Das Bundesverfassungsgericht, die Kosten der Unterkunft und Heizung für Hartz IV-Empfänger und wegweisende Aspekte einer neuen Entscheidung

Es gibt Urteile, interessante Urteile – und sehr wichtige Urteile. Das vom Bundesverfassungsgericht sehr wichtige Urteile kommen, kann man irgendwie erwarten. Das tun auch viele Bürger. Entsprechend groß sind die Erwartungen an das BVerfG, dass staatliches (Nicht-)Handeln korrigiert wird – aber es ist gar nicht so selten, dass sich das Gericht diese Rolle verweigert und auf den weiten Ermessensspielraum der Politik oder andere Zuständigkeiten verweist. Als ein Beispiel aus dem sozialpolitischen Bereich sei hier auf die Verweigerungshaltung der Verfassungsrichter hingewiesen, sich mit dem Pflegenotstand zu befassen (vgl. dazu den Beitrag Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vom 19. Februar 2016). In anderen Teilbereichen der Politik hat das hohe Gericht in der Vergangenheit überaus handfest in die praktische Ausgestaltung eingegriffen – man denke nur an die familienpolitischen Entscheidungen in den zurückliegenden Jahren oder die institutionelle „Gestaltung“ der Jobcenter bis hin zum „Hartz IV-Urteil“ des Jahres 2010 (gemeint ist hier BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09). Der wichtigste Leitsatz aus der damaligen Entscheidung lautet: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Nun kann man sicher lange darüber streiten, was denn ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfassen muss – aber unmittelbar einleuchtend ist für die meisten Menschen, dass die Wohnung – im wahrsten Sinne des Wortes „ein Dach über dem Kopf“ – zu den zentralen Bestandteilen eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ gehört.

Aber hier liegt dann konkret eine Menge Zündstoff im gegebenen Hartz IV-Regelwerk – denn die einschlägige Formulierung im § 22 SGB II beginnt im Absatz 1 mit diesem Satz:

»Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.«

Hört sich verständlicher an, als es ist – denn hier wird mit „angemessen“ ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ verwendet, der in der Praxis dann konkretisiert und rechtlich überprüfbar bestimmt werden muss. In Form von konkreten Wohnungsgrößen und Mietkostenhöhen, die „noch“ oder eben „nicht mehr“ als angemessen definiert werden. Und die Festlegung hat ganz handfeste Folgen, wenn man den § 22 SGB II weiterliest:

»Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf so lange anzuerkennen, wie es der oder dem alleinstehenden Leistungsberechtigten oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.«

Eine solche Regelung muss natürlich vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es gerade in den (groß)städtischen Regionen bekanntlich ein erhebliches und zunehmendes Angebots-Nachfrage-Problem gibt im Segment bezahlbaren Wohnraums. Selbst wenn sie wollten, werden viele Hartz IV-Empfänger keinen den oftmals zu niedrigen Angemessenheitswerten entsprechenden Wohnraum finden können. Vgl. dazu am Beispiel von Berlin den Beitrag Wohnen mit Hartz IV? Dann reicht es immer öfter nicht für die Kosten der Unterkunft. Beispielsweise in Berlin aus dem Juli des vergangenen Jahres. Das hat massive (und teure) Konsequenzen. Dazu nur als ein Beispiel der Artikel In Berlin müssen 10.000 Hartz-IV-Familien im Hostel wohnen vom 22. Juli 2017: »Weil es keine Wohnungen gibt, zahlten die Berliner Jobcenter jeden Monat mehr als 11 Millionen Euro für den Hostel-Aufenthalt von Hartz-IV-Empfängern … Die Zahlen sind in den letzten Jahren explodiert!«

»Dezember 2012: In Berlin waren 3.405 Bedarfsgemeinschaften mit durchschnittlich 1,8 Personen übergangsweise einquartiert. Der Vermieter kassierte pro Tag und Person (Alleinerziehende, Paare, Familien) eine Pauschale – pro Monat waren damals insgesamt 2.173.060 Euro fällig.

Dezember 2016: Inzwischen leben 10.212 Bedarfsgemeinschaften in solchen Quartieren und es werden dafür im Monat 11.391.800 Euro fällig.«

»Auch ein Grund: Immer mehr Geflüchtete sind inzwischen anerkannte Asylberechtigte. Sie haben eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und Anspruch auf Hartz IV sowie auf eine Wohnung.« Der Tagessatz variiert, pro Nacht werden mindestens 25 Euro/Person gezahlt, macht also pro Kopf 750 Euro/Monat.

Und dann der Hinweis auf die „angemessenen“ Kosten: »Eine richtige Wohnung wäre billiger, ist aber zu den gegenwärtigen Berliner Richtwerten (AV Wohnen) der erlaubten Miethöhen schwer zu bekommen. So darf etwa ein Ein-Personen-Haushalt nur mit 364,50 Euro (kalt) kalkulieren, drei Personen mit 587,35 Euro/Monat.«

Man kann sich vorstellen, dass Streitigkeiten um die konkrete Auslegung der „Angemessenheit“ mit den Jobcenter-Entscheidungen einen großen Stellenwert in der Praxis haben. Schaut man sich beispielsweise die Zahlen zu den Widersprüchen und Klagen im SGB II-Bereich an, dann kann man für 2016 feststellen, dass insgesamt 647.973 Widersprüche eingelegt wurden – davon entfielen mit mehr als 95.000 fast 15 Prozent aller Widersprüche auf das Sachgebiet „Kosten für Unterkunft und Heizung“. Und bei den Klagen vor den Sozialgerichten – 2016 waren es insgesamt 114.918 – haben sich 17.264 und damit ebenfalls 15 Prozent auf die Unterkunftskosten bezogen (Quelle: Klagen und Widersprüche, Sanktionen bzw. Leistungseinschränkungen im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, Bundestags-Drucksache 18/12193 vom 02.05.2017).

Und in diesem höchst kontroversen Themenfeld hat sich nun das Bundesverfassungsgericht mit einer in mehrfacher Hinsicht überaus bedeutsamen Entscheidung zu Wort gemeldet: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung vorläufiger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung, so ist die Pressemitteilung des BVerfG überschrieben. Die bezieht sich auf BVerfG, Beschluss vom 01. August 2017 – 1 BvR 1910/12. Es geht um einen Streitfall aus dem Jahr 2012, der nunmehr abschließend entschieden worden ist. Zum Sachverhalt:

»Der Beschwerdeführer bezieht Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Das Jobcenter ging davon aus, er lebe mit einer weiteren Person in einer Bedarfsgemeinschaft und bewilligte daher nur reduzierte Leistungen. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht das Jobcenter, dem Beschwerdeführer vorläufig die höheren Leistungen für einen Alleinstehenden einschließlich von Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die dagegen erhobene Beschwerde des Jobcenters war vor dem Landessozialgericht erfolgreich. Solange noch keine Räumungsklage erhoben sei, drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Daher fehle die notwendige Eilbedürftigkeit einer Gewährung höherer Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).«

Man muss sich klar machen, dass dem Betroffenen damals Leistungen vorenthalten wurde, weil das Jobcenter einen Verdacht hatte, keinen Beweis. Es geht bei der abschließenden Entscheidung des BVerfG – fünf Jahre später – konkret um die Frage der Eilbedürftigkeit und die damit verbundenen Folgen für die Sozialgerichtsbarkeit. Die Entscheidung des BVerfG ist eindeutig – und im Sinne des Betroffenen mit seinem Begehr nach einem möglichst effektiven Rechtsschutz, der nicht erst bei einer bereits vorliegenden Räumungsklage ansetzen darf:

»Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob tatsächlich die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Sie können die Eilbedürftigkeit von vorläufigen Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung deshalb nicht nur pauschal darauf beziehen, ob schon eine Räumungsklage erhoben worden ist.«

In der Begründung des Verfassungsgerichts finden wir zwei Argumentationsebenen. Die eine bezieht sich auf den Rechtsschutz im engeren Sinne und bindet die Sozialgerichtsbarkeit:

»Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die Fachgerichte müssen vorläufigen Rechtsschutz gewähren, wenn Antragstellern sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung ihrer Rechte droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Erfolgs in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Entscheidung zurückgestellt werden. Die Fachgerichte dürfen den Anspruch auf Durchsetzung des materiellen Rechts nicht dadurch unzumutbar verkürzen, dass sie Verfahrensrecht übermäßig streng handhaben. Diese Anforderungen gelten auch im sozialrechtlichen Eilrechtsschutz.«

Aber es gibt noch eine weitere Ebene, die hier besonders hervorgehoben werden soll, resultiert doch aus dem folgenden Argumentationsgang die berechtigte Frage nach den Auswirkungen auf andere, noch ausstehende Entscheidungen des BVerfG im Hartz IV-Bereich. Man lese sich die folgenden Ausführungen genau durch:

»Vielmehr müssen die Sozialgerichte in Eilverfahren zu den Kosten der Unterkunft und Heizung prüfen, welche negativen Folgen den Betroffenen im konkreten Einzelfall drohen. Relevante Nachteile sind dabei nicht nur eine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Die Regelung zu den Kosten der Unterkunft und Heizung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichtet zur Übernahme der „angemessenen“ Kosten und soll dazu beitragen, nicht nur die bloße Obdachlosigkeit zu verhindern, sondern darüber hinaus auch das Existenzminimum zu sichern, wozu es gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. Daher muss bei der Prüfung des Anordnungsgrundes berücksichtigt werden, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Beschwerdeführer gehabt hätte.«

Da steckt im wahrsten Sinne des Wortes Musik drin für die Betroffenen – und mit Blick auf ein anderes noch anhängiges Verfahren: Zur Existenzsicherung »gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben.« Und es müsse geprüft werden, »welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Beschwerdeführer gehabt hätte.«

Erkennbar wird, dass das BVerfG die Verknüpfung des zu sichernden Existenzminimums mit der Wohnung in einem weiten Sinne versteht und auslegt und eben nicht reduziert auf ein „Irgendwie-Dach über dem Kopf“. Wenn das aber unauflösbar verknüpft ist mit dem zu sichernden Existenzminimum, dann muss das auch Auswirkungen haben auf ein anderes Verfahren, über das die Verfassungsrichter noch in diesem Jahr entscheiden wollen (werden müssen): Gemeint ist die erneute (und im zweiten Anlauf auch angenommene) Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha hinsichtlich einer (möglichen) Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im Hartz IV-System. Vgl. dazu den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016.

Die Relevanz der aktuellen Entscheidung des BVerfG für dieses Thema ist mehr als offensichtlich, denn von den Sanktionen sind eben auch die Kosten für Unterkunft und Heizung betroffen – bis hin zur produzierten Obdachlosigkeit, wenn wir an die „100-Prozent-Sanktionen“ denken – vgl. generell den Beitrag Sanktionen und Mehrfachsanktionen gegen das Existenzminimum der Menschen in der Willkürzone und der Hinweis auf ein (eigentlich) unverfügbares Grundrecht vom 3. November 2016 und zu den „Vollsanktionierten“ den Beitrag Sanktionen im Hartz IV-System in Zahlen und vor Gericht vom 15. April 2016.

Wir dürfen sehr gespannt sein, was das für die anstehenden Grundsatzentscheidung zu den Sanktionen bedeutet und wie das in die Entscheidungsfindung einfließen wird.

Hartz IV-Sanktionen: Sub-Existenzen im Nirwana zwischen Minimum und Nichts, konfrontiert mit einer sehr heterogenen Jobcenter-Welt

Das höchst brisante Thema Sanktionen im Hartz IV-System ist in diesem Blog in vielen Beiträgen behandelt worden. Die Sanktionen im Grundsicherungssystem werden in diesem Jahr hinsichtlich der behaupteten Verfassungswidrigkeit vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüft. Das Verfahren ist bereits angelaufen. Immer wieder stellen Beobachter der Diskussion die nur scheinbar simple Frage, wie es denn sein kann, dass ein „Existenzminimum“ noch weiter eingedampft werden kann. Das ist eine richtige und wichtige Frage und wir dürfen gespannt sein, was das oberste Gericht unseres Landes zu dieser Frage sagen wird.

mehr

Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte

Das Bundessozialgericht (BSG) hat über diese Entscheidung informiert: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt und der Begründung des BSG kann man dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren entnehmen:
»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R).
Streitpunkt war § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dieser sieht die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt.

Der Asylantrag des Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert.«

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Nun werden viele Menschen mit Blick auf den konkreten Sachverhalt des bereits im Jahr 2002 nach Deutschland gekommenen abgelehnten Asylbewerbers und seine Weigerung, durch aktive Beeilung an der Identitätsklärung an seiner dann realisierbaren Abschiebung mitzuwirken, aus dem Bauch heraus Zustimmung äußern – es kann doch nicht angehen, sich wie in diesem Fall jahrelang an der Nase herumführen zu lassen. Das ist durchaus verständlich.

Auf der anderen Seite öffnet sich hier und mit der Entscheidung des BSG ein Strauß an nicht trivialen sozialpolitischen Grundsatzfragen, die auch ganz anderen Bereiche und Menschen betreffen könnten.

In dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren wird Matthias Lehnert, Rechtsanwalt bei einer Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Berlin, zitiert:

„Die Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetz ist heiß umstritten. Denn bereits 2012 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylbewerbern auch Leistungen zum Erhalt eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen.“

Und weiter:

»Er hofft, dass die BSG-Entscheidung … vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. In Karlsruhe sei eindeutig entschieden worden, dass Asylbewerberleistungen im Wesentlichen nicht von solchen abweichen dürfen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII gezahlt werden – und zwar bedingungslos. „Dazu gehört auch ein Anteil für die Teilhabe am sozialen Leben. Den Erhalt der vollen Leistung an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, wie es nun das Bundessozialgericht getan hat, halte ich nicht für gangbar“, sagt Lehnert.«

Er spricht hier die Entscheidung des BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 an. Darin wurde festgestellt, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend war, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. In den Leitsätzen des Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und in der Entscheidung findet man diesen Passus: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Christian Rath versucht in seinem Kommentar zur BSG-Entscheidung unter der Überschrift Zulässiges Druckmittel eine Differenzierung: »Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht unterscheiden: Es ist unzulässig, das Existenzminimum zu verweigern, wenn dies nur der Abschreckung von anderen dient. Dagegen dürfte die Kürzung als Sanktion im konkreten Fall zulässig sein, wenn der Betroffene sie durch Beachtung seiner gesetzlichen Pflichten jederzeit abwenden kann. Und natürlich macht es auch einen Unterschied, wenn der Betroffene ohne Gefahr in seine Heimat zurückkehren könnte. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist deshalb im Ergebnis richtig.« Und er schiebt eine politische Einschätzung hinterher: »Der völlige Verzicht auf Abschiebungen ist keine … Alternative. Er mag zwar in einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung populär sein, würde aber bald dazu führen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ganz in Frage gestellt wird.«

Aber zurück zu der Frage, wo und warum das Urteil ausstrahlen könnte in andere sozialpolitische Bereiche: Das Bundessozialgericht stellt in seiner neuen Entscheidung darauf ab, dass es um eine aus seiner Sicht erreichbare Verhaltensänderung geht, mit der man die Sanktion wieder auflösen kann, also durch Mitwirkung, die bislang verweigert worden ist. In den Worten des BSG: »Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann.«

Und an dieser Stelle wird eine verfassungsrechtliche Fragestellung aufgeworfen, die möglicherweise auch ausstrahlen könnte in andere strittige Bereiche aus der Welt der Grundsicherung, beispielsweise das in Karlsruhe anhängige Verfahren gegen die Sanktionen im SGB II. Dies betrifft vor allem die vom BSG herausgestellte Begründung, die „Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne“, zu knüpfen. Denkbare Analogien zur ausstehenden Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der im erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 02.08.2016 zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im SGB II liegen auf der Hand (vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).

Bedenkenswert ist in diesem Kontext die vom BSG hervorgehobene Formulierung: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen.« Auch bei den Sanktionen im SGB II geht es um „Mitwirkungspflichten“, beispielsweise Termine im Jobcenter einzuhalten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden, die – so die vergleichbare Logik des BSG – durch das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst werden können. Möglicherweise wird das auch im BVerfG-Verfahren eine Rolle spielen.

Nicht, dass das auch zwingend ist, aber man sollte das auf dem Schirm haben.

Man könnte natürlich mit Blick auf die neue Entscheidung des BSG und mit Blick auf das Sanktionsverfahren beim BVerfG auch die Ableitung wagen, dass dann aber zumindest die „Vollsanktionierten“ im SGB II, denen also 100 Prozent gekürzt werden, darauf hoffen dürfen, das ihnen dann auch wenigstens das „unabweisbar Gebotene“ gewährt werden muss. Denn warum sollten die schlechter behandelt werden als ein seit vielen Jahren abgelehnter Asylbewerber? Man sieht, es öffnet sich ein großer Raum der offenen Fragen. Aber es gibt ja die Hoffnung, dass das BVerfG im Laufe dieses Jahres zu einer Entscheidung kommen wird. Dann werden wir weitersehen.

Foto: © Stefan Sell