„Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger?

Immer wenn man denkt, noch kleinteiliger, gesetzestechnisch hypertrophierter und inhaltlich korinthenkackerhafter geht es nicht in der Sozialpolitik, wird man eines Besseren belehrt. Bereits der als Rechtsvereinfachung gestartete und als Rechtsverschärfung und -verkomplizierung gelandete Versuch eines gegenwärtig im Bundestag liegenden 9. SGB II-Änderungsgesetzes wäre hier einzuordnen (vgl. dazu den Blog-Beitrag Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016). Aber nun hat man sich die „Arbeitsgelegenheiten“ – umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet – vorgenommen. Und offensichtlich ist man bestrebt, hinsichtlich des Komplexitätsgrades wie auch mit Blick auf die inhaltliche Fragwürdigkeit einen veritablen Quantensprung hinzulegen.
Es geht um das geplante „Integrationsgesetz“ die Flüchtlinge betreffend (vgl. hierzu Gesetzentwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drucksache 18/8615 vom 31.05.2016).

Das neben dem Bundesinnenministerium federführende Bundesarbeitsministerium verkündet unter der Überschrift Das neue Integrationsgesetz fördert und fordert: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.« Das nun überrascht den einen oder anderen, vor allem aber den sachkundigen Beobachter der arbeitsmarktpolitischen Landschaft, denn die „Arbeitsgelegenheiten“ – im SGB II die letztendlich einzige verbliebene Form der öffentlich geförderten Beschäftigung – haben von ihrer Anlage bzw. ihrem vom Gesetzgeber gewollten Zuschnitt nun eher nicht die Aufgabe, dem deutschen Arbeitsmarkt irgendwie nahezukommen, sondern aufgrund der förderrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu § 16d SGB II, nach dessen Absatz 1 erwerbsfähige Leistungsberechtigte in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden können, »wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind.«) müssen sie sogar möglichst weit weg sein von dem, was in der „normalen“ Wirklichkeit des Arbeitsmarktes passiert, damit sie nicht gegen die Wettbewerbsneutralität (§ 16d Abs. 4 SGB II) verstoßen.

Und der Blick in das Gesetz belehrt uns auch darüber, dass es gar nicht das Ziel dieser Maßnahmen sein soll (und kann), die Teilnehmer möglichst schnell und direkt in den Arbeitsmarkt einzugliedern, so Absatz 1 des § 16 d SGB II: »Erwerbsfähige Leistungsberechtigte können zur Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich ist, in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden.«

Der entscheidende Punkt ist die Zielvorgabe „Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit“, also gleichsam eine der Integration in den „normalen“ Arbeitsmarkt vorgelagerte Aufgabe, die Heranführung, Vorbereitung und Unterstützung einer später mal hoffentlich stattfindenden Integration in Arbeit.

Immer wieder werden die „Ein-Euro-Jobs“ in Medienberichten kritisiert, dass die mit ihnen verbundenen Integrationsquoten sehr niedrig seien, folglich das Instrument als gescheitert anzusehen sei. Die Bundesagentur für Arbeit hingegen schreibt hierzu in ihrer Eingliederungsbericht 2014 zutreffend: »Die geringe Eingliederungsquote von Arbeitsgelegenheiten lässt sich auch darauf zurückführen, dass eine sofortige Integration in den ersten Arbeitsmarkt nicht das primäre Ziel dieser Maßnahme ist. Die Zielsetzung von Arbeitsgelegenheiten ist vielmehr die (Wieder-) Herstellung und Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit von arbeitsmarktfernen Personen.« (S. 10).
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund der Arbeitsgelegenheiten ist die Erwartung des BMAS, die geplanten 100.000 Plätze würden „erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt“ ermöglichen, nur als weltfremd zu bezeichnen.

Offensichtlich werden wir in diesem Bereich der Arbeitsmarktpolitik von allen Seiten mit massiven Wissenslücken konfrontiert. Zwei Beispiele: Unter der Überschrift „Geflüchtete engagieren sich bereits“ findet man ein Interview mit Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. Darin wird er u.a. mit diesen Worten zitiert: »Es ist noch nicht klar, wo diese Beschäftigungen angeboten werden sollen. Für die Privatwirtschaft könnten sie eine Möglichkeit sein, den Mindestlohn zu unterlaufen. Doch eine solche „Billiglohnabteilung Flüchtlinge“ wollen wir nicht.« Das könnte man mit guten Gründen nicht wollen, aber es erübrigt sich dahingehend, dass Arbeitsgelegenheiten gerade nicht in der Privatwirtschaft durchgeführt werden dürfen. In einem anderen Artikel – Neuer Billiglohnsektor in Planung – wird die Linke-Politikerin Sevim Jagdelen dahingehend zitiert, »mit den geplanten 100.000 Ein-Euro-Jobs werde ein Billiglohnsektor geschaffen, durch den die Lohnspirale weiter nach unten gehe. Flüchtlinge würden in Konkurrenz zur einheimischen Bevölkerung gesetzt.« Nein, das werden sie nicht. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn man den Mindestlohn für Flüchtlinge aussetzen würde. Aber nicht durch AGHs.  Noch schlimmer kommt so eine Einschätzung daher: In dem Artikel über den Entwurf eines Integrationsgesetzes unter der Überschrift Was halten Experten von den Reformen? wird auch Carola Burkert, immerhin die Leiterin der Arbeitsgruppe „Migration und Integration“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit so zitiert: »Den Vorschlag, niedrigschwellige Arbeitsgelegenheiten (sogenannte Ein-Euro-Jobs) aus Bundesmitteln zu finanzieren, sehe ich dagegen kritisch … solche Jobs (wurden) für Personen geschaffen, die keine Chancen haben, eine nicht-geförderte Stelle am sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu erlangen. Das erhoffte Ziel, dass es diesen Personen dann gelingen würde, im „ersten Arbeitsmarkt“ Fuß zu fassen, wurde jedoch nicht erreicht. Deshalb wurden die Ein-Euro-Jobs als Maßnahme zur Arbeitsmarkintegration abgeschafft.« Nein, das wurden sie nicht und eine Arbeitsgruppenleiterin im Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit sollte das auch wissen.

Angesichts der eklatanten Wissenslücken in diesem Bereich überrascht es denn auch nicht, dass in der bisherigen Berichterstattung der eigentliche Skandal nicht erkannt und vorgetragen wurde: Die neuen Arbeitsgelegenheiten eigener Art, wie sie mit dem Integrationsgesetz geplant werden, machen überhaupt keinen Sinn. Da werden 100.000 Plätze geplant, die man eigentlich nicht oder nur mit einer sehr kleinen Zahl besetzen kann. Darauf wurde bereits in diesen beiden Blog-Beiträgen kritisch hingewiesen: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte vom 13. Februar 2016 sowie Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? vom 23. März 2016.

Um zu verstehen, dass der Bund gerade dabei ist, „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zu schaffen, muss man sich leider mit den Zuständigkeiten befassen:

Für die Flüchtlinge am Anfang ist das SGB II, also das Hartz IV-System und mit ihm die Jobcenter, gar nicht relevant. Die Flüchtlinge schlagen erst dann im Hartz IV-System auf, wenn sie als Asylberechtigte anerkannt sind. Am Anfang sind bzw. wären sie theoretisch Asylbewerber – theoretisch deshalb, weil viele von ihnen  Monate warten müssen, bis sie überhaupt einen Asylantrag stellen können beim BAMF, bis dahin sind sie noch nicht einmal Asylbewerber. Da gilt dann aber das Asylbewerberleistungsgesetz. Und für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beispielsweise in den Erstaufnahmestellen und vor Ort in den Unterkünften sind die Bundesländer und Kommunen zuständig, wobei der Bund an der Finanzierung beteiligt ist, da er den Bundesländern dafür Gelder zur Verfügung stellt, die diese dann in ganz unterschiedlicher Form und Umfang an die Kommunen weiterleiten (sollen).

Nun gibt es im  im § 5 Asylbewerberleistungsgesetz einen Paragrafen, der genau so überschrieben ist wie der § 16 d SGB II: Arbeitsgelegenheiten.
Eingedenk der Ausführungen, die hier schon zu den Anforderungen an Arbeitsgelegenheiten im SGB II gemacht wurden, achte man genau auf die Ausformulierung des § 5 AsylbLG:

»In Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylgesetzes und in vergleichbaren Einrichtungen sollen Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden … Im übrigen sollen soweit wie möglich Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, bei kommunalen und bei gemeinnützigen Trägern zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde.«

Der aufmerksame Leser wird sofort gemerkt haben, dass was fehlt. Genau, die Wettbewerbsneutralität der Arbeitsgelegenheiten ist hier eben nicht verankert, was bedeutet, dass man durchaus wesentlich mehr machen kann als im SGB II aufgrund der dort eingebauten restriktiven Bedingungen. Also machen könnte, wenn man denn wollte, handelt es sich doch um keine Leistung mit Rechtsanspruch. sondern um eine Ermessensleistung. Und machen könnten das die Kommunen, denn die sind am Anfang für dieFlüchtlinge, die ihnen zugewiesen werden, zuständig und das Jobcenter erst dann, wenn die in den anerkannten Status wechseln, was aber ziemlich lange dauern kann, wie wir gesehen haben. 
Nun kann man durchaus so argumentieren: Viele Flüchtlinge leiden darunter, dass sie in den ersten Monaten hier bei uns keiner Arbeit nachgehen können. Insofern wäre Beschäftigung zu organisieren eine wichtige, wenn nicht zentrale Aufgabe, auch mit Blick auf die Folgekosten, die ein Nichtstun hier generieren können.  Vgl. dazu als ein Beispiel den Artikel Flüchtlinge: Gute Medizin allein reicht nicht zur Integration von Susanne Werner in der Ärzte Zeitung. Darin geht es primär um die schleppend bis gar nicht realisierte Gesundheitskarte für Flüchtlinge (vgl. zu diesem Thema den Blog-Beitrag Die Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung zwischen Behandlungsschein und Karte vom 15, Mai 2016). Bei Werner findet sich dieses Zitat:

„Wenn Asylsuchende zu lange von jeglicher Arbeit ausgeschlossen werden und nicht in die Gesellschaft integriert werden, macht sie das seelisch kaputt“, sagte Professor Barbara John vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Das sind alles Argumente für einen Ausbau der Beschäftigungsangebote. Insofern kann man doch nur ja sagen zu 100.000 AGH-Stellen für die Flüchtlinge. Aber neben der Tatsache, dass es sich in der heute dominierenden und durch das Förderrecht auch determinierten Verfasstheit des Instruments um eines handelt, das für viele Flüchtlinge eher kontraproduktiv ist, muss man verstehen, dass die Art und Weise, wie Berlin das umsetzen will, kontraproduktiv für eine möglichst gelingende Integration ist und zudem schwerwiegende Zuständigkeitsfragen aufwirft bzw. diese einfach negiert.

Wir haben derzeit zwei Formen von Arbeitsgelegenheiten – die nach § 5 AsylbLG und die nach § 16 d SGB II, also im Hartz IV-System. Die letzteren werden von den Jobcentern gemanagt. Bei den Kommunen gibt es hier und da AGHs für Flüchtlinge, in vielen gar keine, andere hingegen haben das Potenzial erkannt. In Frankfurt sind z.B. über 200 Beschäftigungsplätze von der Kommune geschaffen worden. Und seitens der Jobcenter ist die Zahl der AGHs in den vergangenen Jahren nach unten gefahren worden. Im Mai 2016 wurden deutschlandweit gerade einmal etwas mehr als 80.000 Beschäftigte in Arbeitsgelegenheiten gezählt. Vor diesem Hintergrund wären dann 100.000 zusätzliche AGH-Beschäftigte, wie jetzt vom Bund geplant, eine vergleichsweise sehr große Hausnummer. Gerade dann muss die Frage interessieren, für wen die geschaffen werden sollen und wer das umsetzt.

Und das eigentliche Problem ist eines dieser für Deutschland so typischen Schnittstellenprobleme: Wenn der Flüchtling als (noch nicht) anerkannter Asylbewerber oder im Vorstatus des noch nicht Asylantragsstellers unter den Fittichen der Kommunen ist, dann könnten die das heute schon vorhandene Instrumentarium des AsylbLG auch nutzen. Wenn sie das aber tun, dann können sie Maßnahmen machen, die teilweise weit über das hinausreichen, was die Jobcenter aufgrund der SGB II-Rechtslage machen können (beispielsweise kann man auf der Basis des bestehenden Rechts durchaus ie Beschäftigung mit Sprachschulungs- oder anderen Qualifizierungselementen kombinieren), was wiederum zu einem echten Problem wird, wenn der Betroffene während der Laufzeit der AGH (nach AsylbLG) in den Rechtskreis SGB II wechselt, denn die dürfen eigentlich nicht so weitgehend fördern wie derzeit im kommunalen Raum. Wenn sich die Jobcenter an die enge Gesetzesinterpretation halten würden, müssten viele Maßnahmen abgebrochen werden, weil sie nicht den Anforderungen entsprechen (können), die wir in dem kommunalen Rechtskreis haben.

Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die

a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.

Man will also ganz offensichtlich eine dritte Dimension der AGHs schaffen. Diese verwunderliche Regelung nennt man „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM)“, die als ein Arbeitsmarktprogramm des Bundes von der BA abgewickelt werden sollen.

Man muss sich über die Konsequenzen klar vor Augen führen – würde das so umgesetzt, dann bekommen wir einen Wachstumsschub in den bürokratischen Strukturen. Warum?
Die Zuweisung (und auch die eventuelle Sanktionierung) der Flüchtlinge in die Maßnahmen soll über die kommunalen Sozialämter erfolgen, die das AsylbLG administrieren. Zur Umsetzung müssten bei der BA entsprechende behördliche Strukturen aufgebaut, Einkaufsprozesse geplant und umgesetzt, Kontrollsysteme installiert werden. Bei den kommunalen Sozialämtern müssten für die Kommunikation mit der BA, die Zuweisung und die Sanktionierung ebenfalls Strukturen geschaffen werden.

Und mit Blick auf die (potenziellen) Teilnehmer an diesen „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“: Es dürfen ausschließlich Asylantragsteller sein, aber unter Ausschluss derjenigen, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen und derjenigen, die zur Ausreise aufgefordert sind. Das nun wiederum hat fast schon den Charakter eines Schildbürgerstreichs, denn diese Gruppe müsste nach allem, was angekündigt wurde und wird, immer kleiner werden, hat das BAMF doch die Devise ausgegeben, die Anträge immer schneller abzuarbeiten und zu bescheiden, so dass auch der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das SGB II immer schneller erfolgen wird/müsste.

Man plant also Maßnahmen für eine Gruppe, die angeblich derzeit abgeschafft wird.

Aber es kommt noch heftiger: Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge sind nur 80-Cent-Jobs, so hat Thomas Öchsner seinen Artikel überschrieben über eine geplante Regelung, die aus dem bereits skizzierten Absurdistan ein bürokratisches Absurdistan hoch zwei machen würde:

»Derzeit bekommen die mehr als 80 000 Ein-Euro-Jobber in Deutschland meist 1,05 Euro pro Stunde. In Einzelfällen können es auch knapp zwei Euro sein. Gezahlt wird dabei eine „Mehraufwandsentschädigung“, das Geld gilt nicht als Arbeitslohn oder Taschengeld. Auch Asylbewerber mit so einer auf maximal sechs Monate befristeten Arbeitsgelegenheit bekamen bislang 1,05 Euro. Der von Nahles und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vorgelegte Entwurf für das Integrationsgesetz sieht nun aber vor, asylsuchenden Teilnehmern künftig nur noch 80 Cent zu zahlen. Ausnahme: Der Ein-Euro-Jobber kann „höhere notwendige Aufwendungen“ im Einzelnen nachweisen«, so Öchsner.

Aber warum eine Kürzung von 20 Prozent bei der Mehraufwandsentschädigung? Sowohl bei der Begründung wie aber auch bei den aus so einer Regelung resultierenden Konsequenzen für die vor Ort, die das umsetzen müssten, werden wir Zeuge, was eine außer Kontrolle geratene Ministerialbürokratie anrichten kann, wenn sich ihr kleinteiliges Denken Bahn bricht:

»Die Bundesregierung argumentiert dabei so: Die allermeisten Asylbewerber werden in ihren Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften eingesetzt. Sie reinigen dann zum Beispiel Gemeinschaftsräume oder helfen bei der Essensausgabe. Dabei würden ihnen in der Regel nur geringe Mehrausgaben entstehen, „da die erforderlichen Arbeitsmittel, zum Beispiel Arbeitskleidung oder -geräte, von den Trägern der Einrichtungen gestellt werden und Fahrtkosten oder Kosten für auswärtige Verpflegung nicht anfallen“, heißt es im Entwurf für das neue Gesetz. Deshalb sei es gerechtfertigt, den pauschal ausgezahlten Beitrag auf 80 Cent je Stunde zu senken. Arbeite der Asylbewerber aber außerhalb solcher Einrichtungen und habe tatsächlich höhere Aufwendungen, etwa für Fahrtkosten oder spezielle Arbeitskleidung, könne er sich einen höheren Betrag auf Antrag auszahlen lassen.«

Abgesehen von dem enormen Verwaltungsaufwand, der ausgelöst wird durch die Regelung, bei allen abweichenden Fällen den höheren Betrag „auf Antrag“ auszahlen zu lassen – die Bundesregierung schlägt hier eine lächerliche Kapriole, denn sie definiert einen Ausnahmefall und macht den an anderer Stelle aber zum Normalfall. Eben hat sich zur Begründung der Kürzung ja noch argumentiert, dass die allermeisten Asylbewerber in den Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften eingesetzt werden im Rahmen der AGH. Aber zum neuen Programm erfahren wir:

Laut »der Richtlinie zum 100.000-Job-Programm ist aber geplant, dass maximal 25 Prozent der neuen Arbeitsgelegenheiten in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft anzubieten sind. Mindestens 75 Prozent sollen hingegen außerhalb solcher Unterkünfte ablaufen.«

Man widerspricht sich also selbst. Für diesen offensichtlich hanebüchenen Befund kann es nur zwei Erklärungsansätze geben: Entweder haben die Gesetzesentwurfsverfasser selbst den Überblick verloren und je nach Regelungsgegenstand potenzieren sie ihre kleinteiligen Regelungsversuche, so dass wir mit den Folgeschäden einer außer Kontrolle geratenen Ministerialbürokratie konfrontiert wären.

Oder aber jemand hat aus politischen Gründen die Ansage gemacht, man brauche vor dem Hintergrund des Aufstiegs der AfD und der Kritik an Flüchtlingsmaßnahmen eine Regelung, die beispielsweise bei dem, was die Betroffenen bekommen, erkennen lässt, dass Flüchtlinge dann in der Welt der Maßnahmen eine eigene, zweite Klasse an AGH-Beschäftigten sind.

Man muss sich den Wahnsinn einmal ausmalen: Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen).

Unterm Strich werden hier eklatante Vermögensschäden seitens der öffentlichen Hand durch den enormen und sinnlosen Bürokratieschub produziert.

Und was bei diesem ganzen Kuddelmuddel vergessen wird: Eigentlich liegt ein grundlegender Lösungsansatz auf der Hand, der aber noch nicht einmal diskutiert wird. Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System, also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit ihren Arbeitsagenturen ergeben.

Wenn man das verbinden würde mit einer radikalen Instrumentenreform im SGB II, die es den Jobcentern endlich ermöglichen würde, das sinnvolle Arsenal an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen flexibel und ohne die hypertrophierten förderrechtlichen Begrenzungen und den vielen hyperkomplexen Sonderprogrammen für extrem selektiv definierte „Zielgruppen“, die wir heute haben, umzusetzen, dann wäre eine deutliche Verbesserung erreichbar (vgl. zu der angesprochenen radikalen Instrumentenreform die Vorschläge in Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen).

Keiner hatte die Absicht, Alleinerziehende und ihre Kinder im Hartz IV-System schlechter zu stellen? Aber nun zieht man die Reißleine. Eine Neuregelung bleibt notwendig und wäre – eigentlich – einfach

Das war eine ereignisreiche Woche. Am Montag, dem 30. Mai 2016, fand im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein 9. SGB II-Änderungsgesetz (BT-Drucksache 18/8041). Die Stellungnahmen der Sachverständigen und Verbände sind in der Ausschussdrucksache 18(11)649 vom 27. Mai 2016 dokumentiert. Ursprünglich als Entwurf für ein „Rechtsvereinfachungsgesetz“ für den Hartz IV-Bereich gestartet ist daraus in vielerlei Hinsicht ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden (dazu bereits der Beitrag Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016 sowie Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin vom 15. Februar 2016. Der Bericht über die Anhörung am 30.05.2016 auf der Seite des Deutschen Bundestages war dann auch entsprechend überschrieben: Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter. Bei der Kritik am Gesetzentwurf wurde immer wieder von unterschiedlichen Sachverständigen und Verbänden auf die vorgesehene Regelung einer tageweisen Kürzung des Sozialgeldes für das Kind beim alleinerziehenden Elternteil, wenn sich das Kind beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält, hingewiesen.

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Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System

Vor einem Jahr, am 27. Mai 2015, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.  In dem Beitrag ging es um eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen. Die hohen Richter in Karlsruhe haben sich einige Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu verkünden, die sicher enttäuscht aufgenommen wurde bei vielen, die gehofft haben, mit Hilfe einer in Karlsruhe testierten Verfassungswidrigkeit die Sanktionen im SGB II-System zu kippen: Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen, so kurz und bündig ist die Pressemitteilung des BVerfG vom 2. Juni 2016 überschrieben.

Die 3. Kammer des BVerfG hat einen Beschluss zur Vorlage des Sozialgerichts Gotha gefasst, dessen Kernaussage so zusammengefasst wird:

»Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betrifft die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Das Vorlagegericht war der Auffassung, dass die Sanktionsregelung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 GG sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar sei. Der Vorlagebeschluss entspricht jedoch nur teilweise den Begründungsanforderungen. Er wirft zwar durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Doch setzt er sich nicht hinreichend damit auseinander, ob diese auch entscheidungserheblich sind, da unklar ist, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen genügen. Wären die angegriffenen Bescheide bereits aufgrund fehlerhafter Rechtsfolgenbelehrungen rechtswidrig, käme es auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Wie immer bei diesen Wort für Wort durchkomponierten Sätzen muss man bei der Bewertung des Ergebnisses auf zentrale Aussagen achten: Die vielleicht wichtigste Botschaft an die, die sich Unterstützung aus Karlsruhe bei ihrem Kampf gegen die Sanktionen an sich erhofft haben, lautet: Das BVerfG erkennt „durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ in dem Vorlageschluss der Sozialrichter aus Gotha. Das lässt Spielraum für die Vorstellung einer späteren Doch-noch-Klärung dieser Fragen vor dem Verfassungsgericht.

Die Verweigerung der Annahme der Vorlage basiert primär auf einer verfahrenstechnischen Argumentation: Das BVerfG beklagt:

»Es fehlt … an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Jobcenter vor Erlass der Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II den gesetzlichen Anforderungen entsprechend über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung belehrt wurde, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Aus dieser Hauptargumentation des BVerfG für eine Nicht-Beschäftigung mit der grundlegenden Frage einer Verfassungswidrigkeit von Sanktionen könnte man ableiten, dass damit zwar diese Vorlage hinfällig geworden ist, nicht aber grundsätzlich die Möglichkeit einer „korrekten“ Vorlage. Also wenn das Sozialgericht Gotha in einem nächsten Fall den nun beklagten Mangel berücksichtigen würde und eine rechtsfehlerfreie Rechtsfolgenbelehrung stattgefunden hat, dann könnte es diesen Fall also nach Karlsruhe weiterleiten. Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit des Beschlusses.

Aber auf hoher See und vor Gericht ist man bekanntlich in Gottes Hand. Man kann durchaus auch die Hypothese vertreten, dass das BVerfG eine formalistisch daherkommende Begründung gesucht und gefunden hat, um den Kelch einer Befassung mit diesem Thema an sich vorüber ziehen zu lassen. Weil es eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen „gewichtigen verfassungsrechtlichen Fragen“ scheut und diese wenn irgendwie möglich vermeiden möchte.

Dafür hätten die Richter auch handfeste Gründe, denn eine mögliche Verfassungswidrigkeit von Sanktionen, also einer Kürzung des Existenzminimums, würde die gesamte Statik des bestehenden Grundsicherungssystems mit seiner Philosophie des Forderns und Förderns zerstören. Hartz IV würde seinen Charakter eines gerade „nicht-bedingungslosen Grundeinkommens“ (auf niedrigem Niveau) verlieren.

Und möglicherweise ist das, was die Verfassungsrichter in ihrem Beschluss „gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ nennen, der Aspekt, der dazu führt, dass man sich lieber nicht genauer damit beschäftigen möchte, weil es im Ergebnis zu einer Infragestellung des bestehenden SGB II-Systems führen würde, wenn man eine Verfassungswidrigkeit und damit eine Nicht-mehr-Anwendbarkeit des Instruments der Sanktionen statuieren würde.

Diese These ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Eine Parallele kann man durchaus erkennen in dem abweisenden Verhalten des BVerfG, sich mit den Missständen in der Pflege zu beschäftigen. Auch bei dieser Frage wurde eine Auseinandersetzung mit formalen Argumenten der Nicht-Zuständigkeit vermieden. Vgl. dazu die Blog-Beiträge Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab vom 10. Januar 2016 sowie Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vom 19. Februar 2016.

Es bleibt also spannend. Auf alle Fälle ist wieder einmal Zeit „gewonnen“. Denn eine neue Vorlage wird dauern und dann wird auch wieder eine Menge Wasser den Rhein runter fließen, bevor das BVerfG eine Entscheidung treffen wird.

Es gibt natürlich auch noch andere hohe Gerichte und das Bundessozialgericht wird noch im Juni in mehreren Verfahren Entscheidungen treffen, wo es um Sanktionen, unter anderem auch um Vollsanktionierung geht. Demnächst also hier wieder zu diesem Thema.

Ein Teil der armen Kinder im Blitzlicht der Medienberichterstattung, erneut die Abwertung von Geldleistungen und jenseits der Sonntagsreden sogar weitere Kürzungen ganz unten ante portas

In Bayern sind besonders wenige, in Bremen und Berlin besonders viele Kinder von Hartz IV abhängig. Schlechte Nachrichten zum Kindertag am 1. Juni, die man beispielsweise dieser Meldung entnehmen kann: Mehr Kinder müssen von Hartz IV leben: Insgesamt ist die Zahl der unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, im vergangenen Jahr gestiegen.
Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das geht aus einer Daten-Auswertung der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann von der Fraktion DIE LINKE anlässlich des internationalen Kindertags am 1. Juni hervor.

Im vergangenen Jahr waren im Schnitt 1,54 Millionen unter 15-Jährige betroffen. Das waren gut 30.000 Kinder und Jugendliche mehr als im Vorjahr. Die Angaben stammen von der Bundesagentur für Arbeit.
In Bremen und Berlin ist mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen abhängig (Ende 2015). In Sachsen-Anhalt sind es 21,8 Prozent, in Hamburg 20,4 Prozent. Prozentual am wenigsten Betroffene gibt es in Bayern mit 6,5 Prozent. Insgesamt sind in Ostdeutschland 20,3 Prozent der unter 15-Jährigen Hartz-IV-abhängig, in Westdeutschland 13,0 Prozent.

Man muss allerdings zum einen berücksichtigen, dass hier und den vielen anderen Berichten „nur“ von den Kindern unter 15 Jahre die Rede ist, die in einem Haushalt leben, der auf Hartz IV-Leistungen angewiesen ist. Darüber hinaus gibt es viele Kinder, die von elterlicher Einkommensarmut betroffen sind, aber in den Zahlen gar nicht abgebildet werden, weil die Familien knapp oberhalb der Hartz IV-Schwelle mit jedem Euro und Cent rechnen müssen. Zur Größenordnung: Fast drei Millionen Kinder leben am Rande des Existenzminimums, also in Familien, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht.

Außerdem wäre zu berücksichtigen, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht geben kann, es handelt sich immer um eine abgeleitete Einkommensarmut der Eltern (vgl. dazu auch den Beitrag Eine Armut, die es als solche gar nicht gibt, steigt. Sie wird ein Leben lang (nach)wirken: Kinderarmut in Deutschland. Und eine Realität zwischen Kleinkrämerei und struktureller Hilflosigkeit vom 8. April 2016).

Hinzu kommt – hinter den nackten Zahlen verbergen sich ganz unterschiedliche Schicksale und Lebenswege. Was aber sicher ist: Die materielle Ausstattung der Haushalte im Hartz IV-Bezug ist (aus haushaltspolitischen Gründen) derart eng gestrickt worden, dass viele, für „normale“ Familien selbstverständliche und gar nicht hinterfragte Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben verbaut sind. Diese an sich schon prekäre und belastende Situation verbindet sich dann nicht selten mit den Versuchen vieler Betroffener, den eigenen Status zu verbergen, oftmals spielen dabei Schamgefühle eine Rolle.

Darauf weist Ulrike Heidenreich in ihrem Artikel Bei Kindern macht Armut viel kaputt hin:

»Schön wäre es ja schon, im Fußballverein zu spielen. Der Einstieg ins Training würde dem Kind auch mit einem Zehn-Euro-Gutschein leichter gemacht. Zehn Euro pro Monat und Kind stehen Familien zu, die sich zum Beispiel Musikstunden oder eine Mitgliedschaft im Verein nicht leisten können – so sieht es das staatliche Bildungs- und Teilhabepaket vor. Auf dem Spielfeld aber wäre es mit der Chancengleichheit schnell vorbei. Denn was nützen zehn Euro im Monat, wenn das Kind auch noch ein Trikot, Stutzen und Fußballschuhe braucht?
Dann mal besser nicht anmelden. Das Kind bleibt zu Hause, das ist gratis. Der Verein oder die Freunde bekommen von all diesen Gedankenspielen nichts mit.
Armut ist peinlich. Armut ist oft unsichtbar. Sie geschieht im Geheimen. Betroffene Familien verstecken sie verschämt.«

Bedürftige Kinder aus diesen Familien werden systematisch benachteiligt, haben schlechtere Chancen in der Schule, überhaupt im Leben, so Ulrike Heidenreich. Und man bekommt sie auch zu Gesicht, wenn man beispielsweise Tafeln besucht:

»Laut Bundesverband Deutsche Tafel sind 24 Prozent der Bedürftigen dort Jugendliche unter 18 Jahren. Das sind etwa 350 000 junge Menschen.«

Parallel zur Veröffentlichung und Diskussion der Zahlen gab es einen „Aufruf gegen Kinderarmut“ von 30 Organisationen und 20 Einzelpersonen: Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist!, so ist der überschrieben. Auch darüber wurde berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bündnis fordert Grundsicherung oder in diesem Beitrag:  Für jedes Kind gleich viel. Wohlfahrtsverbände rufen zur Bekämpfung von Kinderarmut auf.

Es sei zutiefst ungerecht, dass Eltern mit höheren Einkommen für ihre Kinder mehr Unterstützung erhalten als Eltern mit mittleren oder niedrigen Einkommen, heißt es in dem Aufruf:

»Es ist ungerecht, wenn Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen für ihre Kinder mit ihrem Kindersteuerfreibetrag eine höhere Unterstützung erhalten, als Bezieherinnen und Bezieher normaler und niedriger Einkommen. Auf Grundsicherungsleistungen wie Hartz IV Angewiesene erhalten faktisch gar kein Kindergeld, denn es wird mit den Regelleistungen verrechnet. Auch der bürokratische Kindergeldzuschlag erreicht sehr viele Familien mit Kindern nicht.«

Die Initiatoren des Aufrufs kritisieren, dass Gutverdiener durch Steuerentlastungen bis zu 277 Euro im Monat erhalten, während Normalverdiener 190 Euro und Hartz-IV-Empfänger gar kein Kindergeld bekommen, da die Leistung verrechnet wird.

»Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland bezifferte die Summe, die einem Kind je nach Alter zukommen müsse, auf 250 bis 300 Euro im Monat. Das sind rund 50 Euro mehr als die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Die Regelungen unter anderem im Bildungs- und Teilhabepaket seien „viel zu kompliziert“ und erreichten bedürftige Familien häufig nicht.«

Und auch hier wieder der Hinweis auf die besondere Belastungssituation bei den Alleinerziehenden. So berichtet Gareth Joswig:

»Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter beziehen 39 Prozent der alleinstehenden Eltern Hartz IV, und die Hälfte aller Kinder mit Jobcenter-Leistungen leben bei Single-Eltern. Auch der Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sagt für Alleinerziehende ein Armutsrisiko von 42 Prozent voraus: „Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt.“«

Alleinerziehende und Hartz IV-Bezug – war da nicht was? Genau, eine von der Bundesregierung auf die Schiene gesetzte Kürzung der bestehenden, von vielen heute schon als zu niedrig dimensionierten Leistungen: Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter der sozialdemokratischen Ministerin Andrea Nahles will genau das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für ein 9. SGB II-Änderungsgesetz erreichen: Den Alleinerziehenden tageweise das Sozialgeld kürzen. Für die Tage, an denen sich das Kind beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält, auch wenn der Ex-Partner selbst gar nicht im Hartz IV-Bezug ist.

Dazu aus dem Bericht der Linksfraktion über die öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat:

»Das ist eine „deutliche Verschlechterung“ gegenüber der aktuellen Praxis – urteilten u.a. die Sachverständigen Jäger und Sell. Beide Sachverständigen betonten, dass in der empirisch häufigsten Konstellation – Mutter leistungsberechtigt, der Ex-Partner aber nicht – eine Kürzung bei der Mutter derzeit nicht stattfindet. Dies bestätigte indirekt die Bundesagentur für Arbeit, denn: der Sachverhalt „temporäre Bedarfsgemeinschaft“ werde von Amts wegen gar nicht geprüft, sondern erst auf Initiative eines Elternteils betrachtet. Zukünftig soll – nach dem publik gewordenen Willen der Regierung, die aber formell noch kein Bestandteil des Gesetzes ist – grundsätzlich jeder Tag beim untergangsberechtigten Ex-Partner zu Kürzungen bei dem anderen Elternteil führen. Mehrere Sachverständige sprechen sich mit Nachdruck gegen Kürzungen bei der – zumeist – Mutter aus und fordern einen Umgangsmehrbedarf für den Partner. Eine einfache Lösung, die auch der Bundesrat befürwortet. Die Regierungsfraktionen müssen diese Lösung nur umsetzen wollen.«

Dazu wurde von zahlreichen Verbänden und Organisationen am 30.05.2016 dieser Aufruf veröffentlicht: „Kann ich mir Umgang mit dem Vater leisten?“. Verbände fordern Umgangspauschale für Kinder statt Leistungskürzungen bei Alleinerziehenden. Die sozialpolitische Sauerei, zugleich aber auch die bewusste Schaffung von Mehrarbeit in den Jobcentern kann man diesen Ausführungen aus dem Ausruf entnehmen:

»Der Bedarf von Kindern kann realistisch nicht tageweise berechnet werden. Zum einen fallen doppelte Kosten zum Beispiel für Kleidung und Ausstattung an und zum anderen werden laufende Kosten wie zum Beispiel für Versicherungen, Vereinsbeiträge oder das Handy im Haushalt der Alleinerziehenden auch bei tageweisen Abwesenheiten des Kindes nicht eingespart.

Beispiel: Für ein Kind im Alter von sechs bis 14 Jahren sieht das Sozialrecht neun Euro pro Tag vor. Wird das Sozialgeld für zwei Wochenenden bzw. fünf Tage im Monat gestrichen, muss die Alleinerziehende eine Kürzung von über 45 Euro verkraften.

Die von diesem Verfahren erhoffte Verwaltungsvereinfachung ist eine Illusion und verursacht (neue) Konflikte über Umgangszeiten in den Familien. Die Anzahl der Umgangstage kann monatlich wechseln und muss dann jeweils pro Monat neu berechnet werden. Eine Vereinfachung ist hier nicht erkennbar. Ein finanzieller Anreiz für die Reduzierung von Umgangstagen konterkariert darüber hinaus die von der Familienpolitik angestrebte Förderung partnerschaftlicher Elternschaft. Außerdem stellt sie einen Systembruch zum Familienrecht dar, wonach der Kindesunterhalt nicht einfach gekürzt wird, wenn das Kind sich beim Umgangsberechtigten aufhält.«

Es kann nicht wirklich sein, dass ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium eine solche Verschärfung und Leistungskürzung auf den Weg bringt. Und wenn doch, dann sehen wir hier ein (vorläufigen?) Tiefpunkt einer Politik erreicht, die sich ansonsten der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden fühlt. Also semantisch.

Es gibt finanzielle Hilfe für Kinder. Nur kommt diese nicht dort an, wo sie am nötigsten ist, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Verirrt im Förderdschungel. Auch er geht auf den Aufruf gegen Kinderarmut ein und spricht von einem „Kuddelmuddel von Fördersystemen“. Er zitiert auch die Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD):

„Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird“, ließ sie noch am Dienstag wissen. Will sagen: Mehr Geld hilft da nicht. Kinderarmut sei schließlich „vor allem Familienarmut“. Und der Schlüssel für den Kampf dagegen sei es eben, „einen oder am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“. So ließe sich der Teufelskreis von Erwerbslosigkeit und damit einhergehender Armut am besten durchbrechen. Und das hätte den Vorteil, dass es den Haushalt nicht zusätzlich belasten würde. Aber das sagte die Ministerin natürlich nicht.

Da ist es wieder, das alte Argument, das „Transferleistungen“, also Geld, nicht helfen würden. Angesichts der Beträge, mit denen die Menschen (nicht nur) im Hartz IV-System über die Runden kommen müssen, ist das – vorsichtig formuliert – eine mehr als wagemutige Ansage. Dann wird auch immer wieder gerne auf das Lösungsversprechen Erwerbsarbeit verwiesen, obgleich doch gerade die Bundesarbeitsministerin wissen sollte, was es finanziell für Millionen Arbeitnehmer bedeutet, wenn sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen und trotz Arbeit nicht über die Runden kommen bzw. keinen einzigen Sprung nach links oder rechts machen können.

Und das vor dem Hintergrund, dass man nach Jahren der intensiven Diskussion und der wissenschaftlichen Beiträge weiß, dass zum einen die Geldbeträge gerade im Hartz IV-System und vor allem für die Kinder definitiv zu niedrig angesetzt sind, also erhöht werden müssen – und das gleichzeitig für eine Verhinderung bzw. zumindest Abmilderung der oftmals zerstörerischen Armutsfolgen bei den Kindern erhebliche Investitionen in Kitas, Schulen und andere infrastrukturelle Angebote notwendig wären – kann die strategische Schlussfolgerung nur lauten: Nicht ein Entweder-Oder, sondern das eine tun und das andere nicht lassen.

Willkür, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Von den Erfahrungen mit der kafkaesken Seite der Jobcenter, die für den Einzelnen zu einer Existenzbedrohung mutieren kann

In diesen Tagen stehen wir erneut vor gesetzgeberischen Veränderungen in einem sozialpolitischen Kernbereich unseres Landes, der Grundsicherung. Und wieder einmal werden wir Zeugen einer Entwicklung, dass man am Anfang – und sei es wenigstens proklamatorisch – mit einer guten Absicht gestartet ist, nämlich die Bürokratie in den Jobcentern abzubauen und das komplizierte Rechtsgebilde SGB II zu vereinfachen. Wer kann etwas dagegen haben? Nach zwei Jahren unzähliger  Bund-Länder-Gesprächsrunden und parteipolitischen Scharmützeln hat zwischenzeitlich der Berg gekreißt und ein Gesetzentwurf das Licht der Welt erblickt, der im Ergebnis nicht nur völlig enttäuschend ist hinsichtlich des ursprünglich gesetzten Ziels, Bürokratie in einem Umfang abzubauen, der über molekulare Mengen hinausgeht (vgl. dazu bereits Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016 sowie Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin vom 15. Februar 2016).

Es kommt sogar noch weitaus schlimmer, denn mittlerweile muss man das als „Rechtsvereinfachungsgesetz“ euphemistisch betitelte Paragrafenwerk korrekter als ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ bezeichnen, zumindest aus der Perspektive der betroffenen Menschen.
Dabei sind die heute schon nicht selten mit einer kafkaesk daherkommenden Seite der Jobcenter und der sie bestimmenden rechtlichen Gemengelage konfrontiert, die aber nur für den Betrachter von außen wie „Das Schloss“ von Franz Kafka erscheinen. Denn es geht hier nicht (nur) um die (Un)Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, sondern um existentielle Fragen bis hin zu dem Wegziehen des letzten Bodens für ein menschenwürdiges Dasein. Dazu aktuelle Beispiele aus dem „Hartz IV-Land“.

Da wäre beispielsweise das Jobcenter Börse in Sachsen-Anhalt. Susan Bonath berichtet in ihrem Artikel „Reine Willkür“ über den folgenden Sachverhalt:

»Jahrelang hatte sich Malte S. (Name geändert) als Leiharbeiter durchgeschlagen. Nach der letzten Kündigung suchte er jedoch vergeblich eine neue Stelle. Er scheute jedoch den Gang zum Amt, hoffte weiter auf einen Job – bis er seine Wohnung verlor, seine Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnte, ohne Konto und Geld dastand. Kurz vor Pfingsten beantragte er beim Jobcenter Börde (Sachsen-Anhalt) also doch das ihm eigentlich seit Monaten zustehende Arbeitslosengeld II. Weil er völlig mittellos war, bat er zudem um einen Vorschuss. Er befinde sich in einer Notlage, es gehe um Essen und Trinken, erläuterte er. Doch die Behörde wies ihn ab. Bares zur Überbrückung gebe es nicht, hieß es.«

Die Sachbearbeiterin in der Leistungsabteilung versprach, seinen Antrag „noch heute“ fertig zu machen. »Weil das Jobcenter in seinem Fall allerdings einen Scheck mit der Post schicken müsse, könne er erst in einer Woche, nach dem langen Pfingstwochenende, mit Geld rechnen. Auf Nachfrage, wie er denn solange ohne Geld überleben solle, räumte sie ein: »Wenn es wirklich nicht anders geht, könnte ich Ihnen maximal einen 20-Euro-Gutschein mitgeben.« Ob dieser auch von Märkten in dem Ort akzeptiert wird, wo Malte S. vorübergehend bei einem Familienmitglied untergekommen war, konnte sie nicht sagen.«

Warum nicht einfach ein Betrag von seinem Regelsatz abgezogen und ihm in bar ausgehändigt wurde, versteht der Betroffene nicht.

In der Leistungsabteilung hieß es, eine interne Anweisung verbiete dies den Mitarbeitern. Behördensprecher Carsten Werner bestritt am Dienstag die Darstellung: »Im Jobcenter Börde liegt keine derartige Dienstanweisung vor.« Tags darauf erklärte er aber auf Nachfrage der Tageszeitung junge Welt, Barzahlung sei »grundsätzlich nicht vorgesehen«.

Für Notfälle vorgesehen sei »die Überbrückung durch Gutscheine des Anbieters Sodexo, einer international agierenden Unternehmensgruppe, die vor allem durch Kantinenbetriebe bekannt ist.«
Und dann ein weiterer Tiefschlag:

»Der Antragsteller habe außerdem »durch sein freundliches und dankbares Auftreten nicht den Eindruck« erweckt, »dass er mit dem Verfahren nicht einverstanden ist«, sagte der Pressesprecher.«

Dabei kann man das ganz anders sehen: »Die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann, die heute Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft ist, hält dieses Vorgehen für »reine Willkür«. »Jedes Jobcenter kann einen vorläufigen Bescheid ausstellen und ein Darlehen in bar auszahlen«, sagte sie am Donnerstag im Gespräch mit jW. Das Geld werde von der später ausgezahlten Monatsleistung abgezogen. Geregelt sei das im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Im SGB I heißt es zudem, Vorschüsse seien auf Antrag zu gewähren. Bestehe ein Anspruch auf Leistungen, habe der Träger die Höhe der Vorabzahlung nach »pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen«, wenn die Feststellung der Leistungshöhe länger dauere.«
Und der Betroffene?

»Malte S. wartet inzwischen seit einer Woche auf seinen Postscheck. »Hätte ich keine Familie oder Freunde, die mich auf eigene Kosten mitversorgen, müsste ich betteln oder stehlen«, sagte er.«

Zuweilen hilft nur die Beteiligung der Presse, um in einem dieser vielen Einzelfälle etwas in Bewegung zu bringen. Nächstes Beispiel Wuppertal: Ärger mit Jobcenter: „Hilflos und ohnmächtig“, so ist ein Artikel überschrieben: »Nach einem Bandscheibenvorfall beantragte Andreas Böhm Leistungen beim Jobcenter Bachstraße und erlebte ein Existenz bedrohendes Fiasko.« Erst als sich die Wuppertaler Rundschau einschaltet, reagiert die Spitze des Jobcenters schnell.

»Was war passiert? Bis zur Arbeitsunfähigkeit arbeitete der gelernte Schreiner sieben Jahre monatlich 80 Stunden bei einer Immobilienverwaltung. Da er von 450 Euro Krankengeld sein Leben nicht finanzieren kann, beantragt Andreas Böhm in November 2015 beim Jobcenter Bachstraße ergänzende Leitungen. Die werden rasch bewilligt. Kurze Zeit später, im Dezember 2015, erhält der 37-Jährige 500 Euro, aber keinen Bescheid. Damit begann der Ärger …«

Man ahnt schon, was jetzt kommt. Der Betroffene wird in eine Umlaufbahn gehievt und die immer existenzbedrohend daherkommenden Dinge nehmen ihren Lauf:

»Als in der Folgezeit trotz vollständig eingereichter Unterlagen und mehrmaliger persönlicher und telefonischer Rücksprache weitere Zahlungen ausbleiben und Böhm seine Miete nicht mehr begleichen kann, schaltet er einen Anwalt ein.
Dessen Intervention bügelt das Jobcenter mit der Begründung, Andreas Böhm hätte sich nicht um die Fortführung der Leistungen bemüht, ab. Dass abgestempelte Dokumente eindeutig das Gegenteil belegen, wird vom Jobcenter schlicht ignoriert. Während sich der Rechtsstreit ohne Erfolg hinzieht, wird die Situation für den Schreiner brenzlig: Als auch im Mai noch die Miete ausbleibt, droht der bisher sehr verständnisvolle Vermieter mit der Kündigung.«

Für den Betroffenen ist das ein Albtraum: „Unverschuldet arbeitslos zu werden und dann eine solche Behandlung seitens des Jobcenters erleben zu müssen, hilflos und mit einem bitteren Gefühl der Ohnmacht, das zu erleben wünsche ich keinem“, wird Andreas Böhmin dem Artikel zitiert. Und weiter: „Ich bin nicht nur körperlich, sondern auch psychisch am Ende.“

Gut in diesem Fall, dass eine Zeitung dabei war.

Von der Rundschau mit dem Vorfall konfrontiert, handelt Jobcenter-Chef Thomas Lenz umgehend – und teilt drei Tage später mit: „Hier liegt eine sehr unglückliche Kommunikation vor. Wir haben den Fall nochmals geprüft. Mit dem Ergebnis, dass die Leistungen von Januar bis April bewilligt und umgehend ausgezahlt werden. Der Antragsteller wird wieder in den Bezug aufgenommen.“

Aber kann es das wirklich sein? Dass Zufälle, wie das Interesse und das Engagement von Medien helfen kann? Was ist in den vielen anderen Fällen?

Wohlgemerkt, das waren nur zwei aktuelle Beispiele von vielen.

Aber es sind nicht nur die unmittelbaren Geldleistungen, die man zum Überleben braucht. Auch die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. die fehlenden Substitute werden immer wieder und völlig zu Recht als Problem aufgerufen. Auch dazu ein Beispiel: Langzeitarbeitslos: Über Leben und Mehrwert, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Es geht um die jenarbeit, das Jobcenter der Stadt Jena.

Dort gibt es das Reaktivierungsprogramm „ReSet“.

»Sie will die Unsichtbaren sichtbar machen. Sie versucht, die Verlorengegangenen zu finden, die Ungreifbaren zu fassen. Daniela Brunn ist Projektleiterin von „ReSet“, einem Programm, das von Jenarbeit finanziert wird, um Langzeitarbeitslose zu „reaktivieren“, das heißt, die Menschen aus einer langen Phase der gesellschaftlichen Passivität zurück ins gemeinschaftliche Leben zu holen – im besten Falle wieder auf den Arbeitsmarkt zu bringen … Daniela Brunn konnte mit ihrem Konzept überzeugen und führt seit Juli 2014 ein fünfköpfiges multiprofessionelles Team an, das innerhalb der vergangenen zwei Jahre mehr als 80 Fälle von Jenarbeit zugewiesen bekam. Jeweils 18 bis 20 Arbeitslose im Alter zwischen 18 und 58 Jahren wurden in Gruppen betreut – vier Tage die Woche, mindestens 15 Wochenstunden mussten die Teilnehmer ableisten.«

„Ein Prozent derer, die hier teilnehmen, haben eine Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren“, wird Daniela Brunn in dem Artikel zitiert. Da werden viele und auf den ersten Blick auch völlig zu Recht den Kopf schütteln – eine solche „Erfolgsquote“, kann man das wirklich fortführen? Dazu Daniela Brunn:

»Ihre Erfolge sind andere: „Die meisten Klienten haben keinerlei soziale Anbindung, keine Familie, keine Freunde, teilweise sind sie obdachlos. Sie erfahren keinerlei Wertschätzung, keine Anerkennung. Bei vielen spielt Alkohol eine große Rolle, Drogen, psychische und physische Beeinträchtigung, einige haben kognitive Störungen, manche waren bereits in Haft, haben einen ambulanten oder gerichtlichen Betreuer, die meisten kommen bereits aus einem Elternhaus, in dem es Drogenmissbrauch gab oder Gewalt und viele waren bereits in anderen Zwangsmaßnahmen, in denen sie Stigmatisierungen erfahren haben. Wenn wir es schaffen, diesen Menschen ein bisschen Selbstwertgefühl zu geben und sie sozial wieder anzubinden, beispielsweise an einen Verein, dann ist das für mich durchaus ein Erfolg … Vor allem mit Jenas Subkultur versuchte Daniela Brunn zusammenzuarbeiten. Es entstanden Theaterprojekte, man kochte für Flüchtlinge oder half beim Aufbau des interkulturellen Gartens in Lobeda. „Viele unserer Klienten hatten rassistische Einstellungen. Sie waren gegen Flüchtlinge, auch deshalb war mir die Arbeit mit Asylbewerbern wichtig. Ich denke, dadurch haben wir es geschafft, die Vorbehalte und falschen Vorstellungen aus den Köpfen zu bekommen. Auch das sehe ich als einen Erfolg an.“«

Aber dafür so eine Maßnahme – natürlich befristet? »Das Projekt ReSet läuft im Juli aus. Es wird vermutlich ein neues Reaktivierungsprogramm geben: „Reset 2“. Wie sich dieses gestaltet, ist noch nicht klar. Daniela Brunn ist sich nicht sicher, ob sie das Projekt weiterbetreuen darf, kann oder will. „Wenn es darum geht, eine Wiedereinstiegsquote festzulegen, dann kann ich das Projekt nicht mehr leiten. Den Erfolg kann man nicht daran messen, wie viele Menschen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt kommen. Ich bin froh und stolz auf das, was wir in den zwei Jahren erreicht haben. Einige unserer Klienten haben wir wieder verloren, sie werden nicht mehr auftauchen und in der Unsichtbarkeit verschwinden, aber einigen konnten wir etwas mitgeben: eine neue Wohnung, ein gesünderes Leben, Erfahrungen, Wertschätzung, Wissen oder Kraft.“«

Die Projektleiterin legt den Finger auf eine klaffende offene Wunde der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik:

»Auf dem zweiten Arbeitsmarkt hätten vielleicht 50 Prozent unserer Klienten eine Chance. Der aber existiert faktisch gar nicht. Es gibt kaum ABM-Stellen oder Ein-Euro-Jobs. Im besten Fall hat unsere Arbeit bei ReSet dazu geführt, dass unsere Klienten wieder Gespräche mit Jenarbeit aufnehmen“, sagt Daniela Brunn.«

Wir brauchen für solche Menschen – und wir reden hier bundesweit nicht von einigen wenigen, sondern von Hunderttausenden – ganz andere Angebote der öffentlich geförderten Beschäftigung und damit Teilhabe am Erwerbsleben, wenn man denn Teilhabe als einen substantiellen Aspekt im Leben der meisten Menschen begreifen würde. Aber die dafür notwendigen gesetzgeberischen Aktivitäten stehen derzeit mal wieder und leider nicht auf der Agenda der da in Berlin.