Der Weg würde ein steiniger sein: Vom dualen Krankenversicherungssystem zur „Bürgerversicherung“ (light)

Vor wenigen Tagen wurde man mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: Bürgerversicherung würde Zehntausende Arbeitsplätze bedrohen, so beispielsweise die FAZ. Dort erfahren wir: »Die Einführung einer gesetzlichen Bürgerversicherung könnte dazu führen, dass viele Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren – in den Privaten Krankenversicherungen (PKV). Zu diesem Ergebnis kommt eine jetzt veröffentlichte neue Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Eine solche von SPD, Grünen und Linken favorisierte gesetzliche Krankenversicherung für alle würde je nach Ausstiegsszenario dazu führen, dass in der PKV zwischen 22.700 und 51.000 Stellen abgebaut werden müssten.« Beim Übergang zu einer Bürgerversicherung würden zwischen knapp einem Drittel und rund drei Vierteln der Arbeitsplätze in der Privaten Krankenversicherung wegfallen oder rechnerisch gefährdet sein. Die Intention der Berichterstattung war klar – hier sollte in Richtung der eine Bürgerversicherung befürwortenden Kräfte aus den Gewerkschaften, der SPD und den den Grünen ein Keil getrieben werden über das Szenario eines umfangreichen Arbeitsplatzabbaus – das wurde bereits kritisch aufgegriffen und mehr als relativiert in dem Blog-Beitrag Ist die Private Krankenversicherung ein geschützter Arbeitsmarkt? vom 18. November 2016. Weitaus interessanter und aufschlussreicher als die Abschätzung möglicher (übrigens Brutto-)Jobverluste in einem Versicherungssegment sind die den Berechnungen zugrundeliegenden Wege hin zu dem, was unter dem Terminus „Bürgerversicherung“ diskutiert wird.

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Der Mindestlohn nicht als apokalyptischer Reiter, sondern als Stimulus für das Gastgewerbe. Und ist die Private Krankenversicherung ein geschützter Arbeitsmarkt?

Der Laden brummt, obgleich er doch eigentlich am Boden liegen müsste. Wer erinnert sich nicht an die Weltuntergangsstimmung, die im Vorfeld und kurz nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns vor allem seitens des Gastgewerbes verbreitet worden ist. Jobkiller war da noch eine milde Variante der Vorwürfe aus dieser Branche. Nun haben wir den gesetzlichen Mindestlohn seit gut zwei Jahren im Echtbetrieb und die Katastrophe ist ausgeblieben. Ganz im Gegenteil können wir hier endlich mal positive Nachrichten vermelden. Das Gastgewerbe brummt, so hat Stefan Sauer seinen Artikel über die neuesten Umsatzzahlen überschrieben. Derzeit sehen wir hier die höchsten Umsatzsteigerungen seit vielen Jahren. Nun könnte man einwerfen, der besonders positive September-Wert sei auf den warmen Spätsommer zurückzuführen. Deshalb der erweiterte Blick auf die Vergleichswerte die ersten neun Monate des Jahres zu denen in 2015: Es handelt sich »nicht bloß um eine wetterabhängige Eintagsfliege«, sondern die positive Entwicklung ist auch über den längeren Zeitraum erkennbar (zu den Daten vgl. auch die Pressemitteilung Gastgewerbeumsatz im September 2016 preis­bereinigt um 3,6 % höher als im September 2015 des Statistischen Bundesamtes).
Dafür gibt es wie immer mehrere Ursachen – aber auch hier taucht er wieder auf, der Mindestlohn.
Nur nicht in der Rolle des apokalyptischen Reiters, sondern letztendlich als ein das Geschäft belebendes Element. Und man kann an diesem Beispiel sehr schön die nicht auflösbare Diskrepanz zwischen einer betriebs- und einer volkswirtschaftlichen Sicht auf Löhne aufzeigen. Betriebswirtschaftlich sind Löhne immer Kosten und für den einen oder anderen Anbieter können Kostensteigerungen, die u.a. mit dem Mindestlohn verbunden sind, echte Probleme verursachen, im schlimmsten Fall sogar zum Ausscheiden aus dem Markt führen. Volkswirtschaftlich sind aber die Löhne das Rückgrat der Nachfrage und damit – gerade in Dienstleistungsbereichen wie dem Gastgewerbe – die wichtigste Umsatzquelle, denn Restaurants und Hotels besuchen reale Menschen (oder auch nicht, wenn sie nicht über die entsprechende Kaufkraft verfügen).

Warum aber rollt der Rubel im Gastgewerbe? Stefan Sauer verweist zum einen auf den aktuellen Trend zum Urlaub in Deutschland, sich aufgrund des Wegfalls an bisher präferierten Destinationen. In Zahlen: »Der Inlandstourismus legte in den ersten sechs Monaten 2016 um drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu.«

Ein weiterer Treiber der positiven Entwicklung ist die anhaltend gute Beschäftigungsentwicklung in Deutschland. Auch dazu das Statistische Bundesamt unter der Überschrift 43,7 Millionen Erwerbstätige im 3. Quartal 2016:

»Im dritten Quartal 2016 waren … rund 43,7 Millionen Erwerbstätige mit Arbeitsort in Deutschland erwerbstätig. Im Vergleich zum dritten Quartal 2015 wuchs die Zahl der Erwerbstätigen um 388 000 Personen … Der Anstieg der Gesamterwerbstätigenzahl gegenüber dem Vorjahresquartal entfiel im dritten Quartal 2016 überwiegend auf die Dienstleistungsbereiche. Die größten absoluten Beschäftigungsgewinne gab es im Bereich Öffentliche Dienstleister, Erziehung, Gesundheit mit + 197 000 Personen …, gefolgt von den Unternehmensdienstleistern mit + 123 000 Personen … sowie Handel, Verkehr und Gastgewerbe mit + 94 000 Personen.«

Wir haben also eine weiterhin steigende Beschäftigung und die muss man im Zusammenhang sehen mit der ergänzenden Tatsache, dass die meisten Arbeitnehmer auch mehr in der Tasche haben, denn die Reallöhne haben 2015 mit 2,4 Prozent ebenfalls kräftig zugelegt. Als Folge konnten sich auch Verbraucher mit einem kleineren Budget einen Abend im Gasthof oder eine Nacht im Hotel leisten.
Und an dieser Stelle können wir mit Stefan Sauer abrundend den Mindestlohn aufrufen, aber eben anders, als in seiner ursprünglichen Formation als ein in den Raum der öffentlichen Meinungsmache gestelltes Schreckensgemälde:

»Dabei spielt, man glaubt es kaum, der Mindestlohn eine zentrale Rolle. Jener Mindestlohn, der gerade vom Gastgewerbe als Teufelszeug und Schlagetot für Kleinbetriebe gebrandmarkt worden war, versetzt einerseits viele Menschen erstmals seit langem wieder in die Lage, wenigstens ab und an essen zu gehen und aushäusig zu übernachten. Zum anderen ließ der Mindestlohn vielerorts die Preise für Bier und Cola, Schnitzel und Pommes, Einzel- und Familienzimmer steigen. Erkennbar wird der weit überdurchschnittliche Preisanstieg im Gastgewerbe an den großen Unterschieden zwischen nominalem und realem Umsatzplus: Im Septembervergleich lag die branchenbezogene Inflationsrate bei 2,4 Prozent, die allgemeine Teuerung hingegen bei nur 0,7 Prozent.«

Selbst in einer Branche, die als absolut prädestiniert galt für die vernichtenden Auswirkungen der Lohnuntergrenze, ist die Welt nicht nur heil geblieben, sondern sie segelt im Windschatten der Entwicklung schneller und besser. Was für ein Befund. Der zugleich die kopfschüttelnde Bewertung der „Egal, was die Fakten sagen, wie belieben bei unseren Lehrsätzen“-Haltung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in dem vor kurzem vorgelegten Jahresgutachten 2016/17, der unbeirrt gegen den Mindestlohn wegen der angeblichen Arbeitsplatzverluste agitiert, weiter stärkt (vgl. dazu auch den Beitrag Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig vom 2. November 2016).

Und wenn man schon den Arbeitnehmern nicht den Mindestlohn gönnt, dann sollte man doch wenigstens an die Babys denken, die wir ja aus demografischen Gründen so dringend brauchen. Auch hier hat der Mindestlohn seine heilenden Hände im Spiel, wenn man den Wissenschaftlern George Wehby, Dhaval Dave und Robert Kästner folgt, die im Juli 2016 diese Studie veröffentlicht haben: Effects of the Minimum Wage on Infant Health. Die haben mit ziemlich vielen Zahlen jongliert, sie haben einen amtlichen amerikanischen Datensatz mit Informationen zu rund 46 Millionen Geburten aus den Jahren 1989 bis 2012 ausgewertet. Und was haben sie herausgefunden? »Der Analyse zufolge, die sich auf Mütter mit High-School-Abschluss bezieht, steigt das Geburtsgewicht im Schnitt um zwölf Gramm, wenn der Mindestlohn um einen Dollar erhöht wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Neugeborene weniger als 2.500 Gramm wiegt, sinkt um 0,2 Prozentpunkte. Die Erklärung: Das höhere Haushaltseinkommen beschere den Müttern eine gesündere Ernährung, weniger Stress und eine bessere medizinische Versorgung während der Schwangerschaft, was direkt dem Nachwuchs zugutekommt. Die Autoren betonen, dass die gemessenen Effekte medizinisch durchaus relevante Größen seien, die den Kindern einen deutlich besseren Start ermöglichen und sich so unter Umständen lebenslang auswirken.« Also wenigstens das muss doch die Kritiker überzeugen, wobei der ironische Unterton hier mitgelesen werden sollte.

Und wenn wir es schon mit Zahlen und dem Arbeitsmarkt haben, dann darf in diesen Tagen die Private Krankenversicherung (PKV) nicht fehlen, Und das eben nicht aufgrund steigender Prämien für die dort Versicherten, sondern mit Blick auf die Menschen, die in den Versicherungsunternehmen arbeiten. Denn dunkle Wolken scheinen am Himmel aufzuziehen, wir stehen vor einem großen Bundestagswahlkampf und erneut werden Konzepte einer „Bürgerversicherung“ wieder aus den Schubladen geholt und reaktiviert, um denen, die auf eine endgültige Auflösung des dualen Krankenversicherungssystems hoffen, neue Nahrung zu geben.

Und dann wird man mit solchen Schlagzeilen konfrontiert: Bürgerversicherung würde Zehntausende Arbeitsplätze bedrohen, so die FAZ. Da müssen sich jetzt die Befürworter einer solchen Bürgerversicherung ganz warm anziehen – und das auch deshalb, weil die Vorhersage der angeblichen (angeblich deshalb, weil sie derzeit noch nicht zur Kontrolle der Berichterstattung allgemein verfügbar ist) Jobverluste nicht von den bekannten Gegnern des Vorhabens kommt:

»Die Einführung einer gesetzlichen Bürgerversicherung könnte dazu führen, dass viele Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren – in den Privaten Krankenversicherungen (PKV). Zu diesem Ergebnis kommt eine jetzt veröffentlichte neue Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Eine solche von SPD, Grünen und Linken favorisierte gesetzliche Krankenversicherung für alle würde je nach Ausstiegsszenario dazu führen, dass in der PKV zwischen 22.700 und 51.000 Stellen abgebaut werden müssten.«

Die Studie geht von von etwa 68.000 Beschäftigten (Stand 2014) im Bereich der PKV aus. Die Verluste lägen also zwischen knapp einem Drittel und rund drei Vierteln der Arbeitsplätze dort. Was für ein Kahlschlag, würde es denn dazu kommen.

Und um die aufrechten Bürgerversicherungs-Linken noch weiter einzuschüchtern, wird eine einprägsame Analogie hergestellt, was da auf uns zukommen könnte: »Dieser Stellenabbau entspräche einer Größenordnung von etwa dem Drei- bis Sechsfachen der aktuell bei Tengelmann-Kaiser bedrohten Belegschaft, heißt es in der Studie.«

Und dann legt man noch eine Schippe drauf, damit die Aufschrift „Bitte nicht anfassen“ auch wirklich nicht zu übersehen ist: »Der PKV-Verband wies wiederholt darauf hin, das jeder Euro in der PKV weitere 2,10 Euro an zusätzlicher Bruttowertschöpfung in anderen Unternehmen bewirke. Und mit jedem einzelnen Arbeitsplatz seien weitere 4,6 Arbeitsplätze verbunden.«
Wollt ihre das wirklich wollen, ihr Anhänger einer Bürgerversicherung?

An dieser Stelle muss man natürlich in mehrfacher Hinsicht innehalten und sich fragen, was für ein – durchschaubares – Manöver wird hier eigentlich aufgeführt? Es geht dabei keineswegs um eine Verteidigung des Konzepts der Bürgerversicherung, über deren Vor- und Nachteile zu streiten wäre ein eigenes Thema. Die Anfragen an die Aussage, die über die Studie (die wie gesagt derzeit nur ausgewählten Journalisten bekannt zu sein schein, so dass man sie noch nicht im Original prüfen kann) derzeit in den Medien durch copy and paste Verbreitung findet, stellt ab auf die beklagenswerte Perspektive, dass Zehntausende ihren Arbeitsplatz verlieren werden, wenn denn die Bürgerversicherung kommt.

Anfrage 1: Aber ist das so, vor allem in dem zitierten Umfang – bis zu drei Viertel aller PKV-Arbeitsplätze? Denn selbst wenn – was angesichts der Beharrungskräfte und der Machtverhältnisse äußerst unwahrscheinlich wäre – die Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufgehoben werden würde, können wir plausibel davon ausgehen, dass die PKV nicht von der Bildfläche verschwindet, sondern sich auf das kaprizieren müsste, was man als ihr eigentliches Kerngeschäft definieren könnte, also den Vertrieb von Zusatzversicherungen und die Betreuung dieser Kunden.

Anfrage 2: Wenn das derzeitige Geschäftsmodell der PKV aus welchen Gründen auch immer nicht mehr tragfähig sein sollte, dann verlieren auf der einen Seite Menschen ihren bisherigen Arbeitsplatz, weil sie eben nicht mehr aus dem gescheiterten Geschäftsmodell finanziert werden können. Das aber passiert tagtäglich und wird viele Arbeitnehmer nach neuesten Studien in den vor uns liegenden Jahren in einer ganz anderen Größenordnung treffen. Es sei an dieser Stelle nur beispielhaft auf die gerade erst veröffentlichte Studie von Wolter et al. (2016): Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie. Szenario-Rechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen hingewiesen, in der man folgendes Rechenergebnis präsentiert bekommt:

»In der digitalisierten Welt wird es im Jahr 2025 einerseits 1,5 Mio. Arbeitsplätze, die nach der Basisprojektion noch vorhanden sein werden, nicht mehr geben. Andererseits werden im Wirtschaft 4.0-Szenario ebenfalls 1,5 Mio. Arbeitsplätze entstanden sein, die in der Basisprojektion nicht existieren werden.«

Und bei den Jobs, die nach den Rechen-Szenarien der Arbeitsmarktforscher verloren gehen, geht es um Arbeitsplätze für Menschen vor allem aus der mittleren Qualifikationsebene, mit einer (in der Vergangenheit) wertvollen Berufsausbildung. Wen gleichzeitig an anderer Stelle 1,5 Mio. neue Jobs geschaffen werden, könnte man argumentieren, dass das alles ja kein Problem sei, weil unterm Strich gleicht sich das ja aus. Dass passiert natürlich nur in einer sehr unvollkommenen Art und Weise, nicht nur wegen der regionalen Ungleichverteilung der Jobverluste und der neuen Jobs, sondern auch, weil die einen Qualifikationen nicht mehr gebraucht werden, auf den anderen, neuen Arbeitsplätzen hingegen oftmals ganz anders gelagerte Qualifikationsprofile erwartet werden.
Die Ratschläge der Forscher sind an dieser Stelle wohlfeil und möglichst allgemein gehalten – auf die Weiterbildung der Leute kommt es dann eben an, das wird ein Schwerpunkt der absehbaren Zukunft.

Aber man kann an diesem Beispiel anknüpfend fragen, warum soll diese Strukturwandelaufgabe nicht auch der PKV (und einem Teil der dort beschäftigten Menschen) zugemutet werden können? Warum sollen die wegfallenden Beschäftigten nicht ihre Schaffenskraft und verbleibende Lebensarbeitszeit in den Dienst anderer Branchen und Unternehmen stellen?

Irgendwie wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Von den vielen „normalen“ Arbeitnehmer erwartet man diese Flexibilität, aber bei den PKV-Beschäftigten setzt ein großes Wehklage ein? Haben die einen besonderen Stellenwert? Nein, nicht wirklich. Diejenigen, die sich jetzt dieser Studie bedienen, wollen einen Angriff auf die Zweiteilung des Krankenversicherungssystems abwehren bzw. ein erneutes Aufflammen der Infragestellung im vor uns liegenden Wahlkampf im Keim ersticken.
Hier wird offensichtlich eine Brutto-Rechnung instrumentalisiert. Das ist gerade an dieser Stelle übrigens nicht neu, in der FAZ wurde explizit darauf hingewiesen: »Eine ähnliche Studie, die im Jahr 2013 im Auftrag der Gewerkschaft Verdi erstellt wurde, hatte … ein noch deutlicheres Ergebnis. Sie sorgte zumal im Gewerkschaftslager für enormes Aufsehen.«

Insofern überrascht dann so eine Meldung nun gar nicht: CDU-Politiker: Gabriel soll Debatte stoppen: »Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Stritzl hat SPD-Chef Sigmar Gabriel aufgefordert, die Debatte um eine Bürgerversicherung in seiner Partei zu stoppen … Durch eine Umwandlung in eine Bürgerversicherung für alle würden … Zigtausende von Arbeitsplätzen vernichtet, sagte Stritzl weiter.«

Die Flüchtlinge ruinieren die Gesetzliche Krankenversicherung? Schon ist man mittendrin in der Debatte über Systemprobleme. Da darf die Private Krankenversicherung nicht fehlen, die kräftig zulangt. Bei denen soll Draghi und die EZB schuld sein

In der aufgeheizten Atmosphäre in unserem Land, die nicht wenige dazu antreibt, ständig und überall „die Flüchtlinge“ als Ursache für gesellschaftliche Verteilungsprobleme zu identifizieren und eine dadurch bedingte Schlechterstellung „unserer“ Leute zu belegen, als hätte es die dahinter stehenden Prozesse nicht schon vor der großen Zuwanderung im vergangenen Jahr gegeben, passt dieser Vorstoß aus den Reihen der AfD hervorragend: Frauke Petry hatte auf Facebook ihrer Anhängerschaft und den Suchern einfacher Zusammenhänge mitgeteilt: „Durch die sogenannte Flüchtlingskrise droht die Finanzierung unseres Gesundheitswesens zu kollabieren. Die AOK fordert deshalb jetzt Steuerzuschüsse für die gesundheitliche Versorgung von Migranten, ansonsten drohten erhebliche Beitragsanhebungen.“ Und sie konnte sich scheinbar auf einen hochrangigen Vertreter der Krankenkassen selbst stützen: Der Vorsitzende des Verbands Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, hatte Zuschüsse im Hinblick auf eine Unterfinanzierung der Krankenkassen gefordert. „Für einen Arbeitslosengeld-II-Empfänger zahlt die Bundesagentur aktuell 90 Euro im Monat an die Krankenkassen. Die durchschnittlichen monatlichen Kosten liegen aber bei 138 Euro“, sagte Wältermann der „Rheinischen Post“, die ihre Meldung dazu unter diese Überschrift gestellt hatte: AOK zahlt bei Flüchtlingen drauf. Und da steht gleich am Anfang unmissverständlich: »Wegen der steigenden Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen im Gesundheitssystem schlägt die AOK Rheinland/Hamburg Alarm.«

Wenn man weiß, welche Bedeutung gerade das Thema Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung bei vielen Menschen hat, dann kann man verstehen, dass es sich hier um eine wirklich perfide Konstruktion eines brisanten Zusammenhangs handelt, der bei den Betroffenen Abwehrhaltungen gegen die zusätzlichen Kostgänger auslösen soll, was sicher auch bei nicht wenigen funktioniert.

Aber ist dem so? Auch die Krankenkassen erkannten schnell die Brisanz der Indienstnahme der Kassen-Finanzprobleme für die Argumentation der AfD. Ein Ergebnis waren dann so ein Artikel: AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf. Darin wird der Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Kitsch, mit diesen Worten zitiert: „Auch im Gesundheitswesen schürt die AfD-Vorsitzende mit einem durchsichtigen Instrumentalisierungsmanöver die Ängste der Bevölkerung und suggeriert eine unfaire medizinische Versorgungssituation. Sie sollte sich lieber schleunigst mit der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung vertraut machen, bevor sie weiter Schaden anrichtet.“

Der AOK-Bundesverbandsvorsitzende »erklärte, es gebe bisher keine Anzeichen, dass Geflüchtete höhere Kosten verursachten als Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen. Die Unterfinanzierung der Krankenversicherungsbeiträge von Hartz-IV-Empfängern entstehe nicht durch Flüchtlinge, sondern weil die Beiträge der Bundesagentur für Arbeit nicht ausreichten, betonte Litsch. Der Bund zahlt den gesetzlichen Krankenkassen aus Steuergeldern Beiträge für die medizinische Versorgung von Hartz-IV-Empfängern. Darunter fallen auch arbeitslose Flüchtlinge, die nach 15 Monaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln können und ebenfalls Leistungen nach den Hartz-IV-Regelungen (Arbeitslosengeld II) bekommen.«

Und auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, wird in den Zeugenstand gerufen und mit dem Hinweis zitiert, »dass die Pauschale für die Krankenversicherung von Hartz-IV-Empfängern von derzeit rund 90 Euro nicht ausreiche. Es seien eher an die 140 Euro nötig. Dies gehe auch nicht zulasten der Krankenkassen und damit der Beitragszahler, sondern sei eine durch Steuern zu finanzierende staatliche Aufgabe.«

Nun wird sich der eine oder andere erinnern: Das hatten wir auch hier doch schon mal behandelt. Genau, beispielsweise bereits am 21. Februar 2016 mit dem Beitrag Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität sowie nachfolgend ausführlich am 19. Juni 2016 in dem Beitrag Eine Finanzspritze für die Krankenkassen aus der gut gefüllten Schatulle des Gesundheitsfonds (im Wahljahr 2017), die Frage nach dem Geschmäckle und die wirklichen Systemprobleme.
Diesem Beitrag kann man entnehmen, dass tatsächlich eine Teil-Wahrheit in der AfD-Aussage zu erkennen ist, die man nicht wegdiskutieren kann: Natürlich steigen die Finanzprobleme der Krankenkassen, wenn deutlich mehr Menschen versorgt werden müssen, für die bzw. von denen es aber aus Sicht der Krankenkassen zu wenig Geld gibt. Das ist übrigens insgesamt betrachtet innerhalb der Krankenversicherung ein ganz normaler Zustand und nennt sich Umverteilung zwischen den unterschiedlichen Risikogruppen in einer Krankenkasse. Die eigentliche Logik ist simpel: Die Krankenkasse dient ja gerade dem Zweck, Menschen zu versorgen, deren Beiträge in keinem Verhältnis stehen (können) zu den Ausgaben, die man für sie tätigen muss. Die andere Seite der Medaille ist natürlich zwingend: Es muss dann immer genug Versicherte geben, die mehr Beiträge zahlen als sie an Leistungen beanspruchen bzw. die über längere Zeiträume bei hohen Beitragszahlungen gar keine Leistungen in Anspruch nehmen.

Der vorliegende Fall mit „den Flüchtlingen“ ist insofern etwas komplizierter, als hier mehrere Verteilungsprobleme involviert sind, die in dem erwähnten Beitrag bereits angesprochen wurden: Die Kassen bekommen für diese Personen eine Pauschale von rund 90 Euro pro Monat, die sie auch für andere Menschen bekommen, die nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, weil das ohne Unterschied alle Hartz IV-Empfänger betrifft. An dieser Stelle könnte man scheinbar relativ einfach lösungsorientiert argumentieren und fordern, was die Kassen auch machen, dass die vom Bund aus Steuermitteln zu finanzierende Pauschale entsprechend der Kosten angehoben wird, in dem bereits zitierten Artikel AOK klärt nach Petry-Behauptung über Kosten auf wird das ja auch vorgeschlagen (wobei die Aussage des Bundesärztekammerpräsidenten und anderer, dass 140 Euro statt 90 Euro notwendig seien, um „kostendeckend“ arbeiten zu können, sicherer daherkommt, als sie derzeit ist, denn hinsichtlich der Ausgaben für geflüchtete Menschen bewegen wir uns auf unsicherem Terrain, in dem Blog-Beitrag vom 19. Juni 2016 wurden beispielsweise noch andere Größenordnung zitiert: »Es gibt … erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

  • Es sei an dieser Stelle nur grundsätzlich angemerkt, dass diese Argumentationslinie mit Blick auf das System Gesetzliche Krankenversicherung nicht unproblematisch ist, wird hier doch hier eine Kostendeckungsrechnung aufgemacht für eine ganz bestimmte Personengruppe, die den allgemeinen Umverteilungsmechanismus im System tangiert. Warum dann nur für die Flüchtlinge? Was ist mit den anderen Personengruppen, beispielsweise die Niedriglöhner (mit entsprechend niedrigen Beiträgen für die Kassen), die aber möglicherweise hohe Ausgaben mit sich tragen? Und was ist mit den Menschen, die Leistungen bekommen, aber gar keine Beiträge zahlen, weil sie beispielsweise beitragsfrei über die Familienmitversicherung abgesichert sind? Aus einer grundsätzlichen Perspektive (nicht mit Blick auf die tatsächliche Finanzierungsmechanik) sind die vielgestaltigen Umverteilungseffekte gerade ein Wesensmerkmal der GKV.

Zurück zum Aufreger-Thema Pauschale für Flüchtlinge, wenn sie denn im Hartz IV-System sind, mithin, das sollte deutlich geworden sein, ein Thema, das alle Grundsicherungsempfänger betrifft. Die Diskrepanz zwischen der Pauschale und den (angeblich) höheren tatsächlichen Ausgaben wird – wie die kurzen Hinweise zur Konstruktionslogik einer Gesetzlichen Krankenversicherung gezeigt haben sollten – nicht deshalb zu einem Verteilungsproblem, weil es diesen Unterschied gibt, sondern weil die damit verbundenen Finanzierungsprobleme der Kassen nun einen anderen und in unserem Kontext den eigentlich relevanten problematischen Verteilungsmechanismus auslösen, der aus einer politischen Weichenstellung zurückliegender Jahre resultiert: Wenn die Aufgabenanstiege der gesetzlichen Krankenkassen zu höheren Beitragsbedarfen führen, dann greift nun der Mechanismus der Zusatzbeiträge, die aber – aufgrund der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags – allein von den Versicherten zu stemmen sind, also außerhalb der paritätischen Finanzierung.

Die Versicherten müssen also die tatsächlich durch die zusätzlich „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem steigenden Einnahmebedarfe alleine aufkommen. Das müssen sie aber – und der Hinweis ist nicht trivial – auch für alle anderen „unterfinanzierten“ Menschen im Kassensystem. Insofern kann und muss man aus verteilungspolitischer Sicht das eigentliche Problem adressieren, wenn man denn darin ein Problem sieht: die Aufgabe der Parität hinsichtlich der Finanzierung in der GKV. Und wenn den Versicherten bewusst wird, dass sie alleine für zukünftige Kostenanstiege aufzukommen haben, dann kann man diesen Tatbestand hervorragend instrumentalisieren, um die Leute politisch „nach unten“ zu orientieren, also tatsächlich auch wirklich zusätzliche Leistungsempfänger im System als Problem zu brandmarken, statt dass die Versicherten erkennen, dass sie Opfer einer allgemeinen, das bedeutet unabhängig von „den Flüchtlingen“ vorgenommenen Umverteilung zu ihren Ungunsten geworden sind.

In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, dass die Betroffenen erkennen, dass sie in mehrfacher Hinsicht in strukturelle Finanzierungsprobleme im System eingebunden sind. Denn nicht nur die einseitige Verlagerung der Finanzierung der zukünftigen Kostenanstiege auf die Schultern der Versicherten ist problematisch, zumindest sehr diskussionsbedürftig. Man muss das im Zusammenhang sehen mit der Tatsache, dass insgesamt die Aufteilung der Ausgaben im Gesundheitssystem zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine erhebliche Unwucht hat. Vgl. hierzu den differenzierten Beitrag von Florian Diekmann: Arbeitgeber oder Arbeitnehmer – wer zahlt mehr für Gesundheit?  Arbeitnehmer und Arbeitgeber behaupten beide, die Hauptlast der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen. Wer hat recht? So seine Fragestellung. Am Ende kommt er nach Abwägung aller vorliegenden Daten und Zusammenhänge zu diesem Befund:

»Nach unserer Bewertung ergibt sich für das Jahr 2014 tatsächlich eine höhere Belastung der Arbeitnehmer – und das bereits vor den massiven Beitragssteigerungen der kommenden Jahre. Zwar sind die DGB-Zahlen wegen Unschärfen in der amtlichen Statistik nur scheinbar exakt und daher teilweise etwas zu hoch, aber die Größenordnung von rund zehn Milliarden Euro Mehrbelastung erscheint plausibel.«

Aber selbst die nunmehr nicht nur von den Gewerkschaften, sondern auch teilweise von denen, die den Abkoppelungsmechanismus mit eingeführt haben wie der SPD, geforderte Rückkehr zur „paritätischen Finanzierung“ könnte zwar zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Gesundheitskosten zwischen Arbeitgebern und privaten Haushalten führen. Aber möglicherweise ist das eigentliche Systemproblem ein ganz anderes – die grundsätzliche Kopplung der Beiträge an die Arbeitseinkommen (und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, was faktisch „nur“ zu einer Belastung der unteren und mittleren Einkommen führt. Wenn man diese Perspektive einnimmt, dann könnte man durchaus formulieren, dass es das Ziel sein sollte, die Gesamtbelastung der Arbeitseinkommen nicht noch weiter steigen zu lassen – also die Summe aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen. Denn das überlastet heute schon und tendenziell immer stärker die sozialversicherungspflichtigen Arbeitseinkommen. Auch an die Vorschläge, die aus einer solchen Perspektive abgeleitet werden hinsichtlich einer anderen Finanzierung – also mehr Steuermittel in das GKV-System und/oder Kapitalerträge und Mieteinnahmen beitragspflichtig zu machen, um nur zwei Aspekte zu nennen, werden sich viele erinnern unter dem Stichwort „Bürgerversicherung“ & Co.

Wenn wir schon bei den Systemfragen sind, dann darf natürlich der Hinweis auf die besondere Problematik in Deutschland, dass wir es mit einer Dualität des Krankenversicherungssystems zu tun haben, nicht fehlen. Also die Trennung zwischen GKV und PKV. Und die die PKV funktioniert zwar auch als Versicherung mit den ihr typischen Umverteilungen, aber die Finanzierung basiert auf einer ganz anderen Systematik als das, was wir im GKV-System haben.

Und hier ist offensichtlich mächtig Rauch in der Hütte: Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte, wird uns berichtet:

»Die Beiträge in der Privaten Krankenversicherung (PKV) werden demnächst zum Teil drastisch erhöht … mit dem Beginn des neuen Jahres (werden) die Sätze im Schnitt zwischen elf und zwölf Prozent steigen. Betroffen davon sind rund zwei Drittel der fast neun Millionen privat Versicherten.«

Das ist ja nun mal ein ordentlicher Schluck aus der Pulle. Nun können die Versicherer hier nicht wirklich die Flüchtlinge zu Schuldigen an der Misere erklären, aber deren Funktion muss nun ein anderer übernehmen, der gerade in Deutschland mittlerweile ein richtig schlechtes Image hat: Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber was hat der nun mit diesem kräftigen Beitragsaufschlag in der deutschen PKV zu tun? Dazu die offizielle Position seitens der PKV:

»Volker Leienbach, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes der Privaten Krankenversicherung bestätigte auf Anfrage, „dass es zu untypischen Beitragserhöhungen“ kommen werde … Leienbach begründete die Beitragssteigerungen mit der Situation der Niedrigzins-Phase auf den Finanzmärkten. „Was am Kapitalmarkt nicht zu erwirtschaften ist, muss durch eine Erhöhung der Vorsorge ausgeglichen werden“ … Dies sei „gesetzlich vorgeschrieben“. Davon seien nun Privatversicherte „jetzt also ebenso betroffen wie andere Sparer“ auch … Tatsächlich finden viele private Versicherungen für gut verzinste Anlagen, die nun auslaufen, keinen ähnlich attraktiven Ersatz.«

Man erkennt an dieser Argumentation, dass die Finanzierung bzw. genauer: ein Teil der Finanzierung innerhalb des PKV-Systems einer ganz anderen Logik folgt als die der Umlagefinanzierung im GKV-System: Eine Teil-Kapitaldeckung spielt hier eine große Rolle und damit handeln sich verständlicherweise die PKV-Unternehmen vergleichbare Probleme ein wie wir sie im Bereich der kapitalgedeckten Altersvorsorge kennen und diskutieren: In einer Zeit der Niedrigst-, Null- und sogar Negativzinsen sowie einer expansiven Geldpolitik im Zusammenspiel mit dem, was man „Anlagenotstand“ nennt, können die Verwerfungen auf den Finanzmärkten nicht an kapitalgedeckten Systemen vorbeigehen.

Aber ist wirklich der Herr Draghi von der EZB an den kräftigen Beitragserhöhungen in der deutschen PKV auch noch schuld?
Dass die Geldpolitik der EZB einen Belastungsfaktor darstellt, darauf wurde hingewiesen und das ist gewissermaßen der Preis, denn man für die angeblich so überlegenen Kapitaldeckung zahlen muss.

Aber die Systemprobleme der PKV reichen deutlich weiter, denn die PKV

  • hat auch das Problem, dass ihr schlichtweg eine ausreichende Zahl an Neuzugängen vor allem in der Vollversicherung fehlt, die aber im Geschäftsmodell der PKV zwingend erforderlich sind;
  • dass die PKV-Unternehmen anders als die Krankenkassen im GKV-System kaum über relevanten (Ausgaben-)Steuerungsinstrumente verfügen und des dadurch schwer haben, die Kostenanstiege über diesen Weg zu reduzieren;
  • dass die Leistungserbringer die PKV-Patienten nicht selten als betriebswirtschaftlich motivierten Steinbruch verwenden und im Ergebnis nicht selten eine Überversorgung generieren, um mit den Einnahmen aus der PKV auch eine (angebliche bzw. tatsächliche) „Unterfinanzierung“ aus dem GKV-Bereich zu kompensieren. 

Die PKV insgesamt steht also unter mehrfachen Druck und auch die politische Debatte über die (Nicht-)Zukunft der versäulten Krankenversicherungslandschaft ist ja nicht verstummt, sondern läuft parallel weiter. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Eine „integrierte Krankenversicherung“ als Zwischenschritt auf dem Weg zur Bürgerversicherung? Jenseits der alten Welt von privat oder gesetzlich. Am Beispiel der Selbständigen gerechnet vom 12. Juli 2016. Auch in dem Artikel Drastische Beitragserhöhungen für privat Versicherte gibt es entsprechende Hinweise: »Die Ankündigung der PKV hat in der Bundespolitik die Debatte um Sinn und Unsinn des Nebeneinanders von PKV und GKV neu befeuert. Die SPD dringt auf ein Ende des Dualismus und wirbt für ihr Modell einer einheitlichen Bürgerversicherung … Hilde Mattheis, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion, sprach von einem „Schlag für viele Versicherte, die nun den Preis für ein Geschäftsmodell zahlen müssen, das nicht mehr funktioniert“.«

In dem Artikel aus der Stuttgarter Zeitung findet man aber auch einen anderen Hinweis aus den Reihen der Union, konkret vom Gesundheitsexperte Michael Heinrich, der so zitiert wird:

»Kurzfristig will er den Privaten jährliche Beitragsanpassungen ermöglichen, um drastische Sprünge zu vermeiden. Langfristig plädiert er „für eine Zusammenführung der Gebührenordnungen für die ärztliche Vergütung von privaten und gesetzlichen Kassen“.«

Und der Hintergrund, der den kurzfristigen Vorschlag auslöst, wurde sogleich aufgegriffen von den Verteidigern des PKV-Systems und man mag es nicht glauben angesichts der vielschichtigen Probleme des PKV-Systems – es gibt Journalisten, die sich tatsächlich dazu versteigen, dass die SPD an der schlechten Presse für die PKV schuld sei. Diese Volte schafft Andreas Mihm von der FAZ in seinem Kommentar: Überfall auf Versicherte. Er argumentiert so: Der „Fluch für Kunden und Anbieter“ sei vor allem aus der Regulierung seitens des Staates entstanden.

»Das Verbot der gleitenden Tarifanpassung gehört dazu. Verbraucherschützer monieren diese Behandlung Privatversicherter, denen erst nach Erreichen von Kostenschwellen, dann aber überfallartig, eine gepfefferte Tariferhöhung präsentiert wird. So ein Überfall steht jetzt an.«

Ganz offensichtlich geht es dem Kommentator um diesen Zusammenhang: Der gewaltige Sprung bei den Beiträgen, der Anfang 2017 ansteht, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die PKV-Unternehmen erst dann ihre Beiträge (nach oben) anpassen dürfen, wenn besondere Sprünge in den Leistungsausgaben nachweisbar sind, während die Gesetzliche Krankenversicherung ihre Beiträge jährlich anpassen kann.

Wenn man also auch in der PKV die Möglichkeit hätte, so Mihm, die Beiträge jährlich nach oben zu heben, dann wäre das nicht so schmerzhaft ins Bewusstsein gedrungen, was da an Mehrausgaben auf die Versicherten zukommt – was natürlich ein irgendwie putziges Argument ist, denn nur dadurch, dass ich den Beitragsanstieg in der PKV gleichsam in kleine Portionen stückele, ändere ich ja nichts an der Belastung an sich. Ganz offensichtlich geht es hier wieder einmal um die Psychologie der großen Zahl.

Aber der Höhepunkt des Kommentars kommt dann noch – die Suche nach dem Schuldigen. Und der ist schnell gefunden, denn man hätte das Verbot der gleitenden Tarifanpassung aufheben müssen, dann stünde die PKV jetzt nicht in diesem Medien-Schlamassel, so Mihm:

»Doch dazu hätte das Gesetz geändert werden müssen. Das hat die SPD verhindert. Ihre Logik ist eiskalt: Wenn sie die Privatkassen schon nicht abschaffen kann, dann soll die Branche zumindest nicht gut dastehen – selbst wenn diese selbst dafür gar nichts kann.«

Ach, man kann sich die Welt auch einfacher basteln, also sie ist.

Abbildung 1: Wechsel zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung 1991- 2017, sozialpolitik-aktuell.de 
Abbildung 2: Vollversicherte in der privaten Krankenversicherung 1991- 2015, sozialpolitik-aktuell.de

Eine „integrierte Krankenversicherung“ als Zwischenschritt auf dem Weg zur Bürgerversicherung? Jenseits der alten Welt von privat oder gesetzlich. Am Beispiel der Selbständigen gerechnet

Bei den gesetzlichen Krankenkassen haben sich Beitragsrückstände von 4,48 Milliarden Euro angehäuft. Seit vor knapp zehn Jahren die Versicherungspflicht in Kraft getreten ist, müssen die Kassen auch Versicherte halten, die nicht zahlen. Das berichten Jan Drebes und Eva Quadbeck in ihrem Artikel Immer mehr säumige Kassenpatienten. In den vergangenen Jahren ist das Volumen der Beitragsschulden in der GKV kontinuierlich angestiegen: »2011 lagen die Beitragsschulden noch bei gut einer Milliarde Euro, 2014 waren es 2,77 Milliarden und 2015 dann 3,24 Milliarden Euro.« Aktuell sind es schon die genannten 4,48 Milliarden Euro. 2013 wurden ausstehende Beiträge für bestimmte Pflichtversicherte durch ein Gesetz erlassen, ansonsten wären die Beitragsschulden für die Kassen heute noch höher.

Aber wer hat diese Rückstände produziert? Den Krankenkassen etwas schuldig bleiben können nur die sogenannten Selbstzahler, die nicht fest angestellt sind. Und da tauchen sie auf, die Selbständigen bzw. korrekter: ein Teil der Selbständigen: »So sind es häufig Solo-Selbstständige mit kleinen Einkommen oder Personen, die durchs soziale Netz gefallen und auch nicht über Hartz-IV-Bezug versichert sind, die den Kassen die Beiträge schuldig bleiben.« Von den Krankenkassen wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur die Schulden der bisherigen Nichtzahler steigen, sondern dass auch die Zahl der Versicherten mit Beitragsschulden. zunimmt.

Was man dem Sachverhalt auf alle Fälle entnehmen kann: Es gibt offensichtlich ein Teil der Selbständigen, denen es nicht gelingt, die Beiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu stemmen. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht von denen gesprochen, die in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert sind bzw. sein sollen, dort aber auch Probleme mit den Beiträgen haben, die sie nicht (mehr) zahlen können. 

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Sozialpolitik besteht aus Fortsetzungsgeschichten. Über die hübsch verpackte, aber gefährliche Rutschbahn in eine individualisierte Krankenversicherungswelt

In mehreren Beiträgen wurde hier bereits auf eine gefährliche Entwicklungslinie in der Krankenversicherungswelt aufmerksam gemacht: So wurde am 12. Juli 2015 der Beitrag Die Entsolidarisierung kommt auf leisen Sohlen, oftmals unbeachtet, weil so abseitig, dann aber Fahrt aufnehmend und ein ganzes System verändernd. Beispielsweise die Krankenversicherung veröffentlicht. Daran anschließend am 14. August 2015 der Artikel Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems. Und aus dem laufenden Jahr sei auf diesen Beitrag hingewiesen, in dem auch das „Rutschbahn-Bild“ schon in der Überschrift auftaucht: Das war ja zu erwarten. Krankenkassen wollen Fitnessdaten nutzen. Auf der Rutschbahn in eine Welt, die nur am Anfang nett daherkommen wird vom 9. Februar 2016. Der Kern des kritischen Blicks auf die Entwicklung im Bereich der individuellen Gesundheitsdaten und des (möglichen) Zugriffs der Krankenkassen darauf wurde in diesem Interview mit mir herausgearbeitet: „Eine fundamentale Endsolidarisierung“. Krankheiten sind nicht nur Ausdruck der eigenen Lebensführung. Bezugnehmend auf das wachsende Interesse der Versicherungswirtschaft, künftig auf die mit Fitnessarmbändern, Smartphone oder Smartwatch gewonnenen Gesundheitsdaten der Versicherten zugreifen zu wollen – wobei das gerade am Anfang nur positiv verkauft bzw. verpackt wird, um das (mögliche) eigentliche, langfristige Interesse zu überdecken (vgl. dazu nur als ein Beispiel so ein Artikel: Jeder Vierte läuft mit digitalem Fitness-Helfer: »Digitale Trainingsunterstützung liegt im Trend – und das nicht nur bei der technikaffinen Jugend, sondern auch bei älteren Menschen.
Insbesondere in der Reha könnten Apps & Co. zur Motivation beitragen.« Wer kann was dagegen haben, wenn die Effektivität der Reha-Maßnahmen durch diese neue Instrumente verbessert wird? Das nützt doch den Patienten – sei hier auf mein Hauptargument verwiesen:

»Wir werden auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt. Am Ende steht die Verwirklichung einer radikalen Individualisierung der Krankenversicherung, bei der immer passgenauer nach »guten« und »schlechten« Risiken differenziert werden kann. Wobei die Definition von Risiken von übergeordneten, der Schadensökonomie verpflichteten Maßstäben bestimmt sein wird.« Und weiter hinsichtlich des derzeit bei der Verkaufe der neuen Ansätze als positiv daherkommendes eingesetzte Argument, dass das ein positiver Ansatz sei, weil man doch die individuelle Gesundgerhaltung und Vermeidung von Krankheitsfällen fördere: Das setzt voraus, »dass „Gesundheit“ bzw. „Krankheit“ ausschließlich individuell determiniert und dann auch noch durch persönliche Aktivitäten beeinflussbar ist. Aber viele Erkrankungen sind genetisch oder – weitaus komplexer und gefährlicher für die Betroffenen – durch die Lebenslagen bestimmt. Im Ergebnis muss das dazu führen, dass die „guten Risiken“ auch noch finanziell entlastet und die anderen noch stärker belastet oder gar irgendwann einmal ausgeschlossen werden. Der Sozialversicherungscharakter würde so ad absurdum geführt.«

Ein wichtiges Argument, warum die Versicherungswirtschaft so ein Interesse an dieser Entwicklung haben muss, lautet: Es »ist auf alle Fälle versicherungsbetriebswirtschaftlich überaus rational, denn durch die umfassende Preisgabe immer mehr persönlicher Messwerte verlieren die Versicherten ihren »Vorteil«, mehr über sich zu wissen als die Versicherungen – das war und ist bislang das größte Hindernis für eine risikobezogene Differenzierung der Beiträge.«

Wir sind in diesem Fall konfrontiert mit einer echten versicherungsökonomischen Herausforderung, auch bekannt als „asymmetrische Information“ zwischen den Versicherten und den Versicherungsunternehmen, die im Fall der privaten Krankenversicherungen – wenn überhaupt – nur in der Lage sind, wahrscheinlichkeitsstatistisch abgeleitete Aussagen über das Kollektiv oder eine bestimmte Kohorte machen zu können. In diesem Kontext wird dann auch verständlich, warum man so ein großes Interesse an der elektronischen Patientenakte und den dort abgelegten Daten über die individuelle Krankheitsbiografie hat oder haben könnte – und warum es in dieser Systemlogik „wunderbar“ wäre, wenn die individuellen Daten zu dem, was schon passiert ist, verknüpft werden könnten mit Daten zum Lebenswandel, aus denen man individuelle Risikoprofile für die Zukunft ableiten könnte:

»Die eigentliche Herausforderung ist die elektronische Patientenakte: Man muss man verhindern, dass die Krankheitsbiographie – und die Lebensstildaten – hier abgelegt werden. Wenn das erst einmal passiert, dann bekommt man die Verwertungs- und Missbrauchsinteressen kaum noch in den Griff. Es beginnt mit Beitragsvorteilen für die einen und wird in einer fundamentalen Entsolidarisierung der Krankenversicherung enden.«

Offensichtlich stehe ich nicht allein mit dieser für den einen oder anderen gerade in der aktuellen Frühphase der Entwicklung eher übertrieben bis apokalyptisch daherkommenden Sichtweise auf ein Feld, das derzeit doch ganz überwiegend und gestützt von entsprechenden Marketingaktivitäten als eine „schöne neue Welt“ der individuellen Gesundheitsoptimierung gemalt wird.
Nicola Jentzsch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat das Anfang Februar 2016 in ihrem Kommentar Auflösung der Privatsphäre – Ende der Solidarität? aufgegriffen und mit er ökonomischen Diskussion verzahnt:

»Ökonomen kennen die scheinbar freiwillige Offenlegung ökonomisch relevanter Informationen seit den 80er Jahren aus Signalspielen. Sie ist unter dem Namen Unraveling (englisch für Auflösung, Aufdeckung) bekannt. Sobald Akteure einen Anreiz haben, verifizierbare Informationen offenzulegen, werden die „besten Typen“ (jene mit besonders gutem Signal) dies auch tun. Dies wären im Versicherungsbeispiel alle aktiven Sportler. Jeder, der nicht offenlegt, wird mit den „schlechten Typen“ in einen Topf geworfen und muss einen höheren Preis bezahlen. Um dies zu verhindern, werden immer mehr Menschen ihre Daten preisgeben, schon weil sie sich hohe Tarife nicht leisten können oder wollen.«

Und sie verweist auf die großen „Fragen nach Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität in Bezug auf Unraveling“, wenn sie schreibt:

»So besteht die Gefahr, dass für manche Versicherten die Preise durch die zunehmende Tarifdifferenzierung steigen. Sollte dies eintreten, wäre zu fragen, wieviel Solidarität und Privatsphäre wir Effizienzgewinnen opfern wollen. Zwei Beispiele hierzu. Eine alleinerziehende, erwerbstätige Mutter mit zwei Kindern wird wohl kaum die Zeit und Energie finden, fünf Mal die Woche zu trainieren. Soll sie statt beim Fitnesstraining bei der Hausarbeit überwacht werden? Ein sehr fitter Sportler, der einen Ermüdungsbruch erleidet und auf ärztlichen Rat hin nicht mehr fünf Mal die Woche trainiert (obwohl er gerne würde und dies in der Vergangenheit nachweislich getan hat), soll der ab jetzt mehr bezahlen? Wie weit soll Personalisierung in diese Lebenssituationen vordringen?
Ist der Unraveling-Prozess einmal in Gang gekommen, ist er nur schwer aufzuhalten, zumal Offenlegung zu einer sozialen Norm werden könnte, sobald das Gegenteil mit Stigma belegt ist.«

Nun wird der eine oder andere einwenden: Alles Theorie und Spekulation. Gibt es denn schon heute Hinweise aus der Realität, die das angesprochene Gefahrenpotenzial belegen können?

Die gibt es, in Form vieler Indizien, die man zitieren kann, wenn man will. Eine kleine Auswahl – mit einem besonderen Blick auf die Problematik, die sich aus einer sukzessive im Ausbau befindlichen zentralen Speicherung individueller Daten ergeben (können), wo die „Lebensstil“-Daten, die über Apps und andere Formen erhoben werden, nur ein Teil der relevanten Datensammlung darstellen:
Die Nachrichtenagentur dpa berichtete am 12. März 216: Datenleck bei der Barmer – Krankenkasse widerspricht:

»Bei Deutschlands zweitgrößter Krankenkasse Barmer GEK gibt es nach einem Bericht der „Rheinischen Post“ ein Datenleck. Unbefugte können demnach durch das Vortäuschen einer falschen Identität mit wenigen Telefonaten und ein paar Mausklicks Details zu Diagnosen, verordneten Arzneien, Klinikaufenthalten und andere intime Informationen abfragen. Einem von der Zeitung beauftragten Tester sei es gelungen, sich über einen Online-Zugang der Kasse in Patientendaten einzuloggen.«

Jeder, der sich mit den modernen Datensystemen etwas intensiver beschäftigt hat, weiß um die Fragwürdigkeit, wenn nach außen Sicherheitsgarantien abgegeben werden, dass man nicht auf personenbezogene Daten zugreifen könne (und damit ist noch nicht einmal das langfristige Risiko angesprochen, dass sich aus solchen Datensammlungen ergeben könnte, wenn denn einmal die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die (bisherige Nicht-)Nutzung verschoben werden).

Ein weiteres Beispiel aus der realen Welt: Am 25. Februar konnten man in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung diesen Artikel von Claus Hulverscheidt lesen: „Plötzlich drogensüchtig. Patientendaten-Klau in den USA zeigt Risiko der Gesundheitskarte“. Zeitgleich erschien in der FAZ dieser Beitrag: „Hacker erbeuten Patientenakten. Schaden von 20 Milliarden Dollar / Der Schwarzmarkt blüht“. Was ist passiert? Dazu Hulverscheidt:

»Der sogenannte Identitätsdiebstahl ist in den USA schon länger einer der am schnellsten wachsenden Kriminalitätsbereiche – nun aber erreicht er eine neue, manchmal lebensgefährliche Dimension: Immer öfter werden die Daten von Krankenversicherten entwendet, die seit Inkrafttreten der großen Gesundheitsreform von 2010 elektronisch gespeichert werden. Weit mehr als 2,3 Millionen Amerikaner sind nach einer Studie des Forschungsinstituts Ponemon von den Diebstählen betroffen. Auch für die deutschen Behörden, die seit Jahren die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für die Krankenversicherten vorantreiben, ist das eine alarmierende Nachricht.
„Der Raub medizinischer Identitäten bringt Kriminellen heute erheblich mehr Geld ein als etwa der Klau von Bankdaten“, sagt Ann Patterson von der Verbraucherschutzorganisation Medical Identity Fraud Alliance. Wichtigster Grund: Während sich Scheck- oder Kreditkarten bei einem Betrugsverdacht rasch sperren lassen, fällt der Diebstahl einer medizinischen Identität oft monatelang nicht auf. In dieser Zeit ordern die Diebe in großem Stil rezeptpflichtige Medikamente, die sie weiterverhökern, etwa an Drogensüchtige. Andere verkaufen die Identitäten an Kranke, die sich keine Versicherung leisten können, wieder andere rechnen Leistungen ab, die niemand erhalten hat, oder erschwindeln staatliche Zuschüsse.«

Und das hat heute schon in den USA ganz handfeste Konsequenzen für die davon Betroffenen:

»Erfährt der betroffene Patient von dem Diebstahl, etwa bei der Quartalsmitteilung seines Versicherers, hat er oft größte Mühe, die korrekten und die fälschlich unter seinem Namen abgerechneten Posten wieder voneinander zu trennen. In zwei Dritteln aller Fälle bleibt er auf einem Teil des Schadens sitzen, laut Ponemon-Studie sind es im Schnitt 13500 Dollar. Manche Patienten gelten plötzlich als Drogensüchtige oder als Raucher, doch selbst damit nicht genug: Durch die Vermischung von echten und gefälschten Krankendaten kommt es zu Fehldiagnosen, Behandlungsfehlern und anderen gravierenden Gesundheitsgefahren. „Im schlimmsten Fall erhält jemand bei einem Unfall eine Bluttransfusion der falschen Blutgruppe, weil seine Daten geändert wurden“, sagt Steve Weisgerber, Jura-Professor an der Bentley-Universität in Massachusetts.«

Aber die elektronische Patientenakte bei uns in Deutschland wird sicher ganz sicher sein.

Und auf eine komplementäre Entwicklung hinsichtlich der Individualisierung und einer damit einhergehenden Verhaltens- und Tarifdifferenzierung in „gute“ und „schlechte“ Risiken in einem anderen Zweig der Versicherungswirtschaft muss hier hingewiesen werden – und wir erkennen die gleichen Strukturmuster wie im Bereich der Krankenversicherungen:
Philipp Seibt, Fabian Reinbold und Florian Müller haben ihren Artikel kurz und knapp so überschrieben: Daten her, Geld zurück: »Ob Auto oder Gesundheit: Immer mehr Versicherer bieten Überwachungs-Tarife an. Wer sich ausspähen lässt und brav ist, zahlt weniger.«  Immer mehr Versicherungen bieten ihren Kunden Daten-Deals an, bei denen für die Überwachung Rabatte winken. Das könnte letztlich zum Problem werden für die, die ihre Daten nicht preisgeben wollen.

»Nun hat die größte deutsche Versicherung Allianz ihren ersten sogenannten Telematik-Tarif für die Kfz-Versicherung vorgestellt. Dabei geht es um die Kontrolle des Fahrverhaltens und einen Bonus für vorsichtiges Fahren. Es ist ein Zeichen: Nach einigen kleineren Versicherungen setzt nun auch der Marktführer auf die Daten der Kunden. Die Versicherer haben mit ihren Produkten insbesondere eine junge, technikaffine Zielgruppe im Blick. Da ist vom „Spartarif“ die Rede, von „Preisnachlässen“, „Prämien“ und „Belohnungen“. Zur Zielgruppe passt es, dass viele Angebote mit Smartphone-Apps funktionieren.«

Und auch der größte deutsche Autoversicherer – gemessen an der Zahl der Versicherten – hat sich hier positioniert: Am 21.04.2016 konnte man der Print-Ausgabe der FAZ diesen Artikel entnehmen: „HUK-Coburg durchleuchtet Autofahrer“. Für die bedeutet das neue Angebot neben dem Einbau einer kleinen schwarzen Box ins eigene Auto: »Um den Vorteil eines günstigeren Tarifs zu erhalten, müssen sie einwilligen, dass die Black Box rund um die Uhr Daten über den Fahrstil sammelt, dass permanent aufgezeichnet wird, wie stark der Fahrer beschleunigt oder wie rasant er die Kurven nimmt. Aus alledem errechnet die Versicherung einen Punktewert, der in die Versicherungsprämie einfließt.«

Bei der Kfz-Versicherung lassen sich so bis zu 40 Prozent der Versicherungsprämie sparen. Hört sich doch erst einmal nach einem guten Geschäft an, aber: Die Kopplung der Versicherungsprämie an die Herausgabe von Daten kann problematisch werden, »wenn es kein Bonus mehr ist für die, die mit freiwilliger Einwilligung mitmachen, sondern ein Malus für die, die nicht mitmachen wollen«, wird die Datenschutzbeauftragte des Landes NRW, Helga Block, zitiert.

»Zugespitzt formuliert: Wenn alle gesunden, sportlichen Vorzeige-Autofahrer im Daten-Tarif sind, dann bleiben in den normalen Tarifen nur noch die rauchenden Raser übrig – und die, die ihre Daten nicht hergeben wollen. Für die könnte es dann langfristig teurer werden«, so Seibt et al. in ihrem Artikel.

Man könnte diese Liste mühelos verlängern. Zumindest sind das wichtige Hinweise darauf, dass man diesen Entwicklungen, gerade weil sie am Anfang so positiv daherkommen und kommuniziert werden und bei vielen individualisierten Menschen sicher auch auf fruchtbaren Boden fallen,  kritisch-reflektierend gegenüber stehen sollte.

Berichte aus der Welt der Privaten Krankenversicherung (PKV) verdeutlichen, wie anschlussfähig das Thema ist hinsichtlich der strategischen Ausrichtung, die dort diskutiert oder vorhergesehen wird. Dazu beispielsweise der Artikel PKV sieht sich als Gesundheitscoach: »Tarife von der Stange? Die wird es in der PKV nach einer Studie künftig nicht mehr geben. Die Branche setzt vielmehr auf individuelle Tarife und Gesundheitscoaching.« Und aus einer Studie zur Zukunft der PKV, erstellt vom Software-Hersteller Adcubum und dem Assekuranz-Dienstleister Versicherungsforen Leipzig, wird das zitiert: »Etwas mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer hält es für wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich, dass sich die Produkte der Krankenversicherer weg von starren Tarifen hin zu personenbezogenen Tarifen bewegen, bei denen die Tarifierung auf den zur Verfügung gestellten Gesundheitsdaten basiert.«

Eine kritische Perspektive taucht auch immer öfter im politischen Raum auf: Unter der Überschrift Geld gegen Gesundheitsdaten berichtet der Deutschlandfunk: »Erste Krankenkassen bieten sie bereits an: Boni-Programme für Kunden, die mit Fitness-Apps jeden Klimmzug vermessen. Nicht nur bei Datenschützern sind die Anwendungen umstritten. Für klare Regeln setzen sich auch Gesundheitsexperten im Bundestag ein.« Und weiter erfahren wir:

»Die Entwicklung ruft Datenschützer wie Gesundheitspolitiker auf den Plan. Experten von Bund und Ländern warnten am Donnerstag auf einer Konferenz in Schwerin vor „Risiken, insbesondere für das Persönlichkeitsrecht“. Zahlreiche Gesundheits-Apps und andere Fitness-Tracker gäben die aufgezeichneten Daten an andere Personen oder Stellen weiter, ohne dass die Nutzer hiervon wüssten, heißt es in einer Erklärung der Datenschutz-Beauftragten.

Auch die gezielte Nutzung solcher Daten durch Krankenkassen stößt bei den Bund-Länder-Experten auf Vorbehalte: Die Konferenzteilnehmer rufen die Politik auf zu prüfen, ob im Zusammenhang mit Fitness-Apps und anderen Geräten zur Selbstvermessung „die Möglichkeit beschränkt werden sollte, materielle Vorteile von der Einwilligung in die Verwendung von Gesundheitsdaten abhängig zu machen“. Im Klartext: Ob das Tauschgeschäft Daten gegen Prämien gesetzlich geregelt werden muss.«

Die in dem Zitat angesprochene Entschließung der Datenschutz-Beauftragten geht zurück auf die 91. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder am 6./7. April 2016 und ist überschrieben mit: Wearables und Gesundheits-Apps – Sensible Gesundheitsdaten effektiv schützen!

Für die Wissenschaft tun sich hier übrigens ganz neue und spannende Forschungsfragen und damit neue Betätigungsfelder auf: Wie werden die Menschen mit der zunehmenden individualisierenden datentechnischen Abbildung ihres Lebens umgehen, wenn ein Teil von ihnen begriffen hat, in welches Korsett sie hier gelockt worden sind bzw. werden? Wird es Umgehungsstrategien geben, werden sie manipulativ gegenzusteuern versuchen? Was ist mit denen, die sich entziehen (wollen)? Kann sich eine „Meine Daten gehören mir“-Bewegung überhaupt noch geben in Zeiten von Facebook & Co.? Fragen über Fragen.