Das höchst brisante Thema Sanktionen im Hartz IV-System ist in diesem Blog in vielen Beiträgen behandelt worden. Die Sanktionen im Grundsicherungssystem werden in diesem Jahr hinsichtlich der behaupteten Verfassungswidrigkeit vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüft. Das Verfahren ist bereits angelaufen. Immer wieder stellen Beobachter der Diskussion die nur scheinbar simple Frage, wie es denn sein kann, dass ein „Existenzminimum“ noch weiter eingedampft werden kann. Das ist eine richtige und wichtige Frage und wir dürfen gespannt sein, was das oberste Gericht unseres Landes zu dieser Frage sagen wird.
Sanktionen
Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte
Das Bundessozialgericht (BSG) hat über diese Entscheidung informiert: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben.
Zum Sachverhalt und der Begründung des BSG kann man dem Artikel Ausländer muss bei Abschiebung kooperieren entnehmen:
»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R).
Streitpunkt war § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dieser sieht die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt.
Der Asylantrag des Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert.«
Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:
»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.
Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«
Nun werden viele Menschen mit Blick auf den konkreten Sachverhalt des bereits im Jahr 2002 nach Deutschland gekommenen abgelehnten Asylbewerbers und seine Weigerung, durch aktive Beeilung an der Identitätsklärung an seiner dann realisierbaren Abschiebung mitzuwirken, aus dem Bauch heraus Zustimmung äußern – es kann doch nicht angehen, sich wie in diesem Fall jahrelang an der Nase herumführen zu lassen. Das ist durchaus verständlich.
Auf der anderen Seite öffnet sich hier und mit der Entscheidung des BSG ein Strauß an nicht trivialen sozialpolitischen Grundsatzfragen, die auch ganz anderen Bereiche und Menschen betreffen könnten.
In dem Artikel Ausländer muss bei Abschiebung kooperieren wird Matthias Lehnert, Rechtsanwalt bei einer Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Berlin, zitiert:
„Die Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetz ist heiß umstritten. Denn bereits 2012 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylbewerbern auch Leistungen zum Erhalt eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen.“
Und weiter:
»Er hofft, dass die BSG-Entscheidung … vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. In Karlsruhe sei eindeutig entschieden worden, dass Asylbewerberleistungen im Wesentlichen nicht von solchen abweichen dürfen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII gezahlt werden – und zwar bedingungslos. „Dazu gehört auch ein Anteil für die Teilhabe am sozialen Leben. Den Erhalt der vollen Leistung an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, wie es nun das Bundessozialgericht getan hat, halte ich nicht für gangbar“, sagt Lehnert.«
Er spricht hier die Entscheidung des BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 an. Darin wurde festgestellt, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend war, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. In den Leitsätzen des Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese Ausführungen:
»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«
Und in der Entscheidung findet man diesen Passus: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«
Christian Rath versucht in seinem Kommentar zur BSG-Entscheidung unter der Überschrift Zulässiges Druckmittel eine Differenzierung: »Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht unterscheiden: Es ist unzulässig, das Existenzminimum zu verweigern, wenn dies nur der Abschreckung von anderen dient. Dagegen dürfte die Kürzung als Sanktion im konkreten Fall zulässig sein, wenn der Betroffene sie durch Beachtung seiner gesetzlichen Pflichten jederzeit abwenden kann. Und natürlich macht es auch einen Unterschied, wenn der Betroffene ohne Gefahr in seine Heimat zurückkehren könnte. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist deshalb im Ergebnis richtig.« Und er schiebt eine politische Einschätzung hinterher: »Der völlige Verzicht auf Abschiebungen ist keine … Alternative. Er mag zwar in einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung populär sein, würde aber bald dazu führen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ganz in Frage gestellt wird.«
Aber zurück zu der Frage, wo und warum das Urteil ausstrahlen könnte in andere sozialpolitische Bereiche: Das Bundessozialgericht stellt in seiner neuen Entscheidung darauf ab, dass es um eine aus seiner Sicht erreichbare Verhaltensänderung geht, mit der man die Sanktion wieder auflösen kann, also durch Mitwirkung, die bislang verweigert worden ist. In den Worten des BSG: »Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann.«
Und an dieser Stelle wird eine verfassungsrechtliche Fragestellung aufgeworfen, die möglicherweise auch ausstrahlen könnte in andere strittige Bereiche aus der Welt der Grundsicherung, beispielsweise das in Karlsruhe anhängige Verfahren gegen die Sanktionen im SGB II. Dies betrifft vor allem die vom BSG herausgestellte Begründung, die „Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne“, zu knüpfen. Denkbare Analogien zur ausstehenden Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der im erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 02.08.2016 zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im SGB II liegen auf der Hand (vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).
Bedenkenswert ist in diesem Kontext die vom BSG hervorgehobene Formulierung: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen.« Auch bei den Sanktionen im SGB II geht es um „Mitwirkungspflichten“, beispielsweise Termine im Jobcenter einzuhalten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden, die – so die vergleichbare Logik des BSG – durch das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst werden können. Möglicherweise wird das auch im BVerfG-Verfahren eine Rolle spielen.
Nicht, dass das auch zwingend ist, aber man sollte das auf dem Schirm haben.
Man könnte natürlich mit Blick auf die neue Entscheidung des BSG und mit Blick auf das Sanktionsverfahren beim BVerfG auch die Ableitung wagen, dass dann aber zumindest die „Vollsanktionierten“ im SGB II, denen also 100 Prozent gekürzt werden, darauf hoffen dürfen, das ihnen dann auch wenigstens das „unabweisbar Gebotene“ gewährt werden muss. Denn warum sollten die schlechter behandelt werden als ein seit vielen Jahren abgelehnter Asylbewerber? Man sieht, es öffnet sich ein großer Raum der offenen Fragen. Aber es gibt ja die Hoffnung, dass das BVerfG im Laufe dieses Jahres zu einer Entscheidung kommen wird. Dann werden wir weitersehen.
Foto: © Stefan Sell
Fälle, Bestandszahlen, Köpfe und Jobcenter. Also wieder einmal das Thema Sanktionen. Und die Statistik
Immer diese Zahlen. Man kann ja auch verdammt schnell durcheinander kommen. Aber knackige Überschriften verkaufen sich natürlich gut, sie lenken die knappe Ressource Aufmerksamkeit auf die Nachricht, die sowieso mal wieder vergessen sein wird. Nehmen wir das hier als Beispiel: Jobcenter bestrafen wieder mehr Hartz-IV-Empfänger. Und der aufmerksam gemachte Leser erfährt dann recht eindeutig: »Das Jobcenter hat 2016 wieder mehr Hartz-IV-Empfänger bestraft: Rund 135.000 von ihnen wurde das Existenzminimum gekürzt.«
Nun wird schon an dieser Stelle der eine oder andere stutzen und sich fragen – gab es da nicht mal ganz andere Zahlen? Wurde nicht von fast einer Million Sanktionen gesprochen, was natürlich ein erheblicher Unterschied wäre?
Man muss den Artikel einfach weiterlesen, dann stößt man auf diese – sachlich korrekte – Formulierung im Text: »Im Schnitt waren 2016 monatlich 134.390 Menschen von Leistungskürzungen betroffen.« Es geht also, anders als am Anfang in den Raum gestellt, um eine Monatszahl und eben nicht um eine Jahreszahl. Die lag nämlich 2016 bei 945.362, also fast eine Million, neu verhängter Sanktionen. Wobei man nun nicht davon ausgehen darf, dass es sich um 945.362 Hartz IV-Empfänger handelt, denn einer von denen kann durchaus von mehreren Sanktionen betroffen sein, Fälle sind eben nicht immer gleich Köpfe.
Und der Blick auf die Zahlen, die aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf Fragen der Bundestagsabgeordneten Katja Kipping von den Linken stammen, fördert einen differenzierten Blick zu Tage: Tatsächlich angestiegen ist die Zahl der durchschnittlich in einem Monat des vergangenen Jahres mit mindestens einer Sanktion belegten Hartz IV-Empfänger, um +2,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Gleichzeitig zeigen die Zahlen aber auch, dass die neu verhängten Sanktionen um 3,4 Prozent zurückgegangen sind.
Ob die Jobcenter nun wirklich wieder „mehr bestrafen“, kann man letztendlich nur beantworten, wenn man die Grundgesamtheit der zu bildenden Sanktionsquote berücksichtigt, also die erwerbsfähigen und damit grundsätzlich sanktionierbaren Zahl der Hartz IV-Emfänger insgesamt. Wenn die deutlich stärker zurückgegangen ist als die Zahl der neu verhängten Sanktionen, dann wird aus dem „mehr“ ein „weniger“.
Die aufmerksamen Leser dieses Blogs werden sich möglicherweise erinnern – war da nicht mal was zu diesem Thema vor gar nicht so langer Zeit? Genau, da war das hier: Die Jobcenter werden „weicher“ und sanktionieren Hartz IV-Empfänger weniger. Ein Fall für die kritische Statistik vom 16. Oktober 2016. Damals ging es – übrigens mit Bezug auf die etwas voreilig interpretierten Sanktionszahlen des ersten Halbjahres 2016 um eine genau anders gelagerte These:
»Weniger Strafen gegen Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen, so konnte man das mit den gewohnt großen Buchstaben in der BILD-Zeitung lesen. Die FAZ hat sich sogar zu dieser Überschrift hinreißen lassen: Deutlich weniger Strafen für Hartz-IV-Empfänger: »Die Zahl der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger ist auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gefallen. Das soll auch am sanfteren Durchgreifen der Jobcenter liegen.« Mit Blick auf den letzten Punkt ist mein absoluter Favorit diese Überschrift: Die Jobcenter werden weicher.«
Tatsächlich war es genau nicht so, denn ein detaillierter Blick auf die Daten hat zeigen können: Die Zahlen über eine rückläufige Zahl der neu verhängten Sanktionen waren nicht etwa falsch, die stimmen schon. Aber neben der Grundlagenweisheit, dass man nur dann von „deutlich weniger“ bei den Sanktionen sprechen kann, wenn die Nennergröße gleich geblieben ist, nicht aber, wenn parallel die Zahl der tatsächlich oder potenziell sanktionierbaren Hartz IV-Empfänger zurückgegangen ist und das in einem stärkeren Maße als die Verringerung bei den Absolutzahlen die Sanktionen betreffend, muss man bedenken, dass die Sanktionen einmal neu verhängt werden, dann aber oft eine dreimonatige Laufzeit haben, in denen der Betroffene sanktioniert wird. Und drei Monate in der Bestandsstatistik auftauchen (können). In dem damaligen Beitrag wurde Paul. M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) zitiert, der herausgefunden hat: »Der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, deren Leistungsanspruch durch eine Sanktion gekürzt wurde, war in jedem der ersten sechs Monate des Jahres 2016 größer als in den entsprechenden Monaten des Vorjahres.«
Was einen sozialpolitisch besonders umtreiben sollte – ausweislich der Daten (dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags) waren jeden Monat im vergangenen Jahr durchschnittlich 44.383 Hartz IV-Empfänger sanktioniert, in deren Haushalt ein oder mehrere Kinder leben. Vgl. dazu auch ausführlicher den Beitrag Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen vom 14. November 2016.
Aber abschließend, weil wir es hier vor allem mit de Zahlen zu tun haben, der Hinweis auf eine weitere statistische Nahtoderfahrung, von der der bereits erwähnte Paul M. Schröder berichtet: Er ist auf diesen Artikel gestoßen: Eine Entwarnung, die keine ist. Darin geht es um die neuesten Vorhersagen der demografischen Entwicklung, die von weniger dramatischen Auswirkungen auf die Bevölkerungszahl in Deutschland sprechen als bislang. Und in dem Artikel stößt man dann auf diese Formulierung: Der Altenquotient »meint das Verhältnis von Menschen im Rentenalter zur Population im erwerbsfähigen Alter. 2015 lag dieser Wert bei 34 Prozent. Nach verschiedenen Modellrechnungen könnte der Altenquotient im Jahr 2035 bei 45 bis 47 Prozent liegen. Auf jeden Erwerbsfähigen käme dann ein Rentner.«
Hier nun zuckt nicht nur Paul M. Schröder zusammen. Er schreibt in seinem Beitrag Weser-Kurier: „Altenquotient bis 47 Prozent“ und „auf jeden Erwerbsfähigen ein Rentner“?: Der genannte Altenquotient von „45 bis 47 Prozent“ ist schon richtig, wenn man die Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Variante 2) zugrundelegt: »14 Millionen unter 20 Jahre, 45 Millionen zwischen 20 Jahre und gesetzlicher Altersgrenze (67 Jahre) und 21 Millionen im gesetzlichen Rentenalter. Der im Weser-Kurier genannte Altenquotient ergibt sich aus dem Verhältnis von 21 Millionen Menschen im gesetzlichen Rentenalter und 45 Millionen im sogenannten erwerbsfähigen Alter von 20 Jahren bis zur gesetzlichen Altersgrenze.«
Allerdings stellt sich hier die Frage: Wei kommt bei 45 Millionen Menschen im „erwerbsfähigen Alter“ und 21 Millionen Menschen im gesetzlichen Rentenalter „auf jeden Erwerbsfähigen … ein Rentner“, wie das im Artikel des Weser-Kurier behauptet wird? Das ist natürlich Unsinn.
Paul M. Schröder hat dann die Zeitung am 6. und 7. Februar die Zeitung gebeten, diesen offensichtlichen Unsinn zu korrigieren. Am 8. Februar bekam Schröder eine Mail von der Zeitung: „Sie haben natürlich völlig recht, das „1:1-Ergebnis“ ist ja angesichts der genannten Werte unlogisch. Das ist leider am Ende einer etwas hektischen Produktionszeit am Sonntagabend passiert.“
Kann ja mal passieren, in der Hektik, keine Frage. Aber: Eine Korrektur erfolgte nicht, auch nicht in der Online-Ausgabe der Zeitung. Und tatsächlich, der Artikel mit der offensichtlichen Unsinnsrelation wurde heute, am 16. Februar 2017, aufgerufen. Keine Änderung, alles so, wie zitiert und kritisiert.
Und da sind wir bei einem echten Problem eines Teils der Medien: Fehler werden nicht (mehr) korrigiert, selbst wenn sie angesprochen werden. Man sitzt das einfach aus. Auch ein Beispiel für die zahlreichen Qualitätsprobleme, mit denen man so konfrontiert wird. Gerade wenn man viel mit Zahlen arbeitet, dann weiß man, wie schnell einem ein Fehler unterlaufen kann. Alles kein Problem, wenn man das dann wieder korrigiert und auch offensiv vertritt, das man sich vertan hat. Gerade dann, wenn e sich nicht um irgendwelche Zahlen wie die der Schafe in Deutschland handelt, sondern aus den genannten Daten sozialpolitische Schlussfolgerungen abgeleitet werden oder man diese Ableitung machen könnte.
Diesseits und jenseits der schwarzen Pädagogik: Eine Studie zu den Wirkungen von Sanktionen auf junge Hartz IV-Empfänger – und ihre „Nebenwirkungen“
Oftmals kann man schon an den Überschriften von Artikeln erkennen, dass wir es mit einem höchst kontroversen Thema zu tun haben: Kürzung von Hartz IV führt Bezieher schneller in den Job, behauptet der eine. Strafen wirken, so apodiktisch hat Sven Astheimer seinen Kommentar zu der Angelegenheit betitelt. Und dann kommt so ein Beitrag dazu: Forscher empfehlen Reform der Hartz-IV-Sanktionen. Und alle berichten über ein und dieselbe Sache: Eine neue Studie aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Gerard J. van den Berg, Arne Uhlendorff und Joachim Wolff haben sich mit den Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher beschäftigt und bilanzieren bereits in der Überschrift: Schnellere Arbeitsaufnahme, aber auch Nebenwirkungen. Die Studie untersucht die Wirkungen erster und wiederholter Sanktionen auf unter- 25-jährige Männer in Westdeutschland.
Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen
Der Hartz IV-Satz ist nun wirklich knapp bemessen. Nicht nur, aber vor allem das, was man den Kindern zugesteht, ist nach Auffassung vieler Experten deutlich zu niedrig dimensioniert. Für ein Kind bis zum 6. Lebensjahr stehen pro Tag knapp 8 Euro zur Verfügung, mit der neben den separaten angemessenen Kosten der Unterkunft alle Ausgaben für das Kind abgedeckt werden müssen. Und die Kinder leiden auch unter den Sanktionen, die gegen einen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten verhängt werden, weil sie mit ihm in einem Haushalt leben. Auf der Grundlage einer Sonderauswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit hat sich O-Ton Arbeitsmarkt einmal genauer das Sanktionsgeschehen angeschaut, von dem Familien mit Kindern betroffen sind. Hartz-IV-Sanktionen machen auch vor Kindern nicht Halt, so ist der entsprechende Bericht über die Ergebnisse der Datenauswertung überschrieben: »43.000 Hartz-IV-Empfängern mit Kindern haben die Jobcenter 2015 im Monatsdurchschnitt die Leistungen gekürzt, darunter 14.000 Alleinerziehende. 2.600 Betroffene mit Kindern wurden voll sanktioniert.«