Zwischen den Profis und den Betroffenen in der Psychiatrie: Genesungsbegleiter mit einem Bein auf jeder Seite

Themen wie psychische Erkrankungen oder die Situation in den Psychiatrien werden gerne umgangen. Wenn, dann tauchen sie punktuell mal auf in den Medien, vor allem, wenn sie Skandalisierungspotenziale haben. Auf der anderen Seite entlastet das psychiatrische Versorgungssystem, ambulant und stationär, die Gesellschaft in vielfältiger Hinsicht. Es ermöglicht den anderen, „unbehelligt“ leben zu können und gerade diese Erwartung wird dann auch seitens der Politik und der Gesellschaft insgesamt an die Einrichtungen und Dienste und damit an die Fachkräfte herangetragen, zuweilen werden sie auf diese Funktionalität reduziert.

Aber die Arbeit dieser Fachkräfte ist überaus schwierig und verlangt einen ganz besonderen Einsatz. Und sie können nur gewinnen, wenn es zusätzliche Angebote von Menschen gibt, die eine ganz besondere Qualifikation besitzen. Von Menschen, die zwischen den Fachkräften und den Patienten stehen (können). An dieser Stelle kommen die „Genesungsbegleiter“ auf die Tagesordnung.

Was muss man sich darunter vorstellen? Menschen, die psychische Krisen erfahren und durchlebt haben, helfen akut Betroffenen als Genesungsbegleiter in alltäglichen Fragen weiter. Rund 1.000 ehemalige Patienten haben inzwischen eine entsprechende Ausbildung im deutschsprachigen Raum absolviert, berichtet Susanne Werner in ihrem Artikel Ex-Patienten helfen in der Psychiatrie. Darin illustriert sie das an einem Beispiel:

»Die junge Frau hatte plötzlich schreckliche Wahnvorstellungen und schien in ihrer eigenen Welt gefangen. Anna B. ängstigte das nicht. Sie blieb einfach bei der Patientin, die immer wieder davon erzählte, dass sie verfolgt werde. „Während der akuten Psychose habe ich vor allem zugehört und erst mal alles angenommen, was sie gesagt hat“, erzählt sie. Dass sich Anna B. von dem verwirrten Reden der Patientin nicht abschrecken ließ, hat einen Grund: Sie hat selbst auch schon unter einer akuten Psychose gelitten und weiß, wie sehr einen die eigenen Ängste einnehmen können. 2009 verbrachte die damals freiberuflich tätige Künstlerin mehrere Monate in einer Psychiatrie. Heute arbeitet Anna B. dort als „Genesungsbegleiterin“.«

Das hört sich nach einem sinnvollen Ansatz an. »Die Idee, ehemalige Psychiatrie-Patienten zu Experten in eigner Sache zu machen, geht auf eine vor Jahren gestartete Initiative zurück. Damals haben Fachkräfte, Wissenschaftler und Betroffene im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes die einjährige „EX-IN“-Ausbildung entwickelt. Die Abkürzung steht für das englische „Experienced-Involvement“ und bedeutet „Einbeziehung Psychiatrie-Erfahrener“. Ziel war es, Menschen, die selbst schwere psychische Krisen überwunden hatten, zu qualifizieren, damit sie den Akut-Betroffenen später als Vorbilder und zugleich als Ansprechpartner weiterhelfen können.«

Die ersten Kurse wurden 2005 angeboten. Die Ausbildung zum Genesungsbegleiter hat schon mal per se einen kontrafaktischen Effekt: „Der Bewerber muss selbst eine sehr tief gehende psychische Krise erlebt haben, um sich überhaupt für die Qualifizierung bewerben zu können. Damit wird das, was ehemalige Psychiatrie-Patienten oft in der Arbeitswelt erleben, regelrecht auf den Kopf gestellt“, wird Gyöngyvér Sielaff, Pädagogin und Psychologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zitiert.

Insgesamt umfasst die Qualifizierung zum Genesungsbegleiter zwölf Module mit rund 300 Unterrichtsstunden sowie zwei Praktika in psychiatrischen Einrichtungen. Mittlerweile können sich krisenerfahrene Menschen an 32 Standorten im deutschsprachigen Raum zum Genesungsbegleiter ausbilden lassen. Rund 1.000 Absolventen gibt es mittlerweile, so der Verein EX-IN Deutschland. Und die Anschlussperspektiven? Beispiel Hamburg: Etwa jeder Zweite der rund 220 Absolventen in Hamburg arbeitet inzwischen in der ambulanten oder stationären psychiatrischen Versorgung. Am UKE in Hamburg gebe es inzwischen sieben feste Stellen für Genesungsbegleiter.

Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin Mitte und neu gewählter Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), begrüßt den Ansatz in einem Interview unter der Überschrift „Auf Augenhöhe mit den Professionellen“: Mit den Genesungsbegleitern erhalten die Patienten, die sich mit den professionellen Helfern schwertun, einen alternativen Ansprechpartner. Genesungsbegleiter übernehmen eine Brückenfunktion auf der Station, die für alle Seiten gewinnbringend ist. Auf den Stationen arbeiten die Genesungsbegleiter auf Augenhöhe mit den professionellen Kräften zusammen. Deren Perspektive rückt damit näher an die Professionellen heran und wird eher verstanden.

Und wie werden die Genesungsbegleiter finanziert? Es sind meistens Gelder aus Sonderverträgen mit den Krankenkassen, in die auch die ambulante Versorgung eingeschlossen ist. Zum Teil kommen die Mittel aus Modellprojekten. Sinnvoll wäre eine Finanzierung in der Regelversorgung.

Sie wächst und wächst, „die“ Beschäftigung. Aber welche eigentlich? Eine Dekomposition der Erwerbstätigenzahlen

Kurz und knapp ist die Überschrift der Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit (BA) anlässlich der Bekanntgabe der Arbeitsmarktzahlen für den April 2017: „Gute Entwicklung setzt sich fort“. Die Zahl der arbeitslosen Menschen hat von März auf April um 93.000 auf 2.569.000 abgenommen. Es soll an dieser Stelle gar nicht auf die Zahl 2,6 Mio. Arbeitslose genauer eingegangen werden, liegt die „wahre“ Zahl der Arbeitslosen – wie schon in vielen früheren Beiträgen immer wieder hervorgehoben – doch tatsächlich mindestens um eine Million höher, also bei 3,6 Mio., ausweislich der Angaben der BA zur „Unterbeschäftigung“: »Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im April 2017 auf 3.603.000 Personen.«

Hier soll es um einen anderen Aspekt gehen: »Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben im Vergleich zum Vorjahr weiter kräftig zugenommen.« Und das Statistische Bundesamt hat die frohe Botschaft aus Nürnberg schon einen Tag zuvor mit dieser Ansage unterstrichen: März 2017: Erwerbstätigkeit mit stabilem Aufwärtstrend: » Im März 2017 waren nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) rund 43,8 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Gegenüber März 2016 nahm die Zahl der Erwerbstätigen um 641.000 Personen oder 1,5 % zu.« Die Abbildung am Anfang der Beitrags visualisiert die positive Entwicklung der Beschäftigtenzahlen des Statistischen Bundesamt – offensichtlich schreitet das deutsche „Jobwunder“ voran.

Nun haben solche Zahlen die Folge, dass sie zumeist unvollständig interpretiert und unters Volks gebracht werden. Dann kommen solche Meldungen dabei raus: Immer mehr Menschen haben Arbeit: »Im März sind 43,8 Millionen Menschen in Deutschland einer bezahlten Arbeit nachgegangen. Das hat das Statistische Bundesamt ausgerechnet.« Das ist nun nicht falsch, das kann man der erwähnten Pressemitteilung der Bundesstatistiker durchaus entnehmen, aber es kann problematisch werden, wenn man bedenkt, wie diese formal richtige Botschaft bei vielen Menschen ankommt, also wie die die Zahlen interpretieren. Denn zahlreiche Bürger haben – zumeist unbewusst – eine ganz bestimmte Vorstellung davon, was es heißt, einen Job zu haben oder wenn sie hören/lesen, von Januar 2014 bis zum März 2016 wurden (saisonbereinigt) 1,5 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen, was auch einige aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes abgeleitet haben.

Da denken viele Menschen irgendwie an „normale Jobs“, also eine Vollzeitbeschäftigung als Arbeitnehmer in einem Unternehmen. Die gibt es natürlich auch, aber sie sind nur eine Teilmenge dessen, was unter dem Oberbegriff „Erwerbstätige“ gezählt wird.

Bereits die offizielle Definition von Erwerbstätigen, wie man sie beim Statistischen Bundesamt finden kann, verdeutlicht die enorme Spannweite dessen, was da alles subsumiert wird. Der entscheidende Punkt: Die Zahl der Erwerbstätigen sagt nicht, dass es sich um halbwegs normale Jobs handelt, die hinter der Zahl stehen, das kann sein, muss aber nicht. Beispiel: Eine vollzeitbeschäftigte Mitarbeiterin im Einzelhandel (bislang also = 1 Erwerbstätige) wird ersetzt durch zwei teilzeitbeschäftigte Verkäuferinnen (= 2 Erwerbstätige) oder gar durch vier geringfügig Beschäftigte (= 4 Erwerbstätige) – obgleich die Arbeitszeit (40 Stunden pro Woche) gleich geblieben ist.

Der Zahl der Erwerbstätigen kann man eben nicht ansehen, wer da genau hinter steht. Eine auf 450-Euro-Basis, also geringfügig Beschäftigte, geht in die Statistik der Erwerbstätigen mit dem gleichen Gewicht ein wie eine mit 40 Wochenstunden angestellte und tariflich vergütete Angestellte.

Gemessen werden Köpfe, unabhängig ihres „Gewichts“ bezogen auf die tatsächliche Einbindung in Erwerbsarbeit. Ein erster Blick auf die Daten zeigt für die Jahre seit 2010, dass die „Kopfzahl“-Entwicklung bei den Erwerbstätigen und die Entwicklung der geleisteten Arbeitsstunden, also das Arbeitsvolumen, auseinanderlaufen. Die Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen geht deutlich über die Expansion der geleisteten Arbeitsstunden hinaus. Es ist naheliegend, dass das nur dann passieren kann, wenn der Anteil der Beschäftigten steigt, die von der Arbeitszeit her gesehen weniger als die Beschäftigten früher arbeiten.

Dass diese Vermutung durchaus seine Berechtigung hat, zeigt die Aufarbeitung der Entwicklungsdynamik der einzelnen Komponenten der Erwerbstätigenzahlen, die man beispielsweise in der Arbeitsmarkt-Prognose 2017 des IAB finden kann.

Die Zahl der „marginal Beschäftigten“ und auch die der Selbständigen hat seit 2010 abgenommen und die Zahl der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer hat nur unterdurchschnittlich zugelegt, gemessen an der Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen insgesamt.
Gleichsam nach oben geschossen und mit einem entsprechend überdurchschnittlichen Beitrag zur allgemeinen Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen sind die in regulärer Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer. Für 2017 gehen die Arbeitsmarktforscher des IAB von einer Teilzeitquote bei den beschäftigten Arbeitnehmern in Höhe von 39,4 Prozent aus.

Nun kann man an dieser Stelle argumentieren, eine alte Statistikerweisheit lautet: Auf das Basisjahr kommt es an. Und die bisherige Daten-Präsentation bezog sich auf die Jahre ab 2010. Aber natürlich kann man weiter zurückblicken, um zu prüfen, ob es in der langen Sicht vergleichbare Verschiebungen gegeben hat oder ob sich am aktuellen Rand etwas verändert gegenüber dem, was wir in der Vergangenheit feststellen konnten.

Hinzu liefert das Statistische Bundesamt Daten, die bis 1991 zurückreichen.
Und auch hier sehen wir wieder die unterdurchschnittliche Entwicklung bei den „Normalarbeitnehmern“, die der weit verbreiteten Vorstellung von einem „normalen“ Job entsprechen. Die haben nach 1991 sogar abgenommen, eine Trendwende dieses Abbauprozesses ist erst ab 2007 und mit einer gewissen Dynamik vor allem seit 2011 zu erkennen – das spiegelt sicher die insgesamt gute Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre in Verbindung mit den Engpasserfahrungen eines Teils der Unternehmen, die vor allem auch demografisch bedingt sind, wider. Am aktuelle Rand der Entwicklung nehmen die Vollzeitstellen im sozialversicherungspflichtigen Bereich wieder zu hinsichtlich ihres Beitrags zur Zahl der zusätzlichen Erwerbstätigen. Die veränderte allgemeine Arbeitsmarktlage schlägt sich auf nieder bei der Entwicklung der Selbständigen und darunter bei der Gruppe der Solo-Selbständigen. Deren Zahl hat sich bis 2012 stark erhöht, seitdem geht sie wieder zurück, was auch den Rückgang bei den Selbständigen insgesamt erklären kann. Sicher auch deshalb, weil bisherige Solo-Selbständige, die sich eher aus der Not heraus selbständig gemacht haben, nun wieder in abhängige Beschäftigungsverhältnisse wechseln.

Aber auch aktuell entfallen die meisten zusätzlichen Erwerbstätigen auf den Bereich der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit. Damit wird die langjährige Entwicklung fortgeschrieben. Das hat natürlich Auswirkungen, die sozialpolitisch bedeutsam sind. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat das eine geschlechterpolitische Dimension, denn Teilzeit ist immer noch primär eine Sache der Frauen. Hinzu kommt, dass Teilzeitarbeit überdurchschnittlich stark in Branchen vertreten ist, in denen wir mit einem niedrigen Lohnniveau konfrontiert sind – und selbst innerhalb der Branchen konnten Studien zeigen, dass es einen Lohnunterschied gibt zwischen Arbeitnehmern in Teil- und Vollzeit, vgl. dazu nur als ein Beispiel Elke Wolf: Lohndifferenziale zwischen Vollzeit- und Teilzeit­beschäftigten in Ost- und Westdeutschland. WSI-Diskussionspapier Nr. 174, Düsseldorf, Dezember 2010).

Sozialpolitisch besonders brisant ist die Tatsache, dass wichtige Teile unseres sozialen Sicherungssystems, von der Arbeitslosenversicherung bis hin (vor allem) zur Rentenversicherung, auf dem Modell der möglichst ohne Unterbrechungen praktizierten Vollzeit-Erwerbsarbeit mit einer (mindestens) durchschnittlichen Vergütung basieren, man denke hier nur an die Mechanik der Rentenformel (vgl. hierzu die §§ 64 ff. SGB VI). In der gesetzlichen Rentenversicherung hat man keine reale Chancen, eigenständig ausreichende Sicherungsansprüche aufzubauen, wenn man „nur“ und das über längere Zeiträume Teilzeit arbeitet. In Kombination mit den Merkmalen „Frauen“ und „Niedriglöhne“ hat man dann – wenn keine anderweitige abgeleiteten ausreichenden Sicherungsansprüche existieren oder diese wegbrechen – eine sichere Quelle zukünftiger Altersarmut.

Unabhängig davon und wieder zum Thema dieses Beitrags im engeren Sinne zurückkehrend sollte man an die Zahlen zur Beschäftigungsentwicklung mit großer Demut herangehen, man könnte auch zu größter Skepsis aufrufen. Dies wurde am 4. März 2017 in dem Beitrag Ein Wunder. Ein Beschäftigungswunder. 400.000 Arbeitnehmer sind wieder aufgetaucht. Die Bundesagentur für Arbeit und die Zahlen eindrücklich demonstriert.

Im ausführlichen Monatsbericht Januar 2017 der BA konnte man diese Aussagen lesen: »Der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung hat sich weiter fortgesetzt, wenn auch nicht mehr so stark wie im ersten Halbjahr 2016 … Seit Juni nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung monatsdurchschnittlich um 10.000 zu, nachdem sie von Januar bis Mai noch um 42.000 gewachsen war … Die saisonbereinigte Entwicklung und die Veränderung der Vorjahresabstände zeigen, dass der Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zuletzt deutlich an Dynamik verloren hat, obwohl die reale Wirtschaftsleistung stetig wächst.« Und dann die Überraschung:

Nur wenige Wochen später, anlässlich der Arbeitsmarktzahlen für den Februar 2017 (vgl. dazu Der Arbeitsmarkt im Februar 2017 vom 01.03.2017), wird auf einmal ein ganz anderes Bild hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung gezeichnet: »Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat nach der Hochrechnung der BA von November auf Dezember saisonbereinigt um 82.000 zugenommen. Insgesamt waren im Dezember nach hochgerechneten Angaben 31,88 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 735.000 mehr als ein Jahr zuvor.« Moment, wird der eine oder andere an dieser Stelle aufmerken, noch einen Monat vorher wurden doch „nur“ 332.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als Vorjahr gemeldet und die rückläufige Dynamik beim Beschäftigungsaufbau beklagt. Die BA schiebt aber sogleich eine Erläuterung zu dieser nun wirklich nicht unerheblichen Differenz nach: » Die Angaben für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und die Erwerbstätigkeit wurden ab August 2016 deutlich nach oben korrigiert, weil es Anfang 2016 Datenverarbeitungsfehler von Beschäftigungsmeldungen gab. Erst jetzt hat sich herausgestellt, dass Meldungen in größerem Umfang nicht berücksichtigt wurden.«

Und schwuppdiwupp sind 400.000 verschütt gegangene Arbeitnehmer wieder zum Leben erweckt worden. Gott sei Dank, denn hätte man das nicht gemacht, würden die immer noch arbeiten und statistisch tot sein.

Gewerkschaften: Zwischen Auslaufmodell und Renaissance. Ein Spaziergang zwischen tariflosen Welten, dem Hoffen auf staatliche Stützräder und den Insidern der guten alten Tarifvertragswelt

Jetzt laufen sie wieder, die Gewerkschaften. Und dann werden die mehr oder weniger üblichen Reden zum Tag der Arbeit gehalten, danach gibt es mehr oder weniger leckeres Essen und das obligatorische Kulturprogramm. Die meisten Werktätigen hingegen werden wie in den Jahren zuvor den Tag nutzen wie andere gesetzliche Feiertage auch, zum Ausschlafen, Motorradfahren, Kurzurlaub machen oder was auch immer man mit seiner freien Zeit so anfängt. Same procedure as every year und dennoch immer wieder Anlass, einen Blick auf die Lage der Gewerkschaften und der vielgestaltigen Entwicklungen dahinter zu werfen. Was natürlich nur exemplarisch geleistet werden kann. Bereits vor genau einem Jahr wurde ein vergleichbarer Aufschlag an dieser Stelle versucht – vgl. dazu den Beitrag Am Tag danach. Einige kritische Gedanken zum Tag der Arbeit und der (Nicht-)Zukunft der Gewerkschaften vom 2. Mai 2016.

Das, was heute an vielen Orten in Deutschland begangen wird, ist ein über lange Zeiträume gezähmter und in der Ausformung als gesetzlicher Feiertag (und häufig mit Reden staatstragender Politiker garnierter) gleichsam staatlich legitimierter (und damit geschrumpfter) „Kampftag der Arbeiterklasse“, wobei auch die „Arbeiterklasse“ eben nicht mehr das ist, was Teile von ihr waren, als man diese Veranstaltung in die Welt gesetzt hat. Wenn wir über den heutigen „Tag der Arbeit“ sprechen, dann handelt es sich um eine Angelegenheit mit einer sehr langen Tradition. Im Juli 1889 beschloss ein internationaler Arbeiterkongress in Paris, am 1. Mai 1890 Kundgebungen für die Durchsetzung seiner Forderungen abzuhalten – ein Jahr zuvor hatte bereits der amerikanische Arbeiterbund einen entsprechenden Beschluss gefasst. Der wiederum ging auf die Ereignisse rund um den 1. Mai 1886 in den USA zurück, als es einen mehrtägigen Streik für den Achtstundentag gab, mit dem Haymarket-Massaker im Mittelpunkt. Aber man muss noch weiter zurück gehen: Seinen eigentlichen Ursprung als »Tag der Arbeit« hat der 1. Mai in der britischen Kolonie Victoria, dem heutigen Australien. Dort hatten die Arbeiter mit einem eintägigen Streik im Jahr 1856 den Achtstundenarbeitstag erkämpft.

Dass der 1. Mai ein gesetzlicher Feiertag geworden ist, muss mit Blick auf Deutschland durchaus mit einer verstörenden historischen Verknüpfung gesehen werden. Während Anläufe in diese Richtung in der Weimarer Republik mit Ausnahme des 1. Mai 1919 erfolglos geblieben sind, änderte sich das mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Der 1. Mai wurde ab 1933 durch die Nationalsozialisten zum gesetzlichen Feiertag. Das aus nur zwei Paragrafen bestehende Reichsgesetz vom 10. April 1933 benannte ihn als „Tag der nationalen Arbeit“. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften in Deutschland gleichgeschaltet und die Gewerkschaftshäuser gestürmt. Im Jahr 1934 wurde der 1. Mai durch eine Gesetzesnovelle zu einem „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt.

Seitdem ist eine Menge Wasser den Rhein runtergeflossen, aber die Maikundgebungen gibt es immer noch, auch wenn sich ihr Charakter naturgemäß stark verändert hat. So wie auch die Themen und Herausforderungen der Gewerkschaften. Während der „kleine Volksfest-Charakter“, den die Kundgebungen bei uns mittlerweile haben, von manchen Kritikern gerissen wird, gibt es in anderen Ländern sicher viele Menschen, die dich so einen Charakter gerne wünschen würden, sind sie doch bei den Versuchen, von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen, brutalen staatlichen Übergriffen ausgesetzt, man schaue sich nur an, was in diesem Jahr den aufrechten Gewerkschaftern passiert, die in der Türkei versuchen zu demonstrieren (vgl. beispielsweise Meldungen wie diese: Polizei geht gewaltsam gegen Demonstranten vor).

Aber springen wir auf eine grundsätzliche Ebene und rufen die Frage auf – haben die Gewerkschaften (mit oder ohne ihren Feiertag) überhaupt noch eine relevante Zukunft? Steht nicht ein Teil der Kritik an dem ritualisierten, für manche erstarrten Umgang mit diesem Tag für eine grundsätzliche Infragestellung der Gewerkschaften an sich?

Für die Kapitalseite ist das sowieso klar und die ihnen nahestehenden Schreiber in den Zeitungen entfalten das dann entsprechend. Das geht dann bei einigen um Anerkennung dieses Lagers heischenden Vertretern sogar so tief runter, dass beispielsweise Dietrich Creutzburg seinen Kommentar in der FAZ unter diese Überschrift stellt: Das Ende der Gewerkschaften. Es gibt bekanntlich Thesen und steile Thesen. Und die Sichtweise des Redakteurs ist eindeutig eine sehr steile These, denn er behauptet doch scheinbar (?) allen Ernstes, die Arbeiterbewegung »löst sie sich gerade selbst auf. Die Verwischung zwischen grundgesetzlich geschützter Tarifautonomie und profanem Lobbyismus wird ihr Untergang.« Solche „Diagnosen“ kann man nicht wirklich weiter verfolgen.

Hingegen einen anderen Beitrag des gleichen Verfassers schon, in dem er einen Blick wirft auf eine wichtige Kennzahl einer Mitglieder-Organisation: den Organisationsgrad, also der Anteil der Arbeitnehmer, die dann auch als Mitglied in einer Gewerkschaften mitmachen (oder zumindest Beiträge zahlen): Weniger als jeder Fünfte ist Gewerkschafter, so hat er den Artikel dazu überschrieben. Das legt natürlich schon den Finger auf eine offene Wunde der Gewerkschaftsbewegung.

»Im Durchschnitt aller Branchen und Tarifbereiche waren 18,9 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2015 Mitglied einer Gewerkschaft«, zitiert er eine Auswertung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die sich – das muss man bedenken – auf Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) beziehen, also Umfrage- und nicht tatsächlichen Mitgliederdaten (vgl. dazu Adam Giza und Hagen Lesch (2017): Gewerkschaften: Verankerung ausbauen. IW-Kurzberichte 34/2017, Köln). »Insgesamt ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Vergleich zum Jahr 2011 zwar leicht gestiegen. Doch gehen die Zuwächse vor allem auf das Konto des DBB Beamtenbundes, während der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen acht Branchengewerkschaften Mitglieder verloren hat.«

»Wie die Auswertung zum Organisationsgrad weiter zeigt, gehören jüngere Beschäftigte deutlich seltener einer Arbeitnehmervertretung an als ältere. In der Altersgruppe bis 40 Jahre lag der Anteil unter 14 Prozent. Allein die „Generation 50plus“ zieht den Durchschnittswert nach oben: In der Altersgruppe von 51 Jahren bis zum Ruhestand waren 25,9 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft. Zugleich sind Frauen und Teilzeitkräfte zu deutlich geringeren Anteilen gewerkschaftlich organisiert als Männer und Vollzeitbeschäftigte. Deren Organisationsgrade liegen knapp über 20 Prozent.«

Die Gewerkschaften sind angesichts dieser Herausforderungen nicht untätig. Das IW dazu: »Die im DGB zusammengeschlossenen acht Einzelgewerkschaften versuchen schon seit Jahren, diese strukturellen Probleme zu lösen. Die Strategien reichen vom Konzept der basisdemokratischen „Mitmachgewerkschaft“, wie es die IG Metall praktiziert, bis zum „Organisieren am Konflikt“, was die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di versucht. Ergänzt wird dies durch gezielte Investitionen in Kampagnen und aktive Mitgliederwerbung. Die verschiedenen Aktivitäten zahlen sich aus. Die IG Metall verzeichnet schon seit Jahren leichte Mitgliedergewinne und ver.di hat den Mitgliederrückgang immerhin bremsen können. Besser sieht es bei den durchsetzungsstarken Berufsgewerkschaften wie der Vereinigung Cockpit, der Ärztevertretung Marburger Bund oder der Lokführergewerkschaft GDL aus. Sie verzeichnen mit ihrer berufsgruppenspezifischen Tarifpolitik schon seit Jahren eine positive Mitgliederentwicklung.«

Adam/Lesch (20917) bilanzieren in ihrer Analyse: »Trotz dieser Erfolge ist die die Verankerung der Gewerkschaften in der deutschen Arbeitnehmerschaft insgesamt schwach.« Das habe Folgen und die beiden formulieren – gleichsam aus der Perspektive der „Gegnerbeobachtung“ – einige Empfehlungen:

»In vielen Dienstleistungsbranchen und im Handwerk wirkt sich dies auch auf die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften aus – mit enormen Auswirkungen auf das Tarifsystem. Denn wo die Gewerkschaften nicht mehr präsent und durchsetzungsfähig sind, sind auch keine Arbeitgeberverbände mit Tarifbindung als „Gegenverbände“ … mehr notwendig. Es kommt zu einem Regelungsvakuum, das vom Gesetzgeber ausgefüllt wird, zum Beispiel durch den gesetzlichen Mindestlohn oder durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Einige Gewerkschaften rufen immer lautstärker den Staat zu Hilfe, um Tarifverträgen zu mehr Durchsetzungskraft zu verhelfen. Solche Rufe sind nichts anderes als ein Eingeständnis der eigenen Ohnmacht. Denn durch die staatliche Erstreckung von Tarifverträgen lässt sich allenfalls deren Geltungsbereich ausweiten. Neue Mitglieder gewinnen die Gewerkschaften dadurch aber nicht. Ohne eine bessere Verankerung in der Arbeitnehmerschaft erodiert die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Dies zu verhindern, ist die eigentliche Kernaufgabe der deutschen Gewerkschaften.«

Die beiden Autoren aus dem arbeitgebernahen Institut sprechen eine durchaus gewichtige strategische Grundsatzfrage an: Sollen die Gewerkschaften noch stärker auf staatliche Schützenhilfe setzen? Auch wenn derzeit die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns seitens der Gewerkschaften als „großer Erfolg“ vor sich hergetragen wird – es gab mal Zeiten, die noch gar nicht so lange zurückreichen, als die Gewerkschaften eine gesetzliche Lohnuntergrenze vehement abgelehnt haben, da es sich um einen staatlichen Eingriff in die Lohnfindung und Tarifautonomie handelt. Dass man mittlerweile eine solche Intervention des Staates begrüßt und mit Blick auf das gesamte tarifliche Regelwerk ein deutliches Mehr an staatlichen Stützrädern fordert, kann man angesichts der in bestimmten Branchen und Regionen weit verbreiteten Tariflosigkeit nachvollziehen, man kann und muss das aber immer auch diskutieren als ein Eingeständnis der fundamentalen Organisationsschwäche.

Weit aus dem Fenster gelehnt hat sich Frank Bsirske: Verdi-Chef fordert stärkere Tarifbindung, berichtet beispielsweise das Handelsblatt:

„In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass durch Neugründungen von Gesellschaften der Ausstieg aus der Tarifbindung komfortabel gelingt und Tarifflucht erleichtert wird“, sagte Bsirske. Er forderte: „Dem würde ein Riegel vorgeschoben, wenn Tarifverträge kollektiv nachwirken würden, bis sie durch einen neuen Tarifvertrag ersetzt sind.“ Zudem müsse es leichter werden, Tarifverträge bei niedriger Bindung für ganze Regionen oder Branchen für allgemeinverbindlich zu erklären.

Offensichtlich geht es hier um das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Von der besonderen Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen am Beispiel der Bauwirtschaft (und darüber hinaus) vom 8. Januar 2017). Wie immer im tarif- und darüber hinausgehenden politischen Leben hat eine Medaille zwei Seiten. Es gibt gute Argumente für eine Stärkung der Tarifbindung auch über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. Gerade hier wurde in zahlreichen Beiträgen über die Zustände im Einzelhandel immer wieder darauf hingewiesen, dass die Probleme begonnen und sich beschleunigt haben, als im Jahr 2000 der bis dahin allgemeinverbindliche Tarifvertrag im Einzelhandel, an den sich alle Unternehmen halten musste, auf Druck der Arbeitgeberseite von der damaligen rot-grünen Bundesregierung aufgehoben wurde. Vgl. zu diesem möglichen Ansatz ausführlicher den Beitrag Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge vom 5. August 2015.

Aber man muss auch die Kehrseite des Ansatzes sehen: Es handelt sich um ein „Geschäft zu Lasten Dritter“, es ist ein ziemlich harter Eingriff in Vertragsfreiheit und letztendlich kann es durchaus sein, dass man mit einem gut gemeinten Ansatz das Gegenteil erreicht, also man will die Tarifbindung stärken (was man tatsächlich schafft), zugleich aber höhlt man den einen Teil der Basis, also die gewerkschaftliche Organisation, weiter aus, weil ja das Regelwerk nicht mehr wie ansonsten selbst erkämpft werden muss, sondern „von oben“ allen Beschäftigten zugeführt wird.

Man muss die Forderungen bzw. die Suche nach Möglichkeiten einer (wieder) stärkeren Tarifbindung auch sehen vor dem Hintergrund tatsächlicher Ausformungen von Tarifflucht und sich ausbreitender Tariflosigkeit gerade in Bereichen der Wirtschaft, in denen die Beschäftigung wächst. Mit Beispielen aus dieser ruhen Teilwelt des Arbeitsmarktes kann man Bibliotheken füllen. Hier nur einige wenige Impressionen aus der aktuellen Frontberichterstattung:

Beispiel Flüchtlingsbetreuung: »Sie haben sich reingehängt, um geflüchteten Menschen in Deutschland einen guten Start zu ermöglichen. Doch gedankt wird es ihnen nicht: Alle 60 Beschäftigten, die für die Johanniter Unfall-Hilfe in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Oerlinghausen tätig waren, haben zum 31. Januar ihre Stelle verloren. Der neue Betreiber –  die tariflose DRK Betreuungsdienste Westfalen-Lippe gGMbH – weigerte sich, auch nur einen Beschäftigten zu übernehmen«, so der Artikel Für Flüchtlinge engagiert – und abserviert von Daniel Behruzi. Es ist ein in mehrfacher Hinsicht bezeichnendes Beispiel für die Wild-West-Methoden, mit denen es Gewerkschafter zu tun haben. Man muss sich klar machen, was hier passiert:

Die DRK Betreuungsdienste Westfalen-Lippe seien 2012 offensichtlich nur zu dem Zweck gegründet worden, bei solchen Ausschreibungen Dumpingangebote abzugeben. Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) gilt dort nicht, stattdessen orientiert sich die Bezahlung am Tarifvertrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für das Hotel- und Gaststättengewerbe. »Eine Flüchtlingseinrichtung ist aber kein Hotel und auch keine Gaststätte«, betont der NGG-Geschäftsführer in der Region Detmold-Paderborn, Armin Wiese. Offensichtlich missbrauche das Rote Kreuz den NGG-Tarif, »um sich immense Wettbewerbsvorteile gegenüber tarifgebundenen Wohlfahrtsverbänden und Trägern zu verschaffen«.

Das hat handfeste Folgen hinsichtlich der daraus resultierenden Lohnunterschiede: »So verdient beispielsweise ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin mit Berufserfahrung bei der DRK-Tochter monatlich über 500 Euro weniger als im TVöD, an dem sich die Bezahlung bei den Johannitern orientiert.«

Man könnte jetzt an dieser Stelle eine Menge anmerken zu den strukturellen Problemen, die sich in diesem hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung so wichtigen Bereich der Gesundheits- und Sozialdienstleistungen auftun. Da wäre dann auch die gerade in der Pflege und im Kita-Bereich so problematische Tatsache zu nennen, dass die kirchlich gebundenen Arbeitgeber ihre Beschäftigte (dort als „Dienstnehmer“ bezeichnet) vom Streikrecht ausschließen können und bislang auch dürfen, was den Gewerkschaften ihr letztes, aber notwendiges Schwert aus der Hand schlägt.

Beispiel Kulturkampf amerikanischer Konzerne gegen Gewerkschaften und Tarifverträge an sich: Der seit Jahren andauernde und mittlerweile irgendwie an eine Donquichotterie erinnernde Kampf von Verdi gegen Amazon hinsichtlich einer tarifvertraglichen Rahmung der Arbeit in den Verteilzentren des Konzerns ist sicher ein prominentes Beispiel für die Probleme, in Unternehmen, die einer US-amerikanischen Firmenkultur folgen müssen, deutsche Standards durchzusetzen. Bislang beißt sich Verdi hier die Zähne aus. Aber auch in anderen Bereichen haben es selbst an sich starke Industriegewerkschaften mit Tarifverweigerungspolitik zu tun. Man nehme als aktuelles Beispiel nur die IG Metall und das amerikanische Unternehmen Tesla.

„Teslas Mission ist die Beschleunigung des weltweiten Übergangs zu nachhaltiger Energie“ steht auf der Website des Unternehmens. Der Elektroautohersteller aus Kalifornien inszeniert sich gern als sauberer Ökokonzern, der an der Mobilität der Zukunft arbeitet. Mit Elon Musk verfügt Tesla auch noch über einen charismatischen Visionär als Chef, der dieses Image nach außen vertritt – so die Einleitung des Artikels In die Zukunft lieber ohne Tarif. Es geht um einen Tarifkonflikt bei der Ende 2016 erworbenen Konzerntochter Tesla Grohmann Automation. In dem Betrieb im rheinland-pfälzischen Prüm mit 680 Mitarbeitern wird ein Tarifvertrag gefordert. Das erworbene Unternehmen in Deutschland ist für Tesla von Bedeutung: »Grohmann baut automatisierte Maschinen für die Fahrzeugproduktion. Für Tesla sind die Anlagen unter anderem bei der Fertigung eines neuen Modells wichtig, die im Sommer anlaufen soll. Bisher baute Tesla nur Fahrzeuge im oberen Preissegment. Das „Model 3“ soll mit einem kolportierten Kaufpreis von etwa 30.000 Euro für eine breite Kundschaft erschwinglich sein und könnte dem wachsendenen Markt für Elektromobilität einen Schub geben.«

Die IG Metall  fordert eine Arbeitsplatzgarantie für alle Mitarbeiter und eine „gerechte Entlohnung.“ Derzeit liege das Lohnniveau um etwa 25 bis 30 Prozent unter dem Tarifgehalt. Tesla lehnt Tarifverhandlungen explizit ab. Man versucht offensichtlich, die Belegschaft mit einem Spaltpilz zu infizieren, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Tesla fährt in Prümer Werk weiter auf hartem Kurs: Zunächst betont das Unternehmen, dass man die Bedingungen für die Beschäftigten in Prüm verbessern wolle, denn die bestehende Vergütung sei „nicht angemessen“.

»Betriebsbedingte Kündigungen bis Ende April 2022 habe man mit einer Ergänzung in den Arbeitsverträgen ausgeschlossen. Von der nächsten Abrechnung an sollen alle Mitarbeiter 150 Euro brutto mehr erhalten, hinzu komme eine Einmalzahlung von 1000 Euro netto mit der Abrechnung im April – plus Tesla-Aktien im Wert von 10 000 Euro.«

Eine Einbeziehung der Gewerkschaft wird kategorisch abgelehnt, man wolle das selbst mit den Mitarbeitern regeln. Das Ergebnis der Strategie des Unternehmens überrascht nicht: »Die Belegschaft ist gespalten: Einerseits sorgen sich viele, dass die Initiative der IG Metall dem Unternehmen schaden könne, auf der anderen Seite unterstützen etliche Mitarbeiter den Vorstoß.«

Beispiel Kontraktlogistik – unter das große Dach des Flächentarifvertrags, ansonsten weiter mit dem „Häuserkampf“: Hier werden wir mit einem ganz spannenden Fallbeispiel aus der neuen Tarifwelt konfrontiert, das zudem eine an sich starke und organisatorisch gut aufgestellte Gewerkschaft betrifft und deren Probleme verdeutlichen kann. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die IG Metall, die in den Unternehmen der Automobilindustrie und des Maschinenbaus für die dort Beschäftigten gute Tarife hat aushandeln können. Die Reaktion der Arbeitgeberseite – zuerst die Expansion der Leiharbeit und seit einigen Jahren verstärkt die Inanspruchnahme von Werkverträgen. Mit fatalen Folgen für die vergleichsweise gut abgesicherten Stammbelegschaften, denn die Werkvertragsunternehmen haben sich immer tiefer in die Kernprozesse der Unternehmen gefressen und dort einen Verdrängungsprozess ausgelöst (vgl. dazu ausführlicher die Studie von Tim Obermeier und Stefan Sell (2016): Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf 2016). Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Unternehmen der „Kontraktlogistik“ (die eigentlich „nur“ für den Transport zuständig sind bzw. waren, mittlerweile liefern sie Vorprodukte ans Fließband, stellen Bauteile für die Produktion zusammen oder mischen sogar in der Montage mit). Für die ist bzw. war eigentlich Verdi zuständig. Aber die IG Metall wollte diese Unternehmen unter ihr tarifvertragliches Dach holen – nach dem Motto, wenn die Arbeitgeber in Teilbereichen in die (günstigere) Kontraktlogistik flüchten, dann holen wir uns diese Unternehmen und die dort beschäftigten Arbeitnehmer eben wieder zurück. Das hat zu einer längeren Auseinandersetzung mit der eigentlich zuständigen Gewerkschaft verdi geführt (vgl. zu dieser Geschichte Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24. September 2015 sowie vom 14. Januar 2016 der Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme das Gleiche wollen, sich erst in die Haare kriegen und dann doch miteinander kooperieren. Eine Fortsetzungsgeschichte aus der Gewerkschaftswelt).

Die Antwort der IG Metall ist aus deren Sicht konsequent und hat auch für die Beschäftigten bei den Kontraktlogistikern, die man in einer ersten Phase seitens der IG Metall „erobert“ hat, ganz handfeste Verbesserungen ermöglicht, wie Frank Specht in seinem Artikel IG Metall setzt ihren „Häuserkampf“ fort berichtet:

»Tatsächlich hat die IG Metall bei großen Serviceunternehmen wie Imperial Automotive Logistics in Osnabrück, Rudolph Logistik in Wolfsburg, der Schenker AG in Hannover oder Schnellecke in Hannover Tarifverträge erkämpft. Anfang Dezember vergangenen Jahres war nach mehreren Warnstreiks eine Einigung mit dem Audi-Kontraktlogistiker Scherm in Ingolstadt gelungen. Dort steigen die Löhne nun um insgesamt vier Prozent, außerdem führt das Unternehmen ein transparentes Eingruppierungssystem analog zur Metall- und Elektroindustrie ein. Mit dem Haustarifvertrag beim Logistiker Schnellecke, der unter anderem bei Volkswagen unter Vertrag steht, hat die IG Metall nach eigenen Angaben eine Erhöhung der Stundenlöhne um 11,6 Prozent und eine Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Wochenstunden durchgesetzt.«

Trotz aller Erfolge auf der Ebene von einzelnen Unternehmen – das strategische Ziel der IG Metall war (und bleibt) die Einbindung der gesamten Kontraktlogistik in ein tarifliches Regelwerk. Dieser weiter gefasste Ansatz hat zwischenzeitlich einen Dämpfer erhalten: Die Gespräche mit dem Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV) und dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall sind nun nach vier Verhandlungsrunden gescheitert. Nun soll der „Häuserkampf“ bei den Logistikern fortgesetzt werden.

Auf der anderen Seite muss man eben auch die primär über betriebswirtschaftlichen Druck vorangetriebenen Spaltungslinien erkennen, die es zwischen den Stammbelegschaften (bzw. genauer: deren Vertreter und den Gewerkschaften) und den Outsidern geben kann und gibt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die schnelle Reaktion der IG Metall auf den Wunsch der Arbeitgeber, die gesetzlich mögliche massive Verlängerung der an sich auf maximal 18 Monate begrenzten Leiharbeit tarifvertraglich umzusetzen (vgl. dazu den Beitrag Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wir vom 19. April 2017).

Fazit: Schon diese wenigen Beispiele können aufzeigen, wie heterogen die Herausforderungen sind, denen sich Gewerkschaften heute ausgesetzt sehen. Wenn man ins Detail geht, dann wird erkennbar, wie groß und schwierig die Anforderungen sind, mit denen gewerkschaftliche Arbeit heute konfrontiert ist. Da helfen wohlfeile Blicke von oben nur begrenzt, auch wenn es neben der Dauerinfragestellung von Gewerkschaften aus dem Arbeitgeberlager auch positiv stimmende bzw. unterstützende Wortmeldungen gibt (vgl. beispielsweise den Beitrag Aufstieg im Niedergang von Marcel van der Linden: »Die globale Gewerkschaftsbewegung ist geschwächt. Doch es gibt Anzeichen einer Erneuerung. Arbeitskämpfe und Proteste werden seit einigen Jahren weltweit wieder häufiger.« Oder Mathias Greffrath mit Die fragile Gegenmacht: Warum die Gewerkschaften politische Ziele brauchen).

Am Ende – da beißt die Maus keinen Faden ab – wird sich die Zukunft der Gewerkschaften entscheiden an der Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich da einzubringen, sich zu organisieren und – wenn es denn sein muss – auch zu streiken. Die (möglichen) Ergebnisse gewerkschaftlichen Tuns wird man sich von keinem anderen einkaufen können, auch nicht von einem vielleicht wohlmeinenden Staat. Das bedeutet aber auch, dass man konstatieren muss, dass es neben allen berechtigten Erwartungen an eine Modernisierung der Gewerkschaften und ihrer Strukturen und Prozesse eben auch eine gewisse Bringschuld der Arbeitnehmer gibt, die nicht – und in Zukunft immer weniger als früher – davon ausgehen können, dass andere sich um ihre Bedingungen schon irgendwie kümmern werden.

„Hexenjagd“ auf Selbständige? Oder Abwehr ausufernder Scheinselbständigkeit? Und dann ein Bundessozialgericht, das ein Auge auf die Honorarhöhe geworfen hat

Sind wir wieder im finsteren Mittelalter angekommen? Als überall „Hexenjagd“ betrieben wurde – und viele unschuldige Menschenleben einem Verfolgungswahn zum Opfer gefallen sind? Sicher nicht in einem wörtlichen Sinne, aber heute geht es angeblich – so die Apologeten dieses Vorwurfs – um das gleiche Strukturmuster: Unschuldige werden beschuldigt und aus dem Verkehr gezogen. Heutzutage seien davon – das wird jetzt den einen oder anderen überraschen – vor allem Selbständige betroffen. So schreibt der Verband der Gründer und Selbständigen (VGSD) in einem Positionspapier aus dem Jahr 2015: »Statt sich auf die Schutzbedürftigen zu konzentrieren und die Missstände gezielt abzustellen, werden Solo-Selbstständige und insbesondere hochqualifizierte Wissensarbeiter von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zunehmend unter den Generalverdacht der Scheinselbstständigkeit gestellt, ihre Auftraggeber mit hohen Strafzahlungen belegt und als Sozialbetrüger kriminalisiert …  Es ist unakzeptabel, dass als „Kollateralschaden“ die Existenz eines großen Teiles der 2,5 Millionen Solo-Selbstständigen in Frage gestellt wird.«
Der VGSD behauptet in seinem Papier von 2015 nun eine „seit fünf Jahren zunehmende Rechtsunsicherheit“. »Zuvor als selbstständig beurteilte Auftragsverhältnisse werden seitdem in großer Zahl als abhängige Beschäftigung eingeordnet. Die Zahl der „Ablehnungen“ stieg von 19% im Jahr 2006 auf 45% im Jahr 2013.«

Vor diesem Hintergrund trifft es sich gut, dass die Grünen im Deutschen Bundestag eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt haben, um die aktuellen Zahlen und ihre Entwicklung zum Thema „Das Statusfeststellungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung“ zu bekommen. Die Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) liegt nun vor und wurde als Bundestags-Drucksache 18/11982 vom 18.04.2017 veröffentlicht. Und die dort präsentierten Daten relativieren zumindest die vorgetragene Dramatik der Gesamtentwicklung. Markus Kurt, der rentenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, hat die Antwort in einer Kurzzusammenfassung ausgewertet.

Das BMAS erläutert, warum es im Vergleich zum Jahr 2007 zu einer Zunahme der Statusfeststellungsverfahren gekommen ist. Der Anstieg sei vor allem auf die obligatorischen Anfragen zurückzuführen, die zwingend von Amts wegen eingeleitet werden müssen. Dies betrifft beschäftigte Familienangehörige wie Ehegatten, Lebenspartner oder seit dem Jahr 2008 auch die Abkömmlinge des Arbeitgebers. Seit dem Jahr 2011 werden die Verfahren zudem allein von der Deutschen Rentenversicherung Bund und nicht mehr von den Einzugsstellen der Krankenkassen bearbeitet.

»Gab es im Jahr 2007 noch 24.368 Statusfeststellungen (optional und obligatorisch), waren es im Jahr 2016 insgesamt 68.111 Feststellungen. Diese Steigerung um bald das Dreifache ist aber in der Tat fast ausschließlich auf die Familienangehörigen zurückzuführen. Diese stiegen in dieser Zeit um gut 39.000 Fälle.«

Man muss aber gerade hier auf das Ausgangsjahr achten, denn die Anzahl der Statusfeststellungsverfahren insgesamt (also optional und obligatorisch) ist seit dem Jahr 2011 relativ konstant geblieben. Es bleibt aber der Anstieg der der optionalen Feststellungen von 16.666 im Jahr 2007 auf 22.629 Fälle im Jahr 2016 sowie der Zunahme der Feststellungen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von 21,2% auf 42,2%. Eine eindeutige Erklärung dafür hat auch die Bundesregierung nicht, sie verweist hier aber – sozialpolitisch besonders relevant – auf den Stellenwert von neuen Geschäftsmodellen (etwa hinsichtlich des Krankenhauspersonals):

»Beobachtet werden zunehmend Bestrebungen, neue Geschäftsmodelle außerhalb der Sozialversicherungspflicht zu etablieren. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Krankenhauspersonals. So berichtete die DRV Bund im November 2015 von einer Klinik, die Beteiligte in ca. 300 Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV sei« (BT-Drs. 18/11982: 5).

Das wären zumindest Hinweise auf eine sozialpolitisch problematische Teilmenge unter den „Selbständigen“, die in praxi gar keine sind, sondern zu Recht als Scheinselbständige zu klassifizieren wären.

Was ist das eigentliche Problem hinter diesen Statusfeststellungsverfahren? Es geht um die Abgrenzung, ob es sich um eine „abhängige Beschäftigung“ oder um eine selbständige Tätigkeit handelt. Dazu aus der Antwort der Bundesregierung:

Zu den Abgrenzungskriterien gibt das BMAS die generell abstrakten Obersätze zu den Rechtsbegriffen „abhängige Beschäftigung“ und „selbständige Tätigkeit“ wider. So sei eine Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte seien eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Voraussetzung für eine Beschäftigung sei ferner die persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Dies sei dann der Fall, wenn er einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit könne – vornehmlich bei Diensten höherer Art – weniger ausschlaggebend sein.

Eine selbständige Tätigkeit zeichne sich hingegen durch das eigene Unternehmensrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit aus. Entscheidend sei bei der Unterscheidung aber stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung.

So war das immer schon in den vergangenen Jahren. Und an dieser Stelle gibt es nun – scheinbar – Neues zu berichten. Denn das Bundessozialgericht (BSG) hat eine neue Entscheidung zum Thema Scheinselbstständigkeit gefällt und dabei die Höhe des Honorars von Selbstständigen relativ zum Verdienst von Angestellten als neues Kriterium eingeführt, so die Wahrnehmung von Andreas Lutz in seinem Beitrag Richtungsweisendes Urteil: Bundessozialgericht führt Honorarhöhe als wichtiges Kriterium für Selbstständigkeit ein. Er kann seine Freude nicht verbergen, wenn er schreibt: »Das BSG macht mit der Formulierung („besondere Bedeutung“, „gewichtiges Indiz“) deutlich, dass es ganz bewusst die Höhe des Honorars relativ zum Brutto eines ähnlich qualifizierten Angestellten als neues Kriterium einführen möchte. Dabei stellt das Gericht auf den Stundensatz ab – und nicht etwa auf das Monatseinkommen.«

Schauen wir uns zuerst einmal den Sachverhalt, um den es bei dieser Entscheidung ging, genauer an. Es geht um das Urteil zu Az. B 12 R 7/15 R. Die Pressemitteilung des BSG vom 31. März 2017 dazu ist auf den hier besonders interessierenden Punkt genau so überschrieben: Ermöglicht ein relativ hohes Honorar einer Honorarkraft Eigenvorsorge, ist dies ein gewichtiges Indiz für ihre Selbstständigkeit. Aber wie so oft im juristischen Leben handelt es sich um einen ganz eigenen  Sachverhalt:

»Der klagende Landkreis ist Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zur Erfüllung seiner Aufgaben der Jugendhilfe schließt er mit freien Trägern sowie Einzelpersonen Verträge ab, die Leistungen der Jugendhilfe vor Ort in Familien erbringen. Neben einer Vollzeittätigkeit war der im Prozess beigeladene Heilpädagoge für den Kläger für etwa vier bis sieben Stunden wöchentlich als Erziehungsbeistand auf der Basis einzelner Honorarverträge tätig. Hierfür erhielt er ein Honorar in Höhe von 40 Euro bis 41,50 Euro je Betreuungsstunde. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte fest, dass der Heilpädagoge in dieser Tätigkeit als Beschäftigter der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Mit seiner dagegen gerichteten Klage hatte der Landkreis bei den Vorinstanzen Erfolg.«

Es ging also um einen Heilpädagogen, der auf Basis von Honorarverträgen im Auftrag des Landkreises Erlangen-Höchstadt als Erziehungsbeistand Jugendliche zu Hause in ihren Familien besuchte und betreute. Er war neben seiner Vollzeittätigkeit vier bis sieben Stunden wöchentlich tätig und erhielt dafür ein Honorar von 40,00 bis 41,50 Euro je Betreuungsstunde.

Das BSG hat sich den Vorinstanzen angeschlossen und eine abhängige Beschäftigung des Heilpädagogen verneint. Wie begründet das hohe Gericht seine Entscheidung? In einem ersten Schritt „klassisch“ gemessen an den üblichen Kriterien, die bei der Abgrenzung eine Rolle spielen:

»Der Heilpädagoge war beim Landkreis nicht abhängig beschäftigt. Denn die zwischen ihm und dem Landkreis geschlossenen Honorarverträge sehen vor, dass er weitgehend weisungsfrei arbeiten kann und nicht in die Arbeitsorganisation des Landkreises eingegliedert ist. Die Verträge wurden so, wie sie schriftlich vereinbart waren, auch in der Praxis durchgeführt, also „gelebt“.«

Dann aber wird die hier interessierende Honorarhöhe in den Ausführungen des BSG explizit herausgestellt – und wird deshalb auch so begeistert von VGSD und anderen Verfechtern der Selbständigkeit aufgenommen und rezipiert:

»Dem Honorar kam im Rahmen der Gesamtwürdigung der Einzelumstände eine besondere Bedeutung zu: Denn liegt das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmers, zum Beispiel eines festangestellten Erziehungsbeistands, und lässt es dadurch Eigenvorsorge zu, ist dies ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.«

Warum das beim VGSD besondere Freude auslöst, verdeutlicht Andreas Lutz in seinem Beitrag mit diesen Worten: »Der VGSD hat in den vergangenen Jahren immer wieder die Höhe des Verdienstes als zentrales Kriterium für Selbstständigkeit vorgeschlagen. Dabei ist es sinnvoll, keinen pauschalen, branchenübergreifenden Stundensatz vorzugeben, sondern – wie es das BSG hier tut – den Stundensatz abhängig vom Verdienst vergleichbarer Angestellter zu bewerten.«

So hatte der VGSD in seinem Positionspapier Rechtssichere Abgrenzung hochqualifizierter Selbstständiger von abhängig Beschäftigten vom 15.05.2015 als Vorschlag folgende Regelung formuliert:

»Jedes einzelne der folgenden Kriterien zum Beispiel sollte ausreichend sein, um eine rechtssichere Beauftragung sicherzustellen:
1. Es handelt sich um eine freiwillige, gut informierte Entscheidung beider Seiten
2. Der Stundensatz (nach Abzug von Reisekosten) beträgt > xx Euro
3. Der Auftragnehmer ist Existenzgründer bzw. Berufsanfänger (z.B. erste x Jahre)
4. Der Auftraggeber ist selbst Solo-Selbstständiger
5. Der Auftragnehmer verfügt über einen Nachweis ausreichender Altersvorsorge (Existenzminimum im Alter ist bzw. wird abgesichert)«

Scheinbar geht das BSG in diese Richtung, zumindest hinsichtlich des Vorschlags unter Punkt 2. Aber man sollte nicht voreilig in Jubel ausbrechen auf Seiten derjenigen, die die neue Entscheidung als eine Art Durchbruch verstehen (möchten). So kann man dem Terminbericht des BSG zu diesem Urteil entnehmen:

»Bei Tätigkeiten, die wie hier nahezu ausschließlich vor Ort in den Familien zu erbringen sind, ist eine Betriebsstätte im engeren Sinne gerade nicht zu erwarten. Die vereinbarte Verpflichtung zur höchstpersönlichen Leistungserbringung war ebenfalls den Eigenheiten und besonderen Erfordernissen der Erziehungsbeistandschaft geschuldet. Auch die Vereinbarung eines festen Stundenhonorars spricht nicht zwingend für eine abhängige Beschäftigung, wenn es um reine Dienstleistungen geht und aufgrund der Eigenheiten der zu erbringenden Leistung ein erfolgsabhängiges Entgelt regelmäßig ausscheidet. Die Höhe des vereinbarten Honorars legt vielmehr eine selbstständige Tätigkeit nahe. Liegt es deutlich über dem Arbeitseinkommen eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und lässt es dadurch Eigenvorsorge zu, ist dies ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.«

Dann aber das BSG weiter: »Allerdings handelt es sich auch bei der Honorarhöhe nur um einen bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Anhaltspunkt, weshalb weder an die Vergleichbarkeit der betrachteten Tätigkeiten noch an den Vergleich der hieraus jeweils erzielten Entgelte bzw Honorare überspannte Anforderungen gestellt werden dürfen.«

Vor diesem Hintergrund kommt auch Andreas Lutz in seinem Beitrag zu dem Ergebnis:

»Bei allem Enthusiasmus über das Urteil: Von einer Verfolgung wegen Scheinselbstständigkeit kann man sich auch künftig nicht durch ein hohes Honorar „freikaufen“. Die Höhe der Vergütung ist nur ein weiteres Kriterium im Rahmen einer Gesamtbetrachtung.

Wie im Urteil ausdrücklich festgehalten, muss die Tätigkeit weitgehend weisungsfrei erfolgen und der Selbstständige darf nicht in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingegliedert sein. Die vom BSG und BAG (Bundesarbeitsgericht) entwickelten Kriterien für bzw. gegen Scheinselbstständigkeit gelten auch weiterhin. Es ist wichtig, diese Merkmale bei der Formulierung des Vertrags bzw. bei der Beauftragung zu berücksichtigen und in der Praxis auch so zu „leben“.«

Man muss sich schon fragen, welche Absichten das BSG getrieben haben, die Honorarhöhe – und die dann auch noch „nur“ bezogen auf die Stundenbasis, unabhängig von der Gesamtstundenzahl – derart in den Mittelpunkt zu stellen, dass man tatsächlich den Eindruck bekommen kann, hier soll die Honorarhöhe als eigenständiges Merkmal in die zukünftigen Abgrenzungsverfahren eingezogen werden. Bei aller durchaus berechtigten Kritik aus dem Lager der Selbständigen erscheint dann doch eher die bisherige Abgrenzung nach der Weisungsgebundenheit und der Einbindung in die betriebliche Organisation des Auftraggebers nachvollziehbar. Möglicherweise sind die Richter getrieben worden durch die Tatsache, dass es tatsächlich Fallkonstellationen gibt im Bereich der IT- und der Entwicklungsaufgaben, wo jemand stark eingebunden sein muss in den Betrieb des Auftraggebers, sehr wohl aber mit seiner selbständigen Tätigkeit sehr gut über die Runden kommen kann und von daher eine Einstufung als abhängige Beschäftigung nicht nachvollziehen kann und will.

Aus einer eher sozialpolitischen Sicht kann man grundsätzlich die Sinnhaftigkeit einer Anbindung der Abgrenzung an die Honorarhöhe bezweifeln: Das Honorar als Abgrenzungskriterium stellt keine Lösung für die Fragen der Einhaltung bestehender Arbeits- und Sozialschutzstandards dar, denen sich Arbeitgeber durch die Beauftragung von Solo-Selbständigen entziehen. Auch vergleichsweise hohe Honorare pro Stunde können daher kritisch sein, wenn weiterhin Sozialschutzstandards unterminiert werden. Das Honorar schützt Selbständigen nicht vor Auftraggebern, die sich ihrer Verantwortung für Arbeitsschutz und soziale Sicherheit entziehen und diese einseitig zu Lasten der Auftragnehmer auf die Selbständigen übertragen. Es führt zu einer Belastung der Sozialkassen, da sich viele Gutverdienende und ihre Auftraggeber von der Versicherungspflicht lösen. Und ein Stundenhonorar ist kein geeignetes Kriterium, um die soziale Schutzbedürftigkeit zu beurteilen, vor allem, wenn man nicht die Gesamteinnahmen berücksichtigt und die zahlreichen denkbaren Fallkonstellationen einer erheblichen Streuung der Einnahmen zwischen den Monaten.

Gibt es dennoch Alternativen zu dem bisherigen Verfahren in Deutschland? Michael E. Meier hat versucht, eine solche am Beispiel der Schweiz aufzuzeigen – wo allerdings die Rentenversicherungsfrage dahingehend wesentlich entspannter ist, als dass jeder dort in der AHV versichert ist, unabhängig von seinem beruflichen Status.

In seinem Artikel Statusfeststellung in der Schweiz: Warum nicht so auch in Deutschland? berichtet er:

»Die Kriterien zur Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit sind in der Schweiz gar nicht so viel anders als in Deutschland. Allerdings unterscheidet sich das Verfahren – vor allem ist es sehr viel straffer organisiert. Dadurch bietet es höhere Rechtssicherheit. Rückwirkende Änderungen des Status kommen nur selten vor.

Die Statusfeststellung erfolgt ausschließlich durch eine sogenannte  Ausgleichskasse. Diese hat im Gegensatz zu unserer DRV kein starkes wirtschaftliches Eigeninteresse an einer Beurteilung in die eine oder andere Richtung … Sie prüft nur den Auftragnehmer, nicht den Auftraggeber und es wird auch nicht jeder Auftrag einzeln geprüft, was in Deutschland zu widersprüchlichen Beurteilungen führen kann. Stattdessen nimmt sie eine globale Beurteilung vor, ob eine Person in Bezug auf eine bestimmte Tätigkeit eher die Kriterien der Selbstständigkeit erfüllt oder nicht. Beispiel: Ein Assistent der Universität Zürich, der extern Vorträge hält, ist einerseits  als Universitätsangestellter unselbstständig, zugleich aber hinsichtlich seiner Tätigkeit als Referent und Gutachter selbstständig.

Wer in der Schweiz selbstständig tätig werden möchte, meldet dies vor der Gründung. Er erhält innerhalb von zwei bis vier Wochen von der Ausgleichskasse einen Feststellungsbescheid.

Im Fall eines positiven Bescheids erhält er eine Nummer als Selbstständiger, die in ein öffentliches Register eingetragen wird. Ein Auftraggeber kann sich durch einen Blick ins Register davon überzeugen, dass der Auftragnehmer tatsächlich selbstständig ist und verfügt dann über Rechtssicherheit.

Sollte sich Inhalt oder Wesen der beruflichen Tätigkeit ändern, so muss dies der Selbstständige der Ausgleichkasse melden, die sodann eine neuerliche Beurteilung vornimmt. Die Ausgleichskasse überprüft auch stichprobenweise von sich aus, ob die Tätigkeit sich so stark geändert hat, dass eventuell keine Selbstständigkeit mehr vorliegt.«

Aber auch in der Schweiz gibt es Entscheidungen, die den Vertretern der Selbständigen oder der Schein-Selbstänigen nicht passen werden – auch hier pragmatisch gelöst: »Es kommt öfter vor, dass die Ausgleichskasse zum Schluss gelangt, dass die Voraussetzungen für eine selbstständige Tätigkeit nicht mehr vorliegen (z.B. aufgrund einer lange andauernden Tätigkeit für nur einen Auftraggeber). In diesen Fällen erfolgt eine Statusänderung in Bezug auf die zukünftige berufliche Tätigkeit.« Und Pragmatismus hoch zwei ist dann das: »Es gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Sollte jemand viele Jahre selbstständig gewesen sein und zum Beispiel gegen Ende seiner Karriere die Kriterien nicht mehr erfüllen, so wird ihm sein Status belassen.«

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stärkt die Rechte von Arbeitnehmern und manchmal muss es nach einem für Arbeitnehmer zuständigen Gericht erst suchen

Dass immer mehr wichtige Entscheidungen in der großen weiten Welt des Arbeits- und Sozialrechts auf die Letztebene des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verlagert werden, ist mittlerweile wohl allen klar geworden. Regelmäßig werden folgenreiche Entscheidungen des EuGH in den Medien diskutiert – man denke hier nur an die Entscheidungen den Sozialleistungsanspruch von „EU-Ausländern“ in einem EU-Mitgliedsstaat betreffend ((vgl. dazu nur die Blog-Beiträge vom 17.06.2016, vom 25.02.2016, vom 02.01.2016 oder vom 06.12.2015). Die Rückwirkungen auf die Gestaltung unserer Arbeits- und Sozialsysteme sind nicht zu unterschätzen – erst jüngst konnte man das beobachten anlässlich einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage der Leiharbeitnehmereigenschaft von Rotkreuzschwestern, Das Bundesarbeitsgericht hatte die Frage,  ob die deutsche Regelung zu den Rotkreuzschwestern mit der europäischen Leiharbeitsrichtlinie vereinbar ist, 2015 dem EuGH vorgelegt. Der EuGH erkannt im November 2016 (Urteil vom 17. November 2016 – C-216/15) den Sonderstatus der DRK-Schwestern nicht an, übertrug die Entscheidung aber den deutschen Richtern. Was die zwischenzeitlich gemacht haben – mit der brisanten Folge, dass die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nun extra für das DRK eine Rechtsänderung ins Parlament eingebracht hat, mit der die Rotkreuzschwestern quasi in eine Dauer-Leihe gegeben werden können (vgl. dazu den Beitrag Dauer-Leih-Schwestern vom DRK: Auch in Zukunft im Angebot? Da muss die Ministerin selbst Hand anlegen, um das hinzubiegen vom 1. März 2017).

Nun erreicht uns eine neue Entscheidung des hohen Gerichts. Asklepios muss eingekauften Mitarbeitern wohl weiter Tarif zahlen, so ist ein Bericht über das neue Urteil, um das es hier geht, überschrieben worden. Man merkt es schon an der Überschrift – so ganz einfach ist der Spruch des EuGH nicht zu übersetzen. Er hat aber wohl, wenn die Interpretation richtig ist, erhebliche Auswirkungen auf die nationale Rechtsprechung, in diesem Fall auf die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. »Das Unternehmen wird verkauft – gilt dann für die Mitarbeiter noch der alte Tarifvertrag mit all seinen Gehaltssteigerungen? Eine EuGH-Entscheidung stärkt die Rechte von Arbeitnehmern« – unter bestimmten Bedingungen zumindest.

Ein Gärtner und eine Stationshelferin haben im Tarifstreit mit einer Privatklinik in Hessen höchstrichterlichen Beistand bekommen. Zum konkreten Sachverhalt der beiden miteinander verbundenen Rechtssachen finden wir in EuGH, Urteil vom 27.04.2017, C‑680/15 und C‑681/15 die folgenden Erläuterungen:

»Die Arbeitnehmer waren im Krankenhaus Dreieich-Langen (Deutschland) beschäftigt, das damals in Trägerschaft einer kommunalen Gebietskörperschaft stand. Herr Felja ging dort seit 1978 einer Beschäftigung als Hausarbeiter/Gärtner nach, Frau Graf übte dort seit 1986 die Tätigkeit einer Stationshelferin aus. Nachdem die kommunale Gebietskörperschaft das Krankenhaus im Jahr 1995 an eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) veräußert hatte, ging der Betriebsteil, in dem die Arbeitnehmer beschäftigt waren, im Jahr 1997 auf die KLS Facility Management GmbH (im Folgenden: KLS FM) über.

Die zwischen KLS FM, die keinem Arbeitgeberverband angehörte, der an Tarifverhandlungen und der Annahme eines Tarifvertrags beteiligt war, und den Arbeitnehmern geschlossenen Arbeitsverträge enthielten eine „dynamische“ Verweisungsklausel, wonach sich ihr Arbeitsverhältnis – wie vor dem Übergang – nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (im Folgenden BMT‑G II), aber zukünftig auch nach den diesen ergänzenden, ändernden und ersetzenden Tarifverträgen richten sollte.

Später wurde KLS FM Teil eines Krankenhaus-Konzerns.

Zum 1. Juli 2008 ging der Betriebsteil, in dem die Arbeitnehmer beschäftigt waren, auf eine andere Konzerngesellschaft, nämlich Asklepios, über. Wie KLS FM war und ist auch Asklepios bis heute nicht durch die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband an den BMT‑G II und den diesen seit dem 1. Oktober 2005 ersetzenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und den Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts gebunden.

Die Arbeitnehmer beantragten die gerichtliche Feststellung, dass gemäß der in ihren jeweiligen Arbeitsverträgen enthaltenen „dynamischen“ Verweisungsklausel auf den BMT‑G II die Bestimmungen des TVöD und der diesen ergänzenden Tarifverträge sowie die Bestimmungen des Tarifvertrags zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts in ihrer zum Zeitpunkt ihres Antrags gültigen Fassung auf ihre jeweiligen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden.

Asklepios vertritt die Auffassung, der nach dem nationalen Recht vorgesehenen Rechtsfolge einer solchen „dynamischen“ Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Kollektivregelungen des öffentlichen Dienstes stünden die Richtlinie 2001/23 und Art. 16 der Charta entgegen. Dies führe nach dem Übergang der betroffenen Arbeitnehmer auf einen anderen Arbeitgeber zu einer lediglich „statischen“ Anwendung dieser Regelung in dem Sinne, dass nur die in dem mit dem Veräußerer arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen aus den in diesem Arbeitsvertrag genannten Kollektivverträgen dem Erwerber entgegengehalten werden könnten.«

Die Instanzen in Deutschland hatten für die Arbeitnehmer und gegen Asklepios entschieden. Die Erwartungshaltung das AuGH-Urteil betreffend wird so beschrieben:

»Beobachter hatten eher mit einer arbeitgeberfreundlichen Entscheidung der Luxemburger Richter gerechnet. Der Generalanwalt hatte argumentiert, dass Asklepios ja weder an den Tarifvertragsverhandlungen teilnehmen noch den Arbeitsvertrag der Kläger aushandeln konnte. Wäre das Gericht dieser Linie gefolgt, hätte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen wohl geändert.«

Doch es ist anders gekommen: Beide Arbeitnehmer hatten mit ihrem ursprünglichen Arbeitgeber frei vereinbart, dass sich ihre Arbeitsverträge auch der Weiterentwicklung der damals gültigen Tarife anpassen. An diese Klauseln sei der neue Arbeitgeber gebunden, erklärte der EuGH in seinem Urteil, „sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsieht“. Genau diesen Punkt soll nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) für Deutschland abschließend bescheiden.

Das ermöglicht es dem BAG, an seiner bisherigen Rechtsauffassung festzuhalten: Dynamische Anpassungklauseln in Arbeitsverträgen behalten ihre Gültigkeit auch bei einem Unternehmensverkauf. »Will der neue Arbeitgeber daran etwas ändern, bleibt ihm nur, eine Änderungskündigung auszusprechen, bei der dem Arbeitnehmer ein neuer Arbeitsvertrag angeboten wird. An solche Kündigungen stellen die Gerichte aber hohe rechtliche Anforderungen. Sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und kommen für die Unternehmen selten in Frage.«

Hier haben wir also einen „klassischen“ Fall, dass eine Grundsatzfrage auf der Ebene des EuGH entschieden wird (bzw. die Umrisse) und die nationalen Gerichte dann damit weiterarbeiten können. Der Verfahrensgang ist deshalb „klassisch“, weil die eigentlich zuständigen nationalen Instanzen durchlaufen worden sind und das höchste deutsche Arbeitsgericht eine grundlegende Fragestellung an das EuGH weitergeleitet hat mit der Bitte, diese zu klären.

Auf der Suche nach einem überhaupt zuständigen Gericht

Mit einer anderen Fallkonstellation beschäftigt sich dieser Bericht: Wo sollen wir klagen? Ryanair-Personal sucht zuständiges Gericht. Da wird sich der juristische Laie erst einmal verwundert die Augen reiben. Wieso ist das überhaupt eine Frage? »Welches Gericht ist zuständig für das Flugpersonal von Ryanair? Die arbeitsrechtlichen Verflechtungen machen die Antwort schwierig. Der Generalanwalt am EuGH hat eine Sechs-Punkte-Prüfung zur Lösung der Frage entwickelt.«

Auch hier ein Blick auf den Sachverhalt: Einige frühere Mitgliedern des Bordpersonals der irischen Ryanair wollen gegenüber der Fluggesellschaft und dem ebenfalls irischen Personaldienstleister Crewlink die Zahlung verschiedener Beträge geltend machen, unter anderem wegen nachträglicher Gehaltsanpassungen.

»Doch wo sie klagen sollen, wissen sie nicht. Denn Ryanair hatte das Flugpersonal – Staatsangehörige aus Portugal, Spanien und Belgien – entweder selbst eingestellt oder Crewlink hatte die Stewards eingestellt und an Ryanair abgeordnet. In den Arbeitsverträgen ist dabei der Flughafen Charleroi in Belgien als Heimatbasis der Arbeitnehmer angegeben. Die Arbeitnehmer waren dabei vertraglich verpflichtet, weniger als eine Stunde von ihrer Heimatbasis entfernt zu wohnen und traten am Flughafen Charleroi morgens ihren Dienst an für innereuropäische Flügen und beendeten ihn auch dort.

In den Arbeitsverträgen ist aber gleichzeitig vereinbart, dass das Gehalt auf ein irisches Bankkonto überwiesen werde, irisches Recht anwendbar sei und die irischen Gerichte für Rechtsstreitigkeiten zuständig seien. Das Arbeitsgericht Charleroi erklärte sich daher für die Klagen für unzuständig und wies sie ab.

Dagegen legten die Arbeitnehmer ein Rechtsmittel beim Arbeitsgerichtshof Mons in Belgien ein. Der legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vor, wie die Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit auszulegen sei. Darin ist unter anderem geregelt, dass der Arbeitgeber auch an dem Ort verklagt werden kann, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.«

Und was wird den Richtern des EuGH zur Entscheidung vorgelegt? »In seinen Schlussanträgen vom Donnerstag schlägt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe vor, die ständige Rechtsprechung beizubehalten. Danach wäre bei Arbeitsverträgen, die im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten erfüllt werden, das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfüllt.«

Das aber hört sich einfacher an, als es wohl kommen wird, denn: Das nationale Gericht müsse diesen Ort im Licht aller relevanten Umstände ermitteln. Dabei seien vor allem diese sechs Aspekte zu berücksichtigen:

»Zunächst einmal den Ort, wo der Arbeitnehmer seine Arbeitstage beginnt und beendet. Als zweites, wo die Flugzeuge, an Bord deren er tätig ist, ihren gewöhnlichen Standort haben. Als drittes, wo er von Anweisungen seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt und seinen Arbeitstag organisiert. Weitere Gesichtspunkte seien die Fragen, wo der Arbeitnehmer aufgrund vertraglicher Verpflichtung wohnen muss und wo sich ein vom Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Büro befindet. Als letztes Kriterium sei heranzuziehen, wohin sich der Arbeitnehmer im Fall der Arbeitsunfähigkeit und im Fall disziplinarischer Probleme begeben muss.«

Das hört sich wie eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an. »Der Generalanwalt ließ durchblicken, dass nach diesen sechs Kriterien viel für die Zuständigkeit der Gerichte des Ortes spricht, an dem sich der Flughafen Charleroi befindet.« Aber ob es so kommt wird erst noch zu entscheiden sein. Denn die Richter können dem Schlussplädoyer des Generalanwalts folgen, müssen das aber nicht.

Auf alle Fälle interessant – wieder einmal geht es um den Billigflieger Ryanair. Und der war in diesem Blog schon mehrfach Thema aufgrund der miesen Arbeitsbedingungen. Zuletzt in diesem Beitrag vom 25. März 2017: Das moderne Prekariat sitzt nicht (nur) in sozialen Brennpunkten. Sondern auch im Cockpit und fliegt über den Wolken.

Nachtrag: Am 28.04.2017 erreicht mich eine Mail des Pressebüros von Ryanair mit folgendem Hinweis: „Ryanair wird die unverbindliche Empfehlung des Generalanwalts zu dem aktuellen Fall am Arbeitsgerichtshof Mons untersuchen, die kürzlich bekannt gegeben wurde“, so Robin Kiely, Head of Communications bei Ryanair.