Ein Zwergenaufstand Berliner Sozialrichter gegen das oberste Sozialgericht unseres Landes? (Keine) Sozialleistungen für EU-Ausländer in Deutschland

Auf diesen Gedanken könnte man kommen, wenn man diese Meldung zur Kenntnis nimmt: »EU-Bürger haben nicht automatisch Anspruch auf Sozialleistungen. Das hat das Sozialgericht Berlin jetzt festgestellt und widerspricht ausdrücklich dem Bundessozialgericht«, so Sigrid Kneist in ihrem Artikel Berliner Richter widersprechen dem Bundessozialgericht.
Erst vor kurzem hatte das Bundessozialgericht (BSG) wegweisende Urteile zur Frage des Sozialleistungsbezugs von EU-Ausländern, die sich in Deutschland aufhalten, gefällt. Vgl. dazu meine Blog-Beiträge Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015 sowie Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6.12.2015.

Darin findet sich diese vorläufige Bewertung der auch für Experten mehr als anspruchsvollen Rechtsprechung des BSG:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist. Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und jetzt geht das Berliner Sozialgericht offensichtlich zum Angriff auf das BSG bzw. gegen deren Rechtsprechung über. Zum Sachverhalt, über den Sigrid Kneist in ihrem Artikel berichtet:

»Das Berliner Sozialgericht hat jetzt entschieden, dass ein in Berlin lebender Bulgare keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat – weder auf Hartz IV noch auf Sozialhilfe. Der Mann lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin und bemühte sich nach Auffassung der Richter nicht um eine Arbeit. Im Februar 2013 beantragte er beim Jobcenter Treptow-Köpenick Hartz IV. Die Behörde lehnte mit der Begründung ab, dass der Mann nur einen Status als Arbeitssuchender habe und deswegen keine Leistungen erhalten könne. So steht es im entsprechenden Sozialgesetzbuch Dagegen klagte der Bulgare: Die Verweigerung der Unterstützung verstoße gegen EU-Recht. Das Gericht bestätigte aber die Auffassung des Jobcenters. Zudem urteilte es, dass der Mann ebenfalls keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe. Diese gebe es laut deutschem Recht generell nicht für Menschen, die als arbeitsfähig gelten.«

Aber genau dazu gibt es doch die neue Rechtsprechung des BSG. Zu der haben die Berliner Sozialrichter eine ziemlich deutliche Meinung:
Das Berliner Sozialgericht »wirft dem höchsten deutschen Sozialgericht vor, „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ geurteilt zu haben. Nach Auffassung der Berliner Richter setzt sich das Bundessozialgericht „über den Willen des Gesetzgebers“ hinweg.«

Wir dürfen auf die Antwort aus Kassel gespannt sein.

Das Urteil aus Berlin ist noch nicht rechtskräftig, da der Kläger Berufung einlegen kann.

Hartz IV-Anwälte dürfen umsonst arbeiten

Immer wieder wird von den zahlreichen Klagen vor den
Sozialgerichten berichtet, die das Hartz IV-System betreffen. Neben den vielen
erfolgreichen Klagen gegen die Jobcenter und der damit verbundenen Rolle der
Anwälte, den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen, gab es auch an der einen
oder anderen Stelle in den Medien Hinweise darauf, dass es findige Anwälte
geben würde, die ein Geschäftsmodell mit Hartz IV-Empfängern aufgebaut haben
und die Jobcenter mit teilweise fragwürdigsten Klagen überziehen (vgl. beispielsweise
den Beitrag Gierige
Anwälte – Das Geschäft mit Hartz IV
im ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus am
25.02.2015: Einige Anwälte, so die These des Beitrags, überziehen die Jobcenter
mit einer Flut von Widersprüchen und Klagen. Finanziell gewinnt der Anwalt
immer).

Eine neue und abweichende Variante lernen wir durch den
folgenden Artikel kennen: Gut
verteidigt, trotzdem pleite
, so hat Antje Lang-Lendorff ihren Beitrag
überschrieben: »Manche Jobcenter zahlen Anwälten von Arbeitslosen kein Honorar
mehr, sondern verrechnen es mit deren Schulden. Anwaltskammer sieht Schutz von
Armen in Gefahr.«

Sie beginnt mit einem konkreten Fall, der die Anwältin
Aglaja Nollmann betrifft:

»Das Jobcenter war der Ansicht, dass ihr Mandant zu viel
Geld ausgezahlt bekommen habe, und verlangte es zurück. Die Anwältin für
Sozialrecht legte Widerspruch ein – und bekam recht. Trotzdem erhält sie für
ihre Leistung nun kein Honorar. Rund 800 Euro, die ihr das Jobcenter hätte
erstatten sollen, seien mit den Schulden ihres Mandanten verrechnet worden,
erzählt sie. Das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg habe dieses Honorar zwar
anerkannt. „Es hat mir aber auch geschrieben, dass ich dieses Geld nicht
kriege.“«

Auch andere im Sozialrecht tätige Anwälte bestätigen eine
solche Vorgehensweise. Wie aber kann das sein?

»In einem Praxishandbuch der Bundesagentur für Arbeit wird
darauf hingewiesen, dass nicht der Anwalt, sondern der Kläger – also der
Arbeitslose – Anspruch auf Kostenerstattung habe. Und weiter: „Vor jeder
Auszahlung von zu erstattenden Kosten (…) ist zu prüfen, ob gegen den Kostengläubiger
Forderungen seitens des Jobcenters bestehen, die aufgerechnet werden können.“
Im Klartext heißt das: Wenn Arbeitslose dem Jobcenter Geld schulden, ist es
gewünscht, dass das Anwaltshonorar mit diesen Schulden verrechnet wird. Die
Anwälte gehen dann leer aus.«

Das kann natürlich dazu führen, dass
Grundsicherungsempfänger Schwierigkeiten bekommen können, überhaupt einen
Rechtsbeistand zu finden, wenn der damit rechnen muss, nicht auf seine Kosten
zu kommen.

Für Rechtsanwälte werde es immer schwerer, den sozial
Schwachen einen wirkungsvollen Zugang zum Recht zu gewährleisten, so Marcus
Mollnau, Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin. Die Anwaltskammer setze sich
dafür ein, „die gesetzlichen Regelungen zu ändern und ein Aufrechnungsverbot zu
verankern“.
Wenn man sich das klar macht – das hat schon was: Der
Mandant eines Anwalts wird (teil)entschuldet auf Kosten des erfolgreichen
Anwalts und zugunsten der unterlegenen Partei, die aber dem Mandaten vorher
einen Kredit gewährt hat.
Und das Problem der Verschuldung von Hartz IV-Empfänger ist
nicht irgendein Randproblem. Ende April 2015 konnte man beispielsweise lesen: Langzeitarbeitslose
brauchen häufiger Kredite
.

»Wenn das Arbeitslosengeld II, Hartz IV genannt, nicht
reicht, geraten Langzeitarbeitslose schnell in eine Abwärtsspirale.
Zehntausende sind jeden Monat auf zusätzliche Darlehen für Waschmaschine,
Kühlschrank, Kleidung oder andere Dinge angewiesen. Im vergangenen Jahr
erkannten die Jobcenter pro Monat im Schnitt bei rund 18.700 Hartz-IV-Beziehern
einen Anspruch auf ein solches Darlehen an. Das geht aus einer Antwort der
Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten
Sabine Zimmermann hervor … Im Vergleich zum Jahr 2013 mit im Schnitt rund
17.800 Darlehen pro Monat ist die Zahl 2014 um mehr als fünf Prozent gestiegen.
Im Jahr 2010 waren es sogar nur 15.500 Kredite pro Monat – seither ist die Zahl
demnach um knapp 21 Prozent gestiegen.«

Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden

Sanktionen sind eines der umstrittensten Themen innerhalb der Grundsicherung, dem Hartz IV-System. Dazu gibt es jetzt einen Vorstoß aus den unteren Etagen der Sozialgerichtsbarkeit direkt in die Höhen des Bundesverfassungsgerichts:
»Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts sei der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen, teilte das Gericht in Gotha am Mittwoch mit. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen.«
Das Sozialgericht Gotha sei nach eigenen Angaben – so die Meldung des MDR unter der Überschrift Sozialgericht hält ALG-II-Kürzung für verfassungswidrig – das bundesweit erste Gericht, das die Frage aufwerfe, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt, bei dem es letztendlich um die Frage der Verfassungswidrigkeit einer 60%-Kürzung geht:

»Das Gericht urteilte in einem Fall, bei dem ein Mann vom Jobcenter Erfurt Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Nachdem er ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm das ALG II um 30 Prozent, also um 117,30 Euro monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung – der Mann lehnte eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber ab – wurde ihm die Leistung später um weitere 30 Prozent gekürzt, insgesamt also nun um 234,60 Euro pro Monat. Dagegen reichte der Mann Klage am zuständigen Sozialgericht Gotha ein.«

Die 15. Kammer des SG Gotha sieht hier das Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

»So bezweifeln die Richter, dass die Sanktionen mit der im Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde und der im Artikel 20 festgeschriebenen Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik vereinbar sind. Denn aus diesen Artikeln ergebe sich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das bei einer Kürzung oder kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II gefährdet sei, so das Gericht. Außerdem stünden die Sanktionen im Widerspruch zu den Artikeln 2 und 12 des Grundgesetzes, weil sie die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährden könnten. Die genannten Grundgesetz-Artikel garantierten jedoch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Die Befassung des höchsten deutschen Gerichts wird in zweierlei Hinsicht interessant:

Zum einen haben wir – soweit man das von außen der Sachverhaltsdarstellung entnehmen kann – im vorliegenden Fall eine Arbeitsverweigerung als sanktionsauslösenden Tatbestand, damit wäre der „Kernbereich“ dessen berührt, was die Befürworter von Sanktionen immer vorbringen, also die aktive Verweigerung einer vielleicht möglichen Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch eine Arbeitsaufnahme mit der Folge, dass die Solidargemeinschaft gegen diese missbräuchliche Inanspruchnahme geschützt werden müsse.

Zum anderen – und aus einer grundsätzlichen Perspektive wesentlich relevanter – wird hier ein Grundwiderspruch (?) im bestehenden Grundsicherungssystem aufgerufen: Immer wieder wird auf die wegweisende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) hingewiesen. In den Leitsätzen zu dieser Entscheidung findet sich die folgende Formulierung:

»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung des BVerfG findet man die folgende Ausführung:

»Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …«

Vor dem Hintergrund dieser Formulierung kann man schon auf die an sich naheliegenden Frage kommen, wie es denn im Lichte des offensichtlich unbedingten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums möglich sein soll und kann, einem Hilfebedürftigen dieses unbedingte Grundrecht zu entziehen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sei auf eine weitere Entscheidung des BVerfG hingewiesen, aus dem Jahr 2012, als die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt wurde. In BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 findet man bei den Leitsätzen den folgenden Passus:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und unter der Absatz-Nr. 120 findet man den folgenden Hinweis:

»Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.«

In der ersten Gesamtschau verfestigt sich das Bild, dass eine Sanktionierung, wie man sie dem Sachverhalt des Sozialgerichts Gotha entnehmen kann, gegen die Unbedingtheit dieses Grundrechtsanspruchs verstößt.

In diese Richtung argumentierte im Jahr 2013 auch der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof und damalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković in einem Streitgespräch mit Uwe Berlin, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Rahmen der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?“ am 10.07.2013 in Berlin. In einem Thesenpapier postulierte Nešković:

»Die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II verstoßen in zweierlei Hinsicht fundamental gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums:

  • Es sind keine das Grundrecht ausgestaltenden Normen, wie sie das BVerfG zur Bestimmung des Leistungsumfangs verlangt. Denn sie berechnen keinen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Da bereits Normen, die auf einer willkürlichen Bedarfsschätzung beruhen, gegen das Grundrecht verstoßen (Hartz-IV- Entscheidung des BVerfG), muss dies erst recht für Normen gelten, die Leistungen völlig abgekoppelt von dem tatsächlichen Bedarf zuerkennen.
  • Es liegt jedenfalls ab einer Sanktion von mehr als einem Drittel der Regelleistung außerdem eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum AsylbLG unmissverständlich erkannt: „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde …, ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“«

Aber so eindeutig ist es dann auch wieder nicht, wie die Ausführungen von Uwe Berlit zeigen (auch er hatte ein Thesenpapier veröffentlicht sowie eine längere Abhandlung: Uwe Berlit: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? In: info also, Heft 5/2013. S. 195 ff.). Seine – von Nešković’s Thesen stark abweichende – Auffassung, hier zitiert aus seinem Artikel in info also:

»Rechtsprechung und Literatur halten nahezu einhellig die Sanktionsregelungen des SGB II insgesamt und weitgehend auch im Detail für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar … Die These von der Verfassungswidrigkeit des Sanktionensystems insgesamt hat juristisch einen erheblichen Begründungsbedarf. Die Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen des SGB II ist nicht seit Jahren umstritten. Die Rechtsprechung – bis hin zum BSG – wendet sie an. Das verfassungs- und sozialrechtliche Schrifttum sieht weit überwiegend dem Grunde nach keine Bedenken. Allenfalls in Einzelfragen wird für eine verfassungskonform einschränkende Auslegung plädiert. Beispiele sind die besondere Sanktionierung unter 25-Jähriger oder die vormalige Sanktionierung des Nichtabschlusses einer Eingliederungsvereinbarung.«
Es ist interessant, wie Berlit argumentiert, wenn es um die bereits angesprochene – scheinbare (?) – Widersprüchlichkeit geht, dass ein Grundrecht auf eine Existenzminimum durch eine Sanktionieren nach unten unterschritten wird:

»Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung wegen – vermeintlich oder tatsächlich – geringerer Schutzwürdigkeit.«

Letzendlich – und das macht den Ausgangsfall aus Gotha, der nun an Karlsruhe weitergeleitet wird, so spannend – geht es um ein ungelöstes Grunddilemma des gesamten Grundsicherungssystems im SGB II: Hartz IV stellt sich dar als ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ und aus dieser Charakterisierung lassen sich auch ganz zentrale Konfliktfelder des SGB II-Systems ableiten. Nun könnte man vor dem Hintergrund der Grundrechtsausführungen des BVerfG auf die Idee kommen, dass aber dann wenigstens das Existenzminimum geschützt sein müsse gegen eine Absenkung.

Hierzu finden wir in dem Beitrag von Berlit (2013) einige interessante Hinweise:

»Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen oder sonst eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums«, so Berlit (2013: 199). Er geht hier explizit ein auf das bereits zitierte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010:
»Das Regelbedarfsurteil befasst sich nur mit der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs. Der Fokus liegt nicht auf den tatbestandlichen Leistungsvoraussetzungen.« Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Bereits der Begriff „Hilfebedürftiger“ macht deutlich: Das Grundgesetz verlangt keine tatbestandlich ungebundene, voraussetzungslose Leistungsgewährung oder ein solche, die tatbestandlich allein auf die Anrechnung tatsächlich verfügbaren, bedarfsdeckenden Einkommens oder Vermögens abstellt. Eine positive Schutzpflicht des Staates besteht vielmehr nur dann, „wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.“ Dies umfasst auch die Mittelbeschaffung durch Erwerbsarbeit. das SGB II ist eine – verfassungsrechtlich zumindest mögliche – klare Entscheidung gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine unbedingte Grundsicherung.« (Berlit 2013: 199)
Diese Ausführungen sollen nur aufzeigen – auch wenn jetzt der Gang nach Karlsruhe begonnen wurde -, dass sich die Gegner der Sanktionen nicht zu früh freuen sollten. Am Ende kann auch eine Entscheidung stehen, die der Logik folgt, die man in Berlit’s Ausführungen erkennen kann.

Aber wie heißt es so treffend: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“. Das SGB II nicht nur als ein Aktenmonster für die Menschen vor und hinter den Schreibtischen in den Jobcentern, sondern auch für die Sozialgerichte, wo es sich zugleich als Mega-ABM entfalten konnte

Das SGB II, also die rechtliche Grundlage des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende, ist ein kompliziertes Ding. Letztendlich kann man das darauf zurückführen, dass es sich bei dem, was man umgangssprachlich als „Hartz IV“ tituliert, um ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen handelt. Was damit ausgerückt werden soll: Völlig unabhängig von der Frage, ob man ein Befürworter oder Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, muss man einen Tatbestand zur Kenntnis nehmen: Hätten wir ein solches, dann wäre die administrative Abwicklung einfach, weil man gerade nicht das tun müsste, was man in der Sozialhilfe- und Hartz IV-Welt aufgrund der dort vorherrschenden Konditionalität der Leistungen und ihrer Abhängigkeit von zugangsverengenden Inanspruchnahmevoraussetzungen tagtäglich machen muss: Prüfen, anrechnen, bewilligen und zurückfordern, kontrollieren und bescheiden, sanktionsbewährt fordern und nach Haushaltslage und eingebettet in rechtliche Restriktionen fördern, nach Ermessen handeln und sich in Widersprüche und Klagen verstricken, denn gleichzeitig soll ja auch das „soziokulturelle Existenzminimum“ gewährleistet werden.

Man wird so weit gehen können zu behaupten: Das SGB II muss an sich selbst verzweifeln, weil in dieses Gesetzeswerk von außen ein nicht auflösbares Dilemma implementiert worden ist, was dazu führen muss, dass das Hartz IV-System beständig hin und her pendelt zwischen den Polen einer weitreichenden Pauschalierung der Leistungen (die nicht nur zu Effizienzgewinnen auf der Verwaltungsseite, sondern auch zu deutlich höheren Freiheitsgraden bei den betroffenen Menschen führen könnte) und der Einzelfallgerechtigkeit, die sich gerade durch ihre oftmals gut begründete Abweichung von der pauschalierten Durchschnittswelt auszeichnet. Da sind Konflikte vorprogrammiert, die eben oftmals existenzieller Natur sind und entsprechend mit voller Härte bzw. Verzweiflung geführt werden. Und schon sind wir bei den Widersprüchen und den Klagen gegen Entscheidungen innerhalb des Hartz IV-Systems angekommen.

Bilder aus – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Aktenstapeln absaufenden Sozialgerichten angesichts der Vielzahl an Klagen gegen Entscheidungen im Grundsicherungssystem haben die vergangenen Jahre geprägt. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der Verfahren und immer wieder wurde auch darüber berichtet, wie viele dieser Verfahren zugunsten der Kläger ausgegangen sind. Und gerne wurde zur Illustration der „Klagewellen“ und der unglaublichen Quantität der Rechtsstreitigkeiten aus der „Hartz IV-Hauptsatdt“ des Landes berichtet, also aus Berlin. Einer Stadt, die angeblich arm, aber auch sexy sei. In der auf alle Fälle viele Menschen (im Dezember 2014 waren es fast 154.000 Berliner) am Tropf der staatlichen Fürsorge hängen (müssen), in der fast jedes dritte Kind in einem „Hartz IV-Haushalt“ aufwächst. Nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie sich das nunmehr abgeschlossene Jahr aus Sicht des Berliner Sozialgerichts dargestellt hat.

Da trifft es sich gut, dass das Berliner Sozialgericht eine solche Bilanzierung für das Jahr 2014 auf einer Jahrespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert hat. Die dort präsentierte Jahresbilanz 2014 wurde von einigen Medien aufgegriffen – da ist die Rede von Raus aus dem tiefen Tal der Hartz-Reformen, dem Aktenmonster Hartz IV oder ganz handfest formuliert: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage. Und wer lieber das Original bevorzugt, dem sei die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz am 14.01.2015 empfohlen. Bei ihr finden wir einige wichtige Hinweise:

»Kein Ereignis … hat die Sozialgerichtsbarkeit so einschneidend verändert wie das Inkrafttreten des SGB II vor 10 Jahren … Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und eine Zeit nach Hartz IV.« Bis 2005 habe die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer eigentlichen Bedeutung für Millionen Menschen ein „Nischendasein“ gefristet, auch in der juristischen Ausbildung, was sich mit Hartz IV fundamental geändert habe, so Schudoma. »Heute stellen die Sozialgerichte die größte Fachgerichtsbarkeit.« Was deutet sich hier an? Eine „Erfolgsstory“ aus Sicht der deutschen Sozialgerichtsbarkeit?

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“, so wird die Sozialgerichtspräsidentin in dem Artikel Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage von Thomas Loy zitiert. Mit Blick auf die in diesen Tagen überall als Auslöser für Berichterstattung beobachtbaren zehn Jahre Hartz IV: »Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet – statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren.« Noch mal: Wir reden hier nur über Arm-aber-sexy-Berlin. Und was des einen Leid, ist des anderen Freud, zumindest, wenn man diese Kategorie anlegt an das Sozialgericht als „Unternehmen“. Denn das hat „profitiert“. Schudoma macht das deutlich in einer zahlenmäßigen Verdichtung von zehn Jahre Hartz IV:

215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel.

Man kann es auch so ausdrücken:

»Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. „Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das“, sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 „nicht-richterliche“ Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her.« (Thomas Loy: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage).

Aber es gibt auch positive Nachrichten, die man schon in der Abbildung mit den Grafiken erkennen kann: Der Gipfel scheint überschritten worden zu sein, die Zahl der Klageverfahren ist rückläufig, wenn auch nur sehr langsam und von einem extremen Hoch. Zu der Entwicklung führt die Gerichtspräsidentin aus:

»Im ersten Jahr verzeichnete das Sozialgericht Berlin bereits 5.000 Hartz IV-Fälle. Im zweiten Jahr Hartz IV verdoppelte sich die Zahl der eingehenden Verfahren auf 10.000. Immer mehr Klagen in grünen Aktendeckeln türmten sich in den Geschäftsstellen. Grün – die Farbe von Hartz IV, entsprechend der bundesweit geltenden Aktenordnung. Bald überstürzten sich die Ereignisse … Schneller als erwartet war unser Vorrat an grünen Aktendeckeln erschöpft. Die Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Wir improvisierten: Statt grünen Aktendeckeln nahmen wir weiße, auf die wir grüne Punkte klebten. Die Hauptregistratur konnte weiter arbeiten. Meine Damen und Herren, 2010 erreichten uns dann über 30.000 SGB II-Fälle – in nur fünf Jahren hatten sich die Hartz IV-Eingangszahlen versechsfacht.«

Seit dem Höchststand im Jahr 2010 ist die reine Zahl an Klageverfahren rückläufig. Dazu Schudoma: »Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2.000 neue Hartz IV-Verfahren … Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.« Und das hängt eben auch und vor allem mit den bereits angesprochenen strukturellen Problemen innerhalb des Hartz IV-Systems zusammen. Auch hier sei Sabine Schudoma wieder zitiert:

»Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.«

Man sollte sich also von dem erkennbaren Rückgang nicht blenden lassen. Oder anders formuliert: »Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme, würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8 Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden«, so Johannes Supe in ihrem Beitrag Aktenmonster Hartz IV.

Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, bekommt in diesem Beitrag das vorletzte Wort zu zehn Jahre Hartz IV:

»Auch überall im Gebäude hat Hartz IV seine Spuren hinterlassen. Schutt, Staub, Baulärm sind im Haus allgegenwärtig. Bei uns fällt der Blick aus dem Fenster zum Hof auf eine Baustelle: Geschaffen wird dort eine neue Aktenhalle mit Platz für noch einmal 2 km Akten. Wo früher die Gerichtskantine lag, sitzen heute Hartz IV-Richter. Überall wurden Zwischenwände gezogen, um Platz für neue Büros zu schaffen.«

Und da sage noch mal jemand: Hartz IV habe keine Arbeitsplätze geschaffen. Das wenigstens ist widerlegt. Und man  kann sogar noch weitergehen und postulieren, es wurde auch ein neues Berufsbild geschaffen: Der „Hartz IV-Richter“.

Böse Anwälte, gute Anwälte? Wie Rechtsanwälte mit dem (angeblichen) Geschäftsmodell „Hartz IV-Klagen“ in die Medien-Mangel genommen werden und warum da was fehlt

Das sind Schlagzeilen, die ein Skandalisierungspotenzial in Aussicht stellen: Wie Anwälte mit der Armut verdienen oder Manche Anwälte leben auf Staatskosten gut von Hartz-IV-Klagen, um nur zwei Beispiele zu zitieren. »Die Erfolgsquote von Klagen gegen Jobcenter ist hoch. Für manche Anwälte ein Geschäftsmodell: Ob sie gewinnen oder verlieren – der Staat bezahlt sie immer«, so Joachim Jahn in seinem Artikel, der sich auf ein Buch des Fernsehjournalisten Joachim Wagner stützt: Vorsicht Rechtsanwalt. Ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral. Dem Autor ist auf Spiegel Online reichlich Platz eingeräumt worden, für sein Buch Werbung machen zu können und seinen Vorwurf eines „Geschäftsmodells fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“ auszubreiten.

Wagner beschreibt in seinem Artikel beispielsweise den Berliner Rechtsanwalt Raymond Schäfer, der von Hartz IV lebt, allerdings mit vier Angestellten in seiner Kanzlei in Schöneberg. Neun von zehn seiner Fälle seien Widersprüche und Klagen von Menschen gegen Jobcenter. Der Anwalt bietet Jobcenter-„Kunden“ die „kostenlose Überprüfung“ ihrer Bescheide an, was ihm eine entsprechende Nachfrage sichert.

»Sein Geld verdient der Anwalt, indem er bei Gericht zunächst einen Antrag auf Beratungshilfe stellt. Wird dieser bewilligt, bekommt er in der Regel 50 Euro für die Erstberatung. Wenn er dann mehr unternimmt, etwa Briefe schreiben, kassiert er 100 Euro. Schwierige Fälle mit mündlicher Verhandlung bringen Schäfer bis zu 800 Euro ein. Lehnt das Gericht den Antrag auf Beratungshilfe ab, verzichtet er auf Honorar – wie viele seiner Kollegen.«

Nach Wagner wurde mit der Einführung des SGB II neues Geschäftsfeld für Juristen geboren: »Hartz-IV-Anwälte, deren Haupteinnahmequelle die Vertretung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern ist. Tausende Juristen verdienen auf diese Weise ihr Geld, einige Massenkläger generieren sogar mehrere Hunderttausend Euro pro Jahr.« Es sei eine „Rechtsanwaltsindustrie“ rund um die Behörden entstanden, bei der die an sich niedrigen Gebühren im Sozialrecht durch die Masse von Widersprüchen und Klagen kompensiert werden können – und durch den Umstand, »dass die meisten Anträge auf Beratungs- und Prozesskostenhilfe genehmigt werden.« Wagner verweist mit Blick auf die Auslöser für diese Entwicklung, dass das SGB II im Gefolge der Umsetzung der „Agenda 2010“ mit der heißen Nadel gestrickt und zudem seit 2005 mehr als 60 Änderungen unterworfen wurde.

»Die hohe Fehlerquote der Jobcenter macht es den Anwälten leicht, die Rechnung zahlt der Staat. 2012 gab die Bundesagentur für Arbeit 39,6 Millionen für Anwaltshonorare der Hilfsempfänger aus.«
Nur an einer Stelle in dem Artikel taucht der Hinweis auf, dass nicht nur die Anwälte der klagenden Hilfeempfänger gezahlt werden müssen – es gibt auch eine andere Seite, also die Anwälte, die für die Jobcenter arbeiten: »Das Jobcenter Gifhorn zum Beispiel musste Anwalt Wellnitz im Jahr 2012 mehr als 72.000 Euro Honorar überweisen. Schmerzhafter für die Arbeitsvermittler war, dass sie zudem mehr als 600.000 Euro an eine spezialisierte Anwaltskanzlei zahlten, die für das Jobcenter Prozesse führt. Einen Teil des Geldes musste das Jobcenter aus dem Topf für Arbeitsvermittlung nehmen.«

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass ja der Ausgangspunkt für viele Klagen die hohen Erfolgsquoten sind, was auf das eigentliche Problem, also die schlechte Arbeit in den Jobcentern verweist. Wagner sieht allerdings einen eigenständigen Bestimmungsfaktor für die Zahl der Klagen in einer regional unterschiedlich ausgestalteten „Rechtsanwaltsindustrie“ sowie einem differierenden Niveau der Nicht-Akzeptanz gegenüber Hartz IV und versucht das am Beispiel Ostdeutschland zu belegen:

»Zwischen Rostock und Erfurt legen Hilfsbedürftige doppelt so häufig Widerspruch gegen Bescheide ein wie im Westen. Eine schlechtere rechtliche Qualität der Bescheide kann laut einem internen Bericht der Bundesagentur für Arbeit nicht die Ursache sein. In Sachsen etwa liegt die Fehlerquote niedriger als in Nordrhein-Westfalen, trotzdem legten die sächsischen Hilfsempfänger etwa dreieinhalbmal so häufig Widerspruch ein wie die an Rhein und Ruhr.«

Wagners Thesen wurden auch in anderen Berichten aufgegriffen, vgl. beispielsweise den Artikel Anwälte in Essen verdienen gut an Fehlern des Jobcenters von Janet Lindgens. Sie berichtet, dass das Jobcenter Essen jährlich einen hohen sechsstelligen Betrag an Anwälte zahlt, die mit Erfolg gegen die Behörde geklagt haben. Einige Anwälte leben mittlerweile fast ausschließlich von Fehlern des Amtes. Und die Erläuterungen in dem Artikel scheinen die Aussagen von Wagner zu bestätigen:
»Nach Auskunft der Stadt sind 2013 rund 6.000 Widersprüche gegen das Jobcenter eingereicht worden. Etwa die Hälfte war erfolgreich. Emsige Anwälte … bringen es auf 600 Widersprüche im Jahr.« Pro erfolgreichem Widerspruch wird dem Jobcenter 300 Euro in Rechnung gestellt.
Dann aber kommt ein Satz, der eine weitere Perspektive öffnet: Diese Anwälte »sehen sich jedoch nicht als Abkassierer, sondern vielmehr als Helfer der Armen.« Und weiter: „In unseren kostenlosen Beratungen leisten wir auch Dinge, die Aufgabe des Jobcenters wären“, so wird einer der Rechtsanwälte zitiert. Ein anderer geht noch weiter: »Er habe den Eindruck, dass die Stadt Bedürftige bewusst nicht über deren Ansprüche aufkläre und somit Geld spare. Die Anwaltskosten seien dann das kleinere Übel.«

Aber noch einmal zurück zu Wagner und seiner zentralen These von einem „Geschäftsmodell fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“. In einer Rezension des Buches auf der Verlagsseite schreibt der Rechtsanwalt Reinhard Jantos:

»Beschrieben werden auch die die Auswüchse neuer anwaltlicher Geschäftsmodelle. Rechtsanwälte überziehen Verbraucher mit Massenabmahnungen aus vermeintlich illegaler Internettätigkeit, Inkassoanwälte treiben fiktive Rechnungen ein, Hartz IV-Anwälte belasten die Gerichte kostenintensiv mit Massenverfahren und Kleinanleger werden zum zweiten Mal mit aussichtslosen Sammelklagen abgezockt.«

An dieser Stelle wird es höchst problematisch, wenn man sich anschaut, in welche – moralisch verwerfliche – Reihe die von Wagner so titulierten „Hartz IV-Anwälte“ hier gestellt werden. Einen anderen, nüchternen Blick hat – das zitiert übrigens Wagner in seinem Artikel selbst – das Bundesverfassungsgericht geworfen. Konkret ging es um den Versuch einiger Sozialgerichte, die Klageflut im Bereich der so genannten Bagatell-Verfahren (also bei einem Streitwert unter 50 Euro) dadurch einzudämmen, dass in diesen Fällen keine Prozesskostenhilfe gewährt werden soll. Dieser Vorstoß wurde vom BVerfG in einer Entscheidung abgelehnt, »da es den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Bemittelten und Unbemittelten verletze. Jobcenter würden von Juristen vertreten, also müssten auch Hartz-IV-Bezieher das Recht auf einen Anwalt haben, so die Karlsruher Richter.«

Genau das ist der eine Punkt: Die Verfassungsrichter haben sehr wohl erkannt, dass gerade im Feld des Sozialrechts das Individuum einem großen Apparat gegenübersteht. Darüber hinaus kann man aus einer funktionalistischen Sicht auf den Sachverhalt auch argumentieren, dass die Klagen eine wichtige Korrektivfunktion in einem offensichtlich gar nicht rund laufenden bürokratischen System haben und als solche auch gebraucht werden.

Ein grundsätzlicher Einwand von meiner Seite bezieht sich auf den Tatbestand, dass Wagner – wenn überhaupt – problematische Ausformungen beschreibt, die sich in einem hoch konfliktären Bereich herausgebildet haben. Indem er Einzelfälle von Rechtsanwälten, die sich a) zum einen auf den Hartz IV-Bereich spezialisiert haben und die b) weniger das Interesse ihrer Klienten im Auge haben, sondern über viel Masse versuchen, so viel wie möglich an Einnahmen zu generieren, besonders herausstellt, trägt er dazu bei, über eine solche Skandalisierung das gesamte sozialrechtliche Feld innerhalb des Grundsicherungssystems zu desavouieren. Das ist natürlich völlig kontraproduktiv und angesichts der Tatsache, dass es hier um existenzielle Leistungen für Menschen geht, auch völlig daneben. Man muss an dieser Stelle ganz besonders aufpassen, dass man nicht Opfer der in unserer Mediengesellschaft so beliebten einseitigen Skandalisierung wird.

Eine durchaus passende Analogie zu  dem, was Wagner hinsichtlich der so genannten „Hartz IV-Anwälte“ macht, kann man im Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung gerade für Langzeitarbeitslose finden. Auch dort gibt es massenweise skandalisierend daherkommenden Berichte über wirklich auch unakzeptable Zustände in Maßnahmen, für die der Steuerzahler eine Menge Geld ausgeben muss. Vgl. aus der Vielzahl des Materials nur beispielhaft die Fernsehberichte Weiterbildung statt Job – Die Tricks der Bildungsträger sowie Stricken fürs Amt, beide vom MDR-Fernsehen produziert. Allerdings – so meine Kritik – wird der Zuschauer völlig alleine gelassen mit der ausschließlich skandalisierenden Aufarbeitung des Themas. Das wird bei vielen am Ende dazu führen, dass sie den gesamten Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung mit diesen Ausformungen von wirklich schlechten Maßnahmen gleichsetzen. Dem Zuschauer wird an keiner Stelle aber der Hinweis gegeben, dass das völlig zu Recht zu beklagende Verhalten solcher „Bildungsträger“ a) nur auf einen Teil der Träger zutrifft und b) dass es zahlreiche wirklich gute Bildungsträger gibt, die vernünftige Angebote machen bzw. machen könnten, die aber nicht zum Zuge kommen, weil die eigentliche Verantwortung für diese Entwicklung nicht auf der Ebene einzelner Träger abschließend lokalisierbar ist, sondern in dem System von Ausschreibungen und Vergabe seitens der Bundesagentur für Arbeit, über das ein extremer Verdrängungswettbewerb induziert wurde, da – allen anderen Beteuerungen der BA zum trotz – ein radikaler Preiswettbewerb zwischen den Anbietern von solchen Maßnahmen ausgelöst wurde und wird, da am Ende nur die billigsten Anbieter zum Zuge kommen können und werden. Die Anbieter der Maßnahmen bewegen sich in einem „monopsonistischen“ Markt, also einem Nachfragemonopol. Und dort beobachtet man regelmäßig Preisdumping (mit der Folge von Lohn- und Qualitätsdumping auf Seiten der Anbieter) bis hin zu ruinöser Konkurrenz. Und wenn man ausschließlich die besonders problematischen Qualifizierungsmaßnahmen an den Pranger stellt, ohne aber darauf hinzuweisen, dass es gerade für die Langzeitarbeitslosen, von denen viele über keine Berufsausbildung verfügen, von zentraler Bedeutung wäre, wenn sie „vernünftige“ Fördermaßnahmen bekommen, zu denen auch Qualifizierungsmaßnahmen gehören, die zu einem neuen bzw. für viele ersten Berufsabschluss führen, dann berichtet man im Ergebnis nicht nur deutlich unterkomplex, sondern man verbaut sich einen realistischen Blick auf die jeweilige Branche bzw. auf das Teilgebiet.

Nun wird bereits seit langem über die so genannte „Klageflut“ im SGB II-Bereich berichtet und gestritten. Immer wieder wird von den Kritikern darauf abgestellt, dass die so genannte „Einzelfallgerechtigkeit“ zu diesen vielen Verfahren führen muss und darüber hinaus insgesamt erhebliche administrative Folgekosten auslöst. Gleichsam wie eine Art Zauberformel taucht dann in den Diskussionen darüber, wie man diese Entwicklung stoppen und umkehren kann, der Hinweis auf mehr Pauschalierung auf. Wie schwierig das dann aber zuweilen in der Realität sein kann, verdeutlicht der folgende Aspekt, der in dem Beitrag Alle 20 Minuten wird geklagt von Olga Gala über die vielen Klagen in der „Hartz IV“-Hauptsadt angesprochen wird:

»Berlin hat versucht, mit einer pauschalen Regelung die Zahl der Klagen zu reduzieren. Einem Haushalt mit zwei Personen stehen demnach 60 Quadratmeter zu. Kosten darf die Wohnung maximal 381 Euro kalt. Hinzu kommen begrenzte Leistungen für Heizung sowie Zuschüsse zur Warmwasserversorgung.«

Das hört sich vernünftig an und es konnten auch Effekte nachgewiesen werden. Marcus Howe, Richter und Pressesprecher am Sozialgericht Berlin, wird mit diesen Worten zitiert: »… die sogenannte Wohnaufwendungsverordnung … (habe) die Arbeit der Jobcenter erleichtert.« Aber die Pauschalierung ist offensichtlich nicht von Dauer, denn:

»Nur hat das Bundessozialgericht die Regelung Anfang Juni kassiert: Die Richter entschieden, dass die Pauschale insbesondere bei den Heizkosten zu hoch sei. Zudem ist nach Ansicht des Gerichts nicht sachgerecht, wie die Beträge ermittelt wurden. Jetzt soll es wieder mehr Einzelfallprüfungen geben. Und damit vermutlich mehr Verfahren, mutmaßt Howe.«

Eine nächste Runde ist vorprogrammiert.

Foto: Buchcover C.H. Beck Verlag