kurzem Gegenstand einer (vorläufigen) Nicht-Befassung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Frage, ob es verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist, das Existenzminimum zu beschneiden.

Hierzu gibt es nun ein neues Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), mit dem den Jobcentern gewisse Schranken gesetzt werden bei der Verhängung von Sanktionen: Keine Vereinbarung von Bewerbungsbemühungen ohne Vereinbarung zur Bewerbungskostenübernahme!, so und ausdrücklich mit Ausrufezeichen versehen ist die Pressemitteilung des BSG dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt, der eine typische Erfahrung vieler Hartz IV-Empfänger widerspiegelt:

»Der 1977 geborene, alleinstehende Kläger schloss mit dem beklagten Jobcenter in 201»1 und 2012 Eingliederungsvereinbarungen. Nach diesen war er verpflichtet, mindestens zehn Bewerbungsbemühungen pro Monat zu unternehmen und diese an einem Stichtag dem Jobcenter nachzuweisen. Das Jobcenter bot Unterstützungsleistungen zur Beschäftigungsaufnahme an; eine Regelung zur Erstattung von Bewerbungskosten des Klägers durch das Jobcenter enthielten die Eingliederungsvereinbarungen nicht. In den drei hier maßgeblichen Monatszeiträumen erfüllte der Kläger nach Auffassung des Jobcenters seine Verpflichtung zu den monatlichen Eigenbemühungen nicht, weshalb das Jobcenter jeweils feststellte, dass wegen diesen Pflichtverletzungen das Arbeitslosengeld II des Klägers für drei Monate vollständig entfällt (Dezember 2011 bis Februar 2012, Juni bis August 2012, September bis November 2012).«

Das wurde von dem Betroffenen nicht hingenommen und er hat dagegen geklagt. Das Sozialgericht hob die vom Kläger angefochtenen Sanktionsentscheidungen auf, das Landessozialgericht wies die Berufungen des Jobcenters zurück. Und es ging weiter zum BSG. Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat nun am 23. Juni 2016 die Revision des Jobcenters zurückgewiesen.

»Die Sanktionsentscheidungen sind schon deshalb rechtswidrig, weil der Kläger durch die Eingliederungsvereinbarungen nicht zu Bewerbungsbemühungen verpflichtet war. Die Eingliederungsvereinbarungen sind als öffentlich-rechtliche Verträge jedenfalls deshalb insgesamt nichtig, weil sich das Jobcenter vom Kläger unzulässige Gegenleistungen versprechen lassen hat. Denn die sanktionsbewehrten Verpflichtungen des Klägers zu den in den Vereinbarungen bestimmten Bewerbungsbemühungen sind unangemessen im Verhältnis zu den vom Jobcenter übernommenen Leistungsverpflichtungen zur Eingliederung in Arbeit. Diese sehen keine individuellen, konkreten und verbindlichen Unterstützungsleistungen für die Bewerbungsbemühungen des Klägers vor; insbesondere zur Übernahme von Bewerbungskosten enthalten die Eingliederungsvereinbarungen keine Regelungen. Dass gesetzliche Vorschriften die Erstattung von Bewerbungskosten ermöglichen, führt nicht dazu, dass die Eingliederungsvereinbarungen ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen von Kläger und Jobcenter aufweisen. Damit fehlte es jeweils an Verpflichtungen des Klägers zu Bewerbungsbemühungen und so bereits an den Grundlagen für die angefochtenen Sanktionsentscheidungen.«

Eine wichtige Entscheidung des BSG, wird hier doch ein Signal gegen die erkennbare und von vielen beklagte Asymmetrie im Verhältnis zwischen  den Leistungsberechtigten und den Jobcentern ausgesendet.

Zum Schluss eine zynische Thematisierung von Hartz IV: RTL: Neue Sendung mit Hartz-IV-Empfängern! Über das Vorhaben des Senders erfahren wir:

»Bei RTL wird bald die Sendung „Raus aus der Armut“ zu sehen sein. Die Teilnehmer des TV-Experiments werden Hartz-IV-Empfängern sein … Für das große TV-Experiment „Raus aus der Armut“ scoutet RTL momentan Familien, die seit längerem von Hartz IV leben, aber einen Weg aus der sozialen Abhängigkeit suchen. Interessenten können sich ab sofort bei dem Privatsender bewerben. Das Konzept der Sendung klingt jedenfalls interessant: Die Familien kriegen ihre jährliche Sozialhilfe auf einen Schlag ausgezahlt. Durchschnittlich liegt der Hartz-IV-Satz bei etwa 25.000 Euro … Mit dem Koffer voll Geld können die Familien tun und lassen, was sie wollen. Pikant: Dafür müssen sie ein Jahr auf ihre monatliche Sozialunterstützung verzichten! Ziel der Sendung soll es sein, dass sich die Kandidaten mit der hohen Geldsumme ein neues Leben aufbauen können. Am Ende sollen die Familien unabhängig von Hartz IV leben können, so RTL … Allerdings ist bereits jetzt schon abzusehen, dass „Raus aus der Armut“ vor allem die Zuschauer unterhalten soll. Es ist nicht auszuschließen, dass die Hart-IV-Familien ein Stück weit der Lächerlichkeit preisgegeben werden.«

Man kann das wirklich nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, womit wir irgendwie wider am Anfang dieses Beitrags angekommen sind.

Wenn selbst das Beten nicht mehr hilft. Auch die zusätzliche kirchliche Altersversorgung kann (und muss) in schwieriges Fahrwasser geraten

Über das derzeit immer schwieriger werdende Umfeld für die kapitalgedeckte betriebliche Altersversorgung wurde bereits in dem Beitrag Betriebsrenten als Butter in der Sonne? Das wäre ärgerlich für die Finanzindustrie und ihre Hoffnungen auf ein Riester-Substitut. Und Betroffene erleben ihr blaues Wunder vom 21. Juni 2016 berichtet.

Und wenn über Betriebsrenten gesprochen wird, dann denken viele Menschen an die zusätzlichen Renten, die an Industriearbeiter ausgezahlt werden oder wenn man das Glück hatte, sein Erwerbsarbeitsleben bei einem der großen Unternehmen des Landes verbracht zu haben, bei denen es in aller Regel eine betrieblicher Altersvorsorge gab und gibt. Aber dieses Zubrot fürs Alter gibt es auch im öffentlichen Bereich für die Nicht-Beamten dort und bei zahlreichen Unternehmen der Sozialwirtschaft, von denen sich viele unter dem Dach der großen Kirchen bzw. ihrer Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie befinden. Und da wird man hellhörig, wenn man lesen muss: »Die Altersversorgung für 1,2 Millionen Beschäftigte der Kirche und der Caritas ist in Schieflage geraten.« So Matthias Dobrinski in seinem Artikel Katholisches Kapital. Konkret geht es um die Kirchliche Zusatzversorgungskasse KZVK mit Sitz in Köln. Sie ist die betriebliche Altersversorgung für 1,2 Millionen Beschäftigte im Dienst der katholischen Kirche oder des Sozialträgers Caritas. Derzeit beziehen 154.000 Menschen über sie eine Zusatzrente. Die KZVK ist damit eine der größten Pensionskassen in Deutschland.

»Diese Kasse hat unbestreitbar ein Problem: 2014 weist der Geschäftsbericht einen Fehlbetrag von 5,5 Milliarden Euro aus – Schuld daran ist vor allem die lange Niedrigzinsphase, unter der auch andere Versorgungskassen leiden, von denen einige tatsächlich inzwischen Leistungen kürzen mussten«, so Dobrinski in seinem Artikel, was sehr erinnert an die Ausführungen in dem Blog-Beitrag vom 21.06.2016 über die generelle Problembeschreibung die betriebliche Altersvorsorge betreffend.

Bereits im April 2016 hatte Daniel Deckers darüber in der FAZ berichtet unter der Überschrift Milliarden-Loch in Pensionskasse der katholischen Kirche über den „Sanierungsfall“ KZVK. Im Herbst 2015 hatte sich herausgestellt, dass die Bilanz der KZVK in einem Umfang von 22,5 Milliarden Euro zum 31. Dezember 2014 eine Deckungslücke von 5,5 Milliarden Euro aufweist.
„Veränderte Annahmen zur langfristigen Entwicklung der Verzinsung auf den Kapitalmärkten, die sich aus der Politik der EZB ergeben“, so ein Sprecher der KZVK, hätten »eine Neubewertung der Verpflichtungen und die Bilanzierung eines Ausgleichspostens erforderlich gemacht.«

Und das kam hinzu: Im Dezember 2015 verlor die KZVK vor dem Bundesgerichtshof einen Prozess gegen mehrere Einrichtungen, die mit der Erhebung eines sogenannten Sanierungsgeldes nicht einverstanden waren (vgl. dazu den Beitrag Sanierungsgeld für die Kirchliche Zusatzversorgungskasse) . Die Kasse hatte den in der Branche durchaus üblichen Zusatzbeitrag seit dem Jahr 2002 erhoben. Das Urteil war im wahrsten Sinne teuer, denn die KZVK muss jetzt allen Dienstgebern im Raum der verfassten Kirche und der Caritas die Sanierungsgelder zuzüglich der Nettoverzinsung zurückerstatten. In Rede stehen weit mehr als eine Milliarde Euro.

»Sollte es in den kommenden Jahren nicht gelingen, die Deckungslücken zu schließen, drohen der katholischen Kirche finanzielle Verwerfungen bis hin zur Zahlungsunfähigkeit ganzer Bistümer«, so Deckers in seinem damaligen Artikel.

Nur wenige Tage später wurde dann dieser Artikel von Daniel Deckers veröffentlicht: Milliarden-Deckungslücke wächst weiter. Er bezieht sich erneut auf die Folgen des Urteils des Bundesgerichtshofs aus dem Dezember 2015:

»In der Zwischenzeit hatte die Kasse, die mittlerweile 1,1 Millionen Pflichtversicherte und annähernd 150000 Rentenempfänger aus dem Raum der verfassten Kirche und der Caritas zählt, auf diesem Weg 1,12 Milliarden Euro eingenommen. Diese Summe soll im Laufe dieses Jahres zurückgezahlt werden, und zwar allen Beteiligten einschließlich der Zinsen in Höhe von etwa 263 Millionen Euro.«

Geld fällt bekanntlich nicht vom Himmel, sondern muss auch im kirchlichen Kontext besorgt werden. »Die Erstattung des Sanierungsgeldes erfolgt aus dem Anlagevermögen der KZVK, das derzeit etwa 16 Milliarden Euro beträgt«, klärt uns Deckers auf. Die Deckungslücke der KZVK wächst damit auf etwa vier Milliarden Euro.

»Die „dauerhafte Erfüllbarkeit“ dieser Ansprüche sei nunmehr „nicht gegeben“, heißt es in einer Vorlage des Vorstands der KZVK für die Bischöfe. Die Kasse will daher noch in diesem Jahr damit beginnen, die Deckungslücke durch ein sogenanntes „Finanzierungsgeld“ zu schließen.«

Das ist natürlich eine fragile Strategie, denn nicht auszuschließen ist eine erneute Klage von betroffenen kirchlichen Unternehmen dann gegen das „Finanzierungsgeld“.
Was auf alle Fälle sicher in den Raum gestellt wird: Der »Beitrag der kirchlichen und caritativen Unternehmen von derzeit 4,8 Prozent des Bruttolohnes (wird) bis zum Jahr 2024 auf 7,1 Prozent (angehoben).«

Und dann kommt eine wichtige Einordnung der Vorgänge:

»Die 1974 eingeführte obligatorische Zusatzversorgung zeigt damit immer stärker ihr Doppelgesicht. Einerseits ist sie heute mehr denn je ein Element zur Vorsorge gegen Altersarmut sowie ein Argument zugunsten einer Beschäftigung bei einem kirchlichen Arbeitgeber, wie es beim Deutschen Caritas-Verband in Freiburg heißt. Andererseits sind die damit verbundenen Aufwendungen vor allem für diejenigen Einrichtungen eine Belastung, die im Wettbewerb mit privaten Anbietern stehen.«

 Wieder zurück zu dem neuen Artikel von Matthias Drobinski. Der berichtet uns:

»Nach der Darstellung der KZVK und auch des Sekretariats der Bischofskonferenz in Bonn ist die Lage der Kasse nicht schön, aber auch nicht katastrophal: Die Kapitalanlagen beliefen sich 2015 schließlich auf 17,9 Milliarden Euro. Und wenn man schrittweise die Beiträge der Bistümer und der Caritas anhebe, komme man schon hin … Auch soll der Aufsichtsrat, in dem bislang vor allem Kirchenfunktionäre sitzen, professionalisiert werden.«

Doch seitens der Bistümer werden Zweifel vorgetragen. Es gebe Finanzdirektoren, die von einer „Bad Bank“ sprächen.

Und sie beziehen sich dabei auch auf ein Rechtsgutachten, dass die Deutsche Bischofskonferenz »schon vor drei Jahren erstellen ließ: Was passiert, wenn die KZVK die Rentenansprüche nicht mehr erwirtschaften könnte, die sie den Mitarbeitern garantiert hat? Die Antwort: Die Bistümer müssten einspringen. Dann aber wäre vor allem im Norden und Osten Deutschlands so manches Bistum faktisch pleite.«

Und Drobinski weist auf eine andere Konfliktstelle hin, wenn er schreibt:

»Hinter dem Streit verbirgt sich auch ein innerkirchlicher Nord-Süd-Konflikt: Den reichen Bistümern im Süden, Südwesten und Westen ist noch ungut in Erinnerung, wie sie einspringen mussten, als das Erzbistum Berlin faktisch zahlungsunfähig war – und wie vor allem das Erzbistum München-Freising auf den Kosten des desaströs heruntergewirtschafteten Weltbild-Verlages sitzen blieb. Und jetzt im Zweifel wieder klamme Bistümer retten?«

Fazit: Selbst für die, die einen direkten Draht nach oben haben müssten, stellen sich die gleichen (plus hausgemachte) Probleme, wie wir sie insgesamt beobachten müssen für die betriebliche Altersvorsorge.

Übrigens: Parallele Entwicklungen haben wir auch in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. So berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel Magere Zeiten für Rentner über die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL), mit Abstand größten Zusatzversorgungskasse in Deutschland: »Diese hat zum 1. Juni 2016 den Garantiezins für Mitglieder, die freiwillig über ihren Arbeitgeber zusätzlich einen Teil ihres Gehalts in einen Riester-Vertrag oder sozialabgabenfrei für eine spätere Betriebsrente zurücklegen, von 1,75 Prozent auf konkurrenzlos niedrige 0,25 Prozent gesenkt. „Einen solchen Vertrag zu unterschreiben, lohnt sich damit nicht mehr“, sagt der Finanzmathematiker Werner Siepe, der sich seit einem Jahrzehnt mit der VBL beschäftigt.« Es geht hier nicht um die etwa 1,9 Millionen Pflichtversicherte mit einer obligatorischen Zusatzversorgung, denn hier gibt es keinen Garantiezins, es handelt sich um eine umlagefinanzierte Zusatzversorgung. Es geht um die fast 250 000 Versicherte mit freiwillig abgeschlossenen Zusatzversorgungsverträgen. Was die Absenkung hier bedeutet, kann dieses Beispiel aufzeigen: »Ein 37 Jahre alter Angestellter, der noch Ende 2011 einen VBL-Extra-Vertrag unterschrieben hat und 30 Jahre bis zur Rente mit 67 genau 175 Euro monatlich einzahlt, hätte noch eine garantierte Zusatzrente von 617 Euro bekommen. Bei einem Neuabschluss von Juni 2016 an sind es jedoch nur noch 208 Euro. Das entspricht einem Minus von fast 70 Prozent.«

Wir dürfen gespannt sein, was aus dem Bundesarbeitsministerium in Herbst dieses Jahres an konkreten Vorschlägen kommen wird, die Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge betreffend.