Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist

Die Absicherung der großen Lebensrisiken ist der Kernbestandteil des Sozialstaats. Dass dazu auch eine Krankenversicherung gehört, versteht sich in Deutschland – anders als beispielsweise in den USA – eigentlich von selbst. Aber auch hier muss man der Versicherungsschutz finanziert werden, was über Beiträge passiert, die nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten bemessen werden. Im Ergebnis führt die sozialversicherungsförmige Absicherung der Krankheitsrisiken dazu, dass auch Leute, die nur sehr geringe Beiträge gezahlt haben, im Grunde das gleiche Leistungsspektrum bekommen wie Versicherte, die aufgrund ihres beitragspflichtigen Einkommens den Maximalbeitrag leisten müssen. Und auch Selbständige haben grundsätzlich die Möglichkeit, sich in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abzusichern, über eine freiwillige Mitgliedschaft bei einer der Krankenkassen. Ansonsten sollen sich die Selbständigen gemäß der alten Bismarckschen Logik als nicht-schutzbedürftige Personen selbst kümmern, wie bei ihrer Alterssicherung auch. Das ist so lange kein Problem, wie die Selbständigen tatsächlich von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen nicht schutzbedürftig sind, weil sie über in entsprechendes Einkommen verfügen, das ihnen eine private Absicherung für das Alter sowie über die private Krankenversicherung eine gegen die Krankheitsrisiken ermöglicht.

Aber Bismarck ist bekanntlich biologisch schon seit längerem verstorben und die Welt, in der er die grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherungssysteme mit auf den Weg gebracht hat, die verändert sich und immer öfter stoßen sich die grundlegenden Annahmen, auf denen auch unsere Sozialversicherungssysteme aufbauen, an den Teilen der anderen Wirklichkeit, die sich herausgebildet hat. Man kann (und müsste) das diskutieren für die Frage der überwiegend lohnbezogenen Finanzierung gerade im Alterssicherungssystem und man kann (und müsste) das diskutieren für die – historisch vielleicht noch sinnvolle – Trennung zwischen schutzbedürftigen Arbeitern (später dann auch Angestellte) versus sich selbst überlassenen Selbständigen (wobei eine genauere historische Analyse zeigen kann, dass es immer schon ein absolut prekär aufgestelltes Kleinunternehmertum gegeben hat. Und die Einbeziehung eines Teils der Selbständigen in die Sozialversicherung in den vergangenen Jahrzehnten war ja auch immer schon eine Reaktion auf die sich verändernde Welt und das Anerkenntnis, dass die (aus sozialpolitischer Sicht) zunehmend zu einer rein formalen Statusgrenze geschrumpften Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung versus Selbständigkeit nicht mehr hinreichend ist.

Diese grundsätzlichen und strukturellen Andeutungen sollen einleiten in eine Auseinandersetzung mit einem scheinbar aktuellen Problem im Bereich der Krankenversicherung, hinter dem aber strukturell viel von dem steht, was einleitend angesprochen wurde:

Die Beitragsschulden von freiwillig Krankenversicherten in der GKV explodieren. Ende vergangenen Jahres standen die GKV-Mitglieder mit sechs Milliarden Euro in der Kreide (vgl. beispielsweise Beitragsschulden bei den Kassen sprengen Sechs-Milliarden-Grenze). Die Zunahme der Beitragsschulden ist enorm: Sie entspricht binnen Jahresfrist einer Zunahme von 1,5 Milliarden Euro. Anfang 2016 schuldeten die freiwillig Versicherten den gesetzlichen Kassen noch 4,48 Milliarden Euro. »Damit sich das Beitragsschuldengesetz der Koalition, das im August 2013 in Kraft getreten ist, als weitgehend wirkungslos erwiesen. Bis dahin hatten die Säumniszuschläge der Kassen nach der Vorgabe des Gesetzgebers 60 Prozent pro Jahr betragen. Seitdem ist der Zuschlag auf ein Monat pro Jahr reduziert worden.«

Dazu wurde hier bereits im Kontext mit Berichten über Menschen ohne Krankversicherungsschutz berichtet, konkret am 18. Januar 2017 in dem Beitrag Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz: Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht. Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Und jetzt diese Entwicklungen bei den Beitragsschulden. Warum die Schulden der gesetzlichen Krankenversicherung explodieren – diese Frage von Timot Szent-Ivanyi drängt sich natürlich auf. Wer sind die Hauptschuldner? Das ist klar auszumachen: Die Selbstständigen. Sie allein schulden den gesetzlichen Kassen fast fünf Milliarden Euro.

Timot Szent-Ivanyi schreibt in seinem Artikel: »Die Beitragsberechnung bei Selbstständigen in der gesetzlichen Krankenversicherung unterscheidet sich von der bei angestellten Arbeitnehmern. Weil man früher davon ausgegangen ist, dass Selbstständige in der Regel gut verdienende Unternehmer mit Angestellten sind, wurde ein Mindestbeitrag festgelegt. Er soll verhindern, dass sich der Selbstständige arm rechnet. Derzeit wird bei der Beitragsberechnung so getan, als verdiene der Betroffene brutto mindestens 2231 Euro. Da die Selbstständigen auch den Arbeitgeberanteil selbst zahlen müssen, sind für den Versicherungsschutz (inklusive Krankengeldanspruch und Pflegeversicherung) im Schnitt mindestens knapp über 400 Euro im Monat fällig. Nur in besonderen Härtefallen lässt sich der Beitrag auf rund 270 Euro drücken. Weniger geht nicht.« In der Abbildung findet man die aktuell korrekten Beträge, wenn die Selbständigen auf ein Krankengeldanspruch verzichten.

Dann kommt er zu dem entscheidenden  Punkt: »Die Szene der Unternehmer hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Inzwischen sind etwa 71 Prozent der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Selbstständigen sogenannte Solo-Selbstständige; sie haben also keine Angestellten. Sie können von dem Gehalt, das beim Mindestbeitrag unterstellt wird, nur träumen. 82 Prozent dieser Solo-Angestellten haben lediglich ein Jahreseinkommen von brutto bis zu 15.010 Euro. Das Jahresdurchschnittseinkommen dieser Personengruppe liegt bei brutto 9444 Euro, also lediglich 787 Euro im Monat. Daran gemessen ist ihr Beitragsanteil für die Krankenversicherung deutlich zu hoch. Er kann fast 50 Prozent betragen, während Arbeitnehmer derzeit im Schnitt 8,4 Prozent zahlen.«

Was kann man tun? »Naheliegend ist eine Absenkung des Mindestbeitrags. Auch Gleitzonen für geringe Einkommen wären möglich. Das alles klingt allerdings leichter, als es in der Praxis ist. Denn die Möglichkeiten, sich im Zweifel arm zu rechnen, um Beiträge zu sparen, bestehen heute noch. Es muss also darauf geachtet werden, dass nicht am Ende andere Versicherte die Lasten tragen müssen, also insbesondere die Arbeitnehmer.«

Wir sehen und lesen, dass es jetzt weniger einfach wird, als man vielleicht im ersten Moment denkt. Auch der »Bundesrat sorgt sich, weil immer mehr Kleinunternehmer ihre Krankenversicherung nicht mehr zahlen können. Ihre Beitragsschulden in der GKV explodieren«, kann man diesem Artikel entnehmen: Selbstständige in der GKV-Schuldenfalle. Im Bundesrat gab es einen Antrag von Thüringen, Berlin und Brandenburg. »Noch bis zur Bundestagswahl soll die Regierung einen Bericht zur Lage dieser Gruppe vorlegen, heißt es darin. Zudem fordern die Länder konkrete Vorschläge, wie diese Gruppe bei den GKV-Beiträgen entlastet werden kann.« Und weiter erfahren wir:

»Der GKV-Mindestbeitrag für diese Gruppe belief sich im vergangenen Jahr auf 342 Euro pro Monat. Nur durch einen Härtefallantrag lässt sich der Obolus nochmals um rund ein Drittel auf 228 Euro drücken. Ursache dafür ist die Mindestbemessungsgrenze, die bei der Beitragsermittlung von Selbstständigen unterstellt wird (aktuell 2231,25 Euro). Eine Senkung dieser Grenze hätte „erhebliche Mindereinnahmen“ in der GKV zur Folge, ihre Abschaffung stünde „im Widerspruch zum Solidarprinzip der GKV“, erklärte die Regierung im September 2016 auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag. Diese besonderen Bemessungsgrenzen für Selbständige dienten der „Beitragsgerechtigkeit“ – auf diese Weise werde der Vorteil ausgeglichen, dass die Beitragshöhe anhand des Nettoprinzips ermittelt wird – anders als bei abhängig Beschäftigten.«

Und andere Stimmen, beispielsweise von den Krankenkassen? »Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands muss die Koalition ran, um die Schuldenlast von Versicherten abzubauen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Gesetzgeber ist am Zug. „Wenn der ‚Versicherungsschutz für alle‘ aus gesamtgesellschaftlichen Gründen nach wie vor politisch gewollt ist, brauchen die Krankenkassen eine Lösung für diejenigen, die ihre Beiträge tatsächlich nicht zahlen können“, wird Ann Marini, stellvertretende Sprecherin des GKV-Spitzenverbands, in dem Artikel zitiert. Hier müsse die öffentliche Hand mit Steuergeld einspringen, diese Last dürfe nicht auf die anderen Beitragszahler abgewälzt werden. Größtmögliche Hilfe hat das Beitragsschuldengesetz der kleinen Gruppe der bisher Nichtversicherten gewährt, die sich bis Ende 2013 bei einer Krankenkasse gemeldet haben – ihnen wurden Beiträge erlassen, darüber wurde schon in diesem Beitrag berichtet: Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Nicht angegangen worden ist vom Gesetzgeber aber die wachsende Gruppe der Solo-Selbstständigen, die so wenig verdienen, dass sie die GKV-Beiträge nicht stemmen können.

Die Grünen im Bundestag votieren dafür, die Mindestbeiträge für kleine Selbstständige zumindest auf das Niveau der sonstigen freiwillig Versicherten in der GKV zu senken (siehe Abbildung). Aber man kann an dieser Stelle natürlich die grundsätzliche Frage aufrufen – bis wohin runter soll es denn gehen? Und ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, auch Geschäftsmodelle von Selbständigen zu subventionieren, bei denen die weniger als 900 Euro im Monat verdienen? Eine Frage, daran sei hier nur erinnert, die sich auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB II stellt, bei den selbständigen Aufstockern im Hartz IV-System also. Leistet man, anders gefragt, nicht einen Beitrag zur Stabilisierung von Kümmerexistenzen, wenn man denen die Absicherung auch noch erleichtert? Vgl. zu den multiplen Schwierigkeiten, die sich mit Blick auf diese Personengruppe ergeben, auch den Beitrag von Markus Krüsemann: Was tun gegen die Prekarität des Kleinunternehmertums?

Man sollte an dieser Stelle zumindest darauf hinweisen, dass es diese Probleme nicht nur in der GKV gibt, sondern auch in der privaten Krankenversicherung: »Auch in der PKV sieht es für einen Teil der Solo-Selbstständigen finanziell düster aus. Die am schlechtesten verdienende Gruppe muss sogar bis zu 58 Prozent ihres Einkommens aufwenden, um die PKV-Police bedienen zu können, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ermittelt. Während die Zahl der PKV-Versicherten im Basistarif mit rund 29.000 gering blieb, gehörten rund 116.000 Versicherte dem neu geschaffenen „Notlagentarif“ an.« Das muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass 58 Prozent der Selbstständigen im Jahr 2012 in der GKV versichert waren, 42 Prozent in der PKV. Hier gilt die Regel: Je höher die Einkommensklasse, desto höher ist der Anteil der PKV-Versicherten. Doch auch in der Privatassekuranz nimmt der Zahl der „Niedriglöhner“ zu.

Wieder zurück in die GKV: „Die Beitragslast ist zu hoch“, moniert Rainer Woratschka in seinem Artikel hinsichtlich der Ist-Situation ja auch nicht zu Unrecht: »Sie arbeiten als Paketauslieferer Unternehmensberater und Kosmetikerin, sind Kioskbesitzer, Hausmeister, Boutiquenbetreiber. Die Altersvorsorge sparen sie sich, wenn es nicht reicht. Aber an einer Krankenversicherung kommen auch sogenannte Solo-Selbständige nicht vorbei. Ein Problem, denn für viele ist dieser Posten selbst in gesetzlichen Kassen finanziell kaum noch zu stemmen. Die Beiträge fressen auch in gesetzlichen Kassen inzwischen oft die Hälfte der gesamten Einnahmen.« So die bekannte Diagnose. Und weiter: »Das Problem der Solo-Selbständigen mit den Kassenbeiträgen rührt vor allem aus zwei Umständen. Zum einen fehlt ihnen die Arbeitgeberbeteiligung, sie müssen den Krankenversicherungsbeitrag komplett aus eigener Tasche zahlen. Zum andern schert sich die Sozialversicherung nicht groß um ihr Einkommen. Zur Beitragsberechnung wird ihnen einfach ein monatliches Mindesteinkommen unterstellt, von dem viele Kleinunternehmer nur träumen können.«

Dietmar Haun und Klaus Jacobs kommen in ihrer 2016 veröffentlichten Studie Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar zu diesem Fazit:

»Die Option GKV oder PKV pauschal am Kriterium der Selbstständigkeit festzumachen, hat mit der Arbeitsmarkt- und Einkommensrealität schon längst nichts mehr zu tun. Dass dabei Entscheidungen über den Krankenversicherungsschutz mit potenziell lebenslanger Bindungswirkung getroffen werden, passt nicht mehr zu den immer häufigeren Patchwork-Erwerbsbiografien. Aber noch etwas ist bei der empirischen Analyse deutlich geworden: Die Beitragsregelungen sowohl in der GKV als auch in der PKV sind für viele Selbstständige nicht mehr angemessen. In der PKV wird die Intention der erst 2009 eingeführten Krankenversicherungspflicht durch den Notlagentarif bereits heute ausgehöhlt. Das Geschäftsmodell der PKV ist vom Grundsatz her nicht in der Lage, auf sich ändernde individuelle Erwerbs- und Lebenslagen der Versicherten zu reagieren. Doch auch in der GKV werden die weithin auf Typisierungen basierenden Beitragsregelungen der konkreten Situation vieler Selbstständiger nicht mehr gerecht, wie nicht zuletzt die hohe Zahl von Nichtzahlern unterstreicht. Allerdings prallen hier zwei Schutzinteressen aufeinander: einerseits die Schutzbedürftigkeit kleiner Selbstständiger in prekären Einkommenslagen, aber andererseits auch die Notwendigkeit, die Solidargemeinschaft der GKV vor Überforderung zu schützen. An der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes müssen sich deshalb alle Bürger beteiligen, nicht zuletzt auch die nach wie vor vielen Selbstständigen mit hohen und sehr hohen Einkommen.«

Das würde wieder auf eine stärkere oder gar alleinige Steuerfinanzierung verweisen, für die es gute Argumente gibt, aber eben auch Einwände.

Einen anderen Ansatz bringt Florian Staeck in die Debatte ein. In seinem Kommentar Abschied von Bismarck schreibt er: »Was tut die Regierung? Nichts. Sie ignoriert ein sozialpolitisches Problem, das zugleich eine ordnungspolitische Großbaustelle ist: Die Zahl der Selbstständigen ist – politisch gewollt – im Kielwasser der „Agenda 2010“ gestiegen. Darunter sind Gutverdiener genauso wie Menschen mit Einkommen nahe dem Mindestlohn – nur, dass sie auf eigene Rechnung arbeiten.  Doch in der Gesetzlichen Krankenversicherung lebt die alte Bismarck-Welt weiter. Vor 20 Jahren wurde bereits die überkommene Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten abgeschafft. Inzwischen stellt sich aber die Frage, ob formale Kriterien der Erwerbsbiografie überhaupt über den Krankenversicherungsschutz bestimmen sollten. Die bisher existierenden Vorschläge, die schlicht auf eine Senkung der Mindestbemessungsgrenzen hinauslaufen, werden der Komplexität nicht gerecht. Eine ordnungspolitisch tragfähige Regelung muss die GKV als Solidargemeinschaft neu austarieren. Völliges Neuland muss dafür nicht betreten werden. Mit der Künstlersozialversicherung liegt ein Bauplan vor, der Orientierung geben kann.«

Fazit: Noch sind wir auf der Suche nach einem wirklich überzeugenden Rezept für die Lösung der beschriebenen Probleme.

Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz

Während in den USA derzeit die nach langen Widerständen unter dem Namen „Obamacare“ eingeführte Möglichkeit einer Krankenversicherungspflicht für Millionen armer Bürger wieder vor der Zerschlagung steht, ohne dass klar ist, ob überhaupt und wenn ja welche Alternative für die betroffenen Menschen von der neuen Trump-Administration ins Leben gerufen wird (immerhin geht es um 20 Mio. Menschen in den USA, die unter den Affordable Care Act (ACA) fallen), kann sich Deutschland im Bereich der Absicherung der Krankheitsrisiken eines umfassenden und auch Menschen mit niedrigen oder gar kein Einkommen einbeziehenden Schutzssystems rühmen. Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht.

Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Und dass es sich dabei teilweise um ein systematisches Problem handelt, das sich selbst verstärkt, hat dann auch der Gesetzgeber erkannt: Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Die Betroffenen mussten sich bis zum 31. Dezember 2013 bei einer Kasse melden. Die Bundesregierung ging damals von rund 130.000 nicht-krankenversicherten Menschen in Deutschland aus, bei denen oftmals hohe Schulden gegenüber Krankenversicherungsunternehmen aufgelaufen sind. Die Zahl der mit dem damaligen Gesetz angesprochenen Menschen mit erheblichen Beitragsschulden lag aber mit (geschätzt) fast 650.000 deutlich höher – es wurde von »deutlich mehr als eine halbe Million freiwillig gesetzlich Versicherter mit Beitragsschulden und rund 144.000 Nichtzahler« in der PKV gesprochen (vgl. dazu Anno Fricke: Schnitt bei Kassenschulden tritt in Kraft vom 01.08.2013).

Ein gutes Jahr später wurde Bilanz gezogen: »Die Krankenkassen haben mehr als 50.000 Versicherten Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 1,1 Milliarden Euro erlassen«, konnte man diesem Artikel entnehmen: Schuldenerlass für mehr als 50.000 Versicherte. Interessant auch die damals genannten Relationen: »Die reinen Beitragsschulden belaufen sich demnach auf knapp 232 Millionen Euro. Gut 909 Millionen Euro sind aufgelaufene Säumniszuschläge.«
Diejenigen, die sich bis 31. Januar 2013 bei den Kassen gemeldet hatten, die seit 2007 aufgelaufenen Beiträge und Säumniszuschläge nicht (in voller Höhe) nachbezahlen.

Jetzt müsste also alles in Ordnung sein.

Dann wird man aber mit solchen Meldungen konfrontiert, die es eigentlich nicht geben dürfte:

»Trotz Versicherungspflicht haben in Deutschland weiterhin rund 80.000 Menschen keine Krankenversicherung. Das entspricht rund 0,1 Prozent der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt berichtet«, so der Artikel Wie viele Deutsche sind nicht krankenversichert? vom 4. Oktober 2016.
Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2015. Angaben zum Krankenversicherungsschutz in der Bevölkerung werden nur alle vier Jahre erhoben.
Es gebe eine positive Veränderung, denn: »2011 waren noch 128.000 Menschen ohne Versicherungsschutz, 2007 waren 196.000 Menschen nicht krankenversichert.«

Aber: »Ein genauer Vergleich ist aber nicht möglich, da sich zwischenzeitlich die Gesetzeslage geändert hat und auch die Erhebungsmethode verändert wurde.« Um wem handelt sich hierbei?

»Überdurchschnittlich häufig nicht krankenversichert seien Ausländer und Selbstständige … Rund ein Drittel der Nicht-Krankenversicherten sind selbstständig. Bei Ausländern liegt der Anteil mit 0,5 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.«

Dieses Thema wurde nun wieder aufgegriffen in dem Beitrag Krank ohne Versicherung des Politikmagazins „Kontrovers“. Mit Blick auf die vom Statistischen Bundesamt für 2015 gemeldete und bereits zitierte Zahl von rund 80.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz wird darauf hingewiesen, dass Experten schätzen, dass die „wahre“ Zahl der Nicht-Versicherten „mindestens viermal so hoch“ sei, damit würden wir uns in einer Größenordnung von 320.000 Betroffenen bewegen, also der Einwohnerschaft einer Großstadt.

Bei einer Erkrankung stehen sie ohne Hilfe da. Denn weil sie mit ihren Beitragszahlungen in Rückstand geraten sind, ruht ihre Versicherung. Und dass es davon sei viele gibt bzw. geben soll, ist nicht überraschend: Die, bei denen vorher schon das Geld nicht reichte, konnten auch nachher nicht zahlen und häuften so Beitragsschulden an.

Und wir werden hier mit dem konfrontiert, was 2013 zu der gesetzlichen Regelung der Altfälle geführt hat – allerdings eben nur für die Altfälle bis zu dem Stichtag Ende 2013:

»Um wieder normal krankenversichert zu sein, müssten sie rückwirkend ihre Beitragsschulden begleichen, dazu kommen Säumniszuschläge. Für viele ist das der Weg in die Schuldenfalle. Und einige Krankenkassen sind knallhart: So lange die Schulden nicht komplett zurückgezahlt sind, gibt es nur im Notfall Hilfe.«

Und was machen diese Menschen in ihrer Notlage? Wenn sie Glück haben, finden sie ein Notbehelfsangebot außerhalb des Regel-Versorgungssystems:

»Letzter Ausweg für die Betroffenen sind oft die Notsprechstunden. Praxen wie die „Malteser-Migranten-Medizin“ oder das Kloster Sankt Bonifaz in München behandeln Menschen, die keine Versichertenkarte haben. Überwiegend sind das Zuwanderer, die illegal in Deutschland leben. Im Wartezimmer sitzen jedoch auch Obdachlose und Geringverdiener, die keine Beiträge zahlen können, aber auch keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Die Praxen sind überlaufen.
Auch die Organisation Ärzte der Welt betreibt in München eine Praxis, die Unversicherte behandelt. Ursprünglich wurde die Praxis gegründet, um Menschen ohne Papiere zu behandeln. Mittlerweile sind allerdings Deutsche ohne Krankenversicherung die zweitgrößte Patientengruppe.«

Immer wieder taucht in Medienberichten über das Thema auch die „Praxis ohne Grenzen“ für die Region Bad Segeberg, gegründet von Uwe Denker und seit 2010 in Betrieb, auf.

Das abschließende Fazit des Politikmagazins: »Die Politik drängt immer mehr Bürger in Notfallpraxen – finanziert aus Spenden – mit Ärzten, die kostenlos arbeiten. Ein Armutszeugnis für den deutschen Sozialstaat.«

Traum und Albtraum liegen oft dicht beieinander. Solo-Selbständige mit heute Hartz IV und morgen Altersarmut

Über die Probleme von Selbständigen wurde hier schon mehrfach berichtet, vor allem hinsichtlich der absehbaren Altersarmut. So am 18. August 2015 in dem Beitrag Einige Solo-Selbständige in Deutschland proben den Aufstand gegen die Rentenversicherung und andere möchten gerne rein oder am  11. Februar 2015: Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt. Ob nun bewusst oder nicht – viele Menschen denken bei Selbständigen nicht primär an Armut oder erheblichen Sicherungsproblemen. Dies ist wahrscheinlich dadurch bedingt, dass man ein ganz bestimmtes Bild von Selbständigen vor Augen hat, also einen Unternehmer, der Arbeitnehmer beschäftigt und von denen viele auch sehr bis extrem gut über die Runden kommen. Aber schon immer gab es die vielen selbständigen „Kümmerexistenzen“, die sich mehr schlecht als recht gerade so über Wasser halten konnten. Diese Teilgruppe der Selbständigen hat in den zurückliegenden Jahren an Bedeutung gewonnen. Aus der Gruppe der Solo-Selbständigen, die also keine anderen Beschäftigten haben als sich selbst,  wird berichtet, dass viele über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen und die Einkommen so niedrig sind, dass daraus keine eigenständige Altersvorsorge geleistet werden kann, was aber notwendig wäre, sind sie doch über ihren Selbständigenstatus nicht vom Schutzsystem der gesetzlichen Rentenversicherung erfasst. Sie haben einfach oftmals keinen finanziellen Puffer, den sie dafür verwenden können. Und offensichtlich nicht selten sind die laufenden Einnahmen derart niedrig (oder schwankend), dass die Betroffenen angewiesen sind auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem, landläufig als Hartz IV bezeichnet, weil sie mit dem eigenen Selbständigen-Einkommen nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt alleine zu bestreiten.

Vor diesem Hintergrund tauchen dann solche Meldungen in den Medien auf: Mehr als hunderttausend Selbstständige brauchen Hartz IV: »Die Zahl der Selbstständigen, die ergänzend Arbeitslosengeld II bekommen, habe sich seit 2007 fast verdoppelt … 2007 bezogen demnach 66.910 Selbstständige Hartz-IV-Leistungen, im vergangenen Jahr waren es 117.904.« Die aktuellste Zahl stammt aus dem Mai 2015, da waren es 119.275 Selbständige im Hartz IV -Bezug.

Die Daten stammen aus einer Antwort des Statistischen Bundesamts auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke. Sie weist in ihrer Pressemitteilung Zahl von Solo-Selbständigen im Zeitverlauf deutlich angestiegen – Immer mehr Selbständige beziehen Hartz IV darauf hin:

»Die Zahl der Selbständigen ohne Beschäftigte, sogenannte Solo-Selbständige, ist seit dem Jahr 2000 deutlich angestiegen, von 1,84 Millionen auf 2,34 Millionen im Jahr 2014. Mittlerweile gibt es deutlich mehr Solo-Selbständige als Selbständige mit Beschäftigten, deren Zahl lag im Jahr 2014 bei 1,85 Millionen, 2000 waren es 1,8 Millionen … Der Weg in die Selbständigkeit ist für viele auch ein Weg in eine prekäre Tätigkeit, von der man nicht leben kann … Oft war die Entscheidung zur Selbständigkeit keine freiwillige. Durch die Einführung der Förderung als sogenannte Ich AG im Zuge der Hartz-Gesetze wurde die Solo-Selbständigkeit als Allzweckwaffe gegen Arbeitslosigkeit auserkoren, die für viele in einer Sackgasse endete.«

Nun gibt es das Instrumentarium der Ich-AGs schon länger nicht mehr und auch ein etwas genauerer Blick auf die Daten, die das Statistische Bundesamt und die Bundesagentur für Arbeit der Abgeordneten geliefert haben, zeigt ein differenziertes Bild, das keineswegs die individuelle Dramatik relativieren soll, aber dennoch Hinweise darauf geben kann, dass wir es derzeit mit einer stabilen, sogar leicht rückläufigen Problematik zu tun haben.

Die Abbildung verdeutlicht zum einen, dass die Zahl der Hartz IV-Leistungen beziehenden Selbständigen in den Jahren 2011 und 2012 ihren Höhepunkt hatten und seitdem leicht rückläufig ist. Dies korrespondiert mit einer ebenfalls erkennbaren rückläufigen Zahl an Solo-Selbständigen, die offensichtlich 2012 ihren Höhepunkt überschritten hat.

Das passt zusammen mit Befunden, die vor kurzem von Karl Brenke in seinem Beitrag Selbständige Beschäftigung geht zurück thematisiert wurden: »In den 90er Jahren hatte die selbständige Beschäftigung in Deutschland deutlich zugenommen. Dieser Trend hielt – auch wegen der Förderung von arbeitslosen Existenzgründern – bis 2007 an, danach blieb die Zahl der Selbständigen einige Jahre weit­ gehend konstant, und seit 2012 nimmt sie sogar ab. Sowohl die langjährige Expansion der selbständigen Beschäftigung als auch die Schrumpfung in jüngster Zeit wurden wesentlich geprägt durch die Entwicklung bei den Solo­Selbständigen, also den Unternehmern ohne Angestellte … Ein wichtiger Grund für den Rückgang der selbständigen Beschäftigung ist, dass weniger Selbständige nachwachsen; die Zahl der Gründer hat in den letzten Jahren abgenommen. Angesichts der mittlerweile günstigen Lage auf dem Arbeitsmarkt dürften viele Erwerbstätige einer abhängigen Beschäftigung den Vorzug vor dem Gang in die Selbständigkeit einräumen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass nicht wenige Selbständige, insbesondere viele Solo­-Selbständige, nur geringe Einkommen erzielen. Der Anteil der Geringverdiener unter ihnen ist im Zug des Schrumpfungsprozesses seit 2012 kleiner geworden. Auch fällt es Unternehmen bei günstiger Arbeitsmarktlage wohl schwerer, Tätigkeiten an Selbständige auszulagern und dadurch Kosten zu sparen.«

Diese von Brenke beschriebenen Zusammenhänge wirken sich auch auf den Hartz IV-Bezug Selbständiger aus und machen verständlich, warum wir am aktuellen Rand eher eine leicht rückläufige Entwicklung erkennen können.

Es bleibt aus sozialpolitischer Sicht auch weiterhin ein große Baustelle und Gestaltungsauftrag, die vielen Solo-Selbständigen, die nicht über hohe Einkommen verfügen (und die gibt es natürlich auch), besser in das soziale Sicherungssystem zu integrieren, vor allem mit Blick auf die für viele sicher desaströse Perspektive auf das eigene Alter.

Einige Solo-Selbständige in Deutschland proben den Aufstand gegen die Rentenversicherung und andere möchten gerne rein

Also früher war die Welt irgendwie noch einfacher – jedenfalls aus der heutigen Perspektive, die natürlich immer auch eine verzerrte sein muss. Da gab es die große Masse der abhängig Beschäftigten, in Arbeiter und Angestellte sortiert und auf der anderen Seite der Medaille die Selbständigen. Bei den Selbständigen hatte man zum einen die vielen kleinen Kümmerexistenzen, die mit ihrem Laden mehr schlecht als recht über die Runden gekommen sind. Zum anderen die „normalen“ Selbständigen, die ein Unternehmen betrieben, in dem wiederum andere Menschen eine abhängige Beschäftigung gefunden haben. Und weil man normalerweise davon ausgehen konnte, dass so ein Selbständiger – von manchen politischen Kräften auch Kapitalist genannt – genügend Einkommen aus der Verwertung der Arbeitskraft seiner Arbeiter und Angestellten ziehen konnte, wurde unterstellt, dass hier keine „soziale Schutzbedürftigkeit“ gegeben sei, die eine Einbeziehung in die gesetzliche Sozialversicherung, die ja eine Arbeitnehmerversicherung ist, begründen könnte. Also hat man folgerichtig argumentiert, dass diese Selbständigen alleine in der Lage sind, für ihre Absicherung im Krankheitsfall zu sorgen und für eine eigene Alterssicherung beispielsweise in Form einer Lebensversicherung oder anderer Modelle vorzusorgen.

Es gab dann im Laufe der Zeit eine gewisse notwendige „Übergriffigkeit“ seitens der Sozialpolitik, die auch selbständige Existenzen wie Handwerker unter bestimmten Bedingungen unter das weite Dach der sozialen Sicherung zog, weil man hier eine offensichtliche „Schutzbedürftigkeit“ erkannt hat. Aber die meisten Selbständigen blieben weiter außerhalb des Systems und auf eigene Strategien der Absicherung angewiesen, was sie natürlich auch von einer entsprechenden Beitragszahlung befreit hat.

Nun gibt es seit vielen Jahren einen Trend, der quer zu der klassischen Vorstellung von einem Selbständigen mit einem Unternehmen und mehreren Beschäftigten liegt – gemeint ist der Trend hin zu den Solo-Selbständige, also Selbständige, die nur über sich selbst verfügen und keine weiteren Mitarbeiter beschäftigen. Und da gibt es – wie immer im Leben – echte Erfolgsgeschichten, aber auch viel Schatten.

So veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin 2013 einen Beitrag von Karl Brenke unter der Überschrift Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen:

»In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist die Zahl der Selbständigen in Deutschland kräftig gestiegen. Dies ist fast ausschließlich auf die Entwicklung bei allein tätigen Selbständigen (Solo-Selbständigen) zurückzuführen. Besonders stark hat sich dabei die Zahl selbständiger Frauen erhöht. Auch wenn ein Teil der Solo-Selbständigen hohe Einkünfte erzielt, liegt das mittlere Einkommen dieser Erwerbstätigengruppe unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte, wie sie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beziehen, nicht hinaus. Der Anteil der Geringverdiener unter den Solo-Selbständigen ist zwar seit Mitte der letzten Dekade gesunken, er liegt aber immer noch bei knapp einem Drittel oder etwa 800 000 Personen.«

Schon hier gibt es Hinweise, dass für einen Teil dieser überaus heterogenen Gruppe der Solo-Selbständigen eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit konstatiert werden muss, die dann nicht annähernd adäquat bearbeitet wird, wenn man sie zusammenwürfelt mit den anderen, die es auch gibt und die gut leben (und vorsorgen) können von ihrer Selbständigkeit. Das Problem ist eben die doch sehr große Streuung zwischen oben und unten (vgl. dazu auch den Beitrag Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt vom 11. Februar 2015).

Die Frage der individuellen Schutzbedürftigkeit einer selbständigen Existenz ist das eine. Das vermischt sich aber mit einem weiteren Problem, das unter dem Begriff der „Scheinselbständigkeit“ bekannt und kritisch diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich ein recht einfaches Grundproblem: Wenn die gesamte Architektur des Systems der sozialen Sicherung in Form der verpflichtenden Sozialversicherung am Tatbestand der abhängigen Beschäftigung aufgehängt wird, mit den daraus resultierenden Abgabenfolgen für die Arbeitgeber (neben den weiteren Pflichten, die aus einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis resultieren, wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutzbestimmungen usw.), dann leuchtet es unmittelbar ein, dass aus der Tatsache, dass Selbständige auf eigenes Risiko arbeiten (müssen) und keine solche Bindungswirkung beim Arbeitgeber entfalten, da sie immer nur als Auftragnehmer tätig sind und sein können, die auf Rechnung arbeiten (müssen), ein gewisser Anreiz entsteht, bisher von eigenen Mitarbeitern durchgeführte Arbeiten zu substituieren durch selbständige Auftragnehmer.

Ein klassisches Beispiel aus der Vergangenheit waren dann solche Fälle wie die aus der Unternehmens-Logistik, wo bislang angestellte Fahrer von Lastkraftwagen „outgesourct“ wurden und sich selbständig machen „durften“, in dem sie den LKW gekauft und als selbstständige Fahrer betrieben haben – und dann das gleiche gemacht haben wir vorher, allerdings in einem ganz anderen Beschäftigungsstatus und für die Auftraggeber zu deutlich besseren Konditionen, hat man sich doch der „Last“ der eigenen Beschäftigten entledigt. Zugleich waren alle unternehmerischen Risiken ausgelagert auf den Solo-Selbständigen und oftmals befand sich dieser in der überaus unangenehmen Situation, dass er nur einen Auftraggeber hatte bzw. hat, den solche Fälle gibt es auch heute, so dass er diesem Auftraggeber natürlich auch bedingungslos ausgeliefert war und ist.

Der Gesetzgeber hat versucht, diese höchst problematische Entwicklung einzudämmen, in dem er den Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ mit für den Auftraggeber empfindlichen Sanktionen belegt hat – also eigentlich. Denn wie immer tobt sich der Teufel aus im Detail und das ist hier die Frage, wann denn der Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ erfüllt ist, aus der dann beispielsweise die teure Folge einer Nachzahlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge resultieren kann.
Dazu schauen wir bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) nach, die versucht, uns das zu erläutern, denn die prüft ja auch in der Praxis, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt oder nicht. Als Merkmale für eine Scheinselbstständigkeit werden uns diese Kriterien serviert:

– die uneingeschränkte Verpflichtung, allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten
– die Verpflichtung, bestimmte Arbeitszeiten einzuhalten
– die Verpflichtung, dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen
– die Verpflichtung, in den Räumen des Auftraggebers oder an von ihm bestimmten Orten zu arbeiten
– die Verpflichtung, bestimmte Hard- und Software zu benutzen, sofern damit insbesondere Kontrollmöglichkeiten des Auftraggebers verbunden sind,

denn, so die DRV, derartige »Verpflichtungen eröffnen dem Auftraggeber Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, denen sich ein echter Selbstständiger nicht unterwerfen muss.«

Diese Kriterien hören sich klarer an als sie erscheinen. Und genau hier setzt eine aktuelle Protestbewegung an, die sich gegen eine Subsumtion unter einer derart verstandene „Schein“-Selbständigkeit wehrt, denn man sieht sich auch bei Erfüllung einiger dieser Kriterien dennoch als selbständig bzw. als freiberuflich tätig an.

Und wie immer in Deutschland gibt es einen eigenen Verband für diese Angelegenheiten: Der Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD). Und dieser Verband hat eine Petition ins Leben gerufen, die mittlerweile von mehr als 10.000 Personen unterzeichnet worden ist. Über diese Petition

»fordert (der Verband) einen „Schluss der Hexenjagd“ der Deutschen Rentenversicherung gegen vermeintlich „Scheinselbstständige“. „Auch wer fair bezahlt wird und gut fürs Alter vorsorgt, dem unterstellt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) mittlerweile Scheinselbstständigkeit“, so Verbandsgründer Andreas Lutz, Diplom-Kaufmann und Solo-Selbstständiger in München. Der Verband fordert „klare Kriterien“ für Selbstständigkeit, die sich auch an den Arbeitsbedingungen seiner Klientel, vor allem Wissensarbeitern, orientieren müssten«, berichtet Barbara Dribbusch in ihrem Artikel Solisten gegen die Sozialgesetze.

Das Problem sind die zitierten Kriterien, die für eine Schein-Selbständigkeit sprechen (sollen). »Viele selbstständige Softwareentwickler, Coaches und Datenkaufleute, die für ein bestimmtes Projekt und einen bestimmten Zeitraum von einer Firma eingekauft werden, erfüllen diese Kriterien, ohne sich allerdings als „Scheinselbstständige“ brandmarken lassen zu wollen.« Dribbusch zitiert in ihrem Artikel als Beispiel den selbständigen IT-Berater Alexander Kriegisch.

Er »arbeitet als Projektmanagement-Coach in Firmen vor Ort, sein Tageshonorar liegt bei 1.000 Euro und höher. Als er mit vielen anderen Freiberuflern an einem Auftrag der Telekom arbeitete, ließ das Bonner Unternehmen die Auftragsverhältnisse durch Juristen prüfen – und kam zu dem Schluss, dass die Selbstständigen in den Augen der Deutschen Rentenversicherung als „Scheinselbstständige“ gelten könnten, was hohe Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen nach sich gezogen hätte.
In der Folge verloren einige der Leute den Auftrag, andere wiederum mussten sich über eine Zeitarbeitsfirma zu schlechteren Konditionen anstellen lassen, um dann wieder für die Telekom arbeiten zu können. Kriegisch verließ das Projekt. „Ich wollte kein Scheinangestellter sein“, sagt er.«

Aber es ist nicht nur die IT-Branche, aus der diese Probleme berichtet werden. Selbst in der Pflege wird man damit konfrontiert, wie Barbara Dribbusch an einem Beispiel berichtet:

»Auch Marten Wiersma, Krankenpfleger mit Intensivpflegeausbildung und 61 Jahre alt, möchte lieber als Freiberufler in Kliniken eingesetzt werden und nicht festangestellt sein, erst recht nicht bei einer Zeitarbeitsfirma. Als Freiberufler käme er auf 8.000 Euro Bruttohonorar im Monat, als Angestellter einer Zeitarbeitsfirma hingegen nur auf 4.000 Euro brutto, berichtet Wiersma.
Der Krankenpfleger arbeitete unter anderem auch an einer Klinik in Duisburg als Selbstständiger. In einer Betriebsprüfung wurde dort Scheinselbstständigkeit festgestellt, die Klinik trennte sich von den Leuten. Es sei daraufhin schwieriger geworden, als Freiberufler zu arbeiten, erzählt Wiersma.«

Aber wo die Sonne ist (oder angeblich scheint), da gibt es auch Schatten: »Im schlecht zahlenden Kulturbereich etwa arbeiten viele selbstständige Publizisten, Lektoren und Musiktherapeuten auf Honorarbasis und sehnen eine Festanstellung mit Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herbei – während die Situation der hochbezahlten Spezialisten im wirtschaftsnahen IT-Bereich ganz anders ist.«

Oder man denke – gerade vor dem aktuellen und absehbar anhaltenden Hintergrund der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland – an die Situation der ebenfalls meistens als selbständige Existenzen arbeitenden Lehrkräfte für Integrations- und Sprachkurse, die mit Hungerhonoraren abgegolten werden.

Das Thema bewegt die Politik mal wieder. Thomas Öchsner berichtet in seinem Artikel Rente für alle über aktuelle Vorstöße des Sozialflügels der CDU: »Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) will eine Pflicht zur betrieblichen Altersvorsorge einführen. Dies geht aus dem Entwurf der CDA für ihr neues Grundsatzprogramm hervor, das die Parteigruppe im November bei ihrer Bundestagung verabschieden will.« Und die CDA bleibt nicht stehen beim Thema betriebliche Altersvorsorge, sondern erweitert das:

»Für Selbständige will der Arbeitnehmerflügel der CDU daher eine „verpflichtende Basisabsicherung“ in der Rentenversicherung einführen, „damit niemand im Alter der Grundsicherung und damit dem Steuerzahler anheimfällt“. Die frühere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen war mit ähnlichen Plänen gescheitert. Damals gab es einen Proteststurm von Selbständigen, die sich gegen ein solche „Zwangsabsicherung“ wehrten.«

Das ist das Dilemma: Die Freiberufler und Solo-Selbständigen, die genügend verdienen, können sich tatsächlich selbst absichern und viele tun das natürlich auch. Aber die Hungerleider unter diesem Dach können das gar nicht, auch wenn sie es wollten. Und wenn man jetzt eine Zwangsabsicherung für die angesprochene Basisabsicherung in der Rentenversicherung einführen würde, dann bedeutet das natürlich: Beitragszahlung. Aber genau auf den Verzicht auf eine solche basiert das heutige Geschäftsmodell vieler armer Schlucker, die als Solo-Selbständige versuchen, den Kopf über dem Wasser zu halten. Denn nur dann können sie Aufträge und damit Einnahmen generieren, von denen sie die laufenden Ausgaben halbwegs bestreiten können – aber eben nicht die zusätzlichen Ausgaben, die mit einer entsprechenden Absicherung, ob sie nun privat oder eben gesetzlich erfolgt, verbunden wären. Also werden die aus purer Not Amok laufen müssen, während die anderen, auf der Sonnenseite der Selbständigkeit befindlichen Personen ebenfalls Sturm laufen, weil es ihre persönlichen Einnahmen belasten würde.

Wie erwähnt, bereits Ursula von der Leyen (CDU) ist als Arbeitsministerin an dieser Frage gescheitert. Wir dürfen mit Interesse verfolgen, ob die durch Mindestlohn und Rentenpaket schon reichlich angeschossene gegenwärtige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) noch Kraft und Ideen haben wird, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Wetten würde ich darauf nicht, obgleich der Klärungsbedarf mehr als auf der Hand liegt.

Syndikusanwälte: Flucht auf die doppelte Sonnenseite. Raus aus der Rentenversicherung für das niedere Volk, aber auch aus der Haftung der richtigen Freiberufler

Was war das für eine Aufregung: Rund 40.000 Anwälte sollen wie gewöhnliche Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einzahlen. Das war die Botschaft einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, über die hier im April in dem Beitrag Wie „gewöhnliche“ Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen? Von der Sonnenseite berufsständischer Versorgungswerke in das Schattenreich der „Staatsrente“? berichtet worden ist. Damals war die Aufregung groß, denn: »Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass sich Syndikus-Anwälte trotz Zulassung als Rechtsanwalt nicht mehr von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen können, um sich in einem berufsständischem Versorgungswerk zu versichern. Durch die Entscheidung des BSG droht im schlimmsten Fall auch vielen anderen Angestellten der Wegfall des Versorgungswerks«, so Christian Rolf und Jochen Riechwald in ihrem Artikel Wegfall des Versorgungswerks droht. Die Deutsche Rentenversicherung hatte argumentiert, dass die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber generell keine befreiungsfähige Rechtsanwaltstätigkeit sei. Dem hat sich das BSG nun angeschlossen, denn »nach gefestigter verfassungsrechtlicher und berufsrechtlicher Rechtsprechung zum Tätigkeitsbild des Rechtsanwalts … wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig … Unabhängiges Organ der Rechtspflege und damit Rechtsanwalt ist der Syndikus nur in seiner freiberuflichen, versicherungsfreien Tätigkeit außerhalb seines Dienstverhältnisses (sog Doppel- oder Zweiberufe-Theorie).«, so die Richter des BSG in ihrer Entscheidung. Aber bekanntlich kann man alles korrigieren, wenn man über die entsprechenden Mittel, Wege und Unterstützer verfügt. Und flugs wurde der parlamentarische Raum aktiviert, die möglichen Folgen des Urteils zu verhindern.

Und die Parlamentarier ließen sich nicht lange bitten, wer will es sich schon mit zehntausenden Juristen verscherzen, die zudem noch für viele Unternehmen arbeiten. Und so kann berichtet werden, dass sich der Bundestag in erster Lesung zu einem Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bekannt hat, nach dem sich diese Juristen künftig wieder von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenkasse befreien lassen können. Alles andere wäre ja auch noch schöner. Immerhin geht es hier um die nicht triviale Frage eines Zugangs zu einem Sonder-Alterssicherungssystem in Deutschland, den berufsständischen Versorgungswerken, die es für viele Freiberufler gibt, beispielsweise Ärzte und Zahnärzte, Architekten, Steuerberater oder eben Rechtsanwälte, wenn sie denn als freiberufliche Anwälte arbeiten. Bei Anwälten ist die Mitgliedschaft im Versorgungswerk durch die Zulassung als Rechtsanwalt bedingt. Das Versorgungswerk verspricht eine deutlich höhere Rente als die gesetzliche Rentenversicherung und ist daher attraktiv. Unternehmen können damit ihren Syndikus-Anwälten eine gute Altersversorgung anbieten, indem sie die Anwaltszulassung erlauben. Genau das wurde ja auch jetzt zu einem Problem im Gefolge der Entscheidung des Bundessozialgerichts. Aber dem will man durch die Gesetzesänderung jetzt Abhilfe verschaffen. Das ging schnell.

Aber wie immer liegen die Tücken im Detail. Oder sagen wir: In der Logik der Sache. Also mal ganz einfach formuliert: Wenn die Syndikusanwälte, die angestellt sind bei Unternehmen oder Organisationen und von denen auch als Arbeitnehmer bezahlt werden, aus der Gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, weil die Argumentation so geht, dass sie ja wie ein „normaler“ Anwalt vor Gericht tätig werden (können) und man sie deshalb bei der Frage der Zuordnung Gesetzliche Rentenversicherung versus berufsständisches Versorgungswerk den freiberuflich, also selbständig tätigen Anwälten gleichstellt, dann könnte man aus logischen Überlegungen durchaus zu dem naheliegenden Ergebnis kommen, dass das dann aber auch für andere Dinge, die mit der Existenz eines freiberuflich tätigen Anwalts verbunden sind, gilt. Beispielsweise für die Haftungsanforderungen. Und genau auf diesen plausiblen Schluss sind auch noch andere gekommen, was jetzt unmittelbar eine neue Schnappatmung auf Seiten der Syndikusanwälte und der sie vertretenden Verbände geführt hat.

Darüber berichtet Jakob Jahn in seinem Artikel Syndikusanwälte fürchten strenge Haftung. Und er bringt die beeindruckende Pirouette auf den Punkt: »Bislang haben Syndikusanwälte für eine möglichst weitgehende Gleichstellung mit niedergelassen Rechtsberatern gekämpft. Nun wollen sie plötzlich doch keine „richtigen“ Anwälte sein.«

Also man muss genauer sagen: Hinsichtlich der Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme an der plebejischen Rentenversicherung der normalen Arbeitnehmer möchte man mit den niedergelassenen Rechtsanwälten gleichgestellt werden, aber bei den aus diesem Status abgeleiteten Haftungsverpflichtungen möchte man das genaue Gegenteil, dass man also wieder als stinknormaler Arbeitnehmer behandelt wird. Alles klar?

Bei der Anhörung zu den beabsichtigten gesetzgeberischen Veränderungen zugunsten der Syndikusanwälte wurde das „Problem“ (bzw. eigentlich die logische Konsequenz) so vorgetragen:

»Allen voran hatte Solms Wittig, Chefjurist der Linde AG und Präsident des Bundesverbands der Unternehmensjuristen (BUJ), die Abgeordneten gedrängt, einen Syndikusanwalt nicht so streng haften zu lassen wie niedergelassene Anwälte gegenüber ihren Mandanten. „Seine Haftung ergibt sich allein aus dem Anstellungsvertrag“, sagte Wittig. „Der Arbeitgeber als Mandant ist nicht in vergleichbarem Maße schützenswert wie das allgemeine rechtsuchende Publikum.“«

Dazu Jakob Jahn in seinem Artikel folgerichtig und zugleich noch weitere Begünstigungswünsche der Syndikusanwälte aufzeigend:

»Eine bemerkenswerte Argumentation, weil die Syndizi sonst gerade mit der „Einheit der Anwaltschaft“ argumentieren, wenn sie die Befreiung von der Rentenpflicht fordern. Zumal sie am liebsten auch noch die Erlaubnis bekämen, für ihren eigenen Arbeitgeber vor Gericht aufzutreten, und vor einer Beschlagnahme ihrer Akten geschützt wären. Beide Rechte stehen nur externen Kanzleien zu, weil die Politik bloß diese für unabhängig genug hält.«

Auch die Unternehmensverbände trommeln jetzt für die Beibehaltung der Arbeitnehmerhaftung bei den in der Rentenversicherung allerdings wie selbständige Freiberufler zu behandelnden anwaltschaftlichen Mischwesen. Warum, das liegt auf der Hand und man macht auch hier keinen Fehler, wenn man vermutet, dass das irgendwas mit den Kosten zu tun haben könnte.

In dem Artikel von Jahn wird Cord Meyer von der Deutschen Bahn AG zitiert, wonach bei einer unbeschränkten Haftung sich Probleme bei der Gewinnung geeigneter Mitarbeiter abzeichnen. Nach vorsichtigen Schätzungen könne die erforderliche Versicherung 3000 Euro jährlich kosten: „Dies entspräche dann in vielen Fällen bereits einem Netto-Monatseinkommen.“

Hier nur am Rande – eigentlich aber im thematischen Zentrum stehend – sei die Anmerkung erlaubt, dass wir dieses ganze Durcheinander nicht hätten, wenn eines der zunehmend immer stärker an Gewicht gewinnenden Strukturprobleme der Gesetzlichen Rentenversicherung, also ihre Begrenzung auf den „klassischen“ Typus des sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten, durch eine Erweiterung der umlagefinanzierten Rentenversicherung auf alle Erwerbstätige gelöst, zumindest aber deutlich verringert worden wäre. Aber da würden dann ja die Flüchtlinge aus der großen Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Rentenversicherung in das kleine, überschaubare und mit vielen „guten Risiken“ besetzte Kollektiv der berufsständischen Versorgungswerke Abstriche machen müssen an den bislang in diesen Sondersystemen erzielbaren Renten machen müssen.