Private Krankenversicherung: Auch hier träumt man von Selektivverträgen. Und hundertausende Versicherte erleben derzeit einen Albtraum

In dem Beitrag Vom „Wildwuchs“ und Qualitäts-„Wüsten“ ambulanter Leistungen in Krankenhäusern über eine „Vereinheitlichung“ der fachärztlich-ambulanten Versorgung hin zu den eigentlichen Interessen der Krankenkassen vom 02.03.2016 wurde bereits am Beispiel des neuen Krankenhausreports 2016 und den dort besonders herausgestellten ambulanten Leistungen, die in Kliniken erbracht werden, aufgezeigt, dass die Krankenkassen immer wieder versuchen, den von ihnen angestrebten Ausbruch aus dem kollektivvertraglichen Gehäuse und die Ermöglichung von Selektivverträgen über das heute schon vorhandene Ausmaß voranzutreiben und die gesundheitspolitische Diskussion in diese Richtung zu beeinflussen. Ihr strategisches Interesse daran liegt auf der Hand: Im Gegensatz zum Kollektivvertrag  schließt der einzelne Leistungserbringer beim Selektivvertrag einen Versorgungsvertrag direkt mit einer Krankenkasse ab, die dadurch natürlich ganz andere Freiheitsgrade hinsichtlich einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Vergütung und anderer Parameter der Versorgungslandschaft an die Hand bekommt. Der „Zuckerbrot und Peitsche“-Modus lässt sich in so einem System überhaupt erst anwenden, in kollektivvertraglichen Systemen sind die Steuerungsmöglichkeiten der Kassen deutlich begrenzter, teilweise gar nicht vorhanden.

Aber nicht nur die Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung haben Selektivverträge auf dem Wunschzettel, auch die Private Krankenversicherung (PKV) würde gerne wollen dürfen. Und das wäre aus der Sicht der privaten Krankenversicherungsunternehmen noch dringlicher als in der GKV, denn die PKV hat so gut wie überhaupt keine wirksamen Steuerungsinstrumente gegenüber den Leistungserbringern und einige von ihnen benutzen sie als Melkkuh im Versorgungsalltag.

Unter der Überschrift Kooperation für mehr Marktmacht berichtet die „Ärzte Zeitung“ in diesem Kontext passend: »Vier PKV-Unternehmen gründen ein Joint Venture, um sich selektivvertraglich besser aufzustellen.« Dabei handelt es sich um die Unternehmen Barmenia, Gothaer, Hallesche und Signal, die ihre Kräfte im Bereich des Leistungsmanagements und im Einkauf bündeln wollen. Dazu haben sie ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, Arbeitstitel: „Leistungsmanagement Plus“. Schaut man sich die Positionierung dieser vier privaten Krankenversicherer im Ranking der Marktanteile an, so kann man der Abbildung entnehmen, dass sie alle zusammen auf etwas mehr als 15 Prozent Marktanteil kommen. Dieser Wert ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil er keine marktbeherrschende Stellung zur Folge hat, so dass einer kartellrechtlichen Genehmigung kaum etwas im Wege stehen wird.

Der Hintergrund für diesen Vorstoß ist das Grundproblem der viel zu geringen Größe der meisten privaten Krankenversicherer:

»Verträge mit ihnen würden bei Ärzten und Kliniken nur eine Minderheit der Patienten erfassen. Mit ihrem Gemeinschaftsunternehmen wollen Barmenia, Gothaer, Hallesche und Signal durch die Bündelung der Nachfrage für mehr Schlagkraft sorgen. Gemeinsam können sie bessere Konditionen für ihre Kunden aushandeln. Und: Über Selektivvereinbarungen könnten sie auch Vergütung und Qualität beeinflussen.«

Da sind sie also wieder, die Selektivverträge. Darüber hinaus sprechen klassische betriebswirtschaftliche Argumente für diesen Ansatz: »Die vier PKV-Unternehmen wollen wohl auch im Einkauf kooperieren, um von Skaleneffekten zu profitieren. So kann es sinnvoll sein, für Hilfsmittel wie Rollstühle oder Hörgeräte mit Anbietern Verträge zu schließen.«
Nun ist das erst einmal eine überschaubare Gruppe auf dem Markt der privaten Krankenversicherungen. »Ursprünglich wollten sie möglichst viele Anbieter ins Boot holen. Jetzt machen zunächst einmal die vier Unternehmen den Anfang, die alle als Versicherungsvereine organisiert sind.« Wobei sich das möglicherweise als Kern einer deutlich größeren Nummer herausstellen wird.

Viele Menschen, die in der PKV versichert sind, haben derzeit auch einen Traum – allerdings eher einen Albtraum. Und zwar auf der Beitragsseite, also bei dem Geld, das sie an die Versicherungen zahlen müssen. »Bis zu 130 Euro mehr müssen Privatversicherte ab April in der DKV bezahlen. Pro Monat. Der SPD-Experte Karl Lauterbach sieht das als Fanal für die gesamte Branche«, so Rainer Woratschka in seinem Artikel DKV-Beiträge steigen um bis zu 130 Euro im Monat.

»Beitragsschock für Hunderttausende von privat Versicherten: Bei der DKV, Deutschlands zweitgrößtem privaten Krankenversicherer, steigen die Tarife zum April teilweise um bis zu 130 Euro im Monat. Und ohne den Einsatz von knapp einer halben Milliarde Euro aus Rückstellungen wäre der Beitragsanstieg sogar noch höher ausgefallen. Über alle Tarife erhöhten sich die Beiträge um 7,8 Prozent … Betroffen seien 59,2 Prozent der rund 880 000 Vollversicherten. Man habe die Steigerungen auf 129,90 Euro im Monat begrenzt. Für 65-Jährige sei ein Limit von 79,90 Euro gezogen worden.«

Seitens der DKV wird vor allem auf die Aufgabenseite und dabei auf den Krankenhausbereich verwiesen. Der Anteil der Hochkostenfälle habe sich „vervielfacht“.

Die fundamentalen Faktoren, die hinter dieser Entwicklung wirken, betreffen nicht nur die DKV, sondern die ganze Branche:

  • Ihr Neugeschäft bricht ein, 
  • die Niedrigzinsphase schmälere zunehmend auch die langfristigen Geldanlagen der Versicherer 
  • und die Kostendynamik sei „nach wie vor ungebrochen“. 
  • Hinzu kommt, dass die Privatversicherten länger leben und seltener in die GKV zurückwechseln (was die Politik in den vergangenen Jahren auch bewusst erschwert bis verunmöglicht hat).
  • Hinzu kommt die Senkung des Rechnungszinses, weshalb die Versicherten mehr Geld für die Alterungsrückstellung aufbringen müssten.

Und auch vor diesem Hintergrund sollte man sich nicht in falscher Sicherheit wiegen, wenn man bei einem der anderen Unternehmen versichert ist. Dazu Rainer Woratschka in seinem Artikel:

„Wo’s bisher nicht geknallt hat, knallt es noch“, sagt der Versicherungsberater Christhart Kratzenstein vom Onlineportal Expertennetzwerk24. Bei anderen Anbietern sei die Situation „definitiv nicht besser“, für alle privat Versicherten werde es spürbar teurer.

Für die Privatversicherten wird die PKV jetzt zunehmend zu einem echten Risiko. Für alle? Nein, vor allem bezieht sich diese Aussage auf die privat Vollversicherten. Da gibt es aber noch eine andere Säule des PKV-Geschäfts. Die Beamten.

»Gut bezahlbar sei die private Absicherung nur noch für Beamte … – und das liege auch nur daran, dass ihnen der Steuerzahler über die Beihilfe einen Großteil der Kosten abnehme.«

Es wird doch schon seit Jahren immer deutlicher, dass dieses auch im internationalen Vergleich mehr als begründungsbedürftige Zwei-Klassen-System nicht nur auf den Prüfstand gehört, sondern es müsste endlich eine ordnungspolitische Bereinigung erfolgen, wie sie übrigens schon vor vielen Jahren von Ländern, die mal so ein Spaltung hatten, vorgenommen worden ist. Auch wenn an einer solchen Stelle viele Akteure natürlich Amok laufen: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, der von Jahr zu Jahr an Dramatik zunehmen wird.

Krankheit und ihre Kosten. Und wo Gewinner sind, müssen Verlierer sein. Krebspatienten und die PKV als „Lohnnebenkostensenker“

Diagnose: Krebs. Das ist für jeden ein großer Schock. Für die Betroffenen ist es dann wichtig, dass sie sich darauf konzentrieren können, wieder gesund zu werden – wenn sie denn überhaupt eine Chance haben. Die Krankheit hat für viele Patienten aber auch finanziell erhebliche Konsequenzen.
Darüber berichtet dieser Beitrag: Armutsrisiko Krankheit.

Wie schnell man abstürzen kann, vermittelt dieses Beispiel aus dem Beitrag:

»Frühjahr 2015: Ein Mann, Mitte 30, geht nach gesundheitlichen Beschwerden zum Arzt. Er hat drei Kinder und ist zu diesem Zeitpunkt der Hauptverdiener in seiner Familie. Im Monat verdient er etwa 2.600 Euro. Dann erhält er die Diagnose – er hat Krebs. Weil der Vater deshalb länger nicht arbeiten kann, bekommt er zunächst Krankengeld, also etwa zwei Drittel seines Einkommens. Eigentlich kann man dieses Krankengeld bis zu anderthalb Jahre lang bekommen. Aber in der Praxis sieht das anders aus, erklärt der Leiter des Sozialdienstes am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg, Jürgen Walther.
„Theoretisch ja, aber faktisch ist das nicht so. Wenn sich vorher bestätigt, dass die Erwerbsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, dann kann die Krankenkasse dafür sorgen, dass dieser Mensch aus dem Krankengeld in die Erwerbsminderungsrente geht. Und wenn jemand ein normales durchschnittliches Einkommen hatte, dann ist diese Belastung oftmals extrem hoch.“ Auch bei dem mehrfachen Vater meldet sich die Krankenkasse und stellt fest – er soll in Zukunft Erwerbsminderungsrente erhalten. Das bedeutet für ihn etwas mehr als 1.000 Euro im Monat.«

Das ist leider kein Einzelfall: »Im Jahr 2014 sind rund 20.000 Krebskranke in die Erwerbsminderungsrente gerutscht. Die lag dort durchschnittlich unter der Armutsgrenze, also bei weniger als 980 Euro im Monat.«

Das hat Folgen, an die viele Gesunde gar nicht denken: »Diese Belastung kann die Gesundheit der Betroffenen zusätzlich schwächen. Manche finden ihre wirtschaftliche Situation sogar belastender als ihre Krankheit. Sie können ihre Kinder nicht mehr gut versorgen, geben ihre Karriere auf und können es sich nicht mehr leisten, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Manche haben auch Probleme, die Anfahrt zur Therapie alleine zu bezahlen.«

Wie so oft in der sozialpolitischen Praxis wissen wir noch viel zu wenig: »Noch gibt es keine belastbaren Daten darüber, wie hoch das Armutsrisiko von Tumorpatienten allgemein ist. Eine erste Studie mit 65 Krebskranken hat aber gezeigt, dass ein Drittel von ihnen unter finanzieller Not leiden.« Größere Studien sind geplant.

Die Praktiker aus der Sozialberatung haben schon mal zwei konkrete Verbesserungsvorschläge:

1. Auf der einen Seite ein verlässlicher längerer Anspruch auf Krankengeld.
2. Auf der anderen Seite ein Anheben des Erwerbsminderungsrentenniveaus, das ist ein klassisches Armutsrisiko. Denn dieses Niveau ist in den vergangenen Jahren erheblich gesunken.

Im Jahr 2014 bezogen branchenübergreifend in Deutschland ca. 1,7 Mio. Personen eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente. Über 170.000 Arbeitnehmer müssen jedes Jahr aus gesundheitlichen Gründen ihren Job vor Erreichen des Rentenalters aufgeben und sind dann auf die Erwerbsminderungsrente angewiesen. Aber ist bei dieser Leistung mit dem Rentenpaket 2014 der Bundesregierung nicht alles besser geworden? Bei den Erwerbsminderungsrenten (die sich in den vergangenen Jahren besonders schlecht entwickelt haben und ein Ticket in die Altersarmut darstellen, wenn man nicht auf maßgebliche andere Einkommensquellen zurückgreifen kann: vgl. hierzu ausführlicher die Analyse von Johannes Steffen: Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug. Ursachen und Handlungsoptionen, Bremen, Mai 2013) hat man an zwei Stellschrauben graduelle Verbesserungen vorgenommen:

1.) Die sogenannte Zurechnungszeit wurde von 60 auf 62 Jahre angehoben. Die Rente wird dann so berechnet, als ob Erwerbsgeminderte bis zum 62. Lebensjahr Beiträge bezahlt hätten (und nicht wie bislang unterstellt bis 60). Das erhöht die Durchschnittsrente um etwa 40 Euro monatlich – laut Rentenversicherung beträgt die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente rund 700 Euro.

2.) Für die Höhe der Erwerbsminderungsrente ist auch entscheidend, wie der Verdienst ermittelt wird, der für die Zurechnungszeit fortgeschrieben wird. Bislang wurde die Zurechnungszeit auf Grundlage des Durchschnittsverdiensts während des gesamten Erwerbslebens bis zum Eintritt der Erwerbsminderung bewertet. Das hat man geändert durch die „Günstigerprüfung“: Nun wird geprüft, ob die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung gegebenenfalls diese Bewertung negativ beeinflussen, etwa weil in dieser Zeit wegen Einschränkungen bereits Einkommenseinbußen zu verzeichnen waren. Das ist häufig der Fall, etwa weil die Menschen in dieser Zeit schon oft krank waren, oder krankheitsbedingt nicht mehr so viel bzw. gar nicht mehr arbeiten konnten. Mindern die letzten vier Jahre bis zum Eintritt der Erwerbsminderung die Ansprüche, fallen sie künftig aus der Berechnung heraus. Die Abbildung des BMAS verdeutlicht das Zusammenspiel der beiden Änderungen an einem Beispiel.

Aber angesichts der niedrigen (und in den Jahren vor dem Rentenpaket 2014 erheblich gesunkenen) Zahlbeträge bei der Erwerberbsminderungsrente ist das nur ein erster Korrekturschritt, wenn man die Armutsfalle, die für viele mit dem Verweis auf diese Sicherungsleistung verbunden ist, beseitigen möchte. Davon sind wir noch ein ordentliches Stück weit weg.

Man kann also sagen, dass wir auch bei vielen Krebspatienten mit dem Phänomen konfrontiert sind, dass es eine Verlagerung der Kostenträgerschaft – in diesem Fall der Krankheitsfolgekosten – auf die Betroffenen selbst gibt, was natürlich andere „entlastet“ – im Ergebnis aber nichts anders darstellt als eine Verschiebebahnhof zulasten der schwächsten Glieder in der Kette.

Und wenn wir schon beim Verschieben von Kosten sind, dann bietet es sich an, einen Blick zu werfen auf eine neue Studie, die von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) veröffentlicht worden ist:

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw): Lohnzusatzkosten – die Bedeutung des Wettbewerbs zwischen GKV und PKV, München 2016

Das klingt sehr allgemein gehalten, der Inhalt ist aber überaus handfest und mit konkreten Euro-Beträgen versehen. Andreas Mihm hat zentrale Befunde aus dieser Studie in seinem Artikel Wirtschaft lobt die private Krankenversicherung zusammengefasst: Die Unternehmen sparen jedes Jahr Lohnnebenkosten von gut 1,3 Milliarden Euro durch die private Krankenversicherung. Wie das?

»Der Grund dafür liege in den niedrigeren Beiträgen, die die Arbeitgeber für ihre zwar hochbezahlten, aber privat kranken- und pflegeversicherten Beschäftigten entrichteten. Die Privaten dürfen nur Arbeitnehmer versichern, die mehr als 56.250 Euro im Jahr verdienen.
Die Kosten der Privatversicherung lägen im Schnitt bei 460 Euro im Monat, wovon der Arbeitgeber die Hälfte trage, also 230 Euro, heißt es in der dieser Zeitung vorliegenden Analyse. Dagegen fielen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung im vorigen Jahr bei Einkommen von 4150 Euro oder mehr im Monat Kosten von 639,38 Euro an, wovon der Arbeitgeber 301,13 Euro übernahm. Auf das Jahr gerechnet sind das für einen privat krankenversicherten Arbeitnehmer 850 Euro weniger Nebenkosten. Da auch die private Pflegeversicherung günstiger sei, kämen weitere 414 Euro Ersparnis hinzu, heißt es in der Untersuchung.
Auf das Jahr gerechnet summiere sich der Sparbetrag damit auf 1267 Euro. Die gegebenenfalls höhere Arbeitgeberleistung für privat mitversicherte Angehörige (bis zur Hälfte des Kassensatzes) sei berücksichtigt. Der Rest ist Multiplikation: Bei 1,26 Millionen privatversicherten Arbeitnehmern ergibt das einen jährlichen Sparbeitrag von 1,33 Milliarden Euro.«

Dieser Vorteil für die Arbeitgeber ergibt sich aus der Dualität der Krankenversicherungen in Deutschland, also dem Nebeneinander von GKV und PKV. Durch die Konstruktionsbedingungen verursacht sind es vor allem die „guten Risiken“, die sich dem Umverteilung- und Solidarsystem der Gesetzlichen Krankenversicherung entziehen und sich in privaten Krankenversicherungen organisieren können.  Ein Sprecher des Spitzenverbandes der GKV wird entsprechend in dem Artikel so zitiert: „Selbst wenn die PKV-Mitgliedschaft eines Mitarbeiters im Einzelfall für ein Unternehmen einen finanziellen Vorteil mit sich bringt, beruht dieser lediglich darauf, dass die private Krankenversicherung sich der gesellschaftlichen Solidarität entzieht und im Windschatten der gesetzlichen Krankenversicherung ihr Geschäft betreibt“.

Aber der Gewinner dieser Kostenumverteilung hat natürlich kein Interesse, daran etwas – und sei es für das Ziel eines übergeordneten Lastenausgleichs – zu verändern. Folgerichtig wird die Studie seitens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft dazu genutzt, einer Aufhebung der Trennung zwischen GKV und PKV zu widersprechen und dessen Beibehaltung zu fordern: Ohne die private „Rückversicherung“ müssten die Arbeitgeber milliardenhohe Zusatzkosten tragen. Die PKV leiste „einen wichtigen Beitrag, die Kosten im Rahmen zu halten“, wird der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung, Bertram Brossardt, zitiert.

Nun kann man – wenn man denn will oder muss – einige Argumente für die Beibehaltung der getrennten Systeme finden und vortragen, aber das Argument vom „Lohnnebenkostensenker“ PKV kommt schon arg gezwungen und irgendwie auch mehr als kleinkrämerisch daher, wenn man es aus der Perspektive des Gesamtsystems betrachtet, also mit Blick auf das Volumen, über das wir hier sprechen. Dazu und ohne weitere Kommentierung die entsprechende Anmerkung von Andreas Mihm: »Gemessen an den 1,5 Billionen Euro, die die Arbeitgeber 2014 für Löhne, Gehälter und Nebenkosten aufgewandt haben, erscheinen allerdings auch jene 1,3 Milliarden Euro bescheiden. Es ist gerade einmal ein Anteil von einer Promille.«

Abbildung: www.rentenpaket.de, BMAS

Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems

Bereits im November 2014 wurde hier ein Beitrag veröffentlicht, der sich kritisch mit einem im Entstehen befindlichen neuen Trend in der „Gesundheitslandschaft“ beschäftigt hat: Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung, so ist der Artikel überschrieben. Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. »Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten.« Der Vorstoß kam also aus den Reihen der privaten Krankenversicherungen, aber die Warnung vor einer möglichen Ausbreitung in den Bereich der Sozialversicherungssysteme wurde bereits damals ausgesprochen: »… auch unter dem Dach des Sozialversicherungssystems gibt es immer wieder Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs und sehr gerne werden immer wieder die doch offensichtlichen Ungerechtigkeiten zitiert, die entstehen, wenn Menschen sich beispielsweise bewusst in schwere Gefahr begeben oder durch ihr Verhalten (z.B. Rauchen, Alkohol trinken usw.) zu hohen Kosten beitragen, die dann von der Solidargemeinschaft aller Versicherten mitfinanziert werden müssen, auch wenn sich die bislang ganz anders verhalten und gehandelt haben. Das wird dann hinsichtlich der möglichen Konsequenzen diskutiert unter dem Stichwort Ausgliederung aus dem gesetzlichen Leistungskatalog. Wenn man denn will, kann man ja Zusatzversicherungen abschließen, wird die Botschaft lauten – oder eben einfach das risikobehaftete Verhalten ändern, wenn man sich das nicht leisten kann. Und schon wieder würde scheinbare „Freiwilligkeit“ in einen faktischen Zwang transformiert.«

Vor diesem Hintergrund muss man natürlich aufhorchen, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Unter der Überschrift Zuschuss von der Gesundheitskasse berichtet Kurt Sagatz: »Die AOK Nordost bezuschusst sogar den Kauf einer Apple Watch … Bis zu 50 Euro gewährt die Kasse ihren Mitglieder dafür in jedem zweiten Kalenderjahr. Und weil die Apple Watch ebenfalls über die nötigen Funktionen wie unter anderem einen Pulsmesser verfügt, gibt es den Kassenzuschuss auch für Apples neuestes Technikgadget.«

Außerdem erfahren wir, dass die AOK Nordost auch Apps bezuschusst, »die Daten aus den oben genannten Kategorien erheben können – auch im Rahmen des AOK- Gesundheitskontos.«
In dem Artikel Die Kasse trainiert mit von Irene Berres und Nina Weber wird zum einen Bezug genommen auf das bereits angesprochene „Vitality-Programm“ der Generali-Versicherung, das gesundheitsbewusstes Verhalten mit einer App messen und belohnen soll, um dann darauf hinzuweisen: »Viele Krankenkassen prüfen aktuell, ob sie ähnliche Angebote einführen sollen.«

Aber auch im Krankenkassenlager ist die Meinung gespalten zwischen Befürwortern und Kritikern der neuen Entwicklung:

»Die IKK Südwest etwa lehnt grundsätzlich „die finanzielle Bezuschussung von Lifestyle-Produkten durch die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherungen ab“.
Die AOK Bremen/Bremerhaven hingegen weist darauf hin, dass es zu den Zielen der Krankenkassen zählt, ihren Versicherten die Vorteile einer gesunden Ernährung und regelmäßiger Bewegung zu vermitteln. Gerade Jugendliche und junge Erwachsene wollten dafür „Zugangswege nutzen, welche auch den Interessen ihres Alters entsprechen“.«

Diese Entwicklungen werden schon registriert und bewertet: Politiker kritisieren Zuschuss für Apple Watch, die das aber scheinbar alle einordnen unter der Rubrik Stilblüten des Krankenkassenmarketings und weniger den konzeptionellen Ansatz dahinter sehen (wollen), vielleicht auch deshalb, weil das noch weit weg erscheint und nur in allerersten, schemenhaften Umrissen erkennbar ist.

Florentine Fritzen bringt aber die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssen, in ihrem Artikel Meine Pulsfrequenz gehört mir auf den Punkt:

»Wollen wir so eine Gesellschaft? In der jene profitieren, die sich vermessen lassen, die Gesundheit für quantifizierbar halten, die Daten preisgeben, weil sie „nichts zu verbergen haben“? Das Wort von der Solidargemeinschaft ist altmodisch. Aber auch das sind wir noch: eine Gemeinschaft, in der die Starken den Schwachen helfen, den wirklich Kranken. Es darf nicht geschehen, dass Krankheit als selbstverschuldetes Scheitern von Leuten begriffen wird, die es versäumt haben, ihre Fitness-Ziele zu erfüllen.
Zum Glück sind wir davon weit entfernt. Aber wir sollten es im Kopf behalten. Genauso wie die Tatsache, dass wir Individuen sind, nicht ein Heer berechenbarer Wesen. Das Individuelle lässt sich nicht aus Pulswerten, Kalorienzahlen und erklommenen Treppenstufen ermitteln. Dieses Bewusstsein darf nicht verlorengehen.«

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht das hier: In der Jetzt-Wirklichkeit der meisten Menschen gibt es mit Krankenkassen ganz andere Probleme – und die sollten auch vor dem Hintergrund der Geldmittel gesehen werden, die hier für Wearables uns sonstiges Gedöns ausgegeben werden. Und diese Realität heißt oftmals Verweigerung von handfesten Leistungen. Ein Beispiel von vielen dazu: Caritas und Diakonie werfen DAK Leistungsverweigerung vor, konnte man Anfang August der Presse entnehmen. »n Dutzenden Fällen soll die Kasse die Zahlung für ärztlich verordnete Leistungen verweigert haben, die von ambulanten Pflegediensten übernommen werden. Es geht unter anderem um Insulingaben und das Anziehen von Kompressionsstrümpfen. „Die Kasse will Patienten zwingen, dass Verwandte oder Nachbarn diese Leistungen übernehmen“, sagte Caritasdirektor Andreas Meiwes. Hintergrund: Die DAK hat offenbar Fragebögen an Patienten verschickt, in denen gefragt wird, ob Angehörige, Freunde oder Nachbarn Pflegemaßnahmen übernehmen könnten.«

Und noch etwas lernt man bei diesem Beispiel: »Die DAK erklärte auf Nachfrage, sie habe den umstrittenen Fragebogen zurückgezogen. Er werde überarbeitet.« Man kann schon auch was erreichen, wenn man es zu einem öffentlichen Thema macht und dagegen angeht.

Die Entsolidarisierung kommt auf leisen Sohlen, oftmals unbeachtet, weil so abseitig, dann aber Fahrt aufnehmend und ein ganzes System verändernd. Beispielsweise die Krankenversicherung

Die wirklich einschneidenden Veränderungen kommen auf leisen Sohlen, holprig am Anfang, zumeist von kaum einem beachtet, weil scheinbar nicht relevant. Beispielsweise im Bereich einer so existenziellen Frage wie der Absicherung des Risikos, krank zu werden und einer Behandlung zu bedürfen. Dafür haben wir in Deutschland für die große Masse der Bevölkerung die Gesetzlichen Krankenversicherung, um die uns – bei aller Kritik hierzulande – viele Menschen außerhalb Deutschlands beneiden.

Es handelt sich um eine mehrfach solidarisch wirkende, umverteilende Versicherung. Umverteilt wird in diesem Zweig der Sozialversicherung von (noch) gesunden Versicherten zu kranken Versicherten, die Patienten geworden sind, von zahlungskräftigen jüngeren Versicherten (vor allem im mittleren Lebensalter) hin zu den Kindern und Jugendlichen sowie den beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen bis hin zu den Älteren, die beispielsweise als Rentner niedrigere Beitragssummen aufbringen, aber oftmals ein Mehrfaches an Leistungen entnehmen (müssen), weil natürlich viele Krankheiten alterskorreliert sind. Bis zu einer durch die Beitragsbemessungsgrenze determinierten Einkommenshöhe findet auch durchaus eine Umverteilung statt von höheren Arbeitseinkommen zu den niedrigeren (und damit verbunden von Vollzeit zu Teilzeit), denn wenn jemand einen anteiligen Beitrag auf ein zu verbeitragendes Einkommen von 1.000 Euro zahlt, bekommt er den gleichen Schutz und das gleiche Leistungsvolumen wie jemand, der einen Beitrag abführen muss auf ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitseinkommen von 3.000 Euro im Monat. Und bei den Umverteilungswirkungen sollte auch – allerdings häufig „vergessen“ – mitgedacht werden, dass es in der bestehenden Gesetzlichen Krankenversicherung keine nennenswerte Exklusion  aus der Leistungswelt wie auch keine Abschlachtung auf der Beitragsseite aufgrund der Ursachen eines Risikofalls gibt. Anders ausgedrückt: Auch derjenige, der seinen Körper alle erdenklichen krankmachenden Einflüssen aussetzt, wird genau so behandelt wie der täglich Sport treibende, kein Alkohol und Tabak genießende und ernährungsbewusst handelnde Idealtypus aus dem Lehrbuch der Gesundheitsideologie. Und er zahlt auch keinen höheren Beitrag wie die Idealfigur bzw. diese keinen niedrigeren Satz. Genau das soll sich jetzt aber ändern.

Wobei man voranstellen muss: Das sollte sich nach Meinung einiger „Gesundheitsökonomen“ und „Versicherungsexperten“ schon seit langem ändern, nur hat man das bislang nicht wirklich in die Realität umsetzen können. Immer wieder gab es Vorschläge und Vorstöße, eine Differenzierung von Leistungs- und damit verbunden Kostenübernahme- bzw. Erstattungsansprüchen innerhalb des solidarischen Versicherungssystems nach dem Grad der Verursachung vorzunehmen. Beliebte Beispiele waren und sind immer die Raucher und die Übergewichtigen – und immer wieder scheiterten diese Vorstöße nicht nur an solidarischer Grundsatzgegenwehr, sondern auch an ganz handfesten Abgrenzungsoperationalisierungsproblemen. Beispiel Übergewicht: Wo genau liegt die Grenze zwischen selbstverschuldete Belastung der Solidargemeinschaft und krankheitsbedingter Folge? Kann man die rechtssicher überhaupt abgrenzen? Und wie ist das mit dem Nichtrauchen? Reicht die Behauptung oder muss dann nicht auch eine mögliche Diskrepanz zwischen angeblichen und tatsächlichen Tun kontrollieren? Mit welchem Aufwand ist das verbunden?

Für Krankenversicherungen gilt grundsätzlich: Aus der basalen Problematik der Informationsasymmetrie kann die so genannte „adverse Selektion“ resultieren, denn Versicherte kennen ihre Schadenswahrscheinlichkeit besser als die Versicherer, was für die immer dann ein besonderes Problem ist, wenn sie Tarife kalkulieren müssen.

In unserem Zusammenhang einer möglichen Differenzierung auf der Beitragsseite gemäß der Codierung „gute Versicherte“/“schlechte Versicherte“ besonders relevant ist das immer begrenzte oder sogar gar nicht vorhandene Wissen der Versicherer, ob sich die Versicherten tatsächlich auch so verhalten, wie es eine Beitrags- bzw-. Prämiendifferenzierung voraussetzt. Dazu braucht man vor allem Informationen, viele und detaillierte Informationen, um das mit der Informationsasymmetrie einhergehende Gefälle zwischen Versicherten und Versicherern zu verringern oder gar in die Nähe einer gleichen Augenhöhe zu bringen.

Nun sind wir inmitten einer rasanten informationstechnologischen Entwicklung, die es grundsätzlich ermöglicht, immer mehr, schneller, sogar in Echtzeit ermittelte Informationen kostengünstig zu erheben und zu speichern. Und man muss diese grundsätzliche technologische Optionalität im Zusammenhang sehen mit einem nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Wertewandel im Sinne einer immer stärker ausgeprägten Bereitschaft, auch sehr persönliche Daten und Informationen preiszugeben bzw. deren Abgreifen in der „App-Gesellschaft“ unserer Tage durch Dritte nicht einmal mehr als Problem wahrzunehmen. Und angesichts dieser sich verändernden Rahmenbedingungen schlägt die Stunde der Apologeten einer Individualisierung und Personalisierung der Beitragsbemessung innerhalb des Krankenversicherungssystems, weg vom unauflösbaren Status des Gefangenen seiner Kohorte bzw. des Risikokollektivs hin zu einer individualisierenden Auffächerung des Beitragskorridors.

Wie der neue Vorstoß laufen kann, wurde bereits im November 2014 in dem Beitrag Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung dargelegt. Da konnte man lesen: Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten. Das hört sich doch nach einer guten Absicht an: Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung. Schon damals wurde versucht, das grundsätzliche Problem herauszuarbeiten, auf das erneut hingewiesen werden muss:

Der ganze Ansatz kommt auf den ersten Blick unverdächtig daher, denn keiner scheint gezwungen zu werden, dieses neue Versicherungsmodell in Anspruch zu nehmen. Alles freiwillig also. Aber nur auf den ersten Blick, denn hier liegt eines der großen Probleme begründet: Diejenigen, die mitmachen (wollen), bekommen Vergünstigungen. Man kann plausibel davon ausgehen, dass das eine hoch selektive Gruppe sein wird, Menschen also, die von sich wissen, dass sie die Erwartungskriterien erfüllen, um an dem Programm teilnehmen zu können, vor allem, wenn man weiß, dass das überwacht wird. Es handelt sich versicherungsökonomisch gesehen um die „guten Risiken“ und genau an die will die Versicherung ran und diese an sich binden, denn mit denen macht man trotz niedrigerer Beiträge ein Geschäft. Unter den anderen, die sich nicht beteiligen, sind auch die „schlechten Risiken“ für die Versicherung, also Menschen, die wissen, dass sie die Auflagen des Versicherungsmodells nicht werden erfüllen können oder die andere Informationen über ihren eigenen Gesundheitszustand haben. Für die aber wird die Versicherung teurer, denn sie sind ja tendenziell die Risikogruppe für die Versicherung. Langfristig das größte Risiko des neuen Systems: Wer nicht bereit ist, seine Daten preiszugeben, dürfte künftig einen deutlich höheren Preis für seine Versicherung zahlen. Und schon kehrt sich die vielgelobte „Freiwilligkeit“ praktisch in ihr Gegenteil um.

Und auch der Einwand, es handelt sich doch „nur“ um einen Vorstoß im Formenkreis der privaten Krankenversicherung, wurde damals schon aufgegriffen in dem Sinne, dass das zeitverzögert durchaus Eingang finden kann in die Gesetzliche Krankenversicherung und an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in den vergangenen Jahren durchaus Komponenten aus der PKV in die GKV implementiert wurden. So gibt es auf der Beitragsseite durchaus Selbstbeteiligung- und Beitragsdifferenzierungsmodelle, man denke hier nur an die Beitragsrückerstattung, mit der man die besonders „guten Risiken“, also die mit höheren Einkommen, in der Versicherung halten möchte.

Nach dem Bekanntwerden der Generali-Idee gab es ein mediales Aufbäumen, durchaus mit vielen kritischen Einwürfen. Aber ein Update ist erforderlich, denn: »Der Krankenversicherer Generali will trotz harscher Kritik 2016 eine App auf den Markt bringen, die Fitness und Ernährung der Versicherten überwacht. Wer gesund lebt, soll weniger zahlen«, muss man dem Artikel Umstrittene App soll Fitness und Ernährung überwachen entnehmen. Das geplante „verhaltensbasierte Versicherungsmodell“, so nennen die Generali-Leute ihren Ansatz, soll im ersten Halbjahr mit konkreten Produkten hinterlegt auf den Markt kommen. Man sollte und muss diese Entwicklung – auch wenn sie erst ganz am Anfang steht – überaus kritisch und sorgfältig begleiten und verhindern, dass es Ausstrahlungseffekte in den größeren Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt.

Dabei ist die Positionierung gegenüber diesem Ansatz auch in der privaten Krankenversicherungswirtschaft nicht eindeutig. Es gibt auch Ablehnung und Widerspruch zu dem versicherungsökonomisch prima facie plausibel daherkommenden Ansatz: Allianz lehnt Sportler-Tarife mit Fitness-Apps ab, berichtet beispielsweise die WirtschaftsWoche. Zitiert wird Birgit König, Chefin der Allianz Krankenversicherung, mit den Worten: „Tarife werden zum Schutz der Versicherten risikogerecht kalkuliert. Ein Läufer-Tarif hätte deshalb einen anderen Beitrag als ein Radfahrer-Tarif. Kleinteilige Kollektive aber passen nicht in die private Krankenversicherung.“

Grundsätzlich passt der neue Ansatz in die Zeit einer bewusst-unbewusst ablaufenden radikalen Individualisierung und einer Entkernung des solidarischen Ansatzes großer Kollektive, die mögliche Risikofälle für die Einzelnen auffangen (können).

Teilkasko-Dilemmata: Die Pflege zwischen steigenden Heimkosten und Eltern, die ihre Kinder brauchen bzw. die von den Sozialämtern gebraucht werden

Bewohner von Pflegeheimen müssen immer mehr selbst zahlen, so Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Kosten für Pflegeheime steigen deutlich. Dabei sind die Leistungen aus der Pflegeversicherung doch erst zum 1. Januar 2015 angehoben worden. Aber die Heimbewohner  müssen mehr aus der eigenen Tasche bezahlen als vor dem Inkrafttreten der Reform. Das zumindest zeigen Berechnungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung (PKV). Die Zahlen aus der PKV-Pflegedatenbank gelten für alle Versicherten, da die private und die gesetzliche Pflegeversicherung die gleichen Leistungen haben. Szent-Ivanyi berichtet über die Situation am Beispiel der rund 380 Pflegeheime, wobei die Daten auch zeigen, dass die durchschnittlichen Heimkosten in der Hauptstadt über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen. Die Ursache für die steigenden Eigenbeträge der Pflegebedürftigen ist einfach: Die Kosten für einen Heimplatz steigen stärker als die Leistungen aus der Pflegeversicherung. »Die wachsenden Eigenanteile bestätigen einen längerfristigen Trend: Die Leistungen der Pflegeversicherung werden schleichend entwertet, weil die Kosten stärker steigen als die Zuweisungen aus der Pflegeversicherung. Berechnungen haben ergeben, dass die Leistungen seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 mehr als 25 Prozent an Wert verloren haben. Auch die zum 1. Januar diesen Jahres erfolgte Erhöhung der Zahlungen um vier Prozent hat den Wertverfall nicht stoppen können«, bilanziert Timot Szent-Ivanyi.

Man kann das angesprochene Auseinanderlaufen von Heimkosten und Leistungen aus der Pflegeversicherung am Beispiel von Berlin verdeutlichen:

»Zum 1. Januar 2015 wurden mit der Pflegereform die Zuweisungen für einen Heimplatz je nach Pflegestufe zwischen 41 und 62 Euro angehoben. In der höchsten Pflegestufe III werden derzeit beispielsweise 1.612 Euro gezahlt. Die durchschnittlichen Heimkosten kletterten jedoch stärker, und zwar abhängig vom Pflegebedarf zwischen 56 und 77 Euro. Wer die Pflege nach der Stufe I benötigt, muss derzeit in Berlin für einen Heimplatz im Schnitt 2.756 Euro zahlen. In Stufe II sind 3.336 Euro fällig, in Stufe III 3.750 Euro. Im Bundes-Schnitt sind die Heime jeweils rund 300 Euro billiger.
Damit steigen die Anteile, die die Hilfebedürftigen in Berlin selbst aufbringen müssen, trotz verbesserter Pflegeleistungen an. Der Eigenanteil in Pflegestufe I wächst um rund 15 Euro auf 1.692 Euro, in der Stufe II um 18 Euro auf 2.006 Euro und um 15 Euro auf 2.138 Euro in der Stufe III.«

Das sind erhebliche Beträge, die natürlich bei vielen Menschen weit über dem liegen, was sie an Renten haben. Kann ein Pflegebedürftiger diese Beträge nicht aus seinen Alterseinkünften und/oder seinem Vermögen zahlen, ist er auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialämter können sich das Geld bei den Kindern zurückholen, womit wir schon bei der nächsten großen Baustelle wären.

Kathrin Gotthold greift dieses in den vor uns liegenden Jahren mit Sicherheit an individueller Betroffenheit und gesellschaftlicher Brisanz gewinnende Thema in ihrem – etwas reißerisch überschriebenen – Artikel So riskieren Eltern die Existenz ihrer Kinder ausführlich auf.

»2,63 Millionen pflegebedürftige Mitmenschen gab es bereits Ende 2013 in Deutschland. Das sind 125.000 mehr als 2011 – ein Anstieg um fünf Prozent. Im Jahr 1999 zählte Deutschland noch rund zwei Millionen Pflegebedürftige. Prognosen zufolge steigt ihre Zahl bis 2050 um weitere rund zwei Millionen.«

Gotthold bezieht sich dabei auf die aktuellsten Daten der Pflegestatistik 2013, deren Deutschlandergebnisse vom Statistischen Bundesamt vor kurzem veröffentlicht worden sind. Für das Thema hier besonders relevant: 764.000 Pflegebedürftige, das sind 29% aller Pflegebedürftigen, wurden vollstationär in 13.000 Pflegeheimen mit 675.000 Beschäftigten betreut.

Können Eltern im Alter die Kosten für die Pflege oder die Heimunterbringung nicht mehr aufbringen, wendet sich das Sozialamt an die Kinder. Und dann merken erst viele, dass es nicht nur eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern gab, sondern es gibt auch den umgekehrten Weg, den „Elternunterhalt“ nach § 1601 BGB – und immer mehr Sozialämter gehen konsequent diesen Weg, um sich ein Teil der steigenden Ausgaben für die Hilfe zur Pflege von den Kindern wieder zurückzuholen und diese an der Finanzierung vor allem der teuren Heimkosten zu beteiligen. Dabei kann nicht nur auf das Einkommen der Kinder zurückgegriffen werden, sondern abzüglich bestimmter Schonwerte auch auf deren Vermögen. So kann das Sozialamt verlangen, dass Kinder ein Ferienhaus oder auch ein unbebautes Grundstück verkaufen. Sicher geschützt ist hingegen das selbst genutzte Familienheim. Unterhaltspflichtig sind nur die Kinder des Berechtigten. Schwiegerkinder sind davon nicht betroffen (BGH, Urteil vom 14.01.2004, Az. XII ZR 69/01). Aber das ist dem Grunde nach nicht begrenzt auf die eigenen Eltern: Grundsätzlich besteht nach dem Gesetz auch eine Unterhaltspflicht der Enkel gegenüber ihren Großeltern. Weil die näheren Verwandten gemäß § 1606 Abs. 2 BGB vor den entfernteren Verwandten haften, müssen Enkelkinder für den Unterhalt der Großeltern aber nur dann zahlen, wenn deren Kinder selbst nicht verpflichtet sind, weil ihr Einkommen und Vermögen zu gering sind.

»Ein im Pflegeheim untergebrachter Elternteil hat Anspruch auf Unterhalt in Höhe der notwendigen Heimkosten zuzüglich eines Barbetrags für die Bedürfnisse des täglichen Lebens (BGH, Urteil vom 19.02.2003, Az. XII ZR 67/00). Letzterer beläuft sich nach § 27b Abs. 2 S. 2 SGB XII derzeit auf mindestens 107,73 Euro im Monat. Die Summe soll die Aufwendungen für Körper- und Kleiderpflege, Zeitschriften, Schreibmaterial und den sonstigen Bedarf des täglichen Lebens decken. Häufig geht der Sozialhilfeträger zunächst in Vorleistung und holt sich das Geld dann von den Kindern zurück. Die zuständige kommunale Behörde macht laut § 94 SGB XII den Anspruch des Heimbewohners seinen Kindern gegenüber geltend und hat auch das Recht, von diesen Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu verlangen«, so Britta Beate Schön in ihrem Beitrag Unterhalt von Kindern für ihre Eltern. In einem ersten Schritt wird das bereinigte Nettoeinkommen der Kinder berechnet und davon dann der Selbstbehalt abgezogen nach Maßgabe der Düsseldorfer Tabelle. »Dem Unterhaltspflichtigen steht seit dem 1. Januar 2015 ein Selbstbehalt von 1.800 Euro und für den Ehepartner von 1.440 Euro pro Monat zu. Der Familienselbstbehalt beläuft sich damit derzeit monatlich auf 3.240 Euro. Hinzu kommen Freibeträge für eigene Kinder, die sich ebenfalls nach der Düsseldorfer Tabelle richten.« Und dann kommt die entscheidende Vorschrift: »Tatsächlich an Unterhalt zahlen müssen Kinder von diesem bereinigten und um den Selbstbehalt verminderten Nettoeinkommen die Hälfte.« Beispiel: »Bei einem bereinigten Nettoeinkommen von 2.000 Euro und einem Selbstbehalt von 1.800 Euro ergibt sich ein Unterhaltsanspruch in Höhe von 50 Prozent von 200 Euro, also 100 Euro im Monat.«

Kathrin Gotthold befürchtet in ihrem Artikel eine „Welle von Pflegeverweigerern“ auf die deutschen Gerichte zurollen. Dabei ist eine grundsätzliche Verweigerung des Elternunterhalts nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung nur auf wenige, sehr eng abgegrenzte Fallkonstellationen beschränkt. Dazu Britta Beate Schön in ihrem Beitrag: »Elternunterhalt kann nur durch schwere Verfehlungen gegen das Kind nach § 1611 BGB verwirkt werden. Das ist jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt (BGH, Urteil vom 15.09.2010, Az. XII ZR 148/09). Eine schwere Verfehlung liegt selbst dann nicht vor, wenn der Vater den Kontakt zu seinem Kind seit 40 Jahren abgebrochen hat und ihn durch Testament bis auf den gesetzlichen Pflichtteil enterbt hat (BGH, Urteil vom 12.02.2014, Az. XII ZB 607/12). Das Kind musste trotzdem zahlen.«

Wenn man sich vor Augen führt, in welchem Ausmaß in den vor uns liegenden Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen ansteigen wird und wie viele Menschen darunter sein werden, bei denen die Lücke zwischen dem, was sie aus der eigenen Rente, geringem bis gar nicht vorhandenen Vermögen und den Leistungen aus der Pflegeversicherung zur Abdeckung der Pflegekosten beitragen könnten, und den erwartbar weiter stark ansteigenden Pflegekosten erheblich sein wird, dann muss man keine Studie machen, um zu erkennen, dass die Inanspruchnahme der Kinder über den Elternunterhalt erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Und damit zwangsläufig auch die Konfliktintensität, die hier grundsätzlich begründet liegt. Wenn es auch – wie bereits dargelegt – nur sehr wenige Möglichkeiten gibt, sich dem Elternunterhalt zu entziehen, werden dennoch die Gerichtsverfahren deutlich zunehmen, da die Betroffenen mit den Sozialämtern über die konkrete Festlegung der Unterhaltsverpflichtung streiten werden. Dafür werden alleine die vielen Rechtsanwälte sorgen, die sich auf dieses Themenfeld bereit spezialisiert haben bzw. das tun werden. Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, wenn man denn zahlen muss, den Staat an den dann zu übernehmenden Pflegekosten zu beteiligen, in dem man diese steuerlich geltend macht (vgl. hierzu den Beitrag So beteiligen Sie den Staat an den Pflegekosten von Barbara Brandstetter).

Darüber hinaus ist das Thema von einer grundsätzlichen sozialpolitischen Bedeutung, zeigt sich an dieser Stelle doch erneut, was es bedeutet, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist, also eben gerade nicht die gesamten Kosten der Pflegebedürftigkeit, sondern diese nur anteilig abdeckt.

Die scheinbar einfachste Möglichkeit des Umgangs mit dem erwartbar ansteigenden Problemdruck wäre eine Dynamisierung der Leistungen aus der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung an die Entwicklung der Pflegekosten, vor allem der Heimkosten. Eine solche Regelung ist nicht nur aus Gründen der Budgetbegrenzung relativ unwahrscheinlich. Sie würde auch zu nicht-trivialen Verteilungseffekten führen, denn von einer Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung würden eben auch und gerade diejenigen profitieren, die über höhere Einkommen und Vermögen verfügen, die sie dann nicht mehr zur Gegenfinanzierung der Pflegekosten einbringen müssten.
Wieder einmal zeigt sich an diesem Beispiel die gleichsam doppelte Bedeutung der Kinder: Zum einen stellen sie die Beitragszahler in der umlagefinanzierten Pflegeversicherung und sorgen damit auch für die Aufbringung der Mittel für die Kinderlosen. Und dann werden sie im Bedarfsfall und bei Erfüllung der Voraussetzungen auch noch ergänzend zum Unterhalt der eigenen Eltern in Anspruch genommen.

Abbildung: Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV): Lücken der Pflegepflichtversicherung (25.04.2015)