Aus den real existierenden Arbeitsmärkten: Von „marktüblichen Löhnen“ in „Tochtergesellschaften“ und Ingenieuren aus der Datenwolke

Vivantes, der Krankenhauskonzern des Landes Berlin, will Hunderte Mitarbeiter ausgliedern, um keine Tariflöhne mehr zahlen zu müssen, berichtet Thomas Gerlach in seinem Artikel Umstrittener Diätplan. Und Hannes Heine sekundiert diese Berichterstattung unter der Überschrift Proteste gegen den Vivantes-Sparkurs. Viele der fast 15.000 Vivantes-Mitarbeiter fürchten sich verständlicherweise vor Lohndumping im Zuge des anstehenden Konzernumbaus, der einem bekannten Muster folgen soll: »Der landeseigene Krankenhauskonzern will sparen und plant eine weitere Ausgliederung von Arbeitsbereichen. Alle therapeutischen Dienste sollen in eine noch zu gründende Tochtergesellschaft ausgelagert werden. Dasselbe droht den Mitarbeitern in den Bereichen Facility Management, Einkauf und Logistik sowie beim Patientenbegleitservice«, so Gerlach in seinem Artikel. Die Zielsetzung dieser Maßnahme ist simpel: Bei Neueinstellungen würde der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) keine Anwendung mehr finden.

Die Vivantes-Sprecherin Kristina Tschenett wird dementsprechend mit den Worten zitiert: „Zweck der konzerneigenen Tochtergesellschaft ist es daher, bei Neueinstellungen eine branchenübliche Vergütung zu zahlen“ – und die „marktüblichen Löhne“ liegen deutlich unter dem aktuellen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TvöD). Der geplante Konzernumbau folgt dem Muster einer Aufspaltung in Stamm- und „Randbelegschaft“: »Ärzte und Pflegekräfte bilden künftig die Stammbelegschaft. Ergo- und Physiotherapeuten, Wachleute sowie Reinigungskräfte aber sollen in Tochterfirmen arbeiten. Dort würde bald weniger gezahlt als bislang«, so Heine. Besonders aufgebracht sind die Beschäftigten – darunter Ergotherapeuten, Logopäden, Physio- und Musiktherapeuten -, weil sie schon in den vergangenen Jahren einen Lohnverzicht hingenommen haben. Die Beschäftigten bringen in einem offenen Brief das zum Ausdruck, was das landeseigene Unternehmen hier machen will: Tarifflucht. Von den aktuellen Plänen würden etwa 800 Mitarbeiter betreffen, schätzt die Gewerkschaft Ver.di Berlin-Brandenburg. »Perspektivisch könnte Vivantes jedoch alle Mitarbeiter in neue oder bestehende Tochtergesellschaften auslagern, die nicht zu den Kernbereichen Ärzte, Pflegepersonal und Funktionsdienste, wie etwa Röntgen und MRT, gehörten. Dann würden bis zu 6.000 der etwa 15.000 Beschäftigten aus dem TVÖD herausfallen.«

Der Hintergrund aus Sicht des Unternehmens: Viele Behandlungen werden nicht ausreichend von den Krankenkassen vergütet, Vivantes muss zudem marode Gebäude sanieren. Der Konzern benötige jährlich zusätzlich 40 Millionen Euro vom Land, um den Investitionsstau aufzulösen, die er offensichtlich nicht bekommt und die man sich nun teilweise bei den eigenen Beschäftigten holen will. Nach Angaben der Berliner Krankenhausgesellschaft werden für alle Berliner Kliniken Investitionsmittel von mindestens 140 Millionen Euro jährlich benötigt, 2014 gibt Berlin aber nur rund 70 Millionen in das System. Für 2015 sind 77 Millionen Euro im Doppelhaushalt eingeplant.
»Knapp 70 Prozent der Ausgaben entfielen auf Personalkosten, und mit den jüngsten Tarifsteigerungen würden die Kosten deutlich schneller steigen als die Einnahmen aus den Fallpauschalen der Krankenkassen – also die Summe, die diese für die Behandlungen von Patienten zahlen«, so Gerlach mit Bezug auf die Argumentation der Unternehmensführung.

Fazit: Eine doppelte Unterfinanzierung der Krankenhäuser in Verbindung mit einem strukturellen Problem personenbezogener Dienstleistungen schlagen hier wie im Lehrbuch zu: Die doppelte Unterfinanzierung der Kliniken resultiert zum einen aus der Systematik des Fallpauschalensystems, die besonders problematisch ist für Häuser der Maximalversorgung bzw. für die Kliniken, die eine breite Angebotspalette vorhalten müssen und die sich nicht auf lukrative Felder innerhalb des Systems spezialisieren können, wo man tatsächlich hohe Margen erwirtschaften kann. Hinzu kommt die seit Jahren wirkende zweite Unterfinanzierung, die aus der dualen Krankenhausfinanzierung resultiert, denn für die Investitionen sind – eigentlich – die Länder zuständig und die geben schlichtweg zu wenig Geld in die Krankenhauslandschaft, so dass sich ein veritabler Investitionsstau über die letzten Jahre aufgebaut hat – im zweistelligen Milliardenbereich.

Hinzu kommt ein generelles Strukturproblem personenbezogener Dienstleistungen, die – wie die Krankenhausbehandlung, aber man denke hier auch an die Altenpflege sowie die meisten sozialen Dienstleistungen – am Tropf der öffentlichen oder parafiskalischen Finanzierung hängen, also auf Steuer- und/oder Beitragsmittel angewiesen sind. Sie sind konfrontiert mit dem, was die Ökonomen „administrierte Preise“ nennen, also beispielsweise Fallpauschalen oder Pflegesätze. Und deren Anpassung folgt oftmals einer Budgetlogik (beispielsweise wird die Budgetanhebung begrenzt auf den Anstieg der eigenen Beitragseinnahmen), die dann Probleme verursacht, wenn der tatsächliche Kostenanstieg darüber liegt. Und wenn bei einem Personalkostenanteil an den Gesamtkosten von 70% und mehr die Löhne z.B. um 3 Prozent erhöht werden, die Fallpauschalen oder die Pflegesätze aber nur um 1 Prozent, dann kann der betroffenen Anbieter die Lücke nur durch Produktivitätssteigerungen aufzufangen versuchen, was allerdings in Bereichen wie der Pflege schwer oder gar nicht möglich ist oder wenn man es denn tut, in dem endet, was als „Pflegenotstand“ skandalisiert wird. Wenn er also den Weg der Produktivitätssteigerung nicht gehen kann, dann verbleibt dem Anbieter nur die Option, bei den Personalkosten eine Kostensenkung zu realisieren, beispielsweise wie bei Vivantes durch Tarifflucht.

Nun wird der eine oder die andere sagen: So ist das eben im Bereich der sozialen Dienstleistungen, die am Tropf der öffentlichen Mittel hängen. In der „freien“ Wirtschaft hingegen sei vieles anders. Also werfen wir einen Blick in die „schöne Welt“ der Industrie.

Auslaufmodell Festanstellung? Diese Frage wirft Christoph Ruhkamp in seinem Artikel auf – und meint damit nicht irgendwelche Underdogs des Arbeitsmarktes, sondern berichtet über eine Gruppe, die man üblicherweise nicht mit diesem Thema in Verbindung bringen würde, sondern die im Mittelpunkt der Debatte über einen (angeblichen) Fachkräftemangel stand und steht: Ingenieure. Angesichts der seit Jahren schon beobachtbaren Entwicklung einer immer stärkeren Nutzung von (outgesourcten) Werk- und Dienstverträgen ist das für die, die sich mit der Materie intensiver beschäftigen, keine Überraschung, sondern die logische Fortführung eines seit langem laufenden Trends.

»Schöne digitale Arbeitswelt: Wenige Ingenieure arbeiten mit Tausenden freien Entwicklern zusammen. Das hat Folgen für die Arbeitswelt«, so Ruhkamp. Beobachtet wird eine Zunahme der Zahl an außerhalb der klassischen Unternehmen arbeitenden Crowdworkern, also an Menschen, die ihre Arbeitsleistung über Internetplattformen erbringen. Wieder einmal ist die Automobilindustrie ganz vorne dabei: »Der amerikanische Kleinserienspezialist Local Motors beschäftigt nur 100 Festangestellte. Ihnen stehen 40.000 externe Entwickler gegenüber, die für das Unternehmen arbeiten.«

Partner von Local Motors ist übrigens BMW. Erwähnt werden die auch aus anderen Artikeln bekannten Beispiele:

IBM »führte für seine Abteilung Anwendungsentwicklung ein Tool namens „Liquid“ ein. Damit werden Projekte in kleine Arbeitseinheiten aufgeteilt – und anschließend weltweit an die am wenigsten verlangenden Programmierer vergeben, sowohl konzernintern als auch an Freelancer. Die Folge: Hochqualifizierte in aller Welt stehen im direkten Wettbewerb zueinander.«
»Der Internetkonzern Amazon hat einen Marktplatz für Gelegenheitsarbeiten namens Mechanical Turk eingeführt, auf dem die „Mechanical Turker“ gerade einmal 1,25 Dollar in der Stunde verdienen. Sechzig Prozent der digitalen Fließbandarbeiter geben an, dass ihre Arbeit auf der Plattform ihre einzige Einkommensquelle ist. Die Details der Arbeitsverhältnisse werden einfach durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Plattformen geregelt.«

Aber der Beitrag von Ruhkamp verweist auch darauf, dass es Gestaltungsversuche dieser Entwicklung gibt, was deshalb von Bedeutung ist, weil sie von den Betroffenen nicht nur negativ wahrgenommen wird, sondern oftmals darauf hingewiesen wird, dass man gerne mehr Zeit- und Ortssouveränität in Anspruch nehmen möchte: »Knapp die Hälfte der Befragten aus Forschung und Entwicklung sagten, dass sie gerne einen Teil ihrer regulären Arbeit von zu Hause aus erledigen würden. Unter den Akademikern seien es laut der Beschäftigtenbefragung der IG Metall sogar 55 Prozent.« Aber das muss gestaltet werden. Vor allem brauchen die Beschäftigten das »Recht, nach Hochphasen der Arbeit auch zurückzuschalten. Dass das geht, zeigen inzwischen viele Betriebsvereinbarungen und Regelungen, die Betriebsräte entwickelt und durchgesetzt haben: BMW und Bosch zählen und bezahlen neuerdings nicht mehr nur die Arbeit auf dem Firmengelände, sondern auch die unterwegs verrichtete. Trotzdem bleiben die Arbeitszeit begrenzt und der Sonntag frei. Auch VW und Daimler akzeptieren das Recht auf Abschalten.«

Dafür brauchen die Beschäftigten aber vor allem auch eine möglichst starke Gewerkschaft und dafür müssen sie sich auch selbst bewegen und sich organisieren. Genau an dieser Stelle muss man dann darauf hinweisen, dass es mit dem Organisationsgrad gerade bei den Ingenieuren und anderen vergleichbaren Berufsgruppen „bescheiden“ aussieht. Natürlich muss auch Gewerkschaft sich bewegen und ändern – aber am Ende wird der mögliche Ausgang der (Nicht)Gestaltung der Digitalisierung auch und gerade von der Bereitschaft der Betroffenen abhängen, sich kollektiv aufzustellen. Alleine – dafür braucht man keine Studien – werden sie keine Chance haben und als kleine Crowdworker im Ozean der Globalisierung enden.

Das ging schnell: Tarifverhandlungen scheitern am ersten Tag. Die Taxibranche zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn ante portas und Uber & Co. im Nacken

Die Verhandlungen in der Taxibranche sind gescheitert. Die Arbeitgeber wollen einen niedrigen Mindestlohn und längere Schichten – ver.di brach die Gespräche schnell ab: Gewerkschaft lehnt 6,80 Euro für Taxifahrer ab oder Mindestlohn-Verhandlung für Taxifahrer gescheitert, so lauten die Schlagzeilen.

Die Arbeitgeber seien darauf fixiert gewesen, einen Einstieg in den Mindestlohn von 6,80 Euro festzuschreiben – außerdem Schichtlängen von zwölf Stunden, mehr als 40 Wochenstunden und eine Sechs-Tage-Arbeitswoche, so wird Christine Behle, Mitglied im Ver.di-Bundesvorstand, zitiert. Der Abbruch der Verhandlungen bringt die Branche in Schwierigkeiten, denn: »Kernpunkt des Tarifstreits ist der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ab 2015. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Branche eine Übergangszeit bis 2017 ausschöpfen, bis sie die Entgelte auf das Mindestniveau bringen muss. Die Arbeitgeber und -nehmer können vertraglich klären, wie sie dabei im Einzelnen vorgehen. Gelingt ihnen das nicht, gilt der Mindestlohn ab 1. Januar 2015.« Und damit nicht genug, denn gleichzeitig befindet sich ein Teil der Taxibranche, in bestimmten Großstädten, in einer Auseinandersetzung mit einer fundamentalen Infragestellung ihres bisherigen Geschäftsmodells – gemeint sind die Aktivitäten von Uber & Co. (dazu bereits die Blog-Beiträge Taxifahrer eingeklemmt zwischen dem Mindestlohn ante portas, (Schein)Selbständigkeit und einer App sowie Die klassische Taxibranche hat es nicht leicht in Zeiten von gesetzlichem Mindestlohn und rosinenpickender Konkurrenz aus der App-Economy).

»Dem Branchenverband zufolge hatte Ver.di bei der gesetzlich vorgesehenen schrittweisen Annäherung an den Mindestlohn von 8,50 Euro zwar Zugeständnisse zur reinen Lohnhöhe bis 2017 signalisiert. Gleichwohl habe die Gewerkschaft Zusatzbelastungen wie die 40-Stunden-Woche und Arbeitszeiterfassung „ultimativ gefordert, die in Summe unsere Unternehmen bereits ab Januar 2015 deutlich über dem Mindestlohn belasten würden“, kritisierte BZP-Präsident Michael Müller«, so der Artikel Mindestlohn-Verhandlung für Taxifahrer gescheitert. Die Gewerkschaft ver.di hingegen kritisiert, dass die Arbeitgeber fixiert waren auf eine Festlegung auf 6,80 Euro pro Stunde als Einstieg in einen Mindestlohn. Außerdem sollten Schichtlängen von zwölf Stunden, mehr als 40-Wochenstunden und eine Sechs-Tage-Arbeitswoche festgeschrieben werden. Taxifahrer gehören nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten in Deutschland.

Schon die Mindestlohn-Thematik ist höchst komplex angesichts der Verhältnisse in dieser Branche, worauf der Artikel Zwischen Mindestlohn und Netz-Konkurrenz bereits im Juni dieses Jahres hingewiesen hat:

»Momentan verdienen Taxifahrer nach BZP-Angaben im Schnitt etwa 6,00 Euro bis 6,50 Euro die Stunde, bei angestellten Fahrern geschieht das meist über Umsatzbeteiligungen. „Das dürfte regional sehr schwanken“, erklärt Jan Jurczyk von der Gewerkschaft Verdi. Gehört hätten sie schon von Fällen, wo drei Euro in Mecklenburg-Vorpommern und acht Euro in Baden-Württemberg verdient worden seien. „Deswegen ist der Mindestlohn da so wichtig“, sagt Jurczyk. Für viele Taxifahrer würde er mehr Geld in der Tasche bedeuten.
Nach Einschätzung von Professor Stefan Sell könnte ein Mindestlohn aber auch noch mehr Konkurrenz ins Geschäft bringen. Weil er nicht für Selbstständige gelten würde, könnten mehr Fahrer in die Selbst- oder Scheinselbstständigkeit abtauchen, vermutet der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler von der Hochschule Koblenz. Sie würden finanziell nicht von der neuen Regel profitieren, aber den Taxifirmen Konkurrenz machen, die ihren Angestellten wie vorgeschrieben mehr pro Stunde zahlen müssten. „Das ist ein echtes Dilemma.“«

Und dann auch noch der Ärger mit den neuen Teil-Konkurrenten, also Fahrdiensten wie Uber & Co.
Das Landgericht Frankfurt hatte Uber bundesweit die Vermittlung untersagt, wenn Fahrer keine Genehmigung zur Personenbeförderung haben. Dagegen hatte Uber Widerspruch eingelegt und zugleich erklärt, sich nicht an das Verbot zu halten. Zwei Uber-Fahrern wurden vom Gericht Ordnungsgelder angedroht. Am kommenden Dienstag geht es in Frankfurt vor Gericht in die nächste Runde.

Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal

»Die Personalbesetzung der pflegerischen Berufsgruppen in deutschen Krankenhäusern liegt auf einem grenzwertig niedrigen Niveau, sodass häufig nicht gewährleistet ist, dass alle notwendigen pflegerischen Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden können. Sowohl die internationalen Vergleiche der Betreuungsrelation (im Sinne Verhältnisses von Patienten je Pflegekraft) als auch die nationalen Studien zur Belastungssituation in der Pflege zeigen einen gesundheitspolitischen Handlungsbedarf auf« (Thomas et al. 2014: 29). Diese akademisch daherkommende Beschreibung dessen, was andere hemdsärmeliger als real existierenden Pflegenotstand bezeichnen, kann man in einer neuen Studie nachlesen, die im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di von einem Wissenschaftlerteam der Universität Duisburg-Essen unter Leitung von Jürgen Wasem erstellt worden ist: Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland, so lautet der Titel der Expertise. Und sie beschäftigt sich angesichts der teilweise desaströsen Beschäftigungsbedingungen in zahlreichen Krankenhäusern mit einem  wichtigen Thema, von dem viele unbedarfte Bürger gar nicht ahnen werden, dass es ein Thema ist: mit der Frage, ob es notwendig und vor allem ob es möglich ist, seitens des Gesetzgebers Mindeststandards für die Personalausstattung der Krankenhäuser im pflegerischen Bereich vorzugeben. 

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Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive

In der Politik geht es bekanntlich um Macht (und Gegenmacht) und in der Tarifpolitik gilt das nicht nur auch, sondern ganz besonders. Wenn die Gewerkschaften zu wenig oder gar keine Macht (mehr) haben, gemessen an der tarifpolitisch hoch relevanten Maßeinheit „Organisationsgrad“ mit der daraus resultierenden Optionalität eines Arbeitskampfes als eines der möglichen Druckmittel, um den Forderungen entsprechend Gewicht zu verleihen, dann sieht es schlecht aus für die Arbeitnehmerseite. Davon können viele Beschäftigte in vielen Branchen ein Lied singen. Nun soll es an dieser Stelle gar nicht um die grundsätzliche Problematik einer abnehmenden Tarifbindung gehen, wenn auch die Zahlen eine solche nachzeichnen, vor allem für die Abdeckung mit Branchentarifverträgen. 1996 arbeiteten in Westdeutschland 70 Prozent der Beschäftigten in Betrieben, in denen ein Branchentarifvertrag galt. Im Jahr 2013 waren es nur noch 52 Prozent. In Ostdeutschland sank der entsprechende Anteil der Beschäftigten von 56 auf 35 Prozent, berichtet das IAB. Firmentarifverträge galten 2013 für 8 Prozent der westdeutschen und rund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer.
Und es soll an dieser Stelle auch nicht um die derzeit wieder mit zunehmender Intensität geführten Debatte über eine gesetzliche Regelung der „Tarifeinheit“ gehen, denn die bezieht sich mit den so genannten kleinen, zumeist berufsständisch ausgerichteten „Spartengewerkschaften“ auf ein – anscheinend – klares Feindbild für die Arbeitgeberverbände und die DGB-Gewerkschaften. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD mit dem Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“ aus dem vergangenen Jahr findet man auf der Seite 50 eine Absichtserklärung, deren gesetzgeberische Umsetzung derzeit erhebliche Kopf- und Bauchschmerzen bereitet: »Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben.«

Leichter geschrieben als getan. „Tarifeinheit ist kein Königsweg“, so beispielsweise Bert Rürup in einem Interview. Es ist vor dem Hintergrund der vielen schon seit längerem vorgetragenen Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit (vgl. beispielsweise Vom Sinn und Unsinn kleiner Gewerkschaften) nicht überraschend, wenn die Stuttgarter Zeitung berichtet: Berlin will Gesetz abschwächen. Danach soll in dem Gesetzentwurf zwar festgeschrieben werden, dass künftig der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in einem Unternehmen maßgeblich sein soll. Was dies für das Streikrecht von Gewerkschaften bedeutet, will die Regierung aber nicht vorschreiben. Über die genaue Auslegung müssten dann die Gerichte entscheiden. Das hört sich nicht nur ein wenig an nach „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Das wäre und wird ein eigenständiges Thema für die Berichterstattung in diesem Blog.

In der Tarifpolitik geht es wie gesagt ganz besonders um Machtverhältnisse und das Vorhaben, den Einfluss kleiner, aber durchsetzungsfähiger Gewerkschaften zu begrenzen, ist ja par excellence ein Beispiel dafür. Allerdings könnte man den Eindruck bekommen, dass es bei der Frage nach „Tarifeinheit“ um die schutzbedürftigen Großgewerkschaften geht, denen rein mitgliederegoistische Spartengewerkschaften gegenüberstehen, die sich aus der Solidarität der Gesamtbelegschaften verabschiedet haben und radikal die Interessen kleiner, aber zumeist mit Flaschenhalscharakter ausgestatteter Berufsgruppen wie Piloten oder Lokführern vertreten. Unabhängig davon, dass die Wirklichkeit wie immer weitaus komplizierter ist, kann man eine der Grundfragen, um die herum die Tarifeinheitsdebatte kreist, auch innerhalb bzw. zwischen den DGB-Gewerkschaften selbst identifizieren: Wessen mehr oder weniger starker Arm soll es denn sein, der die Interessen der Belegschaften vertreten darf, kann oder muss?

Es geht technisch gesprochen um einen Zuständigkeitskonflikt zwischen Gewerkschaften. Den es eigentlich, also theoretisch, nicht geben dürfte, wenn der organisationspolitisch elementare Grundsatz der DGB-Gewerkschaften: „Ein Branche – eine Gewerkschaft“ nicht verletzt wird. Aber auch hier gilt: Die Wirklichkeit ist meistens grau und eben nicht schwarz oder weiß. Wie das in der tarifpolitischen Praxis aussehen kann, beschreibt Kai von Appen in seinem nicht mit Zuständigkeitskonflikt, sondern etwas lyrischer als Streit unter Schwestern überschriebenen Artikel.

Zuerst zum Sachverhalt: Der Flugzeughersteller Airbus hat wie so viele andere Firmen auch seine Logistik-Sparte vor einiger Zeit outgesourct, wie man neudeutsch sagt. Die damit verbundenen Tätigkeiten werden von dem Unternehmen Stute abgewickelt. Das Logistikunternehmen Stute ist zwar eine Tochterfirma des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, arbeitet aber ausschließlich für den Flugzeugbauer Airbus. Mit 750 Beschäftigten an den Standorten Bremen, Hamburg und Stade. Jahrelang gab es in diesem Unternehmen keinen Betriebsrat und keine Tarifbindung. Formal zuständig nach den Organisationsprinzipien des DGB wäre der Fachbereich Post und Logistik der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Formal heißt aber bekanntlich nicht real, denn dafür braucht man eben eine Machtbasis in Form von Mitgliedern. Also ein Gewicht im Sinne des angesprochenen Organisationsgrades. Und hier wird es nun spannend, denn eine zweite Gewerkschaft betritt die Bühne:

»Während Ver.di sich bei Stute nur auf eine Handvoll Mitglieder stützen konnte, ist es der IG Metall gelungen, mehr als 60 Prozent der Belegschaften zu organisieren.«

Die rein formal für ein Logistikunternehmen eigentlich nicht zuständige IG Metall hat sich in diesem Fall als zuständig definiert: „Für uns gehören die Kollegen eindeutig zur Metallindustrie.“ Mit diesen Worten wird Heiko Messerschmidt, Sprecher der IG Metall Küste, in dem Artikel zitiert. Das Unternehmen hatte anfangs gehofft, die Tarifvertragsfrage länger aussitzen zu können angesichts der Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften. Aber als sich Beschäftigte in der IG Metall zu organisieren begannen, lenkte das Management ein und wandte in Form eines „Anerkennungstarifvertrags“ den Ver.di-Flächentarifvertrag Spedition und Logistik an, der weit günstiger ist für das Unternehmen als die Tarifnormen der IG Metall. Ein Vorstoß des Unternehmens, der IG Metall als angeblich nicht-zuständige Gewerkschaft Warnstreiks zu verbieten, scheiterte vor dem Landesarbeitsgericht. Diese fanden auch statt und die starke IG Metall drohte gewichtig mit einem unbefristeten Streik in dem Zuliefer-Unternehmen. Der nun hätte Airbus wegen seiner „Just-in-Time-Produktion in die Bredouille bringen können. Insofern ist es letztendlich nicht überraschend, dass nunmehr berichtet wird, dass sich der Airbus Logistik-Dienstleister Stute und die IG Metall Küste auf einen Haustarifvertrag verständigt haben. Die Metall-Gewerkschaft berichtet dazu in einer Pressemitteilung:

»Die 750 Beschäftigten des Airbus-Dienstleisters erhalten ab 1. September 150 Euro pro Monat mehr. Weitere 100 Euro als monatliche Einmalzahlung erhalten die Mitarbeiter bis zum Ende der Laufzeit des Tarifvertrages. Außerdem erhalten die Beschäftigten ab dem nächsten Jahr mindestens 28 Tage Urlaub im Jahr. Künftig wird zudem die Mehrarbeit vergütet. Für den sechsten Werktag werden Zuschläge von 25 Prozent pro Stunde bezahlt. Auszubildenden und Leiharbeiter profitieren ebenfalls von dem Tarifabschluss. Diejenigen, die ihre Abschlussprüfung mit befriedigend oder besser abschließen, erhalten künftig einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Auch Leiharbeitnehmer werden nach zwölf Monaten unbefristet im Unternehmen übernommen.«

Die gleichsam ausgesperrte Gewerkschaft Ver.di ist nicht nur not amused, sondern heftig verärgert. „Die IG Metall hat klar die Organisations-Abgrenzungsregelungen verletzt, was wir nicht hinnehmen“. Mit diesen Worten wird Ver.di-Bundessprecher Jan Jurczyk in dem Artikel zitiert. »Ver.di hat deswegen das DGB-Schiedsgericht angerufen, das am 1. Oktober tagt. Dessen Spruch wird auf die Gültigkeit des Tarifvertrages aber keine Auswirkungen haben«, so Kai von Appen.

Wie ist dieser Vorgang zu bewerten?

Man könnte ihn als einen betriebsspezifischen „Unfall“ bewerten, der vielleicht gewerkschaftsintern von Interesse sein mag, darüber hinaus aber keine weitere Relevanz hat.

Man könnte aber auch wahrnehmen, mit welchem Machtgefälle wir innerhalb der „etablierten“ Gewerkschaftslandschaft konfrontiert sind, auf der einen Seite die „Facharbeiteraristokratie“ der IG Metall und auf der anderen Seite die ärmeren Brüder und Schwestern aus den Reihen der extrem heterogenen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die in vielen Bereichen zwar formal zuständig, aber gemessen an der Machtwährungseinheit Organisationsgrad nur wenig oder zuweilen gar nicht präsent ist. Nun ist das sicher ein Trumpf für die Beschäftigten, die unter dem Schirm der IG Metall stehen, zugleich war das aber auch ein Argument für viele Unternehmen, den Weg des Outsourcing zu beschreiten, um Teile der Belegschaften in andere tariffreie oder eben deutlich „günstigere“ Tarifsysteme zu schieben.

Und an dieser Stelle wird es richtig spannend, denn der Fall des Logistik-Dienstleisters Stute steht gleichsam stellvertretend für eine zu schlagende tarifpolitische Schneise, die für die IG Metall von zentraler organisationspolitischer Bedeutung ist und die in den kommenden Monaten und Jahren den strategischen Fokus der Metaller bestimmen könnte, wenn denn der Ansatz mit Leben gefüllt werden kann. Es geht hier um eine zentrale Infragestellung des Outsourcing-Prozesses, gleichsam um eine tarifliche Wiedereingliederungsstrategie. Natürlich nicht der Randbereiche, die auch zuerst ausgelagert worden sind – so naiv sind die Metaller nicht. Kein Metallgewerkschafter wird heute fordern, dass das in Cateringfirmen outgesourcte Kantinenpersonal wieder nach dem Tarifwerk der IG Metall zu vergüten ist. Die Zeiten sind definitiv vorbei. Aber die IG Metall ist nicht nur sensibilisiert für die ihren Kernbereich immer stärker bedrohende Hydra an Werk- und Dienstverträgen, die sich eben nicht (mehr) beschränken auf „echte“ Werkverträge, sondern die – angefeuert durch die sukzessive Re-Regulierung im Bereich der Leiharbeit – immer mehr in die Kernprozesse der Metallunternehmen diffundiert. Und dazu gehört auch die Logistik, deren Werkvertragsarbeitnehmer immer stärker eingebunden werden in Wertschöpfungsprozesse, die sich da befinden, wo die Kernbelegschaft befinden. Kommen sie dieser zu nahe und ist gleichzeitig das Tarifgefälle zwischen IG Metall-Welt und Zulieferer-Welt sehr groß, dann potenziert das logischerweise die Anreize für die Unternehmen, immer mehr Verlagerungen zu realisieren, zum einen spart das Geld, zum anderen wirkt das „lohndisziplinierend“ auf die schrumpfende Kernbelegschaft.

Vor diesem Hintergrund macht es aus Sicht der IG Metall durchaus inhaltlich Sinn, wenn man das vorgelagerte, aber immer stärker in das eigentliche Produktionszentrum vorrückende Geflecht an „Zulieferer“ (wieder) unter das (dann allerdings breiter werdende) Dach der IG Metall-Tarifwelt zu holen versucht.

Das Fazit entbehrt nicht einer scheinbaren Paradoxie:

  • Auf der einen Seite verhalten sich die Beschäftigten des Logistik-Dienstleisters Stute wie die Arbeitnehmer, die sich in Spartengewerkschaften organisieren. Die meisten von denen tun das sicher, weil sie sich davon höhere Löhne bzw. zukünftig bessere Abschlüsse versprechen als bei einem Verbleib oder der Organisation in der formal zuständigen, aber weniger machtvollen Gewerkschaft. Für die wird das zu einem echten Problem für deren Flächentarifvertrag, denn sollte das Ausscheren erfolgreich sein, dann droht eine Wiederholungstat in den Unternehmen, deren Beschäftigte eine realistische Chance haben, vergleichbar erfolgreich zu sein wie die Stute-Beschäftigten jetzt (denn man muss an dieser Stelle natürlich darauf hinweisen, dass das Ergebnis sicher nicht aus genereller Angst vor der IG Metall zustande gekommen ist, sondern weil die wirtschaftlichen Schäden eines Streiks für Airbus aufgrund der spezifischen Produktionsverhältnisse größer gewesen wären als die Kosten der Akzeptanz der Teil-Reintergration des Unternehmens in die IG Metall-Welt).
  • Auf der anderen Seite kann man aber zugleich und mit guten Argumenten darauf hinweisen, dass der vorliegende Fall auch bewertet werden kann als eine „Wiederherstellung“ von Tarifeinheit aus Sicht der IG Metall, denn das entstandene Tarifgefälle nach unten wird wenigstens ein Stück weit wieder verringert. Aber zu erwarten ist, dass auch die IG Metall dafür einen Preis zu zahlen haben wird und der wird wahrscheinlich aus einer weiteren Auffächerung der Tarifniveaus bestehen, um den Wiedereingliederungsprozess in der Fläche realisieren zu können.

Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst

Amazon mal wieder. In mehrfacher Hinsicht. Sozialpolitisch besonders interessant ist natürlich so eine Botschaft: Amazon trickst deutsche Gewerkschaft aus. Dort kann man lesen: »Der Onlinehändler fordert deutsche Verlage auf, Bücher über Logistikzentren in Polen und Tschechien zu verschicken – und die Kosten dafür selbst zu tragen. Ein Kniff, um Gewerkschaften zu entmachten.«

Polen, Tschechien – da war doch was. Genau, ein Blog-Beitrag auf dieser Seite am 25. November 2013 mit einer Aussicht auf das, was jetzt genauere Formen annimmt: Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt.
Dort findet man gleich am Anfang des Blog-Beitrags diese Worte:

»Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben – bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Und jetzt, im August 2014, wird klar, dass es bei den neuen Logistik-Zentren in unseren Nachbarstaaten natürlich nicht um die Belieferung des osteuropäischen Marktes geht bzw. wenn, dann nur sekundär, sondern um eine strategische Alternative zu diesen unbotmäßigen und übergriffigen Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften in den deutschen Standorten.
Amazon verlangt von deutschen Verlagen, dass sie Bücher verstärkt über ausländische Versandzentren schicken, um als ein Ergebnis daraus die potenziell streikgefährdeten deutschen Logistikstandorte umgehen zu können.

»Die Verlagshäuser sollen, beginnend im September, rund 40 Prozent ihrer Bücher, Hörbücher und anderer Medien über neue Logistikstandorte in Polen und Tschechien an ihre inländischen Kunden schicken«, schreiben Michael Gassmann und Andre Tauber in ihrem Artikel. Von Posen und Breslau aus würden Kunden beliefert, die unter der deutschen Website des US-Versenders bestellt hätten, heißt es ausdrücklich in einem Schreiben des Unternehmens an deutsche Verlage. Aber Amazon macht seinem schlechten Ruf alle Ehre: »Nun sollen die Buchproduzenten nach dem Willen des US-Konzerns auch noch die Zusatzkosten für die weiten Entfernungen selbst tragen – zumindest, was den Hinweg betrifft.«

Diese ganze Strategie des amerikanischen Konzerns kann und muss man auch umweltpolitisch als höchst problematisch ansehen:

»Bestelle etwa ein Kunde in Frankfurt am Main ein Buch bei Amazon, so müsse es ab Verlag bei Auslieferung über das Lager Breslau im Schnitt rund 1200 Kilometer zurücklegen. Verlaufe die Lieferkette über ein deutsches Amazon-Lager, seien es im Schnitt nur 450 Kilometer – und nur 260 Kilometer bei einer direkten Verlagsauslieferung an den Buchhändler um die Ecke. In der ungünstigsten Variante entstehe ein Ausstoß des Klimagases CO2 von 58 Gramm pro Buch, gegenüber knapp 14 Gramm beim kürzesten Weg.«

Amazon also im Ergebnis als „Klimakiller“, um ver.di in Deutschland zu unterlaufen. Das entbehrt nicht einer zynischen Ironie.

Dass der Versender durch seine Umgehungstaktik mittelfristig massiv Arbeitsplätze an seinen deutschen Standorten gefährdet, liegt auf der Hand. Die Löhne in Polen und Tschechien liegen teilweise um mehr als die Hälfte niedriger als in Deutschland. Zudem ärgern sich die Amerikaner über das deutsche Konstrukt der betrieblichen Mitbestimmung:

»Dessen ungeachtet wählen die Beschäftigten des Zentrums Bad Hersfeld am 26. und 27. August erstmals einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, nachdem das Unternehmen unter dem Druck eines – inzwischen eingestellten – Gerichtsverfahrens dazu gedrängt worden war.«

Nur um das Bild ein wenig abzurunden: Nicht nur die Gewerkschaften und die gewerkschaftlich engagierten Beschäftigten haben so ihre Probleme mit dem Unternehmen. Auch viele Schriftsteller, von den Verlagen mal ganz abgesehen: 909 Autoren gegen Amazon:

»Amazon-Chef Jeff Bezos erwartet Post, wenn auch unerfreuliche: Die Sonntagsausgabe der „New York Times“ wird einen ganzseitigen offenen Brief an ihn und sein Unternehmen Amazon enthalten, in dem schwere Vorwürfe zu lesen sind. 2,4 Millionen Käufer der Zeitung (Digitalverkauf inklusive) werden darin erfahren, wie Amazon Verlage unter Druck setze und Autoren schade. Unterzeichnet ist das Protestschreiben von 909 Autoren, von denen viele zu den Dauergästen auf den literarischen Bestsellerlisten zählen – auch bei Amazon.«