Von der besonderen Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen am Beispiel der Bauwirtschaft (und darüber hinaus)

Wenn es sie nicht geben würde, man müsste sie erfinden und einführen – die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die unter dem Kürzel SOKA-BAU firmieren. Sie arbeitet heute für rund 77.000 inländische und ausländische Betriebe mit etwa 740.000 Beschäftigten und 380.000 Arbeitnehmern im Ruhestand. Von dieser Einrichtung haben sicher die meisten noch nie was gehört. Zugleich steht sie gleichsam als Beispiel für die Traditionslinie einer Selbstorganisation der Tarifparteien in einer Branche, um praktische Probleme zu lösen. Nur einige wenige Anmerkungen zur Geschichte: »Schon kurz nach 1945 zeichnete sich ab, dass für typische Probleme der Bauwirtschaft wie kurze Beschäftigungszeiten oder regelmäßige Arbeitsausfälle in den Wintermonaten dringend eine Lösung gefunden werden musste. Die Tarifparteien waren sich einig, dass entsprechende Regelungen in Eigenregie – also ohne staatlich verordnete Maßnahmen – auf den Weg gebracht werden sollten. Die Verhandlungen zwischen den zuständigen Arbeitgeberverbänden und der Interessenvertretung der Arbeitnehmer führte zur Gründung der gemeinsamen Einrichtungen ULAK und ZVK.« Diese beiden Kürzel stehen für die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) und die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (ZVK). Beide sind Einrichtungen der Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft, die sich aus dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes zusammensetzen.

»Aufgaben der ULAK sind die Sicherung von Urlaubsansprüchen und die Finanzierung der Berufsausbildung. Die ZVK schafft mit der Rentenbeihilfe einen Ausgleich für strukturbedingte Nachteile bei der Altersversorgung.« So die Selbstbeschreibung der SOKA-BAU. Wichtige sozialpolitische Funktionen, die hier für alle Beschäftigten der Bauwirtschaft sichergestellt werden, in einer Branche, die sich durch eine kleinteilige, zersplitterte Unternehmensstruktur charakterisieren lässt, also mit vielen kleineren und Kleinstbetrieben, die ansonsten diese Leistungen für die Arbeitnehmer nicht erbringen würden oder könnten oder das auch nicht wollten.

Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Branchensystems ist natürlich zum einen, dass die Leistungen alle in der Branche erreichen und zugleich muss auch die Finanzierung über alle gesichert sein. Dafür braucht man die Allgemeinverbindlichkeit des entsprechenden tarifvertraglichen Regelwerks, denn darüber wird das erforderliche Kollektiv hergestellt, da sich ansonsten die nicht-tarifgebundenen Unternehmen, von denen es in der Bauwirtschaft viele gibt, den Regelungen, Leistungen und der Finanzierung entziehen könnten.

Das Bundesarbeitsministerium hat in den Jahren 2008, 2010 und 2014 drei Tarifverträge des Baugewerbes für allgemeinverbindlich erklärt. Eine solche Erklärung führt dazu, dass sich auch all jene Firmen an diese Tarifverträge halten müssen, die sie nicht unterschrieben haben. Die drei Tarifverträge regeln die Sozialkassen des Baugewerbes. Warum das so wichtig ist, erläutert Thomas Öchsner in seinem Artikel Tarifrecht im Baugewerbe – Nahles hilft und will es nicht gewesen sein anhand der Branchen-Besonderheiten auf dem Bau:

»So hat dort jeder zweite Beschäftigte innerhalb von zwölf Monaten mehrere Arbeitgeber. Würde man immer nur den Resturlaub nehmen können, den man jeweils noch hat – nie käme einer etwa auf drei zusammenhängende Wochen Urlaub. Die Sozialkasse (Soka) ermöglicht dies über eine Art Fonds. Eine weitere Besonderheit ist die äußerst geringe Umsatzrendite; sie liegt im Schnitt zwischen einem halben und einem Prozent. Viele Betriebe sparen deshalb, wo sie nur können; die wenigsten bilden aus. Würde die Soka Bau nicht die verbliebenen Ausbildungsbetriebe über ein Umlageverfahren bezuschussen – die Ausbildung in der Branche bräche zusammen.«

Vor diesem Hintergrund wird jedem verständlich, dass es bei den Sozialkassen der Bauwirtschaft um überaus sinnvolle Einrichtungen geht, die den staatlichen Eingriff in die Tarif- und letztendlich Vertragsfreiheit durch die Allgemeinverbindlicherklärung voll rechtfertigt. Und die Anforderungen an die Allgemeinverbindlicherklärung sind hoch, wie das BMAS selbst beschreibt:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien unter bestimmten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklären. Das Recht zur Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) kann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes übertragen werden. Die AVE kann nicht ohne einen zustimmenden Beschluss des Tarifausschusses erklärt werden.

Wo ist nun das Problem für die Bauwirtschaft (gewesen)?

Das wurde im vergangenen Jahr vom Bundesarbeitsgericht auf den Tisch gelegt: Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen – Sozialkassenverfahren des Baugewerbes (AVE VTV 2008 und 2010) – so war eine Pressemitteilung des Gerichts aus dem September 2016 überschrieben, die sich auf den Beschluss des 10. Senats vom 21.9.2016 – 10 ABR 33/15 bezieht. Die Entscheidung war ein schwerer Schlag für die Bauwirtschaft und deren Tarifpartner.

»Die Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 15. Mai 2008 und 25. Juni 2010 sind mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 5 TVG aF unwirksam. Weder hat sich der zuständige Minister bzw. die zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales mit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) befasst noch war die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50%-Quote erreicht.«

Zu dieser Entscheidung schreibt Öchsner in seinem Artikel:

»Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom September lösten daher Entsetzen aus, sowohl bei der IG Bau als auch bei den Arbeitgebern. Sie befürchteten das Ende der Soka Bau, wenn viele Firmen sich nun aus deren Finanzierung zurückziehen könnten – oder gar, noch schlimmer, die Rückzahlung längst gezahlter Beiträge verlangten. Wie kämen in einem solchen Fall künftig 700.000 Bauarbeiter zu bezahltem Urlaub, wie kämen 35.000 Azubis zu ihrer Ausbildung? Die Richter störten sich nicht an der Soka als solcher. Sie fanden jedoch, das Arbeitsministerium habe die Tarifverträge dazu am geltenden Recht vorbei für allgemeinverbindlich erklärt.«

Und was ist passiert? Ein kleines Lehrstück, wie Gesetzgebung auch gehen kann. Ende Oktober waren Gewerkschaften und Arbeitgeber bei der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit dem Ziel, so schnell wie möglich ein neues Recht zu schaffen – was ihnen die Ministerin auch zugesagt hat. Mit einem „harten Schlag“, einer Lösung, die keinen „Schönheitspreis“ gewinnen werde.

Dem folgenden Zitat von Öchsner merkt man die distanzierte Bewunderung für die gewählte Vorgehensweise förmlich an:

»Der „harte Schlag“ ist nun ein Gesetz, das aus 18 Seiten plus 694 Seiten Anhang besteht. Es kopiert quasi alle Tarifverträge, die je zur Soka Bau geschlossen worden waren, in das Gesetz hinein. Es legt sogar fest, dass alle Bestimmungen dieser Tarifverträge „unabhängig davon“ gelten, ob sie einst „wirksam abgeschlossen wurden“. Anders gesagt: Diesem Gesetz ist es völlig egal, ob an den Tarifverträgen womöglich rechtlich etwas auszusetzen wäre. Ihr Inhalt soll jetzt einfach gelten, basta.«

Konkret geht es um das „Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz – SokaSiG)“, das man in der Bundestags-Drucksache 18/10631 vom 16.12.2016. In der Kurzfassung heißt es da: »Durch das Gesetz sollen die Regelungen aller seit 2006 gültigen Sozialkassentarifverträge für verbindlich erklärt werden. Es wird damit die Rechtslage abgebildet, wie sie durch die Tarifvertragsparteien bereits vereinbart und durch das Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.«

Das BMAS hat das Gesetz geschrieben – ins Parlament wurde es jedoch nicht von ihr, sondern von der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion eingebracht. Durch dieses Vorgehen müsse sich nicht zunächst das Kabinett damit befassen, es müsse auch keine Stellungnahme des Bundesrats eingeholt werden – so spare man bis zu acht Wochen Zeit.

Fazit: Es gibt kaum einen vergleichbaren Fall aus der jüngeren Vergangenheit, in dem ein oberstes Gericht so schnell und so brutal ausgehebelt worden ist hinsichtlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wohlgemerkt – für einen sozialpolitisch absolut guten Zweck. Aber das erklärt auch, warum selbst die Ministerin mit diesem Erfolg in der Öffentlichkeit nicht hausieren gegangen ist.
Ende Januar soll der Bundestag das Gesetz beschließen, im Februar könnte es in Kraft sein.

Wenn auch die wirklich sinnvolle Einrichtung der Bauwirtschaft damit gesichert wird, bleibt am Ende notwendigerweise der Blick auf das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Denn es gibt zwei zentrale Hürden, die das Instrument nehmen muss, bevor man es überhaupt einsetzen kann: Zum einen kann die AVE nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss vollzogen werden – dort aber sitzen die Arbeitgeber, die eine solche Entscheidung blockieren können – und zwar oft auch Arbeitgeberverteter, die nichts mit den Arbeitgebern der Branche zu tun haben müssen, aus der heraus ein Antrag auf AVE gestellt wird und deshalb oft nach anderen Kriterien entscheiden (und blockieren). Und zum anderen die bereits angesprochene 50 Prozent-Quote der tarifgebundenen Arbeitnehmer.

Übrigens – im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013 heißt es dazu unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ (S. 48):

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn alternativ:
• die Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (Sozialkassen) gesichert werden soll,
• die AVE die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
• die Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.«

Schaut man sich die Zahlen zu den neu allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen an, wie sie in der zweiten Abbildung dargestellt sind, dann wird der Sinkflug der vergangenen Jahre erkennbar und auch der scheinbare leichte Anstieg am aktuellen Rand erklärt sich aus den Mindestlöhnen, deren Geltung über die Allgemeinverbindlichkeit bei den Branchen-Mindestlöhnen gewährleistet werden muss.

Dabei wäre die AVE ein ganz zentrales Instrument, um (wieder) mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.

Habemus Tarifabschluss. Für die Leiharbeit. Das gefällt nicht jedem

Am 25. November 2016 hat der Bundesrat die vom Bundestag bereits beschlossenen Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gebilligt. Damit hat die heftig umstrittene Neuregelung der Leiharbeit (vgl. dazu den Beitrag Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen vom 21. Oktober 2016) seinen parlamentarischen Weg beendet. Und nur wenige Tage später werden wir mit dieser Nachricht aus der Leiharbeitswelt konfrontiert:
„Wir haben seit Dienstag mehr als 24 Stunden Non-Stop verhandelt und eine deutliche Erhöhung der Entgelte erreicht. Der Kompromiss enthält viel von dem, was wir gefordert hatten. Die Gewerkschaften haben die vollständige Ost-West-Angleichung ab 2021 sowie eine überproportionale Anhebung der unteren Entgeltgruppen durchgesetzt.“ Mit diesen Worten wird Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied  und Verhandlungsführer für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit zitiert: Verhandlungsergebnis für die Beschäftigten der Leiharbeit erreicht. Und weiter erfahren wir über das Verhandlungsergebnis: Die Entgelte in der Leiharbeit steigen im Westen jährlich zwischen 2,5 und 3,2 Prozent pro Stunde. Im Osten steigen sie jährlich bis zu 4,82 Prozent pro Stunde. Die vollständige Ost-West-Angleichung in allen neun Entgeltgruppen erfolgt zum 01.04.2021. Die Entgelttabelle Ost entfällt zu diesem Zeitpunkt. Die dann gültige Tabelle West wird dann im gesamten Bundesgebiet angewendet. Und auch das sollte erwähnt werden: Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 36 Monaten und endet zum 31.12.2019. 

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Tarifflucht bei einem privaten Reha-Konzern sowie neben dem Kreuz. Und Kommunen mit (schein)selbständigen Musikschullehrern sollten aufpassen

Wieder einmal wächst die Sammlung zum Thema Tarifflucht. Beginnen wir mit einem Beispiel aus der Welt der privaten, auf Gewinn gerichteten Gesundheitskonzerne, denen man das irgendwie auch zutraut und werfen wir dann den kritischen Blick in das große Lager der unter der Flagge kirchlicher Trägerschaft segelnden Einrichtungen.

Die Median Kliniken GmbH ist der größte private Betreiber von Reha-Einrichtungen in Deutschland. Das Berliner Unternehmen mit rund 13.000 Beschäftigten und 78 Standorten deutschlandweit soll nun Tarifflucht in richtigem großen Stil praktizieren, so der Vorwurf der Gewerkschaft ver.di: Größter privater Reha-Konzern Median begeht Tarifflucht im großen Stil – Fast alle Tarifverträge gekündigt – Betriebsräte erteilen Verhandlungsabsage.

Der Konzern will keine Tarifverträge mehr für die Beschäftigten abschließen. Seit Dezember 2014 ist das Unternehmen in Besitz des niederländischen Investmentfonds Waterland.

Median hat inzwischen für fast alle Kliniken die Manteltarifverträge gekündigt, die unter anderem Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen regeln. Mit der Begründung, so ein „marktorientiertes Handeln“ zu ermöglichen, will das Unternehmen Entgelte und Arbeitsbedingungen künftig mit Betriebsräten und einzelnen Beschäftigten aushandeln.

Die Gewerkschaft wirft dem Reha-Unternehmen vor, Betriebsräte an den einzelnen Standorten massiv unter Druck zu setzen, um so schnell wie möglich Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Die Betriebsräte erteilten dem Ansinnen der Konzernspitze jedoch eine Absage. Für Verhandlungen auf betrieblicher Ebene »stehen wir nicht zur Verfügung«, heißt es in einer von zahlreichen Betriebsräten unterzeichneten Resolution.

„Das ist ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten, die jeden Tag und rund um die Uhr einen engagierten und wichtigen Job machen“, wird ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler zitiert. Ohne Tarifverträge seien die Beschäftigten der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert.

Die Gewerkschaft hat versucht, auch mit Arbeitsniederlegungen auf die Herausforderung zu reagieren, darüber wurde im Juni berichtet, beispielsweise in diesem Artikel: Streiksaboteur des Tages: Median Kliniken GmbH.  So waren Beschäftigte der Rehaklinik Berlin-Kladow zum Streik aufgerufen.

»Streik? Ohne mich!« konterte das Unternehmen in einem Flugblatt … Median wolle »nicht zurück in die kapitalistische Steinzeit«, beteuert der Konzern in dem Propagandafoyer … Nur Tarifverträge soll es nicht mehr geben. Statt dessen will man »faire flexible Lohnmodelle« mit den Betriebsräten und einzelnen Beschäftigten aushandeln.«

Nun hatte die Gewerkschaft ver.di ja darauf hingewiesen, dass die Betriebsräte angekündigt haben, dass sie nicht für Einzelverhandlungen zur Verfügung stehen. Das war wohl auch so, am Anfang, wie das Beispiel der Fontana-Klinik in Bad Liebenwerda zeigt. Über die Situation dort wurde noch am 16. Juni 2016 berichtet: »In einer Resolution beharren Betriebsräte unterschiedlicher Median-Standorte demnach auf Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Das bestätigt Gewerkschaftssekretär Ralf Franke für den Standort Bad Liebenwerda. Der dortige Betriebsrat habe diese Resolution ebenfalls unterzeichnet, wolle sich aber dennoch die Vorschläge der Geschäftsführung anhören.«
Das hat mittlerweile stattgefunden und offensichtlich mehr, denn am 27. Juni 2016 meldet der Konzern in einer Mitteilung: MEDIAN Fontana-Klinik: Gemeinsam flexibles Lohnmodell für alle Beschäftigen beschlossen:

»Geschäftsleitung und Betriebsrat der MEDIAN Fontana-Klinik in Bad Liebenwerda haben am Donnerstag einen Durchbruch erzielt und sich … bei gemeinsamen Gesprächen auf höhere Bezüge für die Beschäftigten geeinigt. Damit hat man es an der Klinik trotz heftigem Gegenwind durch die Gewerkschaft ver.di geschafft, hausintern eine schnelle und von beiden Seiten getragene Lösung zu finden. Bereits zum 1. Juli werden sich danach Löhne und Gehälter an der Fontana-Klinik in erster Stufe flexibel und berufsgruppenspezifisch erhöhen. Gleichzeitig wurden die Eckpunkte einer Arbeits- und Sozialordnung definiert.«

Und in einem anderen Artikel wird Dieter Stocker, Geschäftsbereichsleiter Ost bei MEDIAN, mit diesen Worten zitiert: „Wir gehen aber nicht mit der Gießkanne vor, wie bei der klassischen gewerkschaftlichen Tariferhöhung, sondern schauen genau, gemeinsam mit dem Betriebsrat, was in den einzelnen Berufsgruppen möglich ist. Dieses Modell könnte auch für andere Standorte von MEDIAN Schule machen.“

Man erkennt, dass es dem Konzern hier darum geht, die Gewerkschaft rauszudrängen bzw. zu verhindern, dass sie noch irgendwas mitzureden hat hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen und man das vor Ort mit den Betroffenen selbst „regeln“ will. Dabei wird man auch am Anfang den Betriebsräten einige Zugeständnisse machen, um sie rüberzuziehen. Offensichtlich ist das an dem Standort bereits gelungen.

Und dass die Gewerkschaft, also ver.di, Schwierigkeiten hat, in den Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens überhaupt Fuß fassen zu können, was ja Voraussetzung ist, um was für die Beschäftigten überhaupt tun zu können, liegt nicht nur in dem niedrigen Organisationsgrad begründet, sondern kann auch mit der Trägerschaft der Einrichtung zu tun haben, also wenn die unter dem Dach konfessioneller Trägerschaft operiert und damit die Sonderregelungen des kirchlichen Arbeitsrechts für sich beanspruchen kann.

Und auch aus diesem Lager gibt es wieder ein Beispiel für Tarifflucht, gleichsam in fortgeschrittenem Stadium, zu berichten. Konkret geht es um das katholische Dominikus Krankenhaus in Berlin, ein konfessionelles Krankenhaus in der Trägerschaft der Dominikus-Krankenhaus Berlin-Hermsdorf GmbH, die wiederum bei der Caritas Mitglied ist.
Und dieses Unternehmen macht auch gerade Schlagzeilen: „Vorne beten, hinten treten“ – ver.di kritisiert Kündigung von  über 80 Beschäftigten bei der Dominikus Service GmbH. So hat die Gewerkschaft ver.di Berlin-Brandenburg eine Pressemitteilung überschrieben. Der kann man entnehmen:

»Das katholische Dominikus Krankenhaus (Caritas) in Berlin löst seine Tochterfirma die Dominikus Service GmbH (DSG) auf und entlässt über 80 Beschäftige zum Ende des Jahres. Ein entsprechendes Kündigungsschreiben haben die Beschäftigten der DSG erhalten. In der DSG sind die Bereiche Küche/Cafeteria, Logistik, Reinigung, Hauswirtschaft und Bettenaufbereitung ausgelagert. Die Tätigkeiten sollen zukünftig von der Firma Klüh erbracht werden. Die Geschäftsführung begründet ihre Maßnahme, mit Einsparpotentialen durch die Vergabe an Klüh.«

Nun muss man wissen, dass mit der DSG bereits Tarifflucht begangen wurde, denn  jetzt wird in diesem Bereich des Krankenhauses nicht nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas (AVR Caritas) bezahlt, sondern nur nach den branchenüblichen Löhnen. Das war das Ziel der damaligen Ausgliederung. So auch die Überschrift »Caritas hat schon Tarifflucht begangen« zu einem Interview mit Kalle Kunkel, Gewerkschaftssekretär bei ver.di. Offensichtlich gibt es eine gewisse Irritation über die Motive des nun anstehenden Abstoßens der DSG:

»Warum das Management von Dominikus diese Entscheidung getroffen hat, wissen wir nicht. Denn der größte Teil der bei der Servicegesellschaft Beschäftigten arbeitet im Reinigungsbereich. Auch in der Logistik, sowohl im Patienten- wie im Gütertransport, sind einige tätig. Ebenfalls in der Service GmbH angesiedelt sind die Stationsassistenz und die Küche. Für die meisten dieser Bereiche wird das Entgelt durch Mindestlohnregelungen oder allgemeinverbindliche Tarifverträge bestimmt. Im Reinigungsbereich liegt der Mindestlohn bei etwas unter zehn Euro. Das muss auch bei der neuen Firma gezahlt werden.«

Die erste Stufe der Tarifflucht war also die Auslagerung der Beschäftigten in die DSG und deren Abkoppelung von der katholischen AVR-Vergütung. Der zweite Schritt ist nun zum einen die weitere Verschärfung der Situation, indem die langjährigen Beschäftigten vor die Tür gesetzt werden. Denn es handelt sich nicht um einen Betriebsübergang, die betroffenen Arbeitnehmer müssen also nicht weiterbeschäftigt werden. Sie können sich dann bei dem neuen Unternehmen bewerben, aber haben keinen Anspruch auf Übernahme und vor allem nicht zu den alten Konditionen. Und zum anderen – so eine plausible These -, erhofft man sich weitere Einsparungen schlichtweg dadurch, dass der neue Dienstleister mit (noch) weniger Personal versuchen wird, die Bereiche abzudecken.

Anders formuliert: Der Träger entsorgt die bereits ausgelagerten Beschäftigten. Und er wird auf keinen Widerstand stoßen, selbst der Gewerkschaftsfunktionär merkt frustriert an:

Die Beschäftigten sehen für sich keine Perspektive, noch etwas zu erreichen. Deren Stimmung ist nicht so, dass sie sagen: »Morgen gehen wir in den Arbeitskampf.«

Sein Fazit: »Da zeigt sich mal wieder, dass die kirchlichen Unternehmer betriebswirtschaftlich kalkulierende Arbeitgeber wie alle anderen auch sind. Das christliche Aushängeschild, dass sie sich dranhängen, hat wenig Aussagekraft. Zumindest nicht in Bezug auf den Umgang mit den Beschäftigten, insbesondere, wenn es um die unteren Lohngruppen geht.«

Gibt es denn für Arbeitnehmer nicht wenigstens irgendwelche positiv daherkommenden Botschaften? Bei denen sie mal nicht das Nachsehen haben?

Wie wäre es vielleicht mit diesem Fall, der sicher zahlreichen Kommunen einige Schweißperlen auf die Stirn treiben wird: Sozialversicherungspflicht für „selbständigen“ Musikschullehrer, so ist der Bericht über ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen überschrieben (Az.: L 8 R 761/14). „Selbstständige“, auf Honorarbasis bezahlte Lehrer an Musikschulen sind bei einer regelmäßigen umfassenden Tätigkeit gar nicht selbstständig. Sind zudem Arbeitsort, Zeit und auch die Lehrpläne vorgegeben, spricht dies für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, so die Quintessenz.

Zum Sachverhalt, der vielen anderen Kommunen sehr bekannt vorkommen wird:

»Der Musiklehrer war zwischen 2005 bis 2007 noch in der Musikschule angestellt. Aus Kostengründen beschloss 2008 der Rat der Stadt, die Musiklehrer nur noch als Honorarkräfte einzusetzen.
Zwischen 2011 und 2014 war der Gitarrenlehrer daraufhin nur noch eine Honorarkraft. Die Musikschule vereinbarte mit ihm ausdrücklich eine „selbstständige Tätigkeit als freier Mitarbeiter“.
Doch so „selbstständig“ war der Musiklehrer gar nicht, urteilte das LSG. Er war vielmehr mit seinem Unterricht an das Lehrplanwerk des Verbandes deutscher Musikschulen vertraglich gebunden. Weder hinsichtlich Arbeitszeit noch Arbeitsort oder gar bei der Auswahl der Schüler sei er frei gewesen. Auch habe er kein Unternehmerrisiko getragen, dem gleichwertige unternehmerische Chancen gegenübergestanden hätten.«

Diese Entscheidung des LSG NRW wird so einige Kommunen ins Grübeln bringen (müssen). Denn wie schreibt das LSG NRW in seiner Pressemitteilung zu dieser Entscheidung: »Der Senat hat die hergebrachten Rechtsgrundsätze zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit angewen­det und deshalb die Revision nicht zugelassen. Das Urteil hat dennoch grund­sätzliche Bedeutung für den Status von Lehrern an Musikschulen.«