Richter als Sozialpolitiker. Von der Menschenwürdigkeit eines geschrumpften Existenzminimums und dem Elternunterhalt in der Sozialhilfe

Es sollte unstrittig sein, dass Sozialpolitik in Deutschland in einem nicht geringen Umfang hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung Richterrecht ist. Denn die Sozial- und Verwaltungsgerichte fällen eine Vielzahl an Urteilen, die für die Betroffenen wie auch für die Institutionen des Sozialstaats von großer Bedeutung und oftmals mit dem Bild des Daumen rauf oder eben runter gut zu beschreiben sind.

Zwei neue Entscheidungen höchster Gerichte in unserem Land mögen das verdeutlichen. Zum einen geht es um die im wahrsten Sinne existenzielle Frage, ob das Schrumpfen des Existenzminimums und damit ein Teil-Existenzminimum (noch) zulässig ist – eine Frage, die ja auch bei einem der großen Konflikte innerhalb der Grundsicherung eine zentrale Rolle spielt und in der vor uns liegenden Zeit auch vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden sein wird, also bei den Sanktionen im SGB II-System. Und die andere neue Entscheidung betrifft die angesichts der rein quantitativen Entwicklung absehbar an Bedeutung gewinnenden Frage nach dem Elternunterhalt im Rahmen der Hilfe zur Pflege, die nach SGB XII und damit aus Mitteln der kommunal zu finanzierenden Sozialhilfe gewährt werden kann bzw. muss. Beiden Fällen gemein ist, dass man konkreten Menschen etwas weg nehmen will, wogegen die sich zur Wehr gesetzt haben. Mit unterschiedlichem Ausgang. Zugleich ist das alles ein kleines Lehrstück, mit welchen konkreten Lebenslagen sich Sozialpolitik beschäftigen muss und wie stark – wenn auch gerne unter den Teppich gekehrt – die normative Dimension höchstrichterlicher Entscheidungen daherkommt.

Die erste hier zu besprechende Entscheidung erreicht uns aus dem Bundessozialgericht (BSG). Das hat die Pressemitteilung zu der Entscheidung (Az.: B 14 AS 20/15 R) überschrieben mit Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar! Mit einem Ausrufezeichen ist die Überschrift versehen, was in einer Gerichtsmitteilung einem wahren Gefühlsausbruch nahekommt. Es geht hier offensichtlich um ein wichtiges Thema, folgt man solchen Überschriften: Jobcenter dürften Hartz IV jahrelang kürzen.

Hartz IV? Ist das nicht das von Amts wegen gewährte Existenzminimum? Wie und warum kann man das jahrelang kürzen? Einen ersten Hinweis bringt zumindest der Hinweis unter dieser Überschrift: 400 Euro Hartz IV, 120 Euro Abzug – das ist rechtens: »Wer bei Hartz IV betrügt, muss mit hohen Strafen leben. Einem Mann wurde drei Jahre lang das Geld vom Staat um 30 Prozent gekürzt. Das Bundessozialgericht entschied nun: Das ist rechtens.« In diesem Artikel finden wir auch eine verständliche Zusammenfassung des Sachverhalts. der zu dem Verfahren vor dem BSG geführt hat:

»Geklagt hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Osnabrück. Der 1961 geborene Mann steht seit 2005 im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Im Jahr 2007 hatte er allerdings Einkünfte verschwiegen, so dass er eigentlich kein Hartz IV hätte beanspruchen dürfen. Das Amtsgericht Osnabrück verurteilte den Mann deshalb rechtskräftig wegen Betruges. Das Jobcenter forderte die überzahlte Hartz-IV-Leistung zurück, insgesamt 8.352 Euro. Da der Arbeitslose über keine Mittel verfügte, sollte er drei Jahre lang den Betrag abstottern. Jeden Monat wurde ihm sein Arbeitslosengeld II um 30 Prozent gekürzt. Von monatlich 404 Euro Hartz IV sollte er 121,20 Euro abzahlen.«

Hier taucht sie auf, die zum einen konkrete Frage des vorliegenden Falls, zum anderen aber weit darüber hinausreichend, denn das Begehren des Klägers, also des Arbeitslosen, ist durchaus relevant für andere Fallkonstellationen im Grundsicherungssystem, vor allem bei den Sanktionen.
»Der Arbeitslose hielt das für rechtswidrig. Er habe zwar in der Vergangenheit betrogen, trotzdem stehe ihm ein menschenwürdiges Existenzminimum zu.«

Und was sagt das BSG dazu?

»Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist.«

Man kann es auch so zusammenfassen:

»Das Bundessozialgericht indes hält die gesetzlichen Bestimmungen, wonach das Jobcenter im Falle eines Erstattungsanspruchs das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent kürzen darf, mit dem Grundgesetz für vereinbar. Die Behörde habe einen Erstattungsanspruch, und es liege in der Eigenverantwortung des Hartz-IV-Beziehers, die Kürzung zu vermeiden.«

An dieser Stelle sind wir an dem entscheidenden Punkt angelangt: Wenn der normale Hartz IV-Satz der Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums dient, wie kann man dann eine über Jahre vollzogene Kürzung ebendieses Existenzminimums rechtfertigen? Dazu das BSG:

»Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen … mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.«

Anders ausgedrückt: Der Arbeitslose könne in besonderen Bedarfslagen beim Jobcenter einen Zuschuss beantragen., also ein Darlehen, das er oder sie natürlich zurückzahlen muss.

Es geht hier nicht um eine Akzeptanz oder gar Rechtfertigung des in diesem konkreten Fall vorliegenden Betrugs seitens des Leistungsempfängers. Sondern um die Folgen hinsichtlich des Existenzminimums in Form einer über lange Zeit laufenden Absenkung auf ein Sub-Existenzminimums, denn auch der Verweis des Gerichts auf die Darlehens-Inanspruchnahme führt ja im Ergebnis dazu, dass man diese Beträge auch zurückzahlen muss, was dann den Abzug auf Dauer stellen würde.

Der über den Einzelfall hinausreichende Aspekt ist darin zu sehen, dass diese Entscheidung auch ausstrahlen wird auf das generelle Thema, inwieweit Sanktionen und die daraus abgeleitete Kürzung des Hartz IV-Satzes rechtmäßig sind. Damit beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht und das wird in den nächsten Monaten dazu aufgrund der Vorlage durch ein Sozialgericht eine Grundsatzentscheidung treffen müssen (vgl. dazu den Beitrag Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden vom 27. Mai 2015)

Im Hartz IV-System geht es um existenzielle Beträge. Um Geld für so etwas geht es auch im zweiten Fallbeispiel, das aus der Welt der Pflege und hierbei vor allem aus den Kelleretagen der Pflegefinanzierung stammt. Rabatt nur im Ausnahmefall, so hat Christian Rath seinen Artikel dazu überschrieben. Und er liefert uns gleich eine Beschreibung des Sachverhalts, der dem Verfahren zugrunde lag:

»Das Verfahren hatte ein heute 74-jähriger Mann aus Berlin ausgelöst, der seit 2010 in seiner Wohnung von einem Pflegedienst betreut wird. Rente und Pflegeversicherung reichten nich, um die erhaltene Pflege zu finanzieren. Die restlichen Kosten übernahm das Sozialamt, das versuchte, sich das Geld vom Sohn des alten Mannes zurückzuholen. Dieser zahlte aber nicht, weil er sich nicht leistungsfähig genug fühlte. Der Sohn, ein 44-jähriger Softwareentwickler, lebt inzwischen in Bayern. Mit seiner Freundin, einer Physiotherapeutin, hat er eine siebenjährige nichteheliche Tochter. Der Programmierer verdient rund 3.300 Euro monatlich. Nach Abzug von Selbstbehalt, beruflichen Aufwendungen, Altersvorsorge und Unterhalt für die Tochter verurteilte ihn das Oberlandesgericht Nürnberg zur Zahlung von 270 Euro monatlich an die Berliner Sozialbehörde.«

Dagegen ist der Betroffene zu Felde gezogen. Er beklagt eine Ungleichbehandlung von Ehegatten und nichtehelichen Paaren.

»Da er nicht verheiratet ist, war bei ihm ein Selbstbehalt von heute nur 1.800 Euro pro Monat berücksichtigt worden. Zusammen mit einer Ehefrau hätte er jedoch einen Familienselbstbehalt von 3.240 Euro geltend machen können – und hätte dem Sozialamt nichts zahlen müssen. Sein Anwalt Thomas Plehwe berief sich auf den Schutz der Familie im Grundgesetz, der auch für nichteheliche Familien gelte.«

Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass der Bundesgerichtshof (BGH) der Trennung zwischen ehelich und eben nicht-ehelich folgt und dementsprechend urteilt, dass der nicht-ehelich gebundene Mensch halt Pech hat, denn er hätte sich ja ehelich binden können. In der Pressemitteilung des BGH scheint das auch so zu sein:

»Zwar kann sich der Unterhaltspflichtige, auch wenn er mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebt und für den gemeinsamen Unterhalt aufkommt, nicht auf einen Familienselbstbehalt berufen.«

Also grundsätzlich gilt: Den Familienselbstbehalt gebe es nur für Ehegatten, weil auch nur diese rechtlich füreinander einstehen müssen, so der Vorsitzende Richter Hans-Joachim Dose. Wenn aber ein „zwar“ auftaucht, dann muss es auch noch etwas anderes geben. So auch in diesem Fall, denn im nächsten Satz erfahren wir:

»Eine eventuelle Unterhaltspflicht ist allerdings als sonstige Verpflichtung im Sinne von § 1603 Abs. 1 BGB vorrangig zu berücksichtigen.«

Anders formuliert: »Im konkreten Fall könne der Softwareentwickler aber immerhin einen Unterhaltsanspruch seiner Partnerin geltend machen, so der BGH. Die Mutter verzichte ja teilweise auf eigene Berufstätigkeit, um das gemeinsame Kind zu betreuen, wenn es aus der Schule kommt«, so Christian Rath in seinem Artikel.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte einwerfen, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt normalerweise nur bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes gilt.
Normalerweise. Hier die Argumentation des BGH:

»Ist das gemeinsame Kind, wie hier, älter als drei Jahre, steht dem betreuenden Elternteil nach § 1615 l Abs. 2 Satz 4 BGB dann weiterhin ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt zu, wenn dies der Billigkeit entspricht. Dabei sind kind- und elternbezogene Gründe zu berücksichtigen. Da hier keine kindbezogenen Verlängerungsgründe festgestellt sind, kamen lediglich elternbezogene Gründe in Betracht. Solche können bei zusammenlebenden Eltern auch darin liegen, dass ein Elternteil das gemeinsame Kind im Einvernehmen mit dem anderen Elternteil persönlich betreut und deshalb voll oder teilweise an einer Erwerbstätigkeit gehindert ist.«

Diese Gestaltung des familiären Zusammenlebens kann, so der BGH, auch dem Sozialamt als Leistungsminderung entgegengehalten werden. Die vom BGH aufgezeigte und von den Vorinstanzen übersehene Lösung dürfte zwar seine Zahlungspflicht gegenüber dem Sozialamt nicht beseitigen, aber doch reduzieren, so die zutreffende Zusammenfassung von Christian Rath.

Man könnte jetzt natürlich die Folge-Frage aufwerfen, was das eigentlich bedeutet im Kontext der unterschiedlichen Pflichten und Rechte, die mit dem Status „ehelich“ oder eben „nicht-ehelich“ verbunden sind. Das ist ja auch ein grundsätzliches Thema beispielsweise im Familienrecht.

Ganz offensichtlich wird mit diesem Urteil seitens des BGH eine bisherige Trennlinie niedergerissen und eine faktische Gleichstellung statuiert. An diesem Beispiel kann man die mittel- und langfristig durchaus wirksame Gestaltungskraft richterlicher Entscheidungen erkennen, die zum einen der wahrgenommenen Lebenswirklichkeit in Verbindung mit dem Schutz von Wahlfreiheit entspricht, zum anderen aber auch systematische Fragen an die Sinnhaftigkeit der asymmetrisch ausgestalteten Rechte und Pflichten zwischen Ehe und nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft aufwirft und zuspitzen wird.

Ein Zwergenaufstand Berliner Sozialrichter gegen das oberste Sozialgericht unseres Landes? (Keine) Sozialleistungen für EU-Ausländer in Deutschland

Auf diesen Gedanken könnte man kommen, wenn man diese Meldung zur Kenntnis nimmt: »EU-Bürger haben nicht automatisch Anspruch auf Sozialleistungen. Das hat das Sozialgericht Berlin jetzt festgestellt und widerspricht ausdrücklich dem Bundessozialgericht«, so Sigrid Kneist in ihrem Artikel Berliner Richter widersprechen dem Bundessozialgericht.
Erst vor kurzem hatte das Bundessozialgericht (BSG) wegweisende Urteile zur Frage des Sozialleistungsbezugs von EU-Ausländern, die sich in Deutschland aufhalten, gefällt. Vgl. dazu meine Blog-Beiträge Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015 sowie Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6.12.2015.

Darin findet sich diese vorläufige Bewertung der auch für Experten mehr als anspruchsvollen Rechtsprechung des BSG:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist. Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und jetzt geht das Berliner Sozialgericht offensichtlich zum Angriff auf das BSG bzw. gegen deren Rechtsprechung über. Zum Sachverhalt, über den Sigrid Kneist in ihrem Artikel berichtet:

»Das Berliner Sozialgericht hat jetzt entschieden, dass ein in Berlin lebender Bulgare keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat – weder auf Hartz IV noch auf Sozialhilfe. Der Mann lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin und bemühte sich nach Auffassung der Richter nicht um eine Arbeit. Im Februar 2013 beantragte er beim Jobcenter Treptow-Köpenick Hartz IV. Die Behörde lehnte mit der Begründung ab, dass der Mann nur einen Status als Arbeitssuchender habe und deswegen keine Leistungen erhalten könne. So steht es im entsprechenden Sozialgesetzbuch Dagegen klagte der Bulgare: Die Verweigerung der Unterstützung verstoße gegen EU-Recht. Das Gericht bestätigte aber die Auffassung des Jobcenters. Zudem urteilte es, dass der Mann ebenfalls keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe. Diese gebe es laut deutschem Recht generell nicht für Menschen, die als arbeitsfähig gelten.«

Aber genau dazu gibt es doch die neue Rechtsprechung des BSG. Zu der haben die Berliner Sozialrichter eine ziemlich deutliche Meinung:
Das Berliner Sozialgericht »wirft dem höchsten deutschen Sozialgericht vor, „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ geurteilt zu haben. Nach Auffassung der Berliner Richter setzt sich das Bundessozialgericht „über den Willen des Gesetzgebers“ hinweg.«

Wir dürfen auf die Antwort aus Kassel gespannt sein.

Das Urteil aus Berlin ist noch nicht rechtskräftig, da der Kläger Berufung einlegen kann.

Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII

Das war zu erwarten und es wird noch deutlich schriller werden, wenn alle die aktuellen Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Frage nach dem Sozialhilfeanspruch bestimmter EU-Ausländer nachvollzogen haben – vgl. zum Hintergrund den Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015. Am Ende dieses Beitrags findet sich die folgende erste Bewertung:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«
Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und genau an dieser Stelle setzt nun eine erste Kritiklinie an: Bereits unmittelbar im Anschluss an das Urteil konnte man in der für die FAZ bei solchen Themen typischen subkutanen Übertreibung durch die Art und Weise der Formulierung in der Überschrift die Meldung lesen: Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer? Übertreibung deshalb, weil es auch nach der ersten bislang vorgelegten Hochrechnung der möglichen Empfängerzahlen von an dramatischen Werten interessierter Seite nicht um Milliarden geht, sondern um eine kleinere, dennoch für die, die zahlen müssen, erhebliche Ausgabesumme.

Durch die Urteile des BSG drohen den Städten und Kreisen »Kosten von mehr als einer halben Milliarde Euro im Jahr«, berichten Jan Hauser und Joachim Jahn in ihrem Artikel. Man sollte allerdings bei der Rezeption solcher Euro-Werte eine gewisse Skepsis an den Tag legen, wenn man solche Zitate lesen muss:  „Das Urteil birgt Sprengstoff“, so wird Felix Schwenke, Sozialdezernent der Stadt Offenbach, in dem Artikel zitiert. „Wir müssen genau beobachten, was im Detail dort drinsteht.“ Also man fragt sich dann schon, wie man konkrete Euro-Beträge angeben kann, wenn man erst einmal nachvollziehen muss, was im Detail in den Urteilen des BSG steht.
Aber wir werden mit konkreteren Zahlen versorgt, die hier zitiert werden sollen:

»Nach Einschätzung des Landessozialgerichts Essen könnte das Urteil etwa 130.000 Menschen vor allem aus Bulgarien und Rumänien betreffen, die nun Sozialhilfe erhalten. Der Regelsatz für Alleinstehende der Sozialhilfe steigt zum Jahreswechsel um 5 Euro auf 404 Euro im Monat. Das würde Kosten für die Kommunen von 630 Millionen Euro im Jahr bedeuten, sofern 130.000 Alleinstehende Sozialhilfe erhalten, die vorher keine Leistungen bekamen. Zusätzlich kommen Kosten für Unterkunft und Heizung hinzu. Dadurch könnten die Belastung insgesamt fast 1 Milliarde Euro betragen – abhängig davon, wie viele EU-Ausländer tatsächlich Leistungen erhalten.«

Aber woher nimmt das zitierte LSG Essen die „etwa 130.000“ Menschen? Interessanterweise taucht die auch in einer anderen Quelle auf: In der Pressemitteilung Landkreistag kritisiert Urteile zur Sozialhilfe für EU-Bürger konnte man am 4.12.2015 lesen:

»Nach ersten überschlägigen Berechnungen geht der Deutsche Landkreistag bei einer Gruppe von um die 130.000 betroffenen Personen von jährlichen Mehrkosten für die Landkreise und kreisfreien Städte in Höhe von um die 800 Mio. € aus. Das ist kein Pappenstiel!«

Wer hat da jetzt von wem abgeschrieben, das wäre eine mögliche Frage, der man nachgehen könnte. Aber die ist hier nicht wirklich von Interesse. So oder so – es wird zu einem weiteren Ausgabeschub in diesem Fall für die Kommunen kommen, wenn die Entscheidungen des BSG umgesetzt werden (müssen).

Es gibt noch eine zweite, vielleicht weitaus schwierigere Dimension des Themas: Gemeint sind systematische Anfragen an ein mittlerweile überaus komplexes Teilgebiet der sozialen Sicherung, also die (an sich nicht geplanten) Schnittstellen zwischen dem SGB II und dem SGB XII. Einen ersten Hinweis darauf findet man in der Bewertung der für viele sicher überraschenden Entscheidungen des BSG in dem Blog-Beitrag vom 03.12.2015:

»Auch nicht unproblematisch ist eine neue Auffächerung des Grundsicherungssystems, denn eigentlich sollen ja alle erwerbsfähigen Menschen über das SGB II-System abgesichert werden. Das SGB XII gilt gerade nicht – im Normalfall – für diese Personen. Nun aber doch, zumindest für eine Teilgruppe der an sich Erwerbsfähigen. Das macht das System nicht wirklich einfacher, ganz im Gegenteil. Aber offensichtlich hat man beim BSG nach einer Bypass-Strategie gesucht mit Blick auf die Absicherung des Existenzminimums angesichts der durch gesetzliche Regelungen wie auch durch die EuGH-Rechtsprechung blockierten SGB II-Lösung, wo die Fälle eigentlich hin gehören.«

Schaut man sich die Entscheidungen des BSG an, dann wird man den Eindruck nicht los, dass die Richter eine Bypass-Strategie zur Umgehung des (nunmehr sogar vom EuGH als europarechtskonform bestätigten) Ausschlusses von (hier eigentlich relevanten) SGB II-Leistungen gesucht haben und meinen, diese in einem subsidiären SGB XII-Anspruch gefunden zu haben. Dafür braucht es natürlich eine Begründung und zugleich muss man die gewählte Ausweichstrategie absichern gegen entsprechende gesetzgeberische Interventionen in den SGB XII-Bereich, um das für die Kommunen aufgeworfene Problem zu bearbeiten. Also rekurriert das BSG auf eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2012, hier zum damaligen Asylbewerberleistungsgesetz und der Frage, ob die dort vorgesehenen abgesenkten Sätze verfassungswidrig seien oder nicht. Die Entscheidung des BVerfG (vgl. dazu im Original BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012  – 1 BvL 10/10) war eindeutig und die Leitsätze, insbesondere Nr. 2 und 3, sollten im Lichte der neuen BSG-Enscheidung sorgfältig zur Kenntnis genommen werden, denn die beziehen sich explizit auf diese höchstrichterliche Entscheidung:

»1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.

2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.«

Vor diesem Hintergrund stellen sich natürlich systematische Fragen: Also wenn man die Rechtsprechung des BSG zugegeben etwas holzschnittartig zusammenfassen soll, dann wird das an sich im Sozialhilferecht angelegte Leistungsausschlussprinzip für „nur“ arbeitsuchende EU-Ausländer (vgl. dazu eindeutig den § 23 Abs. 3 SGB XII: »Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.«) partiell ausgehebelt durch die Anerkenntnis, dass in den ersten drei Monaten (so wie auch im § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II normiert) nichts zu bekommen ist, zwischen drei und sechs Monate gibt es ein Niemandsland, aber ab dem sechsten Monat muss dann das neue Konstrukt des „verfestigten Aufenthalts“ berücksichtigt werden. In anderen Worten: Man muss die ersten sechs Monate irgendwie überbrücken, dann hat man gute Aussichten auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII, die aber eigentlich für Nicht-Erwerbsfähige gedacht sind, weil für die anderen ja das SGB II zuständig ist. Also eigentlich. Macht das wirklich Sinn?

Und auch die explizite Bezugnahme der Bundessozialrichter auf das Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2012 zum Asylbewerberleistungesetz erscheint irgendwie als Versuch, die offensichtliche Umgehungsstrategie abzusichern. Aber das BVerfG-Urteil spricht in seinem wirklich wichtigen Urteil gerade nicht von einer zeitlichen Differenzierung, also damit lässt sich die weiterhin bestehende „6-Monats-Lücke“ gerade nicht legitimieren, denn die Verfassungsrichter hatten ja gerade argumentiert, dass unter das Existenzminimum abgesenkte Leistungen nur dann zu rechtfertigen sind, wenn absehbar ist, dass die Menschen nur kurze Zeit auf deutschem Staatsgebiet bleiben werden, weil sie offensichtlich keinen Anspruch haben auf Aufenthaltsgewährung.

Das ist aber nun in unserem Fall gerade nicht gegeben, denn hier ist es so, dass die EU-Bürger erst einmal die 6-Monate irgendwie schaffen müssen, um gerade dann, aufgrund der „Verfestigung“ des Aufenthalts, einen Leistungsanspruch zu bekommen. Und den eben nicht gegen das eigentlich zuständige, allerdings mittlerweile verriegelte System SGB II, sondern dann gegen das „andere“ Grundsicherungssystem, also das SGB XII. Aber so richtig überzeugend kommt das nicht rüber. Was ist dann mit den ersten sechs Monaten? Deren zwangsläufige Überbrückung irgendwie passt dann auch nicht in die Argumentationslinie des BVerfG.

Hier tun sich erhebliche Grundsatzfragen auf und die allein bedürfen der Debatte und Beantwortung aus den Reihen des Sozialrechts. Darüber hinaus manifestiert sich hier natürlich eine grundsätzliche sozialpolitische Fragestellung in einem europäischen System der Freizügigkeit, das zugleich geprägt ist durch erhebliche Wohlfahrtsunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU. Wie will man verhindern, dass es zu einer rein sozialleistungsbedingten Wanderungsbewegung kommt? Sollte es eine solche geben, dann ist die Arbeit mit Ausschließungskriterien unvermeidlich, weil es ansonsten zu einem  Überlaufen der „attraktiven“ Sozialstaates kommen könnte. Und sei es zeitweilig.