Eine Steuer auf Roboter? Ein sehr reicher Mann mit einer alten Idee in modischer Verkleidung und dem Finger auf einer offenen Wunde

Er steht seit langem auf Platz 1 dieser alljährlich veröffentlichten Liste der Superreichen (Forbes Billionaires: Full List Of The 500 Richest People In The World 2016): Bill Gates. Mit Microsoft hat er es zu diesem sagenhaften Reichtum gebracht – für 2016 werden 75 Milliarden Dollar seiner Person zugeschrieben. Und ein Teil dieses Reichtums setzt er durchaus sehr öffentlichkeitswirksam ein, um über eine Stiftung der Welt seine Wohltätigkeit zu beweisen. Die Bill & Melinda Gates Foundation ist an den Einlagen gemessen angeblich die mit Abstand größte Privat-Stiftung der Welt. Die Stiftung hat ihren Sitz in Seattle und beschäftigt mehr als 1.300 Mitarbeitern. Sie ist mit einem Stiftungskapital von fast 40 Mrd. US-Dollar ausgestattet. Sie vergibt Fördermittel von jährlich rund vier Milliarden Euro für Projekte und Forschung zur Armuts- und Hungerbekämpfung, Landwirtschaft und Gesundheit.

Das hört sich erst einmal gut an, man kann das aber auch sehr kritisch sehen, wie das Kathrin Hartmann in ihrem Artikel Die Privatisierung der Weltrettung macht:

»Wer Geld von der Stiftung bekommt, muss sich nach deren Vorgaben richten. Die Gates-Stiftung verfolgt einen technokratischen Ansatz und setzt den Schwerpunkt auf schnell messbare Ergebnisse sowie die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft in Public Private Partnerships. Zur Hungerbekämpfung setzt die Gates-Foundation auf Gentechnik und mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte industrielle Lebensmittel. Statt öffentliche Gesundheitssysteme zu stärken, konzentriert sich die Stiftung auf wenige Krankheiten wie HIV, Tuberkulose, Malaria und solche, gegen die man impfen kann. Dabei arbeitet die Stiftung mit umstrittenen Konzernen zusammen – mit Coca Cola, Glaxo-Smith Kline und Monsanto. Deshalb wächst die Kritik: Die Stiftung bindet auch öffentliches Geld, weil sie ihre Finanzzusagen an die von Regierungen koppelt.«

Und Hartmann berichtet in ihrem Artikel, dass auch die Bundesregierung mit der Gates-Stiftung zusammenarbeitet:

»Die Bundesregierung arbeitet seit 2006 mit der Stiftung und gehört zu den Financiers der Globalen Allianz für Impfstoffe (Gavi). Die Gates-Stiftung stellt 20 Prozent des Budgets der öffentlich-privaten Partnerschaft. Gavi unterstützt Impfprogramme für Kinder in armen Ländern sowie die Entwicklung von Impfstoffen. Im Gremium sitzen auch Angehörige von Pharmakonzernen wie Pfizer und Sanofi. Ärzte ohne Grenzen kritisieren, dass Gavi die Marktmacht der Konzerne stärkt, weil sie ihnen überteuerte Impfungen abkauft. Deren Patente auf lebenswichtige Medikamente verhindern, dass diese in ärmeren Ländern günstig hergestellt werden können. Daran hat Bill Gates Anteil: Als Microsoft-Chef hatte er sich für das Trips-Abkommen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte eingesetzt.«

Die Bundesregierung gibt auch Geld für diese Zusammenarbeit – und das nicht wenig: »2015 versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel, bis 2020 600 Millionen für Gavi bereitzustellen. Das sind im Schnitt 120 Millionen Euro pro Jahr– viermal mehr als der Pflichtbeitrag der Bundesregierung zur Weltgesundheitsorganisation (WHO).« Und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hängt selbst am Geldtropf der Gates-Foundation, denn die stellt 14 Prozent des Budgets.

Und den geneigten Leser wird dann auch diese Seite der Gates-Stiftung nicht wirklich überraschen: »Die Gates-Stiftung ist der größte Geldgeber landwirtschaftlicher Forschung und Entwicklung und hat in vergangenen zehn Jahren mehr als drei Milliarden Dollar in Agrarprojekte gesteckt. Das größte ist die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (Agra). Sie will die landwirtschaftliche Produktion mit Hilfe von Gentechnik, Dünger und Pestiziden verdreifachen – gegen den Widerstand von Kleinbauern.«

Aber das war nur die Einstimmung auf das eigentliche Thema dieses Beitrags, denn Bill Gates ist ein in jeder Hinsicht umtriebiger Mensch und nun hat er sich zu einem brisanten gesellschaftspolitischen Thema unserer Tage geäußert – den Auswirkungen der technologischen Entwicklung und die Frage der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme: Bill Gates fordert Robotersteuer, so ist beispielsweise ein Artikel von Alexander Hagelüken überschrieben. Wie kommt er darauf? Die Digitalisierung bedroht Millionen Arbeitsplätze – und damit auch die Lohnsteuern und Sozialabgaben, die vom Staat darauf erhoben werden. „Natürlich wird es Steuern geben, die sich auf die Automatisierung beziehen“, wird Gates in dem Artikel zitiert. „Bisher werfe die Arbeit von Menschen Steuern und Sozialabgaben ab. „Wenn Roboter diese Arbeit übernehmen, sollte man denken, dass wir den Roboter auf ähnliche Weise besteuern.“

Wenn man wissen will, was er im Original gesagt hat, dann lohnt der Blick in dieses Interview des Onlineportals „Quartz“ mit ihm: The robot that takes your job should pay taxes, says Bill Gates:

»Robots are taking human jobs. But Bill Gates believes that governments should tax companies’ use of them, as a way to at least temporarily slow the spread of automation and to fund other types of employment … Gates said that a robot tax could finance jobs taking care of elderly people or working with kids in schools, for which needs are unmet and to which humans are particularly well suited. He argues that governments must oversee such programs rather than relying on businesses, in order to redirect the jobs to help people with lower incomes.«

Er argumentiert also explizit sozialpolitisch. Hagelüken subsumiert das, was Gates da fordert, unter einen größeren Diskurszusammenhang, der den meisten bekannt sein dürfte: »Die Digitalisierung bedroht Millionen von Arbeitsplätzen – und damit auch die Lohnsteuern und Sozialabgaben, die vom Staat darauf erhoben werden. Maschinen werden in den kommenden 20 Jahren bis zur Hälfte der Jobs in den USA und Europa ersetzen, sagen Studien voraus. „Maschinen werden den Menschen viele standardisierte Arbeitsplätze wegnehmen“, erwartet der Ökonom Thomas Straubhaar. Absehbar „bleiben einige auf der Strecke, weil sie mit der Geschwindigkeit auf der Welt einfach nicht mehr mitkommen“, warnt Siemens-Chef Joe Kaeser. Daher sei „eine Art Grundeinkommen völlig unvermeidlich“. Für diese Idee erwärmen sich auch einige Silicon-Valley-Bosse.« Die mögliche, allerdings heftig umstrittene Ableitung der Notwendigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens als Antwort auf die beschriebene (angebliche) Entwicklung, wurde genauer diskutiert in diesem Beitrag vom 14. Februar 2017: Zwischen Heilserwartung und sozialpolitischen Widerständen. Einige Anmerkungen zum bedingungslosen Grundeinkommen.

Vielen Menschen wird die Argumentation für eine Besteuerung der Roboter aufgrund des damit einhergehenden Verlustes an Arbeitsplätzen (und damit verbundenen Lohneinkommen) erst einmal plausibel erscheinen. Aber eine Diskussion des Vorschlags muss zwei große Hürden nehmen, bevor es sich lohnt, sie weiterzuverfolgen.

Zum einen muss man die Diagnose kritisch diskutieren, dass es aufgrund dessen, was derzeit unter Begriffen wie „Digitalisierung“ und „Roboterisierung“ verhandelt wird, zu einem massiven Jobverlust kommen wird, also das Theorem einer massiven technologischen Arbeitslosigkeit ante portas. Diese Vorstellung einer massenhaften Freisetzung menschlicher Arbeitskraft hat es schon immer gegeben und immer wieder kann man auch an der Rezeption des Themas in den Medien sehen, dass das aufgegriffen und oftmals zum jeweiligen Zeitpunkt apokalyptisch ausgemalt wurde, was die Zukunft angeht. Man nehme nur die drei in der Abbildung dokumentierten Titelgeschichten des SPIEGEL aus den Jahren 1964, 1978 und vor kurzem im Jahr 2016. Frappierend ist die Ähnlichkeit der Titelbilder über die Jahrzehnte – und nicht umsonst taucht immer wieder der Roboter auf, gleichsam eine handfeste Chiffre für die Bedrohung dessen, was bislang Menschen getan haben und (noch) tun, aber eben nicht mehr lange und vor allem nicht in der Menge.

Man könnte an dieser Stelle zu Recht einwenden, dass sich die negativen Szenarien die (damalige) Zukunft betreffend im Nachhinein betrachtet nicht eingestellt haben. Bereits in der Titelgeschichte aus dem Jahr 1964 war von „menschenleeren Fabriken“, von Automatisierung und der „Roboter-Ära“ die Rede. 1978 hieß es dann auf dem Cover des Magazins „Fortschritt macht arbeitslos“ und mit Fortschritt gemeint war die „Computer-Revolution“: „Uns steht eine Katastrophe bevor“, so heißt es dann am Anfang des Artikel. »Winzige elektronische Bausteine bedrohen Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe. Weder Regierung noch Gewerkschaften wissen, wie sie die Folgen des Fortschritts unter Kontrolle bringen können.« Nun ist die Beschäftigung keineswegs seit 1978 ins Bodenlose gestürzt, ganz im Gegenteil. Aber jetzt kommt das dicke Ende aber ganz bestimmt, also demnächst. Unter der Überschrift „Sie sind entlassen!“ schreibt der SPIEGEL im Heft 36 des Jahres 2016: »Der Angriff der Roboter gefährdet die Existenz der Mittelschicht: Bedroht sind nicht mehr nur Tätigkeiten in der Werkhalle, jetzt trifft die Digitalisierung auch qualifizierte Kräfte in Büros, Kanzleien und Praxen. Welche Jobs werden überleben?«

Man könnte viele Argumente gegen die pessimistische Sicht hinsichtlich der Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf den Arbeitskräftebedarf vortragen – aber selbst wenn wir einmal gedanklich davon ausgehen, dass es eine solche enorme Durchschlagskraft im Sinne eines massiven Abbaus von Arbeitsplätzen geben sollte, dann muss man die Frage behandeln und beantworten, ob denn eine „Robotersteuer“ die richtige Antwort wäre, um die bislang über eine Besteuerung und Verbeitragung der Lohneinkommen erhobenen – und in Folge der Rationalisierung nun wegfallenden – Einnahmen zu kompensieren.

Man könnte an dieser Stelle mit Blick auf den Robosteuer-Apologeten Bill Gates mit einer zynischen Ironie die Frage in den Raum stellen, warum eigentlich „nur“ die Roboter und warum nicht eine „Microsoft-Office-Steuer“? Vielleicht sollte man mal kalkulieren, wie viele Sekretärinnen ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil mit dem Siegeszug der PCs und des Office-Programms von Microsoft die Leute, die früher alles delegiert haben an die Schreibkräfte, nunmehr ihre Sachen selbst eintippen und statt einen Brief aufzugeben (mit den daran hängenden Arbeitsplätzen) E-Mails selbst verschicken?

Es geht um die Grundsatzfrage, ob eine „Robotersteuer“ überhaupt der richtige Ansatzpunkt für eine alternative Mittelbeschaffung wäre. Diese Steuer ist keine neue Erfindung, sondern die Forderung nach einem solchen Instrument und die kontroverse Debatte verfolgt uns seit Anbeginn der Industrialisierung und würde in früheren Jahrzehnten unter dem Stichwort „Maschinensteuer“ geführt. Nicht wenige Ökonomen werden auf die diskutierten Negativfolgen einer solchen Besteuerung hinweisen, also dass dadurch der technische Fortschritt gebremst wird und – für eine gewisse Zeit vielleicht – der Ersatz menschlicher Arbeitskraft aufgehalten werden kann, aber zugleich dafür der Preis einer Abbremsung der Produktivitätsentwicklung zu zahlen wäre sowie – was besonders wichtig wäre zu berücksichtigen angesichts des enormen Steuerwettbewerbs zwischen den Nationalstaaten – Arbeitsplätze verloren gehen, wenn andere Konkurrenten aufgrund einer davon abweichenden Besteuerung über Verlagerung oder eine eigene dynamische Entwicklung Marktanteile gewinnen und die roboterisierte Fertigung an sich ziehen.

Gerade wenn man den Grundgedanken, der den Modellen einer Maschinen- oder Robotersteuer zugrundeliegt, durchaus sympathisch findet, also dass Unternehmen mit vielen Robotern, Computern, Maschinen und wenigen Arbeitnehmern höher belastet werden als Unternehmen mit vielen Arbeitnehmern und wenigen Maschinen, wäre zu überlegen, wo man den Besteuerungshebel genau ansetzt.
Um aus dem Selektivitätsdilemma einer punktuellen Besteuerung von Robotern, Maschinen oder welcher partiellen Bemessungsgrundlage auch immer herauszukommen, hat es schon vor vielen Jahren eine intensive Debatte gegeben, die sich an dieser Herausforderung abgearbeitet hat und die eine „Wertschöpfungsabgabe“ zur Diskussion gestellt hat, explizit mit Blick auf die (Um)Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, die überwiegend aus Beiträgen aus sozialversicherungspflichtigen Arbeit gespeist werden. Eine solche Abgabe würde die allgemeine Abgabenbelastung natürlich verschieben von den arbeitsintensiven zu den kapitalintensiven Branchen, die bislang unterdurchschnittlich und indirekt über die allgemeine Besteuerung an der Finanzierung der Sozialleistungen beteiligt sind.

Alexander Hagelüken hat in seinem Kommentar Besteuert Gewinne, nicht Roboter! diese Positionierung vorgenommen:

»Effektiver als eine Robotersteuer wäre, die Gewinne der Firmen weltweit konsequent zu besteuern. Wenn Maschinen immer mehr Produktion und Dienstleistungen übernehmen, landet der Ertrag trotzdem auch bei der Allgemeinheit. Effektiv wäre es zudem, alle Bürger zu Miteigentümern der Unternehmen zu machen. Dann sind alle direkt an der Wertschöpfung der Maschinen beteiligt. Heute hält nur jeder zehnte Deutsche Aktien – bleibt das so, dürfte die Ungleichheit explodieren.«

Nun könnten die Skeptiker an dieser Stelle einwenden, gut gebrüllt, aber sind die vergangenen Jahrzehnte nicht dadurch geprägt gewesen, dass man die Unternehmensseite steuerlich nicht entlastet hat? Und das wir aktuell gerade wieder vor einer neuen Runde im Steuersenkungswettlauf stehen? Darauf wurde in diesem Beitrag im Blog „Aktuelle Wirtschaftspresse“ vom 27. Dezember 2016 hingewiesen: Immer diese Steuern und ihre gar nicht so eindeutigen Umverteilungswirkungen. Und dann noch ein kritischer Blick auf den Steuersenkungswettbewerb in Europa. Beispiel EU:
Seit Beginn der 1980er Jahre wurden die Körperschaftsteuersätze in der EU Zug um Zug massiv gesenkt worden. Allein zwischen 1995 und 2007 ging der EU-Durchschnitt von 35% auf gut 24% zurück. Die Finanz- und Wirtschaftskreise 2007/2008 und deren Folgen haben diese Entwicklung eine Zeit lang in den Stand-by-Modus versetzt. Seit 2010 stagniert daher der EU-durchschnittliche Körperschaftsteuersatz bei etwa 23%.

Und die nächste Runde der Absenkung der Unternehmenssteuern steht schon vor der Tür, darauf verweist Margit Schratzenstaller in ihrem Beitrag Steuersenkungswettbewerb in der EU schadet

»So hat Luxemburg bereits beschlossen, den Körperschaftsteuersatz ab 2017 um gleich 10 Prozentpunkte auf 19% zu verringern. Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat in Aussicht gestellt, die erwarteten negativen ökonomischen Effekte des geplanten Ausstiegs aus der EU abzufedern. Sie will den Körperschaftsteuersatz von derzeit 20% deutlich senken. Ungarn ließ kürzlich mit der Ankündigung aufhorchen, Kapitalgesellschaften künftig nur mehr mit 9% statt mit bisher gut 20% zu besteuern. Und auch in Österreich wird gerade über die Senkung des Körperschaftsteuersatzes von 25% auf 20% diskutiert.«

Und damit wären wir abschließend angekommen bei der tiefen und offenen Wunde, auf die Gates und andere ihren Finger legen: Faktisch geht die Besteuerung der Unternehmen zurück, wir bräuchten aber gerade aus einer explizit sozialpolitischen Sicht deutlich mehr Einnahmen als früher aus der Besteuerung der Wertschöpfung durch Unternehmen, wenn wir die bereits gegebenen und weiter wachsenden Ausgabenbedarfe gerade in den Tätigkeitsfeldern, wo auch nach Gates‘ Verständnis weiterhin menschliche Arbeitskraft (und dann auch noch mehr als heute) gebraucht wird, finanzieren wollen: also in der Pflege, in Bildung und Betreuung, in den personenbezogenen Dienstleistungen, von denen viele eben am Tropf der Finanzierung aus öffentlichen Mitteln hängen und die kann man nur über Umverteilung generieren.

Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft

Man muss schon sagen – was für ein Impact. Da gibt der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, der BILD-Zeitung ein Interview und hält in Bielefeld auf dem Arbeitnehmerkongress seiner Partei eine Rede unter der Überschrift „Arbeit in Deutschland“.  Und eigentlich hat er nicht wirklich viel inhaltlich gesagt, sondern die ganz großen Linien gezeichnet. Dennoch bricht in der Folge eine intensive Debatte aus, als ob er ein Zehn-Punkte-Programm der Verstaatlichung der deutschen Bankenlandschaft präsentiert hätte. Hat er aber nicht und auch seine Ausführungen zu den beiden Themen, die seit Anfang der Woche im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, also die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I (vgl. hierzu bereits den Beitrag Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017) sowie die Eindämmung der befristeten Beschäftigung, sind mehr als nebulös und wenn, dann erst einmal nur emotional fassbar, was ja auch ihre Funktion ist.

Schaut man beispielsweise in die Bielefelder Rede von Martin Schulz, dann wird man zum Thema befristete Arbeitsverträge das hier finden:

»Wir wollen Sicherheit und Verlässlichkeit für die Beschäftigten!
Deshalb müssen wir auch an die Befristung vieler Arbeitsverhältnisse ran.
Vor allem jungen Menschen wird zu viel zugemutet: Sie sollen eine ordentliche Ausbildung machen, sich im Job weiterbilden, sie sollen eine Familie gründen und wollen sich manchmal auch noch um ihre Eltern kümmern, sie sollen für Wohneigentum sorgen, und im Idealfall sollen sie sich auch noch ehrenamtlich engagieren.
Das alles geht nicht, wenn die eigene Zukunft auf wackligen Beinen steht! Das kann nicht unser Angebot für die Jugend sein!
Und darum werden wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen!«

Punkt. Das war’s zu dem Thema. Bevor wir uns mit dem Vorschlag nach Abschaffung der sachgrundlosen Befristung genauer auseinandersetzen, muss wieder einmal ein Zahlendurcheinander geklärt werden. Denn ein Teil der Debatte kreist um den Vorwurf, Schulz hätte mit falschen Zahlen hantiert. In einem Interview mit der „Bild“-Zeitung hat der SPD-Kanzlerkandidat den Anteil der jungen Menschen in Deutschland, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, mit rund 40 Prozent angegeben. Das nun hat die Arbeitgeber auf den Plan gerufen, die das kritisiert haben. In der Altersgruppe zwischen 25 und 35 seien tatsächlich rund zwölf Prozent der Beschäftigten befristet angestellt, argumentiert der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Was stimmt nun? Beide liegen falsch, wie die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht. Für 2015 berichtet das Statistische Bundesamt auf der Grundlage der Arbeitskräfteerhebung für alle abhängig Beschäftigten ab 25 Jahre von einem Anteil der befristet Beschäftigten von 8,4 Prozent, in der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre seien es hingegen 17,9 Prozent gewesen.

Aber Schulz hat die von ihm genannten 40 Prozent nicht aus der Luft gegriffen, sondern ist schlecht vorbereitet worden, denn dieser Anteilswert taucht an anderer Stelle durchaus auf. Nur nicht als Anteil an den Arbeitsverträgen, sondern als Anteilswert bei den Neueinstellungen. Was etwas anderes ist als der Bestand an Arbeitsverträgen.

Darüber berichtet beispielsweise Thomas Öchsner in seinem Artikel Anteil befristeter Jobs geht bereits weiter zurück. Er operiert allerdings mit einer anderen Datenquelle als die Bundesstatistiker, nämlich mit dem IAB-Betriebspanel. Das IAB der Bundesagentur für Arbeit befragt Jahr für Jahr 16.000 Betriebe und rechnet die Angaben hoch:

»Daraus ergibt sich, dass der Anteil der befristeten Stellen seit 2011/12 leicht rückläufig ist. Damals waren ohne Auszubildende 8,4 Prozent der Arbeitsverträge befristet. 2015 waren nur mehr 8,0 Prozent der Verträge zeitlich begrenzt.
Etwas besser sieht es auch bei den Neueinstellungen aus. 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, musste sich fast jeder Zweite (47 Prozent), der einen neuen Job ergatterte, mit einem Vertrag auf Zeit begnügen. 2015 traf dies noch auf 42 Prozent der Neueingestellten zu.«

Der IAB-Wissenschaftler Christian Hohendanner wird von Öchsner dahingehend zitiert, dass man noch nicht von einer Trendumkehr sprechen könne, aber zu erkennen sei, dass es „keinen weiteren Anstieg mehr gab“. Was sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Arbeitsmarktlage aber verbessert habe: »2015 wurden nach Angaben des IAB bereits 40 Prozent der befristet Eingestellten unbefristet übernommen. 2009 konnten sich nur 30 Prozent darüber freuen.«

Nun muss man bei den Befristungen unterscheiden – und Martin Schulz macht das ja auch, denn er stellt eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen in den Raum, nicht der Befristungen an sich. Die Befristungen mit Sachgrund will er nicht antasten. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn hier kann der Arbeitgeber, selbst wenn er wollte, nicht anders. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen eine Kindertageseinrichtung, in der eine dort unbefristet beschäftigte Erzieherin in die Elternzeit geht, aber wiederkommen will und wird, beispielsweise nach zwei Jahren. Die Ersatzkraft für diese Mitarbeiterin kann vom Träger der Kita nur einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen für die Abdeckung dieses Zeitraums, außer der hat an anderer Stelle einen sicheren Arbeitskräftebedarf genau nach Rückkehr der unbefristet Beschäftigten.

Bei den sachgrundlosen Befristungen verhält es sich anders. Hier lohnt der Blick auf die Motive der Arbeitgeber, einen neuen Mitarbeiter befristet einzustellen. Diese Befristungsform hat an Beliebtheit gewonnen und ein wichtiges Motiv in der Privatwirtschaft ist sicher der Aspekt einer dadurch realisierbaren „verlängerten Probezeit“. Man kann den Arbeitnehmer schlichtweg deutlich länger als bei der ansonsten zulässigen Probezeit im Ungewissen lassen, ob man ihn oder sie übernimmt. Die Betroffenen werden natürlich in den maximal zwei Jahren in der Hoffnung auf eine Entfristung ihrer Stelle alles geben.

Es kann natürlich auch andere Gründe für die sachgrundlose Befristung geben, beispielsweise die Tatsache, dass nur eine bestimmte Summe Geld für eine bestimmte Zeit zur Verfügung steht und man keine Sicherheit hat, nach Ablauf dieser Zeit die betroffenen Arbeitnehmer weiterbeschäftigen zu können. Nun wird der eine oder andere einwenden, dann könne man den Betroffenen eben betriebsbedingt kündigen, das aber schafft zum einen mögliche Konflikte, zum anderen gibt es mit dem öffentlichen Dienst einen Bereich, wo es oftmals fast unmöglich ist, sich von den Arbeitnehmern wieder zu trennen, wenn sie denn unbefristet beschäftigt sind, weil immer darauf hingewiesen wird, dass es beispielsweise in einer großen Behörde genügend Ersatzarbeitsplätze geben würde, so dass eine Kündigung scheitert.

Das kann man auch den Zahlen entnehmen – der größte Befrister in diesem Land ist der öffentliche Dienst und ganz besonders schlimm ist es in der Wissenschaft. Genauer unter die Lupe genommen haben das Christian Hohendanner et al. (2016): Befristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst: Öffentliche Arbeitgeber befristen häufiger und kündigen seltener als private, IAB-Kurzbericht Nr. 5/2016, Nürnberg. Die Wissenschaftler berichten darin:

»Etwa 60 Prozent der Einstellungen im öffentlichen Dienst (ohne Wissenschaft) erfolgten laut IAB-Betriebspanel im ersten Halbjahr 2014 befristet. In der Privatwirtschaft waren es 40 Prozent, in der Wissenschaft 87 Prozent.
Die Übernahmequote befristet Beschäftigter fiel im öffentlichen Dienst (ohne Wissenschaft) im ersten Halbjahr 2014 mit 32 Prozent um 10 Prozentpunkte niedriger aus als im privaten Sektor. In der Wissenschaft lag die Übernahmequote bei 9 Prozent.«

Hohendanner et al. arbeiten in ihrer Studie auch den zentralen Unterschied heraus zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft bei den Motivlagen für Befristungen: »Als wichtigste Befristungsmotive nannten öffentliche Arbeitgeber Vertretungen und fehlende Planstellen. Für die Privatwirtschaft ist die Erprobung neuer Mitarbeiter der wichtigste Befristungsgrund.« Und: Öffentliche Arbeitgeber nutzen befristete Arbeitsverträge als zentrales Instrument der Personalanpassung. Letztendlich werden wir hier Zeugen einer massiven Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen innerhalb des öffentlichen Dienstes. Auf der einen Seite haben wir hier die sichersten und – nicht nur bei Beamten – mit Unkündbarkeit ausgestattete Arbeitsplätze, auf der anderen Seite reagiert das System darauf spiegelbildlich mit der Schaffung einer hochgradig flexibilisierten Schicht an Beschäftigten, wo im starken Maße mit Befristungen gearbeitet wird (und aus Systemsicht gearbeitet werden muss) und in denen der Unsicherheitsfaktor kombiniert wird mit ausgeprägter Perspektivlosigkeit, was Anschlussoptionen angeht.

Die besonders ausgeprägte Befristungslandschaft in der Wissenschaft spiegelt sich auch wieder in dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017. Statistische Daten und Forschungsbefunde
zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland. Susanne Klein hat ihren Artikel dazu überschrieben mit Risiko inbegriffen: »Viele Mitarbeiter an deutschen Hochschulen sind prekär beschäftigt: befristete Teilzeitstellen, geringer Verdienst bei unbezahlten Überstunden. Hinzu kommt: Aus dem akademischen Flaschenhals ist ein Nadelöhr geworden.«  In der universitären Forschung und Lehre arbeiten 145.000 befristet Beschäftigte – 76 Prozent mehr als im Jahr 2000. Ohne sie müssten etliche Hochschulen den Betrieb so gut wie einstellen. Neben den teilweise skandalös frustrierenden Arbeitsbedingungen kommt ein großes Karriereproblem hinzu: Die Professorenstellen, die ambitionierte Wissenschaftler irgendwann bekleiden wollen, haben seit dem Jahr 2000 nur um 21 Prozent zugenommen. »Die Zahlen klaffen so weit auseinander wie noch nie, aus dem „akademischen Flaschenhals“ ist ein Nadelöhr geworden«, so Klein. Sie weist darauf hin, dass das Problem ein strukturelles ist. Beispiel: Die Universitäten Sachsens müssen mindestens jeden zweiten Nachwuchswissenschaftler aus befristeten Drittmitteln finanzieren. Es ist offensichtlich aber auch ein sehr deutsches Problem: 93 Prozent der Wissenschaftsmitarbeiter sind in Deutschland befristet angestellt. Dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013 konnte man entnehmen, dass es in Frankreich und England weniger als 30, in den USA sogar nur 14 Prozent sind. Es geht also auch anders.

Apropos Nachwuchsbericht 2013 – der hatte doch den Anstoß gegeben, endlich Verbesserungen herbeizuführen: »Mehr und mehr befristete Arbeitsverhältnisse mit zunehmend kürzeren Laufzeiten: Diese Diagnose aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs hatte vor vier Jahren den Weg für eine Reform freigemacht. In der Großen Koalition war man sich darüber einig, dass das „Befristungsunwesen“ ein Ende haben müsse«, so Amory Burchard unter der Überschrift Statt Dauerstelle Aus nach zwei Jahren. »Mit dem neuen, im März 2016 in Kraft getretenen Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss die Laufzeit von Arbeitsverträgen der angestrebten Qualifizierung „angemessen“ sein. Und die Befristung von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Drittmittelprojekten soll sich am bewilligten Projektzeitraum orientieren. Doch ein Jahr später scheint sich die Lage der Nachwuchswissenschaftler kaum verbessert zu haben.«

„Die Universitäten und Forschungsinstitute mogeln, jedes Schlupfloch wird genutzt“, sagt zumindest Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Leiter des Hochschulbereichs der GEW. Wie schon 2015 bei der Vorbereitung der Gesetzesreform befürchtet, werde „alles Mögliche als Qualifizierung deklamiert und erneut für Kurzzeitbefristungen genutzt“.

Wechselt man jetzt wieder auf die generelle Ebene der Befristungen, dann wird deutlich, dass das für die Betroffenen natürlich problematische Auswirkungen haben kann und hat (vor allem, wenn sich diese Befristungen nicht als ein Durchgangsstadium mit einer relativ sicheren Entfristungsperspektive am Ende einer nicht zu langen Wegstrecke darstellt.

Mit den (möglichen) Folgen für die Betroffenen, hier vor allem den überdurchschnittlich oft befristeten jüngeren Arbeitnehmern hat sich das WSI in einer Studie beschäftigt:

Eric Seils: Jugend & Befristete Beschäftigung. Eine Auswertung auf Basis aktueller Daten des Mikrozensus. WSI-Policy-Brief Nr. 8, Dezember 2016

Fast jeder fünfte abhängig Beschäftigte unter 35 Jahren hat nur einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als 60 Prozent aller befristet Beschäftigten in Deutschland sind jünger als 35. Die Studie zeigt: »Befristet Beschäftigte haben deutlich niedrigere Nettoeinkommen als gleich alte Arbeitnehmer mit unbegrenztem Vertrag. Dementsprechend sind sie trotz Arbeit doppelt so häufig von Armut bedroht. Junge Beschäftigte in befristeten Arbeitsverhältnissen sind zudem seltener verheiratet und haben deutlich weniger Kinder als unbefristet Beschäftigte.« „Häufige Stellenwechsel, zum Teil verbunden mit Ortswechseln, erschweren die Bildung stabiler Partnerschaften. Und Kinder kosten Geld, daher dürften viele Paare die Realisierung ihres Kinderwunsches aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit verschieben“, wird der Studienautor Eric Seils zitiert.

Interessant ist ein Blick auf die Qualifikationsprofile junger befristet Beschäftigter: Personen ohne Berufsausbildung und Universitätsabsolventen sind gleichermaßen häufiger befristet beschäftigt sind als Absolventen einer dualen Berufsausbildung oder mit Fachhochschulabschluss. Allerdings führen die Berufswege beider Gruppen später oft in unterschiedliche Richtungen: Uni-Absolventen wechseln im Zeitverlauf häufiger in feste Anstellungen, für gering Qualifizierte stellt der befristete Job oft eine Sackgasse dar. Mit  Zusammenhänge zwischen Beruf und befristeter Beschäftigung beschäftigt sich eine neue Arbeit von Stefan Stuth.

2013 kam eine Studie auf der Basis von SOEP-Daten zu diesem Befund: »Für einen großen Teil der jungen Erwerbstätigen öffnen sich nach einer gewissen Wartezeit die Türen zur normalen Arbeitswelt … durchaus. Obwohl die reformbedingte Heterogenisierung der Erwerbsformen ihre Schatten vor allem auf junge Erwerbstätige wirft, schafft früher oder später ein großer Teil der Arbeitsmarkteinsteiger/innen trotzdem den Sprung in Erwerbssicherheit.« (Marie-Christine Fregin (2013): Generation Ungewiss – Berufseinsteiger auf dem Weg ins Abseits? Empirische Vergleiche zur Chancenentwicklung von befristet beschäftigten Arbeitsmarkteinsteiger/innen. SOEPpapers 581-2013, Berlin, S. 111)

Eigentlich, so könnte man meinen, würde dieser Hintergrund doch insgesamt für die Forderung von Martin Schulz sprechen, die sachgrundlose Befristung als Instrument abzuschaffen. Diese Forderung ist nicht neu, in der auslaufenden Legislaturperiode wurde das seitens der Oppositionsparteien auch immer in den politischen Raum eingebracht.

So gab es beispielsweise eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 17. März 2014. Auslöser dafür war ein Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke zur sogenannten ’sachgrundlosen Befristung‘ (vgl. hierzu BT-Drs. 18/7 vom 23.10.2013). Der Gesetzentwurf beinhaltet die Forderung,  im Teilzeit- und Befristungsgesetz die Möglichkeiten zur Befristung ohne Sachgrund abzuschaffen. Zur Stellungnahme aufgefordert war auch das IAB der Bundesagentur für Arbeit. Die dort präsentierten Daten – das IAB bezieht sich dabei auf die Angaben aus dem bereits erwähnten IAB-Betriebspanel – sind interessant: »Die Anzahl sachgrundloser Befristungen hat sich zwischen den Jahren 2001 und 2013 von etwa 550.000 auf 1,3 Millionen erhöht … Damit hat sich der Anteil sachgrundloser Befristungen an allen im IAB-Betriebspanel erfassten Befristungen von 32 auf 48 Prozent erhöht.« Zugleich wird aber deutlich, dass man unterscheiden muss zwischen den sachgrundlosen Befristungen und denen mit (irgendeinem zulässigen) Sachgrund – besonders relevant für die diskutierten hohen Befristungsanteile im öffentlichen Dienst, denn hier wird deutlich, dass die im Zentrum der Forderung von Schulz stehenden sachgrundlosen Befristungen dort eher unterdurchschnittlich vertreten sind: Sachgrundlose Befristungen »werden verstärkt im Groß- und Einzelhandel oder im Verarbeitenden Gewerbe genutzt, während sie … in den öffentlichen und sozialen Dienstleistungen … eine untergeordnete Rolle spielen. Tendenziell zeigt sich, dass sachgrundlose Befristungen in Branchen mit einem hohen Befristungsanteil eher unterproportional genutzt werden.« Anders formuliert: Eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen von Arbeitsverträgen würde an dem besonders befristungsintensiven öffentlichen Dienst ziemlich vorbeigehen.

Hinzu kommt, so das IAB: Multivariate Analysen »liefern deutliche Hinweise auf die Brückenfunktion sachgrundloser Befristungen: Je höher der Anteil sachgrundloser Befristungen an den in den Betrieben eingesetzten befristeten Beschäftigungsverhältnissen, umso höher fällt die Anzahl der innerbetrieblichen Übernahmen in unbefristete Beschäftigung aus.« Was letztendlich mit dem in der Privatwirtschaft verbreiteten Motiv einer verlängerten Probezeit zusammenhängt.
Nun könnte man an dieser Stelle einwerfen, dass das aus der betriebswirtschaftlichen Logik der Unternehmen zwar nachvollziehbar ist, der Gesetzgeber aber nicht die Aufgabe hat, den Betriebe verlängerte Probezeiten zu ermöglichen, wenn es andere und kürzere als Normalfall gesetzlich vorgeschrieben gibt. Und man könnte erwarten: Im Idealfall würde eine Abschaffung sachgrundloser Befristungen zu einer deutlichen Erhöhung unbefristeter Einstellungen führen. Aber bei dem Versuch, diese an sich naheliegende These zu belegen, kommt die IAB-Stellungnahme zu einem anderen Befund.

Das arbeitsmarktpolitische Fazit des IAB liest sich so:

»Aus Sicht des IAB ist fraglich, ob die Abschaffung sachgrundloser Befristungen ein adäquates Instrument zur Herstellung von mehr Beschäftigungssicherheit ist. Zum einen verfügen Betriebe über alternative Möglichkeiten der Flexibilisierung: Sie könnten verstärkt auf Befristungen mit Sachgrund und alternative Beschäftigungsformen wie Leiharbeit oder freie Mitarbeit ausweichen. Zum anderen bestünde bei einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristung das Risiko, dass sich Arbeitgeber bei Einstellungen zurückhalten und ihr Flexibilitätsspielraum eingeschränkt wird.

Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass ein Wegfall sachgrundloser Befristungen zu einer deutlichen Zunahme unbefristeter Einstellungen führt. Schließlich liefern empirische Analysen Hinweise dafür, dass insbesondere sachgrundlose Befristungen häufig als verlängerte Probezeit genutzt werden und als Sprungbrett in unbefristete Beschäftigung fungieren.« (Christian Hohendanner (2014): Befristete Beschäftigung. Mögliche Auswirkungen der Abschaffung sachgrundloser Befristungen. IAB-Stellungnahme, 01/2014, Nürnberg 2014, S. 4)

Man muss diese Schlussfolgerung nicht teilen, aber sie ist sicher das Ergebnis eines Abwägungsprozesses hinsichtlich der Vor- und Nachteile einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und der Abschätzung der Verhaltensweisen der Arbeitsmarktakteure, vor allem der Arbeitgeber.

Aber vielleicht ist die Forderung nach einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen, wie sie nun auch von Martin Schulz in den politischen Diskursraum geworfen wird, als Chiffre zu verstehen, als Adressierung einer emotionalen Schicht jenseits abstrakter arbeitsmarktlicher Befunde, deren Resonanzboden durch eine verunsicherte Gesellschaft aufgrund vermeintlicher, vermuteter und auch tagtäglich erlebter Abstiege und Ausschlüsse strukturiert ist. Wenn, dann wäre das in einer risikoaversen Gesellschaft wie in Deutschland gut gewählt. Denn die Sicherheitsbedürfnisse werden zumindest für die Betroffenen durch Befristungen – selbst wenn sie am Ende der erwerbsbiografischen Kette nur ein Durchgangsstadium darstellen – massiv verletzt und wer wünscht sich nicht ein stabiles Beschäftigungsverhältnis? Wobei unbefristet faktisch nun gerade nicht lebenslange Beschäftigungsgarantie bedeutet (wenn wir von Teilen des öffentlichen Dienstes absehen), wie die vielen Arbeitnehmer wissen, denen aus welchen Gründen auch immer gekündigt wird.

Insofern hat Martin Schulz sicher aus politpsychologischen Gründen einen Nerv bei vielen getroffen. Aber wie weit Theorie und Praxis dann in der wirklichen Wirklichkeit auseinanderliegen (können), verdeutlicht ein Blick auf das Haus der Ministerin, die bei der Schulz-Rede in Bielefeld auch anwesend war – gemeint ist Manuela Schwesig (SPD). Die hat mal vor einiger Zeit mit Blick auf die (möglichen) Auswirkungen der Befristungen gesagt: „Befristete Jobs wirken wie die Anti-Baby-Pille.“ Und dann berichtet  Johanna Roth in ihrem Artikel Zeitverträge als Anti-Babypille  aus dem Bundesfamilienministerium das hier:

»Die Anzeige klingt, als brauche Manuela Schwesig (SPD) einen ganzen Schwung neuer MitarbeiterInnen: Das Familienministerium sucht derzeit Sozial- und WirtschaftswissenschaftlerInnen „für verschiedene Bereiche des Hauses“, darunter für Familie, Gleichstellung, Kinder, Jugend.
Gefragt sind gute Noten, Fremdsprachenkenntnisse und die Bereitschaft zu Dienstreisen. Eines sollten die BewerberInnen aber besser nicht haben: Kinderwunsch. Denn die ausgeschriebenen Stellen sind auf zwei Jahre befristet …  Im Familienministerium ist der Anteil der befristet Beschäftigten zwischen 2004 und 2013 rasant gestiegen: von 1,2 auf 18,6 Prozent … Damit gehört das Familienministerium zu den Spitzenreitern unter den befristenden Bundesministerien.«

Übrigens weist der Artikel auch auf eine Folge der sachgrundlosen Befristungen hin, die häufig vergessen wird: »Eine zeitliche Befristung von bis zu zwei Jahren ist gesetzlich gestattet, ohne dass dafür ein sachlicher Grund angegeben werden muss. Das ist aber nur zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber in den vergangenen drei Jahren kein Arbeitsverhältnis bestanden hat. In diesem Fall bedeutet das: Werden die Verträge nicht entfristet, sind die WissenschaftlerInnen für die nächsten drei darauf folgenden Jahre für den Dienst bei Bundesbehörden gesperrt und müssen sich ein anderes Arbeitsfeld suchen.«
Man könnte natürlich auf die Idee kommen, dass die Schulz-Forderung nun sofort aufgegriffen und dort mit Leben gefüllt wird, wo man personalpolitische Verantwortung hat. Wie werden sehen, dass das nicht passieren wird, nicht nur, aber eben auch aus systemischen Gründen des öffentlichen Dienstrechts.

Offenbar ist es wieder einmal nicht so einfach, die Sonntagsreden mit dem tagtäglichen Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht so gemeint, sondern wie angedeutet ein Sprung in das Planschbecken einer verunsicherten Gesellschaft, die dringend und verständlicherweise auf Symbole wartet, dass man was ändern könnte.

Möglicherweise gut gemeint, aber mit einem sehr problematischen Ergebnis: Die geplante EU-Dienstleistungskarte

Man kennt das in der Politik zur Genüge: Eigentlich (manchmal auch nur angeblich) will man etwas verbessern und in der Folge des eingeschlagenen Weges wird es dann schlimmer und das Ergebnis schlechter als vorher. Nehmen wir als Beispiel die Freizügigkeit in der EU, die eben auch Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Freizügigkeit der Selbständigen bedeutet. Dazu hat die Kommission Anfang des Jahres Vorschläge veröffentlicht: Neue Impulse für eine europäische Dienstleistungswirtschaft. Damit sollen bürokratische Hürden für Unternehmer und Freiberufler abgebaut werden. Und eine Komponente der Vorschläge ist die neue „Elektronische Europäische Dienstleistungskarte“. Eigentlich soll die EU-Dienstleistungskarte für bessere Arbeitnehmer-Freizügigkeit sorgen und es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus einem EU-Land vereinfachen, in anderen EU-Staaten zu arbeiten.  Hört sich nach einem guten Unterfangen an und dann wird man vom Deutschen Gewerkschaftsbund mit so einer Meldung konfrontiert: Wie die EU-Kommission deutsche Arbeitsstandards gefährdet. Wie das? Um das zu verstehen, muss man sich in einem ersten Schritt auseinandersetzen mit zwei grundsätzlich divergierenden Prinzipien – dem „Ziellandprinzip“ versus „Herkunftslandprinzip“.

Das erläutert der DGB mit Blick in die Vergangenheit so: » Eigentlich soll in der EU bei Arbeitnehmern, die grenzüberschreitend tätig sind, das so genannte Ziellandprinzip gelten. Heißt: Wer in Deutschland arbeitet, für den gelten die deutschen Arbeitsstandards – zum Beispiel der deutsche Mindestlohn. Beim Streit um die EU-Dienstleistungsrichtlinie vor rund zehn Jahren konnten die Gewerkschaften dieses Ziellandprinzip durchsetzen und verhindern, dass das „Herkunftslandprinzip“ eingeführt wurde. Das hätte bedeutet, dass heute etwa für Arbeitnehmer aus der Slowakei, Portugal oder Bulgarien, die in Deutschland arbeiten, slowakische, portugiesische, beziehungsweise bulgarische Standards (wie etwa die dortigen Mindestlöhne) gegolten hätten.«

Also ist doch alles gut aus Sicht des Landes, in dem dann die Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten tätig sind. Oder doch nicht? Die Gewerkschaften befürchten nun, dass es mit der neuen EU-Dienstleistungskarte faktisch zu einer Aushöhlung des Ziellandprinzips kommen könnte. Der DGB formuliert seine Bedenken so:

»Der DGB befürchtet jetzt, dass mit der Dienstleistungskarte de facto das Herkunftslandprinzip durch die Hintertür eingeführt werden soll. Denn: Die Dienstleistungskarte wird im Heimatstaat des Unternehmens ausgestellt, bei dem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist.  Sie soll bescheinigen, dass das Unternehmen die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, in einem anderen Land tätig zu werden und die dortigen Arbeitsstandards einhält. Kontrollieren und bestätigen sollen das Behörden im Herkunftsland. Doch woher soll beispielsweise eine bulgarische Behörde wissen, ob ein bulgarisches Unternehmen für seine bulgarischen Beschäftigten in Deutschland den geltenden Arbeits- und Gesundheitsschutz einhält? Oder die korrekten Mindestlöhne zahlt?«

Eine solche Prüfung und Kontrolle der deutschen Standards sei für ausländische Behörden „kaum möglich“, wird DGB-Vorstand Körzell zitiert. Schlimmer noch: Der „ausländische Dienstleistungserbringer“, also das ausländische Unternehmen, werde so „von der Verpflichtung befreit, dem Zielland nachzuweisen, dass er die dortigen Regeln einhält. Die Behörde im Zielland muss stattdessen verstärkt und unter engem Zeitdruck nachweisen, dass der Antragsteller die Regeln nicht einhält.“ Den Krieg haben die schon am Anfang verloren.

Auch aus Österreich kommt Kritik, über die beispielsweise dieser Artikel informiert: Baugewerkschaft warnt vor EU-Deregulierung: »Die österreichische Gewerkschaft Bau, Holz (GBH) hat die geplante Einführung einer elektronischen EU-Dienstleistungskarte kritisiert. »Sollte die EU-Dienstleistungskarte für Selbständige so kommen, werden es ausländische ›schwarze Schafe‹ in Zukunft noch leichter haben, österreichische Unternehmen vom Markt zu verdrängen«, sagte der GBH-Chef Josef Muchitsch. Mit der Einführung der Karte sei eine Deregulierung des Arbeitsmarktes verbunden. Die Unternehmer würden es bei deren Ausstellung nur mit den Behörden ihres jeweiligen Landes zu tun haben, österreichischen Stellen seien die Hände gebunden. »Ein Heer von ›Einzelunternehmern‹ würde mit Dumpingkonditionen jeden seriösen Wettbewerb zerstören«, so Muchitsch.«

An dieser Stelle kommt auch vom deutschen Handwerk Kritik, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Handwerk ärgert sich über Brüssel. Die Handwerker zitieren nicht die Gewerkschaften, sondern die beiden Vorsitzenden des „Parlamentskreises Mittelstand Europe“ der CDU/CSU- Gruppe in der Europäischen Volkspartei, Markus Pieper (CDU) und Markus Ferber (CSU), die in dem vorgeschlagenen Dienstleistungspaket einen „weiteren Schritt in Richtung Deregulierung reglementierter Berufe“ – wie bei Architekten und Ingenieuren sowie beim Handwerk- sehen. Zur geplanten EU-Dienstleistungskarte wird – die Bedenken der Gewerkschaften stützend – ausgeführt:

»Kritisch äußerten sie sich auch zu dem Vorschlag für eine Dienstleistungskarte. Sie soll es Dienstleistern ermöglichen, mit einem lediglich im Herkunftsland ausgestellten Dokument dem Aufnahmeland die für das Anbieten der Dienstleistung notwendigen Informationen mitzuteilen. Dieses System soll vorerst im Baugewerbe zur Verfügung stehen. „Die Idee, grenzüberschreitendes Arbeiten zu entbürokratisieren, ist zu begrüßen. Dennoch liegen die Ursachen des geringen grenzüberschreitenden Dienstleistungsangebots in der Baubranche in natürlichen Hindernissen wie Sprache oder unterschiedlichen technischen Ausstattungen“, erläuterten die EU-Politiker. Die Dienstleistungskarte würde nach ihrer Einschätzung diese Hindernisse nicht beheben. Stattdessen fürchten sie, dass die Dienstleistungskarte die Aufsicht der Behörden aushebeln könnte. „Gerade in Bereichen, die für unsere Sicherheit derart wichtig sind wie dem Bau, dürfen wir unsere hohen Standards nicht für mehr Angebot und Wettbewerb riskieren“, so Piper und Ferber.«

Das wird allerdings offensichtlich unter den Unionspolitikern nicht einheitlich so gesehen: »Die Dienstleistungskarte könne hilfreich sein, um administrative Auflagen einzubremsen und für eine schnelle Abwicklung der Formalitäten zu sorgen, sagte dagegen der Sprecher der EVP-Fraktion im Binnenmarktausschuss des Europaparlaments, Andreas Schwab (CDU).«

Das Arbeitsangebot wird kleiner werden – auch wenn mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen (sollten). Also wahrscheinlich, nach einer neuen Studie des IAB

Mit den Vorhersagen, generell, aber vor allem die demografische Entwicklung betreffend, ist das ja so eine Sache. Auf der einen Seite wurde und wird „die“ demografische Entwicklung immer sehr gerne instrumentalisiert für eigentlich ganz andere Zwecke, beispielsweise den Sozialabbau (weil wir uns das angeblich wegen des demografischen Wandels nicht mehr leisten können). Besonders beliebt ist das im Bereich der Alterssicherung und dabei vor allem der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Immer mehr Rentner (von denen dann auch noch viele ziemlich langlebig sind, was gut ist für die Menschen, aber schlecht für die Rentenversicherung, die bis zum Ende zahlen muss) stehen immer weniger Menschen gegenüber, die mit ihrer Erwerbsarbeit die Renten erwirtschaften müssen. Das wäre eine wahrlich eigenes Thema, vor allem, was die in der Regel nicht diskutierten Alternativen beispielsweise auf der Finanzierungsseite angeht.

Aber die demografische Entwicklung hat unbestreitbar auch Auswirkungen auf die Arbeitsmarktentwicklung. Das kann jeder nachvollziehen, der heute einen Blick wirft auf ganz normale Belegschaften. Deren Durchschnittsalter liegt in den meisten Unternehmen bei über 50 Jahre, was auch nicht verwundert, wenn man sich verdeutlicht, dass heute die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten „Baby-Boomer“, die Mehrheit stellen und mithin entsprechend auch unter den Beschäftigten den zahlenmäßigen Ton angeben. Noch und in den nächsten Jahren, bis sie in den Ruhestand wechseln.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hat nun eine Studie veröffentlicht, in der die Wissenschaftler unterschiedliche Szenerien gerechnet, bzw. manche würden sagen einen tiefen Blick in die Glaskugel geworfen haben, wie sich denn das Arbeitsangebot in unserer Volkswirtschaft in den vor uns liegenden Jahren entwickeln wird.

Johann Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber (2017): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Arbeitskräfteangebot sinkt auch bei hoher Zuwanderung. IAB-Kurzbericht, 06/2017, Nürnberg 2017

Auch bei einer Nettozuwanderung von 200.000 Personen jährlich sinkt das Arbeitskräfteangebot bis 2060 auf unter 40 Millionen – so hat das IAB die zugehörige Pressemitteilung überschrieben: »Liegt die jährliche Nettozuwanderung in den nächsten Jahrzehnten mit rund 200.000 im Bereich des langjährigen Durchschnitts in Deutschland, würde das Arbeitskräfteangebot vom heutigen Stand mit rund 46 Millionen bis zum Jahr 2060 auf unter 40 Millionen sinken. Die voraussichtlich weiter steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Älteren ist dabei schon berücksichtigt. Um das Arbeitskräfteangebot bis 2060 auf dem heutigen Niveau zu halten, wäre eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Personen erforderlich.«

Wie immer bei solchen Vorausberechnungen ist alles eine Frage der Annahmen, die man zugrundelegen muss. Hinsichtlich der Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials, also die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehenden Personen, ist die Zuwanderung nach Deutschland sicher eine, wenn nicht die schwierigste Komponente in der Rechnung. Die Wissenschaftler schreiben selbst in ihrer Studie mit Blick auf die zurückliegenden Jahre: »Die Zahl der Zuzüge nach Deutschland überwog die der Fortzüge in den letzten fünf Jahren, also seit 2011, um fast 2,8 Mio. Dieser Wanderungsüberschuss sowie die seit Kurzem steigenden Geburtenziffern wecken die Hoffnung, dass damit der demografisch bedingte Abwärtstrend des Erwerbspersonenpotenzials gebremst, vielleicht sogar gestoppt wird.« Im weiteren Gang der Untersuchung zeigen sie aber, dass diese Hoffnung nicht bestätigt werden kann, wenn man ihren Rechenergebnissen vertraut.

Die Forscher arbeiten mit unterschiedlichen Szenarien und begründen das auch, was wichtig ist vor dem Hintergrund, dass man den Vorhersagen der Vergangenheit – rückblickend ist man immer schlauer – vorwerfen kann, dass die Zuwanderungen nach Deutschland zu niedrig angesetzt waren:

»Weil Wanderungen kaum prognostizierbar sind, wurde der Einfluss der Zuwanderung mit unterschiedlichen jährlichen Wanderungsannahmen modelliert. Eine hypothetische Variante „ohne Wanderungen“ berücksichtigt nur die Einflüsse der Alterung und der natürlichen Bevölkerungsbewegung (Geburten und Sterbefälle), also überhaupt keine Wanderungen. Die Varianten, die Wanderungsbewegungen einschließen, gehen ab 2018 von jeweils konstant 100.000, 200.000, 300.000 oder 400.000 Personen Nettozuwanderung pro Jahr aus.«

Die Abbildung aus der IAB-Studie mit den Auswirkungen der drei dort dargestellten Szenarien hinsichtlich der Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials verdeutlicht, wie stark die erwartbaren Werte streuen, vor allem bei Berücksichtigung von Zuwanderung.

Die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials  lässt sich in die Einflussfaktoren Demografie, Verhalten (Erwerbsquoten) und Migration zerlegen:

(1) Die demografische Komponente umfasst die Veränderungen, die sich ergeben, wenn Jüngere ins Erwerbsalter hineinwachsen und Ältere aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

(2) Die Verhaltenskomponente bezieht sich auf die Erwerbsbeteiligung nach Altersgruppen und Geschlecht. Das muss dann auch noch differenziert werden nach Deutschen und Ausländern, weil es hier erfahrungsgemäß Unterschiede gibt. In ihren Berechnungen gehen die Wissenschaftler von einem Anstieg der Erwerbsquoten bei Frauen und Älteren aus. Bei den Älteren ist der angenommene Anstieg vor allem eine Folge der Rentengesetzgebung, insbesondere der sogenannten „Rente mit 67“.

(3) Der Migrationseffekt hängt entscheidend vom Zuwanderungssaldo ab. Bei dem in der Studie angenommenen jährlichen Wanderungssaldo von 200.000 Personen würde bis 2030 ein Plus von 2,4 Mio. Erwerbspersonen aufgebaut.

Ein zentrales Ergebnis lautet: »Aus der Komponentenzerlegung wird die überragende Bedeutung der Demografie für die künftige Entwicklung des Arbeitskräfteangebots deutlich: Eine höhere Erwerbsbeteiligung und – aus heutiger Sicht – erwartbare Wanderungsannahmen können die demografischen Effekte nicht mehr kompensieren.«

Fuchs/Söhnlein/Weber (2017: 7) bilanzieren die Ergebnisse ihrer umfangreichen Berechnungen so:

»Das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland wird voraussichtlich sinken. Selbst Szenarien mit optimistischen Annahmen zeigen, wie schwer es wird, diesen Trend zu verlangsamen. Die hohe Nettozuwanderung der vergangenen fünf Jahre von insgesamt fast 2,8 Mio. Personen hat zwar die Ausgangsbasis verbessert, aber bei weitgehend unveränderten demografischen Rahmenbedingungen werden sich die vorgegebene Altersstruktur und die weiterhin zu niedrigen Geburtenraten mittel- und längerfristig durchsetzen. Bei Wanderungsströmen, wie sie über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit zu beobachten waren, nimmt das Erwerbspersonenpotenzial bis 2030 zwar „nur“ um 3 Prozent ab; bis 2050 sind es aber weitere 8 Prozent. Im Jahr 2060 könnte das Erwerbspersonenpotenzial auf unter 40 Mio. Erwerbspersonen gesunken sein, wobei höhere Erwerbsquoten von Frauen und Älteren eingerechnet wurden.«

Und langfristig hohe Zuwanderungssalden sind nicht leicht aufrechtzuerhalten und noch höhere (die man quantitativ brauchen würde) kaum herstellbar. Die Autoren der Studie verweisen darauf, dass die aktuell hohe Zuwanderung aus EU-Staaten künftig abflachen wird, vor allem weil die Geburtenraten in den meisten Ländern der EU zu niedrig sind. Das gilt gerade für die osteuropäischen Länder.

Was die Autoren an dieser Stelle nicht sagen: Natürlich könnte man sich höhere Zuwanderungszahlen vorstellen, aber eben nicht aus europäischen Ländern, sondern vor allem aus den Maghreb-Staaten und aus Afrika. Das würde rechnerisch für sehr hohe Zuwanderungszahlen reichen, aber es ist relativ klar, dass es kaum einen ernstzunehmenden Politiker gegen wird, der den Menschen hier eine Nettozuwanderung von jährlich 500.000 Menschen aus Afrika vorschlagen wird. Die gesellschaftlichen Implikationen sind vielschichtig und hochgradig konfliktär, um das vorsichtig auszudrücken.

Und eine weitere wichtige Anmerkung, die als Ergänzung, nicht aber als Kritik an der Studie zu verstehen ist, deren Leistung in einer quantitativen Abschätzung besteht: Selbst wenn man eine rechnerische Kompensation erreichen würde durch Zuwanderung bedeutet das noch lange nicht, dass damit auch eine Passungsfähigkeit hinsichtlich der erforderlichen Qualifikationsprofile auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist. Wir erleben gerade bei der überaus schwierigen Aufgabe der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge, wie lange man für eine Irgendwie-Integration in den Arbeitsmarkt benötigt und dass es einen nicht kleinen Anteil geben wird, die auch nach vielen Jahren kein Fuß haben fassen können in der Erwerbsarbeitswelt.

Und wenn man bedenkt, dass derzeit und vor allem mit Blick auf die Baby-Boomer-Generation in den vor uns liegenden Jahren zahlreiche gut qualifizierte Arbeitnehmer/innen aus dem sogenannten „mittleren Qualifikationsbereich“ (also Handwerker und Facharbeiter beispielsweise) altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen, dann wird in Umrissen erkennbar, welchen gewaltigen Qualifizierungsbedarf wir selbst bei einer ordentlichen Zuwanderung hätten, nur um den Ersatzbedarf abdecken zu können. Eigentlich, so die zentrale arbeitsmarktpolitische Schlussfolgerung, hätte schon längst eine massive Qualifizierungsoffensive anlaufen müssen. Nur ein Beispiel, um nicht immer auf Zuwanderer zu hoffen oder von ihnen enttäuscht zu werden: Wir haben über 1,2 Million Menschen zwischen 20 und 30 Jahre, die keinen Berufsabschluss haben. Viele von ihnen sind früher, als es „zu viele“ Ausbildungsplatzbewerber und „zu wenig“ Ausbildungsplätze gegeben hat, durch den Rost gefallen. Wenn es uns gelingen würde, durch ein attraktives Angebot diese nun schon lebensälteren Arbeitnehmer zum Nachholen eines Berufsabschlusses zu bewegen, in dem man beispielsweise – was es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre schon mal gegeben hat – den Betroffenen ein Unterhaltsgeld von bis zu 90 Prozent ihres letzten Nettoentgelts zahlen würde, dann könnte wir den absehbaren Fachkräftemangel mit Sicherheit deutlich abschwächen. Das allerdings setzt politische Entscheidungen voraus, die mit einer weiten Perspektive hinterlegt sind. Daran mangelt es ganz erheblich.

Zu hoffen, eine große Zuwanderung wird uns arbeitsmarktlich retten, das zeigt die neue Studie im Detail, wird sich als eine große Enttäuschung erweisen.

Fälle, Bestandszahlen, Köpfe und Jobcenter. Also wieder einmal das Thema Sanktionen. Und die Statistik

Immer diese Zahlen. Man kann ja auch verdammt schnell durcheinander kommen. Aber knackige Überschriften verkaufen sich natürlich gut, sie lenken die knappe Ressource Aufmerksamkeit auf die Nachricht, die sowieso mal wieder vergessen sein wird. Nehmen wir das hier als Beispiel: Jobcenter bestrafen wieder mehr Hartz-IV-Empfänger. Und der aufmerksam gemachte Leser erfährt dann recht eindeutig: »Das Jobcenter hat 2016 wieder mehr Hartz-IV-Empfänger bestraft: Rund 135.000 von ihnen wurde das Existenzminimum gekürzt.«

Nun wird schon an dieser Stelle der eine oder andere stutzen und sich fragen – gab es da nicht mal ganz andere Zahlen? Wurde nicht von fast einer Million Sanktionen gesprochen, was natürlich ein erheblicher Unterschied wäre?

Man muss den Artikel einfach weiterlesen, dann stößt man auf diese – sachlich korrekte – Formulierung im Text: »Im Schnitt waren 2016 monatlich 134.390 Menschen von Leistungskürzungen betroffen.« Es geht also, anders als am Anfang in den Raum gestellt, um eine Monatszahl und eben nicht um eine Jahreszahl. Die lag nämlich 2016 bei 945.362, also fast eine Million, neu verhängter Sanktionen. Wobei man nun nicht davon ausgehen darf, dass es sich um 945.362 Hartz IV-Empfänger handelt, denn einer von denen kann durchaus von mehreren Sanktionen betroffen sein, Fälle sind eben nicht immer gleich Köpfe.

Und der Blick auf die Zahlen, die aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf Fragen der Bundestagsabgeordneten Katja Kipping von den Linken stammen, fördert einen differenzierten Blick zu Tage: Tatsächlich angestiegen ist die Zahl der durchschnittlich in einem Monat des vergangenen Jahres mit mindestens einer Sanktion belegten Hartz IV-Empfänger, um +2,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Gleichzeitig zeigen die Zahlen aber auch, dass die neu verhängten Sanktionen um 3,4 Prozent zurückgegangen sind.

Ob die Jobcenter nun wirklich wieder „mehr bestrafen“, kann man letztendlich nur beantworten, wenn man die Grundgesamtheit der zu bildenden Sanktionsquote berücksichtigt, also die erwerbsfähigen und damit grundsätzlich sanktionierbaren Zahl der Hartz IV-Emfänger insgesamt. Wenn die deutlich stärker zurückgegangen ist als die Zahl der neu verhängten Sanktionen, dann wird aus dem „mehr“ ein „weniger“.

Die aufmerksamen Leser dieses Blogs werden sich möglicherweise erinnern – war da nicht mal was zu diesem Thema vor gar nicht so langer Zeit? Genau, da war das hier: Die Jobcenter werden „weicher“ und sanktionieren Hartz IV-Empfänger weniger. Ein Fall für die kritische Statistik vom 16. Oktober 2016. Damals ging es – übrigens mit Bezug auf die etwas voreilig interpretierten Sanktionszahlen des ersten Halbjahres 2016 um eine genau anders gelagerte These:

»Weniger Strafen gegen Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen, so konnte man das mit den gewohnt großen Buchstaben in der BILD-Zeitung lesen. Die FAZ hat sich sogar zu dieser Überschrift hinreißen lassen: Deutlich weniger Strafen für Hartz-IV-Empfänger: »Die Zahl der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger ist auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gefallen. Das soll auch am sanfteren Durchgreifen der Jobcenter liegen.« Mit Blick auf den letzten Punkt ist mein absoluter Favorit diese Überschrift: Die Jobcenter werden weicher

Tatsächlich war es genau nicht so, denn ein detaillierter Blick auf die Daten hat zeigen können: Die Zahlen über eine rückläufige Zahl der neu verhängten Sanktionen waren nicht etwa falsch, die stimmen schon. Aber neben der Grundlagenweisheit, dass man nur dann von „deutlich weniger“ bei den Sanktionen sprechen kann, wenn die Nennergröße gleich geblieben ist, nicht aber, wenn parallel die Zahl der tatsächlich oder potenziell sanktionierbaren Hartz IV-Empfänger zurückgegangen ist und das in einem stärkeren Maße als die Verringerung bei den Absolutzahlen die Sanktionen betreffend, muss man bedenken, dass die Sanktionen einmal neu verhängt werden, dann aber oft eine dreimonatige Laufzeit haben, in denen der Betroffene sanktioniert wird. Und drei Monate in der Bestandsstatistik auftauchen (können). In dem damaligen Beitrag wurde Paul. M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) zitiert, der herausgefunden hat: »Der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, deren Leistungsanspruch durch eine Sanktion gekürzt wurde, war in jedem der ersten sechs Monate des Jahres 2016 größer als in den entsprechenden Monaten des Vorjahres.«

Was einen sozialpolitisch besonders umtreiben sollte – ausweislich der Daten (dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags) waren jeden Monat im vergangenen Jahr durchschnittlich 44.383 Hartz IV-Empfänger sanktioniert, in deren Haushalt ein oder mehrere Kinder leben. Vgl. dazu auch ausführlicher den Beitrag Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen vom 14. November 2016.

Aber abschließend, weil wir es hier vor allem mit de Zahlen zu tun haben, der Hinweis auf eine weitere statistische Nahtoderfahrung, von der der bereits erwähnte Paul M. Schröder berichtet: Er ist auf diesen Artikel gestoßen: Eine Entwarnung, die keine ist. Darin geht es um die neuesten Vorhersagen der demografischen Entwicklung, die von weniger dramatischen Auswirkungen auf die Bevölkerungszahl in Deutschland sprechen als bislang. Und in dem Artikel stößt man dann auf diese Formulierung: Der Altenquotient »meint das Verhältnis von Menschen im Rentenalter zur Population im erwerbsfähigen Alter. 2015 lag dieser Wert bei 34 Prozent. Nach verschiedenen Modellrechnungen könnte der Altenquotient im Jahr 2035 bei 45 bis 47 Prozent liegen. Auf jeden Erwerbsfähigen käme dann ein Rentner.«

Hier nun zuckt nicht nur Paul M. Schröder zusammen. Er schreibt in seinem Beitrag Weser-Kurier: „Altenquotient bis 47 Prozent“ und „auf jeden Erwerbsfähigen ein Rentner“?: Der genannte Altenquotient von „45 bis 47 Prozent“ ist schon richtig, wenn man die Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Variante 2) zugrundelegt: »14 Millionen unter 20 Jahre, 45 Millionen zwischen 20 Jahre und gesetzlicher Altersgrenze (67 Jahre) und 21 Millionen im gesetzlichen Rentenalter. Der im Weser-Kurier genannte Altenquotient ergibt sich aus dem Verhältnis von 21 Millionen Menschen im gesetzlichen Rentenalter und 45 Millionen im sogenannten erwerbsfähigen Alter von 20 Jahren bis zur gesetzlichen Altersgrenze.«

Allerdings stellt sich hier die Frage: Wei kommt bei 45 Millionen Menschen im „erwerbsfähigen Alter“ und 21 Millionen Menschen im gesetzlichen Rentenalter „auf jeden Erwerbsfähigen … ein Rentner“, wie das im Artikel des Weser-Kurier behauptet wird? Das ist natürlich Unsinn.
Paul M. Schröder hat dann die Zeitung am 6. und 7. Februar die Zeitung gebeten, diesen offensichtlichen Unsinn zu korrigieren. Am 8. Februar bekam Schröder eine Mail von der Zeitung: „Sie haben natürlich völlig recht, das „1:1-Ergebnis“ ist ja angesichts der genannten Werte unlogisch. Das ist leider am Ende einer etwas hektischen Produktionszeit am Sonntagabend passiert.“
Kann ja mal passieren, in der Hektik, keine Frage. Aber: Eine Korrektur erfolgte nicht, auch nicht in der Online-Ausgabe der Zeitung. Und tatsächlich, der Artikel mit der offensichtlichen Unsinnsrelation wurde heute, am 16. Februar 2017, aufgerufen. Keine Änderung, alles so, wie zitiert und kritisiert.

Und da sind wir bei einem echten Problem eines Teils der Medien: Fehler werden nicht (mehr) korrigiert, selbst wenn sie angesprochen werden. Man sitzt das einfach aus. Auch ein Beispiel für die zahlreichen Qualitätsprobleme, mit denen man so konfrontiert wird. Gerade wenn man viel mit Zahlen arbeitet, dann weiß man, wie schnell einem ein Fehler unterlaufen kann. Alles kein Problem, wenn man das dann wieder korrigiert und auch offensiv vertritt, das man sich vertan hat. Gerade dann, wenn e sich nicht um irgendwelche Zahlen wie die der Schafe in Deutschland handelt, sondern aus den genannten Daten sozialpolitische Schlussfolgerungen abgeleitet werden oder man diese Ableitung machen könnte.