Sand im Flughafen-Getriebe. Wenn das von privatisierten Billigheimern an die Wand gedrückte Bodenpersonal den Flugverkehr lahmlegt

Im Jahr 2016 stieg die Zahl der von deutschen Flughäfen abreisenden Passagiere um 3,4 Prozent auf 111,9 Millionen. Das ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ein neuer Rekordwert. 88,2 Millionen Passagiere entfielen auf den Auslandsverkehr,  23,7 Millionen Passagiere auf den innerdeutschen Luftverkehr. Und darunter sind viele, die nicht nur, aber auch aus beruflichen Gründen in die Hauptstadt fliegen (müssen). Und die haben gerade ein Problem. Am vergangenen Freitag wurde der Flugverkehr für 24 Stunden lahm gelegt, weil das Bodenpersonal die Arbeit verweigert hat. Und wer geglaubt hat, erst einmal eine Zeit lang Ruhe zu haben, wurde am Wochenende mit der nächsten Streikankündigung konfrontiert, die am heutigen Montag Realität geworden ist. Rund 2.000 Beschäftigte des Bodenpersonals an den Flughäfen in Tegel und Schönefeld sind im Ausstand – eigentlich sollte es Dienstag dann wieder normal weitergehen, aber zwischenzeitlich muss man diese Meldung zur Kenntnis nehmen: Streik in Tegel und Schönefeld wird bis Mittwoch verlängert. Das mag den einen oder anderen an die Piloten der Lufthansa oder die Lokführer der GDL erinnern. Aber hier ist die DGB-Gewerkschaft ver.di verantwortlich für die Arbeitskampfmaßnahmen und nicht etwa eine (angeblich) rabiate Spartengewerkschaft, sondern es lohnt aus mehreren Gründen ein Blick auf das, was sich da an den Berliner Flughäfen abspielt.

Beginnen wir mit der Feststellung, dass der jetzt ausgebrochene Arbeitskampf mit der Folge erheblicher Einschränkungen (nicht nur) für die Flugreisenden seit langem absehbar und konsequent ist. Auf den Punkt gebraucht hat das Gerd Appenzeller in seinem Kommentar Dieser Streik war lange absehbar: »Eine unüberlegte Privatisierung wirkt sich jetzt aus. So einfach lässt sich der Streik in Tegel und Schönefeld erklären.« Und weiter:

»Als sich die Länder Berlin und Brandenburg als Miteigentümer der Berliner Flughäfen und die Lufthansa im Jahr 2008 gemeinsam für die Privatisierung der Bodenleistungen auf den Berliner Airports entschieden, machten sie einen guten Schnitt. Die Passagiere leider nicht. Die Gesellschaft Globe Ground, die nach allgemeiner Einschätzung bis dahin ihren Verpflichtungen ordentlich nachkam, wurde zerschlagen. Heute sind auf den Flughäfen in Tegel und Schönefeld mehrere miteinander konkurrierende Unternehmen tätig, die sich um das Be- und Entladen der Koffer, den Check-in und das Einweisen der Flugzeuge kümmern. Alle haben sie Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden, denn sie zahlen schlecht und machen dennoch Verluste.«

Und Appenzeller legt den Finger auf eine offene Wunde, bei deren Entstehung die Fluggesellschaften eine große Rolle spielen, die derzeit (noch) kaum auftauchen in der Berichterstattung:

»Der Druck durch die Fluggesellschaften auf die Kostenstruktur ist groß. Sie wollen für die Bodendienste möglichst wenig zahlen, das drückt die Gehälter. Der Stundenlohn liegt um elf Euro, Verdi verlangt jetzt eine Erhöhung um einen Euro. Die will die Arbeitgeberseite lediglich über vier Jahre gestreckt hinnehmen. Da viele der 2000 Jobs am Boden nur Teilzeitbeschäftigungen sind, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon nicht existieren. Sie brauchen einen zweiten Job oder Geld vom Amt.«

An dieser Stelle zeigt sich auch ein Dilemma, in dem sowohl die Gewerkschaft wie auch ihr unmittelbares Gegenüber, also die Unternehmen, die das Bodenpersonal beschäftigen, stecken: Die Gewerkschaft kann und muss zu Recht eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen, in diesem Fall der Vergütung fordern und zu erkämpfen versuchen, die unternehmerische Gegenseite aber hat ihrerseits das Problem, dass sie aufgrund des massiven Preisdrucks seitens ihrer Auftraggeber sogar mit dem praktizierten Billigheimer-Modell Verluste macht, da die Preise nicht auskömmlich sind. Insofern muss an dieser Stelle natürlich die eigentlich entscheidende Frage aufgeworfen werden, welche Verantwortung die Fluggesellschaften, die ja auf die Dienstleistung in Anspruch nehmen, haben. Appenzeller bilanziert völlig zutreffend:

»Was wir in Berlin erleben, ist die klassische Folge einer unüberlegten Privatisierung. Damit konnte man die Löhne der Mitarbeiter drücken, aber der Service wurde schlechter. Qualität hat eben ihren Preis. Und da ist noch die Sicherheitsfrage. Verdi klagt, dass einzig in Berlin der Flughafen die Personalhoheit auf dem Boden aus der Hand gegeben habe. Angesichts der Gefahren durch den Terrorismus eine fahrlässige Entscheidung.«

Und keiner kann sagen, dass das ein Problem sei, das irgendwie aktuell vom Himmel gefallen ist. Beispielsweise berichtete das Politikmagazin Frontal 21 (ZDF) am 21. Oktober 2014 in einem Beitrag unter der Überschrift Auf Kosten der Sicherheit – Billige Arbeitskräfte am Flughafen. Damals wurde über einen Kampf des Bodenpersonals gegen Lohndumping berichtet. »Dem Arbeitgeber sind seine erfahrenen Mitarbeiter zu teuer. Deshalb ersetzt er sie zunehmend durch billigere Angestellte und Leiharbeiter. Das aber kostet Sicherheit, wenn die ohne ausreichende Überprüfung in sicherheitsrelevante Bereiche kommen.«

Der damalige Bericht in einer Kurzfassung: Bis 2008 gehörte das Bodenpersonal zur Lufthansa und zur staatlichen Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg – mit gute Arbeitsbedingungen und guten Löhne. Dann wurde ihre Firma, die GlobeGround, privatisiert und an die WISAG verkauft. Die WISAG ist einer der größten Dienstleister Deutschlands mit 48.000 Mitarbeitern – von der Reinigungskraft bis zum Flughafenpersonal. Nach der Übernahme spaltet die WISAG die GlobeGround kurzerhand auf, gründet Subunternehmen: die AGSB für das Vorfeld, die AWSB für die Werkstatt und die APSB für den Check-in. An diese drei Subunternehmen vergibt die GlobeGround Aufträge für Arbeiten am Flughafen – und kann sie ihnen auch wieder entziehen. Und genau das ist der APSB widerfahren. Alle 220 Check-in-Mitarbeiter verlieren so ihre gut dotierten Arbeitsverträge. Das Check-in übernimmt eine neue Firma, deren Mitarbeiter verdienen deutlich weniger. Man kann es auch so ausdrücken: Das privatisierte Unternehmen privatisiert weiter. Man spaltet weitere Untergesellschaften ab, in denen es dann noch schlechtere Arbeitsbedingungen gibt.

Mittlerweile tummeln sich fünf unterschiedliche Unternehmen rund um die Bodendienste auf den Berliner Flughäfen, die WISAG Aviation Service Holding GmbH, die AHS Aviation Handling Services, die Swissport International Ltd., die AeroGround Berlin GmbH sowie die GROUND SOLUTION, die dann teilweise noch mit Untergesellschaften operieren. Die fünf Unternehmen haben sich zusammengeschlossen im Forum der Bodenverkehrsdienstleister Berlin-Brandenburg, über die auch mit der Gewerkschaft verhandelt wird.

Um was es geht? Die Beschäftigten beim Check-in, beim Be- und Entladen der Flugzeuge und anderen Arbeiten auf dem Vorfeld erhalten derzeit im Durchschnitt etwa elf Euro pro Stunde. Die Gewerkschaft fordert bei einer Vertragslaufzeit von zwölf Monaten einen Euro mehr pro Stunde für die Mitarbeiter des Bodenpersonals. Die Arbeitgeber boten zuletzt die schrittweise Erhöhung der Löhne in allen Entgeltgruppen an – bei einer Laufzeit von drei Jahren und mit einem Gesamtvolumen von acht Prozent mehr Geld.

Über welche Arbeitsbedingungen sprechen wir hier eigentlich? Wie die aussehen erklärt auch, warum 98,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in der Urabstimmung für einen Streik votiert haben. Dazu beispielsweise der Artikel Harte Arbeit, Schichtdienste, 1000 Euro netto von Peter Neumann. Er berichtet von einem Mitarbeiter Mitarbeiter der Firma Wisag Ramp Service:

»„In Tegel bin ich für viele Dinge zuständig. Ich sorge dafür, dass Flugzeuge sicher starten können und koordiniere viele Abläufe. Zum Beispiel achte ich darauf, dass das Gepäck im Laderaum richtig verteilt ist, damit das Flugzeuge nicht in Schieflage gerät. Das ist eine wichtige Aufgabe! 2013 ist in Afghanistan ein Frachtflugzeug abgestürzt, weil offenbar die Ladung verrutscht war.
Ich passe auf, dass Ladegrenzen eingehalten und Gefahrguttransporte richtig verstaut werden. Es geht um einen reibungslosen Verkehr, dass die Flugzeuge pünktlich starten, aber auch um Sicherheitsvorschriften, die einzuhalten sind.
Je nachdem, wann ich welche Schichten haben, bekomme ich pro Monat bis zu 1300 Euro brutto. Netto bleiben mir meist so um die 1000 Euro.  Meine wöchentliche Arbeitszeit beträgt 37,5 Stunden.
Ich arbeite im Schichtsystem. Es gibt viele verschiedene Anfangszeiten. Es kann sein, dass ich morgens um 4.30 Uhr da sein muss, an anderen Tagen erst um 19.30 Uhr. Die Arbeitszeit kann bis 23.30 Uhr dauern. Zum Glück wohne ich nicht sehr weit weg … Über die Wohnung, in der ich jetzt lebe, bin ich froh. Jemand hat mir dabei geholfen, sie zu bekommen. Auf dem freien Markt hätte ich sie mit meinem Lohn nie bekommen … Viele haben als Fachpraktikant in Tegel angefangen. Man muss voll arbeiten, bekommt aber nur Hartz IV und ein Praktikantengehalt, insgesamt um die 800 Euro pro Monat. Normal ist auch, dass man erst mal befristete Arbeitsverträge bekommt, für sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Viele von uns haben befristete Verträge, und sie haben Angst, dass sie beim nächsten Mal leer ausgehen. Einige haben nicht an den Warnstreiks teilgenommen, weil sie vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt worden sind. Jemand hat mal ausgerechnet, dass jeder Mitarbeiter in der Ladegruppe, der Gepäckverladung, täglich um die fünf Tonnen bewegt. In diesem Bereich, im „Keller“, wie wir hier sagen,  arbeiten vor allem Leiharbeiter. Alle von uns spüren den permanenten Zeitdruck, damit die Maschinen schnell wieder starten.«

Wohlgemerkt, nur ein Beispiel von vielen. Vor diesem Hintergrund ist dann dieser Kommentar mehr als nachvollziehbar: Das Bodenpersonal verdient eine Gehaltserhöhung, so Frederik Bombosch, der auch daran erinnert, dass das alles nicht im luftleeren Raum passiert: »Wie kommt man für 9,99 Euro nach Köln, für 29 Euro nach Lissabon, für 299 Euro nach Miami? Ganz einfach: auf Kosten anderer Leute. Der Boom der Luftfahrt in den vergangenen zwanzig Jahren ist nicht einfach so passiert. Er ist eine Folge der Deregulierung. Und diese hat zwar das wochenendliche Städtehopping bequemer gemacht als je zuvor, aber – huch! – sie erfolgte auf Kosten der Arbeitnehmer … (Auf den Flughäfen) arbeiten Menschen, die sich lange vor dem Morgengrauen aus dem Bett quälen, die durch die engen Laderäume der Flugzeuge kriechen und sich die Rücken ruinieren, wenn sie schwere Koffer wuchten. Menschen, die für die Sicherheit der Fluggäste garantieren müssen – und viele von ihnen gehen mit einem Gehalt nach Hause, das es ihnen selbst nicht erlaubt, jemals mit dem Flugzeug irgendwo hin zu verreisen.« Er geht in seinem Kommentar aber auch auf die bereits angesprochenen schwierigen Bedingungen auf der Unternehmensseite ein –  die Arbeitgeber werden die berechtigten Forderungen der Gewerkschaft nicht erfüllen können, »wenn sich bestimmte Mechanismen nicht ändern. Es ist beispielsweise kein Naturgesetz, dass sich an den Berliner Flughäfen gleich fünf Unternehmen einen Wettbewerb liefern. Die Europäische Union fordert lediglich, dass an zwei Firmen Lizenzen vergeben werden.«

Und dann kommt die entscheidende Schlussfolgerung:

»Es sind aber auch ganz andere Strukturen denkbar. Derzeit beauftragen die Fluggesellschaften die Bodendienstleister. Aber auch die Flughafengesellschaften könnten diese Aufgabe übernehmen – und dann bei den Ausschreibungen Sozialstandards festlegen. So ließe sich der absurde Zustand abstellen, dass in einer boomenden Branche die Gehälter seit Jahren stagnieren. Was einst dereguliert wurde, lässt sich auch problemlos wieder regulieren. Es braucht nur ein bisschen Mut dazu.«

Hier schließt sich übrigens der Kreis zu anderen Entwicklungen, die aus Berlin berichtet werden und die auch was mit Auslagerung von Unternehmensteilen zu tun haben, mit denen man Löhne drücken wollte und auch gedrückt hat. Das ist ein beliebter betriebswirtschaftlicher Mechanismus – auch im Krankenhausbereich. Und da gibt es in Berlin die landeseigene Charité.

»Unter dem Sparzwang des früheren rot-roten Senats wurden die Boten, Wachleute und Reiniger 2006 aus dem Charité-Tarifsystem ausgegliedert und von der eigens gegründeten CFM beschäftigt. Die Tochter gehört zu 51 Prozent der Universitätsklinik, zu 49 Prozent einem Privatkonsortium aus Dussmann, Vamed und Hellmann. Die Charité selbst ist vollständig im Landesbesitz. Viele der 2800 CFM-Mitarbeiter erhalten hunderte Euro weniger Lohn im Monat als die Kollegen, die nach dem Charité-Stammtarif bezahlt werden. Derzeit bekommt ein CFM-Reiniger etwa zehn Euro brutto die Stunde, wie in der Branche üblich. Nach Charité-Stammtarif wären es jedoch rund 15 Euro«, berichtet Hannes Heine in seinem Artikel Senat kauft Charité-Tochterfirma CFM zurück.

Die Charité-Tochter CFM mit fast 2.800 Mitarbeitern soll voraussichtlich 2019 (wieder) vollständig dem Land gehören. Dazu plant der Senat, einen einstelligen Millionenbetrag an die privaten Eigner zu zahlen. Das Verfahren läuft noch, bis Sommer soll Klarheit bestehen. Aber auch wenn das Land wieder alleiniger Besitzer der Charité-Tochterfirma wird, ein Zurück in die alte Welt wird nicht erwartet, man spekuliert eher über einen Kompromiss: »Als wahrscheinlich gilt …, dass der Charité-Tarif nach unten geöffnet wird, dass die Reiniger dann zwar vom Stammhaus bezahlt werden, aber eben nicht 15 Euro, sondern möglicherweise 12,50 Euro bekämen.«

Wie dem auch sei, das Beispiel zeigt, dass wir es hier auch mit einer politischen Frage zu tun haben, dass Politik gestalten kann, wenn sie denn will. Mit Blick auf das Bodenpersonal muss dafür gesorgt werden, dass halbwegs anständige Arbeitsbedingungen auch durchgesetzt werden können auf dem gnadenlosen Schlachtfeld des Wettbewerbs der Fluggesellschaften um „noch billiger“ als bisher. Hier kann und muss man mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen, was ja ansonsten gerne Gegenstand vieler Sonntagsreden ist.

Jetzt die Dienstleistungen als – ambivalente – Speerspitze der Arbeiterbewegung? Von der Tertiarisierung der Streiks, Häuserkämpfen und „Organizing“ als Hoffnungsträger

»Der Schwerpunkt der Arbeitskämpfe in Deutschland verschiebt sich immer mehr vom produzierenden Gewerbe auf den Dienstleistungsbereich. Dabei sind zunehmend Dritte – etwa Flugreisende, Bank- und Einzelhandelskunden, Brief- oder Paketempfänger – von Streiks betroffen.« Die Gewerkschaft Verdi würde auf Mitgliederverluste, eine rückläufige Tarifbindung und Konkurrenzgewerkschaften „mit einer expansiven Tarifpolitik“ antworten, so der Artikel Streiks treffen immer mehr Privatpersonen. Dieser bezieht sich auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Verdi im Kampfmodus, so kann man es beim Institut selbst lesen. »Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) verfolgt … eine zunehmend harte Tarifpolitik. So genehmigte Verdi zwischen 2004 und 2007 durchschnittlich 70 Arbeitskämpfe pro Jahr. Zwischen 2008 und 2014 stieg die Zahl dann auf durchschnittlich 151 … Während es zwischen 1990 und 2005 deutlich mehr Streiks im Produzierenden Gewerbe gab, entfielen zwischen 2005 und 2015 rund 80 Prozent aller Streiktage auf Dienstleistungsbranchen.«

Zu diesen Entwicklungen hat das Institut eine Studie veröffentlicht, die das genauer analysiert:

Hagen Lesch (2016): Die Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di – Tarifpolitische Entwicklungen und Herausforderungen, in: IW-Trends, Heft 4/2016

Im Jahr 2001 haben sich fünf Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleis­tungsgewerkschaft  (ver.di) zusammengeschlossen.  In den Jahren nach Gründung 2001 habe die Gewerkschaft rund 600.000 Mitglieder verloren, ein Minus von 27 Prozent. Die Jahre nach dem Zusammenschluss waren mehr als mager: Die Tarifabschlüsse waren damals niedrig und ver.di bekam Konkurrenz durch Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften wie in der Luftfahrtbranche (Ufo für die Flugbegleiter, die Vereinigung Cockpit für die Piloten) oder im Gesundheitswesen durch den Marburger Bund (für die Krankenhausärzte). Die Tarifbindung ging in einzelnen Tarifbereichen spürbar zurück. So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel von 69 Prozent im Jahr 2000 auf zuletzt 42 Prozent.

Mittlerweile »hat sich der Mitgliederrückgang in den letzten Jahren verlangsamt und es gelang in vielen Tarifbereichen, wieder Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung zu finden«, so Lesch in seiner Studie. Mit heute gut 2 Millionen Mitgliedern ist sie nach der IG Metall die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft.

Schaut man sich das Jahr 2015 hinsichtlich der Streikaktivitäten in Deutschland an, dann liegt die Diagnose einer deutlichen Zunahme der Arbeitskämpfe nahe. Zu den Werten für 2015 erläutert das WSI: Die erhebliche Steigerung gegenüber 2014 (2,02 Millionen gegenüber 392.000 Streiktage) beruht im Wesentlichen auf zwei großen Auseinandersetzungen. Allein 1,5 der zwei Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie den Streik bei der Post (was die These einer Tertiarisierung der Arbeitskämpfe zu bestätigen scheint). Hinzu kam zu Beginn des letzten Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie. Im internationalen Vergleich wird in Deutschland gleichwohl weiterhin relativ wenig gestreikt (vgl. dazu genauer WSI: Ein außergewöhnliches Streikjahr – Zwei Millionen Streiktage, ganz unterschiedliche Arbeitskämpfe fielen zusammen. WSI-Arbeitskampfbilanz 2015, Düsseldorf, 03.03.0216).

Und 2016? Die Zahl der Streiktage im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Also war 2015 doch nur ein „Ausrutscher“? Das nun auch wieder nicht. In den ersten sechs Monaten 2016 fanden nach WSI-Angaben 405.000 Arbeitstage wegen Streiks nicht statt – und damit mehr als im ganzen Jahr 2014.

»Es waren nicht die großen Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge, die das Bild 2016 prägten. Vielmehr zeigen die vielen Arbeitskämpfe auf Unternehmens- und Betriebsebene eine Tendenz zur Fragmentierung. Das liegt zum einen daran, dass die Branchentarifverträge an Reichweite und Prägekraft verloren haben. Unternehmen entziehen sich der Tarifbindung oder gehen diese gar nicht erst ein. Zum anderen hat sich insbesondere in ehemals staatlich gelenkten Bereichen ein Wettbewerb der Gewerkschaften entwickelt: Bei Bahn und Lufthansa konkurrieren die DGB-Gewerkschaften mit Spartenorganisationen, was auf allen Seiten die Konfliktbereitschaft schürt«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Konflikte, die bleiben und damit den Finger auf den entscheidenden Punkt der qualitativen Veränderungen legend, die auch quantitative Auswirkungen haben.

Und die qualitativen Verschiebungen sind wesentlich bedeutsamer als die nur nackten Zahlen, die oftmals verzerrt sind hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit, behandeln sich doch jeden Streikenden und jeden ausgefallenen Arbeitstag gleich, was dazu führt, dass völlig unterschiedliche Streikaktionen nivelliert werden zu einem standardisierten Streikenden/Streiktag.

Behruzi formuliert das so: »Rein quantitativ sind die Tarifkonflikte in der Fläche freilich weiterhin entscheidend. Allein die IG Metall zählte bei ihren Warnstreiks im Frühjahr 2016 rund 800.000 Beteiligte in mehreren tausend Betrieben. Damit hat Europas größte Industriegewerkschaft zwar eine Tarifstrategie etabliert, in der flächendeckende Warnstreiks die Regel sind. Eine wirkliche Streikbewegung ist das allerdings nicht. Die Metaller gehen zu Tausenden diszipliniert einige Stunden vors Tor. Und dann ebenso diszipliniert wieder an die Arbeit. Das reicht, um die immer noch gut verdienenden Konzerne dazu zu bewegen, ein paar Zugeständnisse zu machen … Die Metaller-Warnstreiks bleiben Teil eines Rituals, keines Machtkampfs. Sie zeigen den Unternehmern den Ausstand als »Schwert an der Wand«, das dort hängen bleiben soll.«

Diese eher „symbolische“ Form des Arbeitskampfes richtet sich zum einen an die kollektive Seele der Organisation und soll eine Binnenwirkung entfalten, zugleich wird die korporatistische Verflechtung mit den (zumeist größeren) Unternehmen nicht wirklich gestört bzw. durch eine Konfliktstrategie zerstört. Man könnte anmerken, wenigstens übt die IG Metall hin und wieder den Streik an sich und wenn auch nur stundenweise. Bei der IG BCE wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gestreikt, wahrscheinlich bräuchten deren Funktionäre Unterstützung aus kampferfahrenen Organisationen, wie man das eigentlich macht.
»Anders sind die Verhältnisse in den Dienstleistungsbranchen, wo von kooperativer Einbindung der Gewerkschaften zumeist keine Rede sein kann. Hier müssen die Beschäftigtenorganisationen zum Teil darum kämpfen, überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden«, schreibt Behruzi und nennt das Beispiel Amazon, wo sich die ver.di-Aktivisten seit Jahren durch immer wiederkehrende Streikaktionen bislang aber die Zähne ausbeißen. Seit Frühjahr 2013 zieht sich diese wegen ihrer Signalwirkung bedeutende Auseinandersetzung hin, in der sich der Konzern bisher hartnäckig weigert, überhaupt mit ver.di in Tarifverhandlungen einzutreten.
Interessanterweise sieht Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) genau diesen Bereich äußerst kritisch hinsichtlich möglicher negativer Folgen für die Gewerkschaft selbst:

»Als Multibranchengewerkschaft mit den meisten Tarifbereichen steht ver.di vor großen Herausforderungen. Das Hauptproblem dürfte sein, sich nicht in endlosen Kleinkonflikten wie beim Versandhändler Amazon zu verlieren. Angesichts der organisatorischen Breite führen Häuserkämpfe zu einem enormen personellen wie finanziellen Ressourcenverbrauch. Da einzelne Fachbereiche hiervon unterschiedlich betroffen sind, könnte dies langfristig den Zusammenhalt der Multibranchengewerkschaft gefährden.« (Lesch 2016: 36).

Wobei man darauf hinweisen muss, dass eine Strategie des „Häuserkampfs“ nicht per se eine ist, die man als Gewerkschaft vermeiden sollte, ganz im Gegenteil, wenn die Bedingungen stimmen. Man schaue sich nur die durchaus erkennbaren Erfolge an, die von der IG Metall vermeldet werden, wenn es um die „Eroberung“ von Unternehmen geht, die bislang aufgrund der Nicht-Zuständigkeit der IG Metall deutlich schlechtere, nicht selten gar keine Tarifstandards aufzuweisen hatten und dann als Werkvertragsunternehmen enormen Druck auf die hohen tariflichen Standards der Kernbelegschaften ausgeübt haben und das immer noch tun. Aber seit einiger Zeit investiert die IG Metall eine Menge in den Häuserkampf im Sinne einer „Eroberung“ der Kontraktlogistik-Unternehmen über betriebliche Mitbestimmungssstrukturen und die anschließende Tarifbindung der Betriebe (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Wenn der starke Arm immer kürzer wird. Theorie und Praxis eines tarifpolitischen Umgangs mit der problematischen Instrumentalisierung von Werkverträgen am Beispiel der IG Metall vom 10. Mai 2016). Für die IG Metall macht das Sinn, es gibt eben nicht wie bei der Multibranchengewerkschaft ver.di das Ungleichverteilungsproblem der dann auch noch sehr knappen Ressourcen auf einige wenige Bereiche, wo die Häuserkampf-Strategie gemacht wird, während die anderen dafür zahlen müssen. Und die IG Metall hat natürlich auch a) andere Ressourcen zur Verfügung als ver.di und b) ist die Organisation immer noch wesentlich zentralistischer geführt und führbar, was bei den vielfältigen Dienstleistungen schlichtweg nicht vorstellbar wäre.
Und ein neues Konfliktfeld beginnt sich zu strukturieren: In »Einrichtungen des Gesundheitswesens wächst durch die Ökonomisierung das Konfliktpotential. So in den Krankenhäusern, wo die Rationalisierung in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat. Nach dem Erfolg am Berliner Uniklinikum Charité – wo im April 2016 erstmals personelle Mindestbesetzungen per Tarifvertrag festgeschrieben wurden – begeben sich auch andere Krankenhausbelegschaften auf diesen Weg.« Allerdings ist das hier ein richtig vermintes Gelände. Unbestritten ein wichtiger Etappensieg war der kurze unbefristete Streik in der Charité, der erfolgreich beendet werden konnte (vgl. dazu Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 1. Juli 2015). Auf der anderen Seite muss man durchaus mehr als skeptisch sein, was die Chance eines auch nur mittelfristig erreichbaren Durchbruchs im Gesundheitswesen angeht (vgl. dazu Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus? vom 1. Januar 2017).

Man muss schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass die Voraussetzungen beispielsweise für einen großen Pflegestreik, der im Grunde unbedingt erforderlich wäre, um einen Durchbruch erzielen zu können, hundsmiserabel schlecht sind. Und das meint nicht nur den immer noch niedrigen Organisationsgrad der in den Krankenhäusern und Pflegeheimen bzw. -diensten Beschäftigten, so dass der Gewerkschaft oftmals die Masse fehlen würde für einen Arbeitskampf. Hinzu kommt, dass gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich viele Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft sind, so dass hier gar keine rechtliche Möglichkeiten für einen Arbeitskampf bestehen. Selbst wenn das Personal dort streiken wollte – es dürfte nicht. Was wiederum der Gewerkschaft ein wichtiges Druckmittel, aber auch eine Rekrutierungsmöglichkeit nimmt.
Und auch das sollte nicht verschwiegen werden: Selbst wenn ver.di in einen harten Arbeitskampf geht, waren die Erfolge bei den beiden bereits erwähnten Großkonflikten im Jahr 2015, also der Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst (oft arg verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert) sowie der Streik bei der Post, mehr als überschaubar, wenn nicht deprimierend (vgl. zu dieser explizit kritischen Sichtweise am Beispiel des „Kita-Streiks“ den Beitrag Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen vom 7. Oktober 2015 sowie zum letztendlich gescheiterten Streik bei der Deutschen Post den Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).
Wobei man fairerweise auch darauf hinweisen muss, dass der Gewerkschaft ver.di nicht selten die Hände gebunden sind, weil die Beschäftigten in vielen Dienstleistungsbranchen nicht wirklich bereit und willens sind, sich zu organisieren, damit man einen entsprechenden Organisationsgrad erreicht, mit dem man auch von den Arbeitgebern auf Augenhöhe wahrgenommen wird. Wenn im Einzelhandel von zehn Verkäuferinnen eine gewerkschaftlich organisiert ist, dann werden sich die Arbeitgeber nicht wirklich fürchten (müssen) vor Arbeitskampfmaßnahmen.
Wie immer stellen sich dann abschließend zwei Fragen: Gibt es Hoffnung und was tun?
Vielleicht hilft das hier: Die neue Kampfkultur der Gewerkschaften, so der Titel eines Beitrags, den Deutschlandradio Kultur am 10.10.2017 ausgestrahlt hat. „Organizing“ heißt der neue Schlüsselbegriff der deutschen Gewerkschaftsarbeit. „Organizing beinhaltet eine bestimmte Grundhaltung und orientiert sich am Leitgedanken einer Offensivstrategie“, so heißt es selbstbewusst im „Handbuch Organizing“ der IG Metall. Das Grundprinzip des Organizing baut auf dem Dreischritt „Wut-Hoffnung-Aktion“ auf. Ein Gewerkschafter erläutert das so:

»Weniger Stellvertreterpolitik. Und mehr direkte Beteiligung der Beschäftigten. Dafür ist es notwendig, die Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren und konsequent in Handlungen und Entscheidungen einzubeziehen. Diese Beteiligung ist die Voraussetzung von Demokratie und Emanzipation. Ein solches Vorgehen braucht Zeit und Geduld, ist aber dafür nachhaltig. Es gilt der Grundsatz: Tue nie etwas, was die Kolleginnen und Kollegen selbst tun können.«

Es geht darum, bisher passive und duldsame Menschen zu aktivieren. Ein Modell jenseits der klassischen deutschen Sozialpartnerschaft: Organizing will Wut und Konflikte. Das Konzept kommt aus den USA:

»Mitte der 90er begann die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU mit Organizing und verdoppelte innerhalb von einem Dutzend Jahren ihre Mitgliederzahl, von 900.000 auf 1,8 Millionen. Daran wollen jetzt auch die deutschen Gewerkschaften anknüpfen: Mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie.«

Und – gibt es Hoffnung? Durchaus, wenn man den Beispielen im Beitrag folgt: Ein Organizing-Pilotprojekt für das Prekariat in den modernsten Autofabriken Deutschlands in der Region Leipzig oder die Aktivitäten in und um die Charité herum.

Es wird ein langer und steiniger Weg, aber die Zeiten des alten Gewerkschaftsverständnisses sind in den Dienstleistungen definitiv vorbei. Insofern bleibt Hoffnung angesichts der vielfältigen neuen Aktivitäten, zugleich aber sollte man sich der Ambivalenz bewusst sein, die darin liegt, dass nunmehr die Dienstleistungen die Speerspitze der deutschen Arbeiterbewegung bilden sollen. Bis dahin ist es noch ein ordentliches Stück Weg.

Und nebenbei wird in diesem Jahr auch noch eine ganz grundsätzliche Frage höchstrichterlich unter die Lupe genommen und entschieden werden – das Tarifeinheitsgesetz. Dieses umstrittene Gesetz schränkt die Verhandlungsmacht kleiner Gewerkschaften deutlich ein. Es sieht vor, dass bei »Tarifkollisionen« nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in dem betreffenden Betrieb die meisten Mitglieder hat. Seit Juli 2015 ist es in Kraft und dagegen haben mehrere (potenziell) betroffene Sparten- und Berufsgewerkschaften Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Aber nicht nur die, sondern auch ver.di hat in Karlsruhe gegen das Gesetz Klage erhoben.

»Befürworter sehen darin eine Stärkung der Solidargemeinschaft im Betrieb: Einzelne Berufsgruppen sollen sich nicht besser stellen können, ohne dass die anderen Beschäftigten daran teilhaben. Kritiker rügen eine massive Einschränkung von Grundrechten: Wer zur Minderheit gehört, brauche nicht zu hoffen, dass seine Gewerkschaft noch einen attraktiven Tarifvertrag aushandele. Er müsse sich mit der Standardware begnügen, welche die Mehrheit ausgehandelt habe. Das wird auch für die kleinen Gewerkschaften (also GDL etc.) zum Problem: Warum sollte dort jemand Mitglied bleiben und Beiträge zahlen, wenn die Minderheit ohnehin keine Handlungsmacht hat?«, so Gerrit Forst in seinem Beitrag Das Tarifeinheitsgesetz und seine Folgen.

Das Bundesverfassungsgericht hat es im Oktober 2015 zwar abgelehnt, die Anwendung des neuen Rechts bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage auszusetzen. Gestützt hat es dies aber allein auf verfahrensrechtliche Erwägungen, die über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nichts aussagen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Das höchst umstrittene Tarifeinheitsgesetz scheitert nicht am Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls nicht auf die Schnelle vom 11. Oktober 2015). Grundsätzlich kann man tatsächlich eine Menge Einwände gegen dieses Gesetz vortragen, vgl. dazu die Beiträge Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“ vom 22. Mai 2015 sowie Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Wie dem auch sei, in diesem Jahr wird Karlsruhe entscheiden müssen. »Auf zwei Verhandlungstage hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seine öffentliche Beratung über das umstrittene Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition angesetzt. Prozesstermin ist am 24. und 25. Januar«, kann man diesem Artikel entnehmen: Tarifeinheit vor Verfassungsgericht (es geht um diese Verfahren: Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16). Offensichtlich wollen sich die Verfassungsrichter ausreichend Zeit nehmen, um ihre Fragen zu klären. Das sieht nicht so aus, als sein schon klar, dass sie das Gesetz einfach durchwinken werden.

Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus?

Neues Jahr, möglicherweise neues Glück, auf alle Fälle die Wiederkehr vieler Themen aus den vorangegangenen Jahren. Vor allem in der Sozialpolitik ist das auch nicht überraschend. Und so beginnen wir das Jahr 2017 mit einem Artikel, der am 2. Januar 2016 in der Saarbrücker Zeitung veröffentlicht und unter diese Überschrift gestellt worden ist: Ein Streik wie keiner zuvor: »Verdi will Entlastung der Klinik-Beschäftigten notfalls mit Arbeitskampf durchsetzen.« Und weiter kann man dem damaligen Artikel entnehmen: »Die Gewerkschaft Verdi will bei den Klinikträgern im Saarland einen Tarifvertrag zur Entlastung der Pflege-Beschäftigten durchsetzen – und droht mit massiven Streiks.« Allerdings wird dann sofort eine offensichtlich nicht unbegründete Frage hinterhergeschoben: »Doch ist Verdi dazu überhaupt stark genug?«

Bereits am 9. Oktober 2015 hatte der Pflege-Experte Michael Quetting der Gewerkschaft ver.di auf einem Kongress angedeutet: „Wir wollen eine Entlastung der Beschäftigten. Und da sie uns keiner gibt, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen sie uns selbst holen.“ Die Gewerkschaft will die Träger aller Krankenhäuser im Saarland zunächst auffordern, einen Entlastungs-Tarifvertrag auszuhandeln. Den Weg bis zu diesem Ziel bezeichnet Quetting als „äußerst ambitioniert“. Warum diese Einschränkung? Die »Wahrscheinlichkeit, dass die Klinikträger mitspielen, ist auch nach Einschätzung der Gewerkschaft ziemlich gering. Für diesen Fall werden bereits Streik-Pläne geschmiedet, die bis weit ins nächste Jahr reichen. Es soll der größte Krankenhaus-Streik in der Geschichte des Saarlandes werde.« So konnten wir das am 2. Januar 2016 lesen.

Und einige Monate später, konkret am 26. Dezember 2016, also fast genau ein Jahr nach dem ersten Artikel, kann man diese Schlagzeile lesen: Verdi bereitet Klinikstreiks vor.

»Die Gewerkschaft Verdi wagt im nächsten Jahr einen bisher einzigartigen tarifpolitischen Vorstoß. Erstmals sollen die Kliniken unterschiedlicher Träger zu Tarifverhandlungen aufgefordert werden – auch unter dem Druck von Streiks der Pflegekräfte.«

Nun wird der eine oder andere irritiert sein und fragen: Wieso „erstmals“ sollen Kliniken aufgefordert werden? War das nicht schon die Absichtserklärung am Anfang des nunmehr vergangenen Jahres?  Keineswegs ist es so, dass die Gewerkschaft hier einfach eine alte Meldung hat recyceln lassen, sondern man muss erinnern an einen Passus aus dem Artikel vom 2. Januar 2016: Die »Wahrscheinlichkeit, dass die Klinikträger mitspielen, ist auch nach Einschätzung der Gewerkschaft ziemlich gering. Für diesen Fall werden bereits Streik-Pläne geschmiedet, die bis weit ins nächste Jahr reichen. Es soll der größte Krankenhaus-Streik in der Geschichte des Saarlandes werde.« Aber es geht jetzt nicht mehr „nur“ um das Saarland, sondern berichtet wird über eine bundesweit geplante Kampagne der Gewerkschaft.

Was genau wird gefordert? »Verdi hat drei Forderungsblöcke: So wird eine verlässliche Arbeitszeit angemahnt … Zudem wird eine Mindestbesetzung auf den Stationen gefordert: mit Zweierteams in den Nachtschichten oder einem Stellenschlüssel von einer Pflegekraft zu zwei Patienten auf Intensivstationen, was auch Fachverbände verlangen. Ferner geht es um einen Belastungsausgleich: Früher hätten die Pflegekräfte noch Erholungsphasen gehabt. Diese gebe es wegen der Arbeitsverdichtung nicht mehr. Zudem müssten Konsequenzen vereinbart werden für den Fall, dass die Regeln nicht eingehalten werden. Es dürfe nicht mehr sein, dass Mitarbeiter bei Engpässen aus der Freizeit geholt und Pausen gestrichen werden.«

Bis Juli 2017 will ver.di die Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen auffordern – unter dem Druck von Ausständen. „Wenn es nicht anders geht, streiken wir“, wird der Verdi-Experte Jürgen Lippl zitiert. „Wir bereiten einen flächendeckenden Arbeitskampf zur Durchsetzung unserer Tarifziele vor.“

Aber genau hier wird eine zentrale Problemstelle die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und einen möglichen, von vielen sogar als unbedingt notwendig erachteten Arbeitskampf betreffend erkennbar – ein Punkt, der noch vor der ebenfalls überaus schwierigen Frage angesiedelt ist, wie man in einem derart sensiblen Bereich wie den Krankenhäusern einen Streik praktisch organisiert. Dabei entfaltet sich die zentrale Problemstelle in drei Dimensionen:

1.) Es geht zum einen um die Frage des Adressaten eines möglichen Arbeitskampfes. Sind es die unmittelbaren Arbeitgeber der Pflegekräfte, also die Träger der Krankenhäuser? Das wäre ja der „Normalfall“ bei einem Arbeitskampf, man denke hier beispielsweise an Streikaktionen der IG Metall gegen die jeweiligen Arbeitgeber, die dann auch die Auswirkungen unmittelbar zu spüren bekommen und aufgrund des daraus entstehenden wirtschaftlichen Drucks über die Arbeitgeberverbände Druck hin zu einer Einigung ausüben werden. In dem bereits erwähnten Artikel wird auch der Geschäftsführer des Klinikums Stuttgart, Reinhard Schimandl, mit diesen Worten zitiert: »Die Belastung sei da, „gar keine Frage“. Doch er beurteilt die Verdi-Pläne skeptisch. Bisher habe man gemeinsam versucht, die Politik zu einer besseren Finanzierung zu bewegen … Solange sich nichts ändere, „ist es ein Problem, auf die Arbeitgeber Druck zu machen, obwohl sie keine finanziellen Spielräume haben, mehr in Personal zu investieren“.« Insofern deutet sich hier für die Gewerkschaftsseite ein Dilemma an, das durchaus zahlreiche Parallelen hat zu dem letzten großen Streik der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten (umgangssprachlich verkürzend als „Kita-Streik“ bezeichnet).

2.) Eine zweite Dimension berührt die Frage des Organisationsgrades der Gewerkschaft ver.di im Bereich der Pflegekräfte in den Krankenhäusern (und in den anderen Pflegeeinrichtungen). Immer wieder geistern hier Zahlen um und über 10 Prozent durch die Landschaft – damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein echtes Problem, das sie und wir auch aus anderen Feldern vor allem im Dienstleistungsbereich kennen, man denke hier nur an den Einzelhandel. Es fehlt oftmals schlichtweg die kritische Masse, die man braucht, um einen für den Arbeitgeber auch spürbaren und damit wirkungsvollen Arbeitskampf androhen und – wenn es nicht anders geht – auch führen zu können.

Praktisch versucht ver.di, dieses Problem konzeptionell so zu adressieren: Man will zunächst Schwerpunktkrankenhäuser ins Visier nehmen, wo die Gewerkschaft „gute Kontakte zur Belegschaft hat“. »Von dort aus soll mit „Teamdelegierten“ oder „Tarifberatern“ das Netzwerk ausgebaut werden. Diese Freiwilligen an der Spitze der Bewegung sollen die Beschäftigten informieren, organisieren und mobilisieren. Dann folgen die Aktionen: Am 21. Februar soll es etwa eine bundesweite Pausenaktion in den Kliniken geben, um das Thema ins Bewusstsein zu rücken. Am 12. Mai soll es einen Tag der Pflegenden geben.«

3.) Und die dritte Dimension wäre die Zersplitterung der Träger- und damit der Arbeitgeberlandschaft im Krankenhausbereich. Dazu wieder der Blick ins Saarland. »Kolleginnen sollen keine Nacht allein arbeiten«, so ist ein am 27. Dezember 2016 veröffentlichtes  Interview überschrieben mit Michael Quetting von ver.di, der uns ja schon in dem Artikel vom 12. Januar 2016 begegnet ist. »Ver.di ruft 21 Kliniken im Saarland zu Tarifverhandlungen auf. Am Ende sollen Regelungen stehen, die mehr Personal garantieren.« So weit, so bekannt. Dann aber erläutert er die handfesten Schwierigkeiten, das auch zu organisieren und umzusetzen: Die Gewerkschaft wolle im Saarland mit 21 Krankenhäusern verhandeln. Und dann:

»Die sind nicht alle in einem Verband, wir rufen also jedes einzelne zu Gesprächen auf. Würden wir uns völlig durchsetzen, hätten wir rein formal 21 Verträge. Wollen wir bei allen Häusern streiken, müssen wir darüber 21 Urabstimmungen abhalten lassen. Das wird sehr schwierig. Einen solchen Kampf hat in der Pflege noch niemand geführt.«

Hinzu kommt mit Blick auf das Druckmittel Arbeitskampf, dass dieses dann noch nicht einmal dem Grunde nach in allen Krankenhäusern angedroht, geschweige denn auch eingesetzt werden kann, denn die konfessionell gebundenen Kliniken laufen im Korsett des „dritten Weges“, der Streikaktionen schlichtweg nicht zulässig werden lässt. Die vielen Pflegekräften in den Krankenhäusern in konfessioneller Trägerschaft könnten den Konflikt nur als Zaungäste beobachten bzw. – mit viel Phantasie vorstellbar – über „kreative“ Formen des Arbeitskampfes „im Kleinen“ zu begleiten versuchen.

Man muss sich nur diese drei Dimensionen anschauen und auf sich wirken lassen, um zu erkennen, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit einer wirklich größeren, bundesweit angelegten Arbeitskampfaktion in der Pflege derzeit mit nur sehr gering bis gar nicht vorhanden bewertet werden muss.

Und das angesichts der unabweisbaren Notwendigkeit, einen großen Konflikt in der Pflege (und um die Komplexität och zu steigern – auch in der Altenpflege) androhen und wenn es nicht anders geht auch tatsächlich realisieren zu müssen, ansonsten wird man keine wirklich fundamentalen Verbesserungen erreichen können aufgrund der komplexen Mechanik des Systems. Es sei an dieser Stelle mit Blick auf die Ärzte nur erinnert an den Ärztestreik im Jahr 2006. Damals legten an deutschen Universitätskliniken und kommunalen Krankenhäusern angestellte Ärzte die Arbeit nieder, gegen die aus ihrer Sicht unzumutbaren Arbeitsbedingungen und für bessere Bezahlung. Es war der erste Ärztestreik in Deutschland seit über dreißig Jahren und der erste Streik der angestellten Ärzte überhaupt. Während der Verhandlungen kam es zum Bruch des Ärzteverbandes Marburger Bund mit der Gewerkschaft ver.di, die die nichtärztlichen Krankenhausangestellten vertritt. Die Position der Ärzte hat sich nicht nur, aber auch aufgrund dieser Streikaktion damals in den Folgejahren deutlich verbessert.

Aber man muss mit Blick auf die Pflege realistisch sein und konstatieren, dass es sich um einen Arbeitskampf handeln würde, der auch und wenn man ehrlich ist vielleicht sogar primär faktisch politische Ziele verfolgen müsste, unabhängig von der rechtlichen Beurteilung einer solchen Ausrichtung. Denn im Kern steht die Frage der Personalausstattung der Pflege. Und an dieser Stelle muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir mit einem Systemversagen konfrontiert sind (was auch zur Folge hat, dass selbst einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen gegenüber „willige“ Arbeitgeber das Problem haben, dass sie angesichts der Budgetierung gar nicht umsetzen könnten, was sie selbst als notwendig erachten würden.)

An dieser Stelle kann man dann auch wieder den Artikel Ein Streik wie keiner zuvor vom 2. Januar 2016 aufrufen, in dem wie beschrieben über entsprechende Überlegungen auch einen Arbeitskampf betreffend im Saarland berichtet wurde:

»Sind die Klinikträger überhaupt der richtige Adressat des Protests, wenn der Schlüssel für die Krankenhaus-Finanzen (und damit für mehr Personal) doch bei der Politik liegt? Die Träger klagen selbst über den Personalmangel, haben im vergangenen Jahr zusammen mit Verdi zu Protesten für eine bessere Krankenhausfinanzierung aufgerufen. „In diesem Punkt sind wir nah bei den Gewerkschaften“, sagt der Geschäftsführer der Saarländischen Krankenhausgesellschaft (SKG), Thomas Jakobs. Was Verdi vorhat, wäre demnach ein politischer Streik, nach dem Motto: Wenn es gelingt, eine Entlastung der Mitarbeiter durchzusetzen, wäre die Politik unter Zugzwang, diese auch finanziell zu ermöglichen.«

Das angesprochene Systemversagen kann nur verstanden und schlussendlich aufgelöst werden, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass wir hier konfrontiert werden mit den eben systembedingten Folgen der seit Anfang des Jahrtausends eingeführten neuen Krankenhausfinanzierung in Deutschland – und das in Kombination mit einer fehlenden gesetzlichen Normierung von Mindestpersonalbestimmungen für die Pflege, die man nicht unterschreiten darf, sowie darüber hinausreichend einer nicht vorhandenen aufwandsadäquaten Personalbemessung, die Standards guter Arbeit abzubilden vermag, so meine Hinweise in dem Beitrag Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene – auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? vom 28. Dezember 2015.

Man kann nun versuchen, innerhalb des Fallpauschalensystems für Änderungen dergestalt zu sorgen, dass der tatsächliche pflegerische Aufwand besser abgebildet wird. Das aber würde (noch) nicht das Problem lösen, dass den Krankenhäusern das Geld insgesamt überwiesen wird und sie entsprechende Freiheitsgrade bei der konkreten Verteilung auf die einzelnen „Kostenstellen“ (besser wäre hier: Leistungsstellen) haben, was ja auch im Grunde angesichts der dabei zum Ausdruck kommenden unternehmerischen Autonomie nicht schlecht sein muss – wenn es nicht systembedingt auf Kosten der Pflege gehen würde. Mithin wäre eine gesetzliche Personalbemessung die logische Konsequenz, die man ziehen muss und die bislang gescheut wird wie das Weihwasser vom Teufel. Denn das wäre nicht wirklich neu, sondern man hat in der Vergangenheit bereits kurzzeitig Erfahrungen sammeln können mit diesem Instrumentarium, das unter dem Kürzel PPR geführt wird: PPR ist eine Abkürzung für die „Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)„. Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.
Immer wieder stößt man auf diese Dimension (vgl. beispielsweise auch den Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal vom 8. September 2014).

Alles äußerst schwierige Rahmenbedingungen für die Vorbereitung, Entwicklung und schrittweise Umsetzung des Konzepts „großer Pflegestreik“. Zugleich aber wird man zuspitzend in den Raum stellen müssen, dass die Profession Pflege diesen harten, steinigen Weg wird gehen müssen, um als relevanter Machtfaktor in der Gesundheitspolitik überhaupt eine Rolle spielen zu können. Manchmal ist es an der Zeit, dem Konflikt nicht mehr auszuweichen und sich nicht abfinden und ruhig stellen zu lassen mit den ewig warmen Worten.