Von Deutschland lernen, kann auch bedeuten, etwas nicht so zu machen: Österreich und die Hartz IV-Debatte

Also ehrlich – als wenn Deutschland gerade nicht sowieso genug internationalen Stress hätte angesichts der enormen Exportüberschüsse, mit denen die „bad Germans“, um in der Trump’schen Fachterminologie zu bleiben, die Welt mehr oder weniger beglücken. Da muss nicht noch ein weiterer „Exportschlager“ dazu kommen. Vor allem nicht, wenn es sich um das deutsche Hartz IV-System handelt.

Aber offensichtlich gibt es in Österreich Stimmen, die genau das vorschlagen. Ein Import des deutschen Grundsicherungssystems. Solche Meldungen erreichen uns nun aus dem Nachbarland: Hartz-IV auch in Österreich? oder dieser Artikel: Hartz-IV in Österreich? Studie sieht Einsparpotenzial: »In der ÖVP nehmen Bemühungen, das deutsche Hartz-IV-System auf Österreich umzulegen, Formen an. Das Finanzministerium hat das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung mit einer Studie zu diesem Thema beauftragt, deren Ergebnisse nun vorliegen.« Und was hat diese Studie, über die jetzt berichtet wird, zu Tage gefördert? »Die Gesamteinsparung bei einer Umsetzung von Hartz IV in Österreich würden laut Studie mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr ausmachen.« Das ist eine Menge Geld. Aber der eine oder andere wird an dieser Stelle skeptisch einwenden – was heißt hier „Einsparung“? Das bedeutet doch, dass man diese Geldsumme weniger ausgibt, also für die betroffenen Menschen eine Kürzung. Dazu kann man wohl der Studie entnehmen: »uf der anderen Seite würde das Modell laut Studienautoren zu einem Anstieg der Armutsgefährdung und zu deutlichen Änderungen der Einkommensverteilung führen.«

In Österreich gibt es die Notstandshilfe und die Mindestsicherung. Die Notstandshilfe ist in der Regel höher als der Hartz-IV-Bezug. In der Studie wird davon ausgegangen, dass nach Bezug des Arbeitslosengeldes statt der Notstandshilfe als bedarfsorientierter Sicherheitsleistung die bedarfsorientierte Mindestsicherung als staatliche Unterstützung folgt. Durch den Wegfall der bisherigen Notstandshilfe würde das Bundesbudget jährlich um eine Milliarde Euro entlastet.

Die Studie wurde laut Finanzministerium bereits vor zwei Jahren in Auftrag gegeben, man prüfe laufend Effizienzpotenziale. Ein Modell wie Hartz IV sei in Österreich nicht geplant, hieß es aus dem österreichischen Finanzministerium. Allerdings mehren sich die Stimmen interessierter Kreise, genau das zu machen, zum einen aus dem Arbeitgeberlager, aber auch Politiker aus den Reihen der ÖVP, so hat beispielsweise der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka rund um den 1. Mai für eine De-facto-Abschaffung der Notstandshilfe plädiert.

Allerdings scheinen Teil der Regierung da nicht so sicher zu sein: Stöger mahnt ÖVP: Hartz IV in Österreich bedeutet Armut und soziale Ausgrenzung, so ist eine Pressemitteilung überschrieben. Und die kommt nicht von irgendwelchen Sozialverbänden, sondern vom österreichischen Sozialminister, Alois Stöger von der SPÖ. „Ich werde nicht zulassen Arbeitssuchende mit Hartz IV zu bestrafen, ihnen beinahe das gesamte Ersparte, das Haus und die Eigentumswohnung, das Auto und den Bausparer wegzunehmen“, verweist Stöger auf die Folgen einer derartigen Zerstörung des Sozialsystems“, so wird der Minister von seinem Haus zitiert.

Zu den möglichen Auswirkungen eines Transfers des deutschen Hartz IV-Systems berichtet das Sozialministerium:

»Die Folgen einer Einführung von Hartz IV nach deutschem Beispiel wären enorm: Knapp eine dreiviertel Million Österreicherinnen und Österreicher wären betroffen. Die Armut würde explodieren, 160.000 Menschen wären zusätzlich massiv armutsgefährdet. Statt der Arbeitslosenversicherung würden die Menschen nur noch eine Fürsorgeleistung, etwa die Mindestsicherung erhalten, zuvor müsste allerdings das gesamte Vermögen bis auf 4.000 Euro aufgebraucht werden. Darüber hinaus würden den Menschen auch weitreichende Pensionsverluste drohen.«

Die Debatte über das „Vorbild“ Hartz IV für Österreich läuft schon seit längerem. Dazu beispielsweise dieser Artikel von Anita Staudacher aus dem November 2016: Welche Folgen „Hartz IV“ für Österreich hätte: »Der in Deutschland geschaffene Niedriglohnsektor sei eine Sackgasse und führe zu Altersarmut, warnen Gewerkschafter.« Die möglichen Folgen wurden dort bereits skizziert.

Man kann an dieser Stelle den Österreichern auch vor dem Hintergrund der enormen Kritik, die es in Deutschland an diesem teilweise absurden System gibt, nur zurufen, auf keinen Fall so ein System wir Hartz IV zu importieren – es sei denn, man will eine massive Absenkung der sozialen Sicherungsleistungen erreichen. Dann passt das.

Wie geht es den Niedriglöhnern? Neue Studien zwischen „besser“ und „schlecht“ und ihre mediale Teil-Verarbeitung

»Für die Lohnentwicklung in Deutschland galt lange Zeit eine einfache Formel: Wer hat, dem wird gegeben. Statistisch ließ sich das leicht festmachen: Die obere Hälfte der Arbeitnehmer, also die 50 Prozent mit den höheren Einkommen, konnten seit Mitte der Neunziger auch ihre Löhne steigern. Bei den 40 Prozent mit den unteren Einkommen dagegen sah es umgekehrt aus. Bereinigt um die Inflationsrate gingen hier die Stundenlöhne zurück. So war das – bis 2010.“ So beginnt Michael Bauchmüller seinen Artikel unter der Überschrift Die Schere ruht, in dem er über eine neue Studie aus dem DIW Berlin berichtet.

Es handelt sich dabei um die Arbeit von Karl Brenke und Alexander S. Kritikos, die unter dem Titel Niedrige Stundenverdienste hinken bei der Lohnentwicklung nicht mehr hinterher veröffentlicht worden ist.

Die FAZ hat einen Teil der Botschaft gerne aufgegriffen: Mehr Geld für Geringverdiener, so die Überschrift des Artikels. »Die Schere zwischen Gering- und Gutverdienern geht nicht weiter auf. Seit der Finanzkrise haben die unteren Einkommen aufgeholt. Forscher haben noch eine weitere gute Nachricht für Geringverdiener.« Das klingt doch nach richtigen guten Nachrichten. Zum einen: Die Schere zwischen den Niedrigst- und Höchstverdienern geht nicht weiter auf: Seit dem Ende der Finanzkrise sind die Stundenlöhne von Niedrigverdienern ebenso schnell gewachsen wie die von Hochverdienern. Und zum anderen: »Sie haben gute Chancen, bald mehr zu verdienen. Dazu betrachteten die Forscher die Leute, die im Jahr 2010 zum ärmsten Fünftel gehörten, und untersuchten, was diese Leute fünf Jahre später taten. Rund ein Viertel war in Rente, arbeitslos oder kümmerte sich um Kinder. Von den übrigen hatte aber eine knappe Mehrheit jetzt ein so hohes Gehalt, dass sie dem ärmsten Fünftel entkommen waren.« Wobei an dieser Stelle mit dem DIW darauf hinzuweisen wäre: Man darf dabei auch nicht vergessen, dass dann andere Menschen an ihre Stelle treten und entsprechend geringe Löhne erhalten. Aber der Subtext der Zusammenfassung bei der FAZ ist ziemlich offensichtlich: Wie kann man da noch sagen, dass es in diesem Land nicht allen besser geht? Sondern womöglich gar von einer problematischen Ungleichheit sprechen?

Den einen oder anderen wird das misstrauisch machen. Und dann stößt man vielleicht bei der Recherche auf so eine Verarbeitung der DIW-Studie: Geringverdiener schließen zur Mitte auf – aber die Spitze zieht davon. Die Kurzfassung dieses Artikels über die DIW-Studie geht so: »Jahrelang mussten Geringverdiener Einbußen hinnehmen, inzwischen wachsen ihre Stundenlöhne. Laut einer neuen Studie verbuchen auch Besserverdiener ein deutliches Plus. Die schlechte Nachricht: Mittlere Lohngruppen stagnieren.«

Also schauen wir einmal direkt in die hier zitierte Studie des DIW hinein: »Lange Zeit kamen in Deutschland nur die besser bezahlten Arbeitskräfte in den Genuss von Reallohnsteigerungen. Die abhängig Beschäftigten mit niedrigen Stundenentgelten mussten dagegen erhebliche Reallohnverluste hinnehmen und zeitweilig breitete sich der Niedriglohnsektor immer mehr aus. Diese Trends setzen sich etwa seit Beginn dieses Jahrzehnts nicht mehr fort. Die verschiedenen Lohngruppen profitieren nun gleichmäßiger vom durchschnittlichen Lohnanstieg, wenngleich jetzt die Arbeitskräfte mit mittleren Stundenentgelten bei der Lohnentwicklung etwas hinterherhinken. Entsprechend hat sich die Schere zumindest zwischen hohen und geringen Löhnen seitdem nicht weiter geöffnet.« Dazu auch die Abbildungen am Anfang dieses Beitrags.

»In der Zeit von 1995 bis 2010 galt: Je höher der Verdienst, desto besser war die Lohnentwicklung … In den unteren vier Dezilen, vor allem aber im untersten Dezil, kam es während dieser Zeit zu erheblichen Reallohnverlusten. Etwa seit Anfang dieses Jahrzehnts wendete sich das Blatt und es lässt sich ein „U-förmigen“ Zusammenhang beobachten: Nun hatten die Arbeitskräfte mit mittleren Löhnen eher das Nachsehen; sie kamen zwar nicht auf reale Einbußen, aber nur zu einem unterdurchschnittlichen Lohnanstieg. Am besten schnitten in längerer Frist die Beschäftigten am oberen Ende der Lohnskala ab.« (Brenke/Kritikos 2017: 410)

Also haben die Unrecht, die immer wieder darauf hinweisen, dass es zu einer Abkoppelung der unteren 40 Prozent gekommen sei? So einfach ist es dann auch wieder nicht. Man schaue sich dazu beispielsweise nur die Überschrift der Pressemitteilung des DIW zu der neuen Studie an: Die Löhne der Geringverdienenden bleiben seit der Finanzkrise nicht mehr zurück – obwohl sie seit 1995 real gesunken sind, so heißt es da. Auch hier werden wir mit einem Grundproblem konfrontiert – auf welchen Zeitraum beziehen ich denn meine Aussagen?

An der generellen Aussage, dass die unteren 40 Prozent heute weniger in der Tasche haben als Mitte der 1990er Jahre, ändert sich erst einmal nichts: »Die realen Bruttostundenlöhne der Beschäftigten in Deutschland sind für die unteren 40 Prozent der Lohnverteilung seit 1995 real gefallen, für die oberen 50 Prozent dagegen gestiegen. Nach der Finanzkrise haben die Stundenlöhne auch für die Geringverdienenden real zugenommen, so dass die Lohnentwicklung weniger ungleich war als in den Jahren zuvor.«

Allerdings werfen die neuen Ergebnisse des DIW einige Fragen auf. Vorab sollte man darauf hinweisen, dass die Befunde des DIW auf Daten basieren, die dem SOEP entnommen sind, also Umfragedaten. In der Studie wird selbst darauf hingewiesen: »Im Rahmen der Erhebungen des SOEP werden die Stundenlöhne nicht direkt erfasst. Erfragt werden bei den Haushaltsumfragen die tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten inklusive eventueller Überstunden je Woche und die Monatslöhne (brutto wie netto) aus einer Haupttätigkeit. Aus diesen Angaben können die Stun- denlöhne berechnet werden.«

Einer der wichtigsten Punkte bei den offenen Fragen: Wie kann es eigentlich dazu kommen, dass wir es mit einer „U-förmigen“ Lohnentwicklung zu tun haben, also »dass nach 2010 die Lohnsteigerungen in den mittleren Lohngruppen unterdurchschnittlich ausfallen«, während die unteren und die oberen Gruppen profitiert haben? Dazu schreiben die Wissenschaftler im Fazit ihrer Studie: »Immer mehr gefragt ist eine bessere Ausbildung, da die Anforderungen in der Arbeitswelt wachsen. Diese Entwicklung hätte eigentlich in einer zunehmenden Spreizung bei den Stundenlöhnen münden müssen. Warum das nicht der Fall war, konnte in der vorgelegten Untersuchung nicht hinreichend geklärt werden.«

  • An dieser Stelle könnte man auf eine ebenfalls diese Tage veröffentlichte Studie hinweisen, die einen vergleichbar widersprüchlichen Befund zu Tage gefördert hat: »Eine repräsentative Betriebsbefragung zeigt, dass inzwischen alle Wirtschaftsbereiche und der Großteil der Betriebe von Digitalisierung betroffen sind … Digitalisierung beeinflusst die Anforderungen, die Arbeitgeber an neues Personal stellen … Neueinstellungen in Betrieben mit Digitalisierungstrend sind mit höheren Anforderungen an die zeitliche und/oder inhaltliche Flexibilität der neuen Mitarbeiter verknüpft.« Und dann kommt der hier entscheidende Satz: »Obwohl im Zuge der Digitalisierung teilweise Engpässe bei der Besetzung offener Stellen auftreten und die Anforderungen steigen, zeigen sich bislang keine spürbaren Lohneffekte«, schreiben nja Warning und Enzo Weber in ihrer Studie Wirtschaft 4.0: Digitalisierung verändert die betriebliche Personalpolitik. Die Jobs, um die es hier geht, liegen einkommensmäßig in der Mitte und dort wird ja auch in der DIW-Studie ein Zurückbleiben der Lohnentwicklung konstatiert. Wenn Angebot und Nachfrage hier idealtypisch wirken würden, dann müsste eine andere Lohnentwicklung erkennbar sein. Interessante offene Fragen, die sich hier stellen.

Vielleicht ist es ein „Marktkorrektureffekt“, der bei den Niedriglöhnern wirksam wird. Die jahrelange Abkoppelung der Geringverdiener von der allgemeinen Entwicklung führt irgendwann zu einem Nachholbedarf auch in diesem Arbeitsmarktsegment, so dass es bei einer sich verändernden Angebots-Nachfrage-Relation auf dem Arbeitsmarkt im Sinne einer „nachholenden Entwicklung“ zu Anpassungen der schlecht bezahlten Arbeitnehmer kommen muss, die sich nun am aktuellen Rand auch in den Daten zeigt.

Nun stehen den Einnahmen gerade der Niedriglöhnern immer auch die Ausgabenentwicklung, also die Kostenseite, gegenüber. Und hier wird eine andere Studie relevant, über die aber in den meisten Medien kaum berichtet wurde, obgleich sie zeitgleich mit der NRW-Studie veröffentlicht worden ist: »Der finanzielle Spielraum von Haushalten mit geringem Einkommen hat sich zwischen 1998 und 2013 verringert. Ausgaben für Mieten und andere Grundbedürfnisse wachsen schneller als das Einkommen. Einpersonenhaushalte und Alleinerziehende in Städten sind von dieser Entwicklung besonders betroffen. Ihre Ausgaben für Grundbedürfnisse wachsen überproportional und die Ausgaben für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind rückläufig. Auch der Spielraum für Vermögensaufbau bleibt für viele klein.« So eine der Schlussfolgerungen aus dieser Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde – und die in den Medien weitaus weniger bis gar nicht rezipiert wurde als die DIW-Studie:

Andreas Sachs, Markus Hoch und Heidrun Weinelt (2017): Grundbedürfnisse und Teilhabe in Deutschland: Wer kann sich was leisten? Veränderungen von Einkommen und Konsumausgaben zwischen 1998 und 2013, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2017

Die Bertelsmann-Stiftung bringt es in der Überschrift ihrer Pressemitteilung zu der neuen Studie so auf den Punkt: Geringverdiener leiden unter steigenden Lebenshaltungskosten: »Der finanzielle Spielraum von Haushalten mit geringem Einkommen hat sich zwischen 1998 und 2013 verringert. Ausgaben für Mieten und andere Grundbedürfnisse wachsen schneller als das Einkommen. Haushalte mit niedrigem Einkommen und Alleinerziehende in Städten sind von dieser Entwicklung besonders betroffen.«

Zwischen 1998 und 2013 sind die durchschnittlich verfügbaren Nettoeinkommen aller Haushalte in Deutschland angestiegen – nominal von rund 2.600 auf rund 3.100 Euro. Allerdings gibt es starke Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen. Während das durchschnittliche Einkommen des oberen Einkommensviertels um 23 Prozent gewachsen ist, stieg das Einkommen des unteren Viertels nur um zehn Prozent. In konkreten Euro-Beträgen:

»Während ein Niedrigverdiener-Haushalt 2013 im Schnitt nominal monatlich 99 Euro mehr als 1998 zur Verfügung hatte, konnte das obere Viertel der Haushalte 1.140 Euro mehr ausgeben oder beiseitelegen.«

Und dann werden wir konfrontiert mit dem Tatbestand ganz unterschiedlicher Preisentwicklungen, die von der allgemeinen Inflationsrate eher überdeckt werden:

»Trotz des Einkommenanstiegs verringte sich für das Viertel der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen der Spielraum zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und für Investitionen in Bildung. Denn die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Wohnen, Nahrung und Kleidung stiegen schneller als das Einkommen. So gab ein Haushalt mit niedrigem Einkommen 2013 nominal 19 Prozent beziehungsweise 141 Euro im Monat mehr für Grundbedürfnisse aus als noch 1998. Hauptverantwortlich hierfür waren die steigenden Ausgaben fürs Wohnen.«

Und auch das muss man zur Kenntnis nehmen: »Je höher das Einkommen, desto weniger geben die Haushalte prozentual für ihre Lebenshaltungskosten aus. Niedrigverdiener-Haushalte (bis 1.569 Euro monatliches Nettoeinkommen) mussten 2013 82 Prozent ihres Einkommens für Grundbedürfnisse ausgeben, Besserverdienende (ab 4.114 Euro monatliches Nettoeinkommen) hingegen nur 49 Prozent.« Insofern überrascht dieser Befund der Studie nicht: „Der finanzielle Spielraum von Geringverdienern hat sich trotz steigender Einkommen bis 2013 deutlich verkleinert“.

Die Studie hat deutlich gemacht, dass gerade die Preisentwicklung im Bereich der Mieten für die Geringverdiener wie ein Mühlstein wirkt. Und das vor allem in den (groß)städtischen Bereichen, wo die Mieten nach oben ziehen und gleichzeitig aber auch viele Jobs sind für diese Personengruppe. Dieser Punkt zeigt dann auch, warum es zuweilen eher irreführend ist, auf die allgemeine Inflationsrate zu schauen. Beispiel Mietentwicklung: »… die Mieten in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern (stiegen) innerhalb von zwölf Monaten um 6,3 Prozent – das Zwölffache der normalen Inflation. In ganz Deutschland, also kleine Städte und Dörfer eingerechnet, betrug der Anstieg fast fünf Prozent«, berichtet Michael Fabricius in seinem Artikel Darum lässt sich die Mietpreis-Explosion nicht aufhalten, in dem es darum geht, warum die Mietpreisbremse offensichtlich nicht funktioniert. Im Ergebnis führt das in vielen Ballungsräumen zu erheblichen Verdrängungsprozessen auf dem Wohnungsmarkt, also Geringverdiener-Haushalte werden an den Stadtrand oder in die Peripherie gedrückt, um halbwegs bezahlbaren Wohnraum zu finden. Dadurch steigen dann aber gerade für die Niedriglöhner die Mobilitätskosten, um zur Arbeit kommen zu können. Eine weitere Spirale beginnt.

Was in keiner der hier besprochenen Studien erwähnt wird: Viele der Niedrigverdiener stellen eine sichere Quelle für die kommende Altersarmut dar, denn sie arbeiten oftmals in Branchen und Unternehmen, in denen es anders als in den Industrieunternehmen oder im öffentlichen Dienst keine Betriebsrenten gibt, die einen Teil der massiven Rentenkürzungen ausgleichen können bzw. sollen. Und sie haben derart eng bemessene Budgets, dass viele von ihnen auch keine staatlich geförderte private Altersvorsorge betreiben (können).

Hartz IV und darüber hinaus: Kinder und Armut. Und wieder der Streit um die richtigen Zahlen. Hinter denen Schicksale stehen

Das war dann wieder so eine Nachricht, die in Zeiten des anlaufenden Wahlkampfs zum einen nicht gerne gehört wird, zum anderen aufgrund der Verdichtung in die eine große Zahl erwartbar auf großes Interesses stößt, kann man doch scheinbar an einer Größe ein komplexes und vielgestaltiges gesellschaftliches Problem, das zudem noch mit Skandalisierungspotenzial ausgestattet ist, auf den Punkt bringen: »Die Zahl der von Armut bedrohten Kinder steigt weiter. Im Dezember 2015 waren noch rund 1,54 Millionen von Hartz IV abhängig. Die Zahl stieg bis Dezember 2016 auf rund 1,6 Millionen«, so dieser Artikel: Immer mehr Kinder sind von Hartz IV abhängig. Außerdem erfahren wir dort: »Die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die länger als vier Jahre von Hartz IV abhängig sind, hat sich von Dezember 2013 bis 2016 von 490.000 auf 522.000 erhöht.«

Aber allein schon auf der Ebene der nackten Zahlen muss man sofort die in diesen Bereichen naheliegende Frage stellen: Stimmt das so? Offensichtlich lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Wie viele Kinder leben von Hartz IV – 1,6 oder doch 2 Millionen?, so ist ein entsprechender Bericht des Portals O-Ton Arbeitsmarkt überschrieben. Das wäre natürlich ein nicht unerheblicher Unterschied, immerhin einige hunderttausend Kinder mehr.

Um es gleich voran zustellen – die Zahl 1,6 Millionen Kinder im Hartz IV-Bezug ist als solche nicht falsch, man kann sie den Daten der Bundesagentur für Arbeit entnehmen. Aber:

Obwohl in der Presse derzeit von rund 1,6 Millionen Kindern im Hartz-IV-Bezug gesprochen wird, ist diese Zahl gleich doppelt irreführend. Denn sie bezieht sich erstens nur auf unter 15-jährige Kinder, die zweitens einen eigenen Hartz-IV-Anspruch besitzen. Somit erfasst sie längst nicht alle Kinder, die von Hartz-IV-Leistungen abhängig sind. Aufschlussreicher wäre, über die knapp 2 Millionen Kinder unter 18 Jahren zu sprechen, die in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben. Hierbei würden nicht nur alle minderjährigen Leistungsempfänger berücksichtigt. Dazu kämen außerdem auch die Kinder, die laut Bundesagentur für Arbeit (BA) „ihren individuellen Bedarf durch eigenes Einkommen decken“ können sowie die „vom Leistungsanspruch ausgeschlossenen Personen“, so der Bericht auf O-Ton Arbeitsmarkt.

In Zahlen ausgedrückt: Weitere knapp 250.000 Kinder zwischen 15 und 18 Jahren sowie rund 115.000 Kinder ohne eigenen Leistungsanspruch leben in Hartz-IV-Haushalten.

Wir haben es hier – nur auf den ersten Blick ausschließlich statistischen – Problematik zu tun: »So wird die irreführend niedrige Zahl der Kinder im Hartz-IV-Bezug gerne in einem Atemzug mit der irreführend niedrigen Hartz-IV-Hilfequote genannt. Diese Hilfequote veröffentlicht die BA parallel zur Statistik der leistungsberechtigten Kinder. Aus ihr geht hervor, wie groß der Anteil von unter 18-jährigen Hartz-IV-Empfängern an der Gesamtbevölkerung ist. Laut Hartz-IV-Hilfequote für Kinder erhielten im Dezember 2016 rund 14 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren in Deutschland Hartz-IV-Leistungen.«

Anders ausgedrückt: Hinsichtlich der Zahl der „armen Kinder“ (wenn man denn die an dem Merkmal Hartz IV-Bezug bemisst) werden die Kinder unter 15 Jahren genannt, bei der parallel von der BA veröffentlichten Hilfequote aber verwendet man die Zahl der unter 18 Jahre alten Kinder.
Und bei der Hilfequote muss man dann noch wissen: Seit einer statistischen Änderung im Jahr 2016 werden bei der Errechnung der Hilfequote nur die Kinder berücksichtigt, die „individuell betrachtet“ leistungsberechtigt sind. Mit einem die Zahlen senkenden Effekt, vgl. dazu bereits aus dem Juli 2016 den Beitrag Statistikänderung lässt rund 130.000 Hartz-IV-Kinder verschwinden. Für den in der aktuellen Berichterstattung relevanten Zeitpunkt Ende 2016 können 115.000 Kinder unter 18 Jahren ohne eigenen Leistungsanspruch ermittelt werden, die aber durch ihren Haushaltskontext sehr wohl von Hartz IV-Leistungen abhängig sind, aber nicht mitgezählt werden.

Nun könnte man an dieser Stelle zu Recht die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Zahl der Kinder im Hartz IV-Bezug die richtige Größe für die Abbildung von „Kinderarmut“ ist (die Anführungszeichen sollen ausdrücken, dass es „Kinderarmut“ als solche gar nicht gibt, handelt es sich doch immer um eine abgeleitete Einkommensarmut der Familie, in der die Kinder leben). Was ist beispielsweise mit den über 260.000 Kindern, die in Familien leben, die nur deshalb nicht in der Hartz IV-Statistik auftauchen, weil ihre Eltern oder der alleinerziehende Elternteil den Kinderzuschlag bekommen, der dazu dient, das Haushaltseinkommen gerade so aufzustocken, dass eine Bedürftigkeit der Eltern vermeiden wird? Diese Kinder und ihre Familien leben genau an der Hartz IV-Grenze – sind sie deswegen wirklich nicht (mehr) arm? Oder die vielen Familien, deren Eltern im Niedriglohnsektor unterwegs sind und zwar keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben, die aber sehr wohl vorne und hinten mit Einkommensarmut konfrontiert sind in ihrem Alltag? Müsste man die nicht auch berücksichtigen?

Genau das wird bekanntlich versucht mit der Armutsgefährdungsquote. Denn die bildet ab, wie viele Menschen mit einem Einkommen über die Runden kommen müssen, das unter 60 Prozent des Medianeinkommens liegt. Es handelt sich um eine Seite Jahrzehnten verwendete international vereinbarte offizielle Definition von (Einkommens)Armut bzw. Armutsgefährdung. Die Zahlen dazu werden regelmäßig veröffentlicht auf der Seite www.amtliche-sozialberichterstattung.de. Zu der immer wieder gerade in den Medien vorgetragenen Kritik an dieser Art und Weise der „Armutsmessung“ vgl. ausführlicher den Blog-Beitrag Die ritualisierte (Nicht-)Debatte über Armut und Armutsgefährdung, weitere Armutsberichte und ein wissenschaftlicher Ordnungsruf vom 20. März 2017.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband verwendet für seinen jährlich publizierten Armutsbericht genau diese Zahlen aus der amtlichen Statistik – und die Abbildung mit dem Verlauf unterschiedlicher Quoten, die dem Armutsbericht 2017 entnommen ist – verdeutlicht, dass da was auseinanderläuft hinsichtlich der allgemeinen, sich also auf alle beziehenden Quoten. Die Armutsgefährdungsquote steigt weiter an, während beispielsweise die Arbeitslosenquote deutlich nach unten geht. Offensichtlich werden wir Zeugen einer zumindest teilweisen Entkoppelung dergestalt, dass man nicht mehr einfach sagen kann, je weniger Arbeitslosigkeit, desto geringer die Einkommensarmut insgesamt, was zum einen damit zu tun haben kann, dass zwar mehr eine Arbeit und Einkommen haben als vorher, aber die Zahl der Einkommensarmen in Haushalten zugleich wächst, die nicht (mehr oder noch nicht) in den Erwerbsarbeitsprozess integriert sind (Beispiele wären Rentner oder Flüchtlinge) und/oder diejenigen, die Erwerbsarbeit gefunden haben, bekommen zwar mehr Geld als vorher im reinen Transferleistungsbezug, aber weil sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen, reichen die erzielten Einkommen nicht aus, um sie aus den unteren 40 Prozent der Einkommensverteilung herauszuholen, so dass sie in der Armutsgefährdungsquote auftauchen.
Nun sagt ein allgemeiner Durchschnittswert über alle Personen manchmal weniger aus, als man denkt, vor allem, wenn die Streuung zwischen einzelnen Personengruppen stark ausgeprägt ist. So ist das auch bei der Armutsrisikoquote. Einige Gruppen sind kaum oder unterdurchschnittlich betroffen, andere hingegen sehr stark. Dazu kann man dem Armutsbericht 2017 des Paritätischen entnehmen:

» … ist die Armutsquote bei allen bekannten Risikogruppen in 2015 ein weiteres Jahr in Folge angestiegen. Dies waren:
– Alleinerziehende mit einer Quote von 43,8 Prozent,
– Familien mit drei und mehr Kindern (25,2 %),
– Erwerbslose (59 %),
– Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 %)
– sowie Ausländer (33,7 %)
– oder Menschen mit Migrationshintergrund generell (27,7 %).«

Bezogen auf die hier besonders interessierenden Kinder lag deren Armutsrisikoquote 2015 mit 19,4 Prozent deutlich über der allgemeinen Quote von 15,7 Prozent. Noch deutlich höher ist die Quote der 18 bis 25-Jährigen, sie lag bei 25,5 Prozent (vgl. speziell auch zu dieser in der öffentlichen Diskussion in der Regel völlig unterbelichteten Gruppe den Beitrag „Den Blick schärfen! Armut von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ von Marion von zur Gathen und Jana Liebert im Armutsbericht 2017 des Paritätischen (S. 30 ff.).

Und parallel zur Berichterstattung über die wieder ansteigende Zahl der Kinder im Hartz IV-Bezug hat sich das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu Wort gemeldet: Wird die Kinderarmut weiter stiegen?, so die Fragestellung des Beitrags.

Dazu hat das WSI diese Studie publiziert: Eric Seils und Jutta Höhne (2017): Wird die Kinderarmut weiter steigen? WSI Policy Brief Nr. 10, Düsseldorf, Mai 2017.

Es handelt sich dabei um eine Fortschreibung dessen, was die Wissenschaftler bereits vor kurzem mit Daten bis einschließlich 2015 im  WSI-Kinderarmutsbericht als Teil des WSI-Verteilungsmonitors publiziert hatten. Dazu bereits dieser Blog-Beitrag vom 18. April 2017: Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt. Die Wissenschaftler des WSI kommen mit Blick auf die Entwicklung der Kinderarmut bis einschließlich 2015 zu dem Ergebnis, »dass die Kinderarmut in den Jahren der Flüchtlingskrise insgesamt etwas angestiegen ist. Das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist jedoch in diesem Zeitraum leicht gesunken. Im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen, die zwar einen Migrationshintergrund haben, aber in Deutschland geboren wurden, ist keine nennenswerte Veränderung des Armutsrisikos festzustellen. Allein in der relativ kleinen Gruppe der Minderjährigen, die selbst in die Bundesrepublik eingewandert sind, hat sich die Armut zwischen 2011 und 2015 von 35,7 auf 48,9 Prozent rasant ausgebreitet. Dies legt nahe, dass der gesamte Zuwachs der Kinderarmut auf das hohe Armutsrisiko der in den letzten fünf Jahren eingewanderten Personen unter 18 Jahren zurückzuführen ist.«

In der neuen Studie wird versucht, die Entwicklung im vergangenen Jahr abzuschätzen – und erkennbar ist ein weiterer starker Anstieg der Kinderarmut in der Subgruppe der Kinder, die nach Deutschland eingewandert sind (vgl. dazu auch die Abbildung).
Bereits 2015 war die vom Mikrozensus erfasste Kinderarmut um 77.000 Personen angestiegen. Aber gerade in der zweiten Jahreshälfte 2015 gab es eine starke Zuwanderung geflüchteter Menschen, von denen gut 278.000 unter 18 Jahre alt waren. Um ein möglichst aktuelles Bild der Auswirkungen zu bekommen, haben die Forscher eine Vorausberechnung im Sinne einer Überschlagsrechnung für das Jahr 2016 gemacht.

Zu den Ergebnissen schreiben die WSI-Wissenschaftler:

»Im Jahre 2015 lebten in der Bundesrepublik 2.547.000 Kinder und Jugendliche unter der Armutsgrenze. Den Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der armen einheimischen Kinder um gut 72.000 Personen verringern. Gleichzeitig wächst die Zahl der Armen durch die rund 154.000 Einwandererkinder, die nun durch den Mikrozensus erfasst werden, weiter an. Per Saldo steigt die Kinderarmut also 2016 gegenüber dem Vorjahr um rund 82.000 Personen auf 2.629.000 an. Bei einer geschätzten Bevölkerung unter 18 Jahren in Privathaushalten in der Hauptwohnung von 13.026.000 Personen ergibt sich somit eine Kinderarmutsquote von 20,2 Prozent für 2016 und damit ein erneuter Anstieg der Kinderarmut um 0,5 Prozentpunkte. Qualitativ interpretiert wird es also zu einem weiteren Anstieg der Kinderarmut kommen, welcher jedoch durch den Rückgang des Armutsrisikos unter den einheimischen Kindern gedämpft wird.

Die Zahl der armen Kinder, die selbst in die Bundesrepublik eingewandert sind, wird in den Daten für 2016 im Vergleich zum Vorjahr um ca. 110.000 auf 413.000 Personen ansteigen. Das entspricht einem Anstieg der Armutsrisikoquote von 48,9 auf 58,7 Prozent. Dieser drastische Anstieg ist darauf zurückzuführen, dass sich die relativ kleine Gruppe von Minderjährigen mit eigener Migrationserfahrung durch die Einwanderung des Jahres 2015 beträchtlich vergrößert hat. Dadurch verändert sich auch die Struktur der Kinderarmut: So steigt der Anteil der Kinder mit eigener Migrationserfahrung an allen armen Kindern von 11,9 auf 15,7 Prozent an.«

Dieser differenzierte Blick auf unterschiedliche Entwicklungsdynamiken ist wichtig und hilfreich. Man sollte bei all dieser notwendigen Zahlenakrobatik allerdings niemals vergessen, dass hinter jeder einzelnen Zahl eine Vielzahl an individuellen Schicksalen steht, die oftmals ob bewusst oder unbewusst bei einer Fokussierung „nur“ auf die Statistik verdrängt werden bzw. untergehen.

Da die Hauptaussage der neuen WSI-Studie darin besteht, auf den die Armutsquote nach oben treibenden Effekt der Zuwanderung von Kindern unter 18 Jahren nach Deutschland im Gefolge der Fluchtbewegungen hinzuweisen, soll der Beitrag hier abgerundet werden mit einem Blick darauf, wozu die konkreten Armutslagen für die Betroffenen führen können – vor allem am Übergang zwischen dem Status „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, der sich in der Obhut der Jugendhilfe befindet und dem Herausfallen aus diesem System mit Erreichen der 18-Jahres-Grenze.

»Um an etwas Geld zu kommen, sehen viele junge männliche Geflüchtete in Deutschland nur den Weg der Prostitution«, berichtet Anna Kristina Bückmann in ihrem Artikel 20 bis 30 Euro für Sex. Vor allem in Berlin, Frankfurt und Hamburg sind Fälle von jungen männlichen Flüchtlingen bekannt, die Sex für Geld bieten.

»Verlegen steht Farid vor einem kleinen Toilettenhäuschen am Eingang des Berliner Tiergartens. Immer wieder gehen junge Männer ein und aus. Sie sehen müde aus, wirken abgekämpft. Hin und wieder kommen ältere Männer dazu. Farid hingegen wirkt angespannt … Der nach eigenen Angaben 21 Jahre alte Afghane verdient sein Geld im Tiergarten nahe der Siegessäule mit Prostitution. Anschaffen zu gehen sei für ihn die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, erzählt er später … 20 bis 30 Euro bekomme er für Sex, sagt Farid. Von dem Geld kaufe er sich Heroin. „Ich brauche das für meinen Kopf.“ Diesen Satz wiederholt er immer wieder. Seine Klientel? „Das sind fast alles ältere Männer, die herkommen.“«

Natürlich wird der eine oder andere die Stirn runzeln und zu argumentieren versuchen, dass das eben ein krasses Außenseiter-Beispiel sei und dann auch noch Flüchtlinge betreffe. Aber es ist wichtig, auch auf diese zumeist verborgenen Seiten der Armutsproblematik zu schauen.

Abschließend und wieder mit Blick auf die Kinder und zwar unabhängig davon, ob sie hier geboren oder eingewandert sind, sei an das erinnert, was die zahlreichen Studien zu den Folgen der „Kinderarmut“ seit Jahren immer wieder ans Tageslicht befördern. Beispiel:

»Je länger Kinder in Armut leben, desto negativer sind die Folgen. Verglichen mit Gleichaltrigen aus Familien mit gesichertem Einkommen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert, materiell unterversorgt und gesundheitlich beeinträchtigt. Sie haben oft kein eigenes Zimmer und damit keinen Rückzugsort, ernähren sich ungesünder, Monatstickets für den Nahverkehr sind kaum finanzierbar und außerschulische Bildung, Hobbies oder Urlaub ein Luxus. Außerdem haben arme Kinder einen weitaus beschwerlicheren Bildungsweg vor sich.«

So die im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie von Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig (2016): Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016. Aber auch das bleibt immer noch irgendwie losgelöst vom individuellen Schicksal. Bei aller Notwendigkeit einer Aggregation der Zahlen und der Erkenntnisse über Folgen im Kollektiv der Betroffenen sollte und darf man nie aus den Augen verlieren – es geht um ganz viele Einzelschicksale und damit um viele kleine Leben, denen man schon am Anfang eine Menge Gewichte an die Beine hängt.

Der „kleine“, aber sehr bedeutsame Gesetzgeber im deutschen Gesundheitswesen als Objekt der Begierde von Lobbyisten

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist eine mächtige Institution im deutschen Gesundheitswesen. Hier wird über zahlreiche Leistungen oder deren Verweigerung für 70 Millionen Kassenpatienten entschieden. Erst vor kurzem wurde über diese eigenartige Ausformung des deutschen Koporatismus kritisch berichtet: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als „kleiner“ Gesetzgeber im Gesundheitswesen. Sind seine Tage gezählt?, so ist der Beitrag vom 11. Mai 2017 überschrieben. Darin wurde mit Blick auf ein neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt: Die Legitimationsfrage dieses den Staat und das komplexe Gesundheitssystem entlastenden Gremiums wird erneut und nunmehr durch das BVerfG als „Drohung“ aufgerufen, so dass man sich Gedanken machen sollte, wie man eine Weiterentwicklung hinbekommt bzw. ob man überhaupt angesichts der Bedeutung der Entscheidungen sowie der nicht gegebenen demokratischen Legitimation die eigenartige Konstruktion des G-BA überhaupt beibehalten sollte. Und gleichsam als Fortsetzungsgeschichte muss nun aus dem ansonsten im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit vor sich hin werkelnden Innenleben dieses mächtigen Gremiums über mehr als pikante Personalien berichtet werden. Personalvorschlag sorgt für Wirbel, so hat Anno Fricke seinen Artikel dazu überschrieben. Ein Personalvorschlag für die Spitze des G-BA kommt im Bundestag – und bei Ärzten – nicht gut an.

Es geht um die Spitze des Gemeinsamen Bundesausschusses mit den drei „unparteiischen Mitgliedern“.  Im kommenden Jahr läuft die sechsjährige Amtszeit der drei unparteiischen Mitglieder im GBA ab. Sie sind in dem Gremium das Zünglein an der Waage, wenn es bei Abstimmungen zwischen Kassen und Leistungserbringern keine Mehrheit gibt.

„Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass der ärztliche Sachverstand im Gemeinsamen Bundesausschuss offensichtlich überhaupt nicht mehr gefragt ist“, so wird der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, zitiert.

Hier erst einmal die Personalfragen, die derzeit für reichlich Unmut sorgen:

»Auslöser von Montgomerys Spitze war die Benennung des Juristen und ehemaligen FDP-Bundestagsabgeordneten Lars Lindemann (46) als stellvertretendes unparteiisches Mitglied des GBA. Er soll im Juli 2018 die Gynäkologin und frühere BÄK-Abteilungsleiterin Dr. Regina Klakow-Franck ablösen. Klakow-Franck hatte im Vorfeld signalisiert, weiter machen zu wollen.

Neu besetzt werden muss auch der Posten des dritten unparteiischen Mitglieds, nachdem Dr. Harald Deisler (68) nicht wieder antreten wollte. Für ihn soll nun Uwe Deh (50) nachrücken, der bis Juli 2015 Vorstand des AOK-Bundesverbands war. Professor Josef Hecken ist für eine weitere Amtszeit als unparteiischer Vorsitzender nominiert worden.«

Wenn das so durchkommen würde, dann hätte man drei Juristen an der Spitze des G-BA. An dieser Stelle geht es gar nicht so sehr um den Kritikpunkt aus den Reihen der Ärzteschaft, dass wenigstens ein Arzt oder eine Ärztin vertreten sein sollte, sondern vor allem um die Frage, was es denn mit der Unparteilichkeit auf sich hat oder haben soll.

»Die einzige Ärztin soll einem Lobbyisten weichen«, so Rainer Woratschka in seinem Artikel Streit um Chefposten im wichtigsten Gesundheitsgremium. Man muss wissen, dass diesmal die Deutsche Krankenhausgesellschaft das Vorschlagsrecht hatte.  Das Vorschlagsrecht wechselt zwischen den Trägerorganisationen des GBA.
Die Kritik entzündet sich an den beiden neuen Personalvorschlägen neben dem Vorsitzenden des G-BA, der im Amt bestätigt werden soll. Und diese Kritik ist mehr als berechtigt.

Die völlig berechtigten Vorbehalte entspringen der Tatsache, dass die Klinikbetreiber die ohnehin schon einzige Medizinerin in der Dreierführung des Gremiums durch einen ehemaligen FDP-Abgeordneten und Klinikmanager ersetzen wollen. Der Gynäkologin Regina Klakow-Franck soll der gelernte Jurist und Betriebswirt Lars Lindemann folgen. Der 46-Jährige saß von 2009 bis 2013 im Bundestag und reüssierte danach als Hauptgeschäftsführer eines neu gegründeten Spitzenverbands der Fachärzte. Gleichzeitig ist er Geschäftsführer der Sanakey-Gruppe, die Fachärzten beim Abrechnen hilft.

Der Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands (SpiFa) ist ein Lobbyverband allererster Güte. Dort wird als Hauptgeschäftsführer der Rechtsanwalt und Ex-FDP-MdB Lars F. Lindemann geführt.
Und wie praktisch – der Lobbyverband hat auch eine Wirtschaftsplattform – die angesprochene Sanakey-Gruppe, wo Lindemann ebenfalls als Geschäftsführer die Fäden zieht.
»Wegen der Vermischung von politischer Tätigkeit und Lobbyarbeit hat sich Lindemann zeitweise sogar in der FDP Kritik zugezogen … Und dass er sich als Facharzt-Lobbyist ungewohnt heftig mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung anlegte«, schreibt Woratschka in seinem Artikel.
Die Neutralität Lindemanns ist bei Politikern aller Fraktionen im Bundestag umstritten. „Ich frage mich, ob Personen, die einen großen Teil ihres Lebenswegs dem Lobbyismus gewidmet haben, auf der wichtigen Funktion eines unparteiischen Mitglieds des GBA richtig besetzt sind“, wird die gesundheitspolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Vogler, in der „Ärzte Zeitung“ zitiert.
Auf den Punkt gebracht: Mit der Berufung von Lindemann würde man den Bock zum Gärtner machen.

»Der Personalvorschlag der Kassen ist ebenfalls nicht unumstritten. Mit Uwe Deh hoben sie für den aus Altersgründen scheidenden Harald Deisler einen Ex-AOK-Manager auf den Schild, der sich bisher auch nicht gerade als Mann des Ausgleichs empfohlen hat. Mit Jürgen Graalmann bildete er mehrere Jahre lang die Doppelspitze des AOK-Bundesverbandes, lieferte sich mit diesem aber einen derartigen Machtkampf, dass am Ende beide ihre Posten räumen mussten«, so Rainer Woratschka.

Wie geht’s jetzt weiter? Die Selbstverwaltung hat ihre Personalvorschläge bis Ende Juni dem Bundesgesundheitsminister vorzulegen, der sie dann dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages übergibt. Dort können die Personalien abgesegnet  – oder aber mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgelehnt werden. Es bleibt zu hoffen, dass man das Kapern des G-BA durch Lobbyisten unterbindet, aber zugleich stellet sich immer dringlicher die Aufgabe, über ganz neue Wege politisch und damit in aller Öffentlichkeit zu diskutieren und zu streiten.

Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte

Das Bundessozialgericht (BSG) hat über diese Entscheidung informiert: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt und der Begründung des BSG kann man dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren entnehmen:
»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R).
Streitpunkt war § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dieser sieht die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt.

Der Asylantrag des Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert.«

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Nun werden viele Menschen mit Blick auf den konkreten Sachverhalt des bereits im Jahr 2002 nach Deutschland gekommenen abgelehnten Asylbewerbers und seine Weigerung, durch aktive Beeilung an der Identitätsklärung an seiner dann realisierbaren Abschiebung mitzuwirken, aus dem Bauch heraus Zustimmung äußern – es kann doch nicht angehen, sich wie in diesem Fall jahrelang an der Nase herumführen zu lassen. Das ist durchaus verständlich.

Auf der anderen Seite öffnet sich hier und mit der Entscheidung des BSG ein Strauß an nicht trivialen sozialpolitischen Grundsatzfragen, die auch ganz anderen Bereiche und Menschen betreffen könnten.

In dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren wird Matthias Lehnert, Rechtsanwalt bei einer Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Berlin, zitiert:

„Die Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetz ist heiß umstritten. Denn bereits 2012 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylbewerbern auch Leistungen zum Erhalt eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen.“

Und weiter:

»Er hofft, dass die BSG-Entscheidung … vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. In Karlsruhe sei eindeutig entschieden worden, dass Asylbewerberleistungen im Wesentlichen nicht von solchen abweichen dürfen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII gezahlt werden – und zwar bedingungslos. „Dazu gehört auch ein Anteil für die Teilhabe am sozialen Leben. Den Erhalt der vollen Leistung an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, wie es nun das Bundessozialgericht getan hat, halte ich nicht für gangbar“, sagt Lehnert.«

Er spricht hier die Entscheidung des BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 an. Darin wurde festgestellt, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend war, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. In den Leitsätzen des Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und in der Entscheidung findet man diesen Passus: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Christian Rath versucht in seinem Kommentar zur BSG-Entscheidung unter der Überschrift Zulässiges Druckmittel eine Differenzierung: »Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht unterscheiden: Es ist unzulässig, das Existenzminimum zu verweigern, wenn dies nur der Abschreckung von anderen dient. Dagegen dürfte die Kürzung als Sanktion im konkreten Fall zulässig sein, wenn der Betroffene sie durch Beachtung seiner gesetzlichen Pflichten jederzeit abwenden kann. Und natürlich macht es auch einen Unterschied, wenn der Betroffene ohne Gefahr in seine Heimat zurückkehren könnte. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist deshalb im Ergebnis richtig.« Und er schiebt eine politische Einschätzung hinterher: »Der völlige Verzicht auf Abschiebungen ist keine … Alternative. Er mag zwar in einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung populär sein, würde aber bald dazu führen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ganz in Frage gestellt wird.«

Aber zurück zu der Frage, wo und warum das Urteil ausstrahlen könnte in andere sozialpolitische Bereiche: Das Bundessozialgericht stellt in seiner neuen Entscheidung darauf ab, dass es um eine aus seiner Sicht erreichbare Verhaltensänderung geht, mit der man die Sanktion wieder auflösen kann, also durch Mitwirkung, die bislang verweigert worden ist. In den Worten des BSG: »Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann.«

Und an dieser Stelle wird eine verfassungsrechtliche Fragestellung aufgeworfen, die möglicherweise auch ausstrahlen könnte in andere strittige Bereiche aus der Welt der Grundsicherung, beispielsweise das in Karlsruhe anhängige Verfahren gegen die Sanktionen im SGB II. Dies betrifft vor allem die vom BSG herausgestellte Begründung, die „Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne“, zu knüpfen. Denkbare Analogien zur ausstehenden Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der im erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 02.08.2016 zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im SGB II liegen auf der Hand (vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).

Bedenkenswert ist in diesem Kontext die vom BSG hervorgehobene Formulierung: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen.« Auch bei den Sanktionen im SGB II geht es um „Mitwirkungspflichten“, beispielsweise Termine im Jobcenter einzuhalten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden, die – so die vergleichbare Logik des BSG – durch das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst werden können. Möglicherweise wird das auch im BVerfG-Verfahren eine Rolle spielen.

Nicht, dass das auch zwingend ist, aber man sollte das auf dem Schirm haben.

Man könnte natürlich mit Blick auf die neue Entscheidung des BSG und mit Blick auf das Sanktionsverfahren beim BVerfG auch die Ableitung wagen, dass dann aber zumindest die „Vollsanktionierten“ im SGB II, denen also 100 Prozent gekürzt werden, darauf hoffen dürfen, das ihnen dann auch wenigstens das „unabweisbar Gebotene“ gewährt werden muss. Denn warum sollten die schlechter behandelt werden als ein seit vielen Jahren abgelehnter Asylbewerber? Man sieht, es öffnet sich ein großer Raum der offenen Fragen. Aber es gibt ja die Hoffnung, dass das BVerfG im Laufe dieses Jahres zu einer Entscheidung kommen wird. Dann werden wir weitersehen.

Foto: © Stefan Sell