Die „Bürgerversicherung“ wurde in den klinischen Tod sondiert. Und nun ein neuer Anlauf über die unterschiedlichen Vergütungswelten der GKV und PKV?

Also mit der „Bürgerversicherung“ hat es nicht sein sollen. Dabei sind die Freunde dieses Umbauanliegens als Tiger gestartet: Noch Ende November 2017 konnte man diese knallharte Ansage zur Kenntnis nehmen: »SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach nannte die Bürgerversicherung ein „zentrales Anliegen“ seiner Partei. Die SPD wolle eine „Bürgerversicherung mit einem gemeinsamen Versicherungsmarkt ohne Zwei-Klassen-Medizin“, sagte der Gesundheitsexperte … Wenn die Union der SPD nicht entgegen komme, werde es Neuwahlen geben.« Gut gebrüllt, aber in diesen Zeiten der Kehrtwenden nicht viel wert, wie man dann den Sondierungsergebnisse für eine GroKo neu entnehmen musste (vgl. dazu den Überblick in dem Beitrag Umrisse einer GroKo neu. Teil 3: Gesundheitspolitik und Pflege vom 15. Januar 2018). Die Union hatte der SPD deutlich gemacht – mit uns wird es eine „Bürgerversicherung“ nicht geben. Im Vorfeld wurden parallel schwere Geschütze von den Verteidigern des Status Quo eines dualen Krankenversicherungssystems aufgefahren, nicht nur die Privaten Krankenversicherer selbst. Vgl. zu deren Aktivitäten den Beitrag des Politikmagazins „Kontraste“ (ARD) vom 18. Januar 2018: Wie die privaten Krankenversicherer gegen die Bürgerversicherung Front machen: »Seit Monaten überziehen die privaten Krankenversicherer Deutschland mit einer Kampagne, in der sie vor der Einführung der Bürgerversicherung warnen. Dann würden Praxenschließungen drohen und Patienten müssten auf fortschrittliche Behandlungsmethoden verzichten, so die Privaten. Kontraste-Recherchen zeigen: Eine Kampagne voller FakeNews, die aber zu wirken scheint.« Sekundiert wurden sie von Ärzte-Funktionäre, die mit harten Bandagen unterstützend eingegriffen haben.

Wie gesehen, das hat sich gelohnt, die SPD ist da auf Granit gestoßen und – das muss man fairerweise anmerken – sie wurde an einer anderen Stelle für den Verzicht auf ihr Prestigeprojekt „entschädigt“ mit einem dieser (aus Sicht des Bundes) klassischen Geschäfte zu Lasten Dritter: »Wir werden die Parität bei den Beiträgen zur Gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen. Die Beiträge zur Krankenversicherung sollen künftig wieder in gleichem Maße von Arbeitgebern und Beschäftigten geleistet werden.« So heißt es in den Ergebnissen der Sondierung von Union und SPD vom 12.01.2018. Und wir sprechen hier, das muss man anerkennend zum Ausdruck bringen, nicht von Peanuts, sowohl in Euro gemessen wir auch mit Blick auf das Gesamtsystem der Finanzierung: Bei den Zusatzbeiträgen geht es um Größenordnungen von mehr als 14 Mrd. Euro – die alleine von den Versicherten aufzubringen sind. Und mit Blick auf die Zukunft überaus relevant ist die eherne Mechanik, die in dem bestehenden System eingebaut ist: alle zukünftigen Kostensteigerungen gehen aufs Konto der Versicherten aufgrund des einzementierten allgemeinen und paritätisch zu finanzierenden Beitragssatzes. Insofern ist dieser Punkt schon von fundamentaler Bedeutung.

Damit könnte man das Thema „Bürgerversicherung“ wie erwartet (vgl. dazu bereits meinen Beitrag Und vor jeder neuen Legislaturperiode grüßt die „Bürgerversicherung“. Über ein fundamentales Umbauanliegen und das Schattenboxen vor dem Haifischbecken vom 10. Dezember 2017) zu den Akten legen. Aber natürlich schmerzt es die sozialdemokratische Seele, wenn ein derart wichtiges – und von den eigenen Funktionären wie dem umtriebigen Karl Lauterbach so in den medialen Fokus gezerrtes – Herzensanliegen einfach brutal ausgebremst wird.

Besonders weh tun müssen dann solche Umfrageergebnisse, von denen Rainer Woratschka in seinem Artikel Auch viele Privatpatienten wollen eine Bürgerversicherung berichtet: »Politisch keine Chance, doch die Ablehnung widerspricht offenbar dem Wählerwillen: Selbst bei Unterstützern von Union und FDP gibt es eine Mehrheit für die Bürgerversicherung.« Das sitzt. »61 Prozent stehen nach einer repräsentativen Umfrage von YouGov hinter dem abgeräumten SPD-Anliegen, nur zehn Prozent lehnen es kategorisch ab. Bei den Wählern aller Bundestagsparteien gibt es eine Mehrheit dafür, Union und FDP inklusive. Und, vielleicht am überraschendsten: Selbst 40 Prozent der derzeit privat Versicherten hätten lieber ein einheitliches Kassensystem.«

Und insofern überrascht es nicht, dass dieser Punkt zumindest seitens der Sozialdemokratie eben (noch) nicht kampflos geschluckt werden konnte, sondern auf dem dramatischen SPD-Parteitag am 21. Januar 2018 in Bonn, auf dem sich die Befürworter der Aufnahme von formellen Koalitionsverhandlungen nur knapp durchsetzen konnten, wurde den Unterhändlern (die doch eigentlich bereits mit dem Sondierungsergebnispapier vom 12. Januar 2018 einen bis auf redaktionelle Änderungsbedarfe fast fertigen Koalitionsvertrag vorgelegt haben) mit auf den Verhandlungsweg gegeben, einige Punkte nun aber unbedingt noch nachzulegen. Die sind prophylaktisch in einem vom Bundesvorstand selbst den Delegierten vorgelegten Antrag formuliert, nur so sah man überhaupt eine Chance, das Projekt „Weitermachen“ durchzubekommen (vgl. den angenommenen Leitantrag des Bundesvorstands in Beschlüsse des außerordentlichen Bundesparteitags der SPD vom 21. Januar 2018 in Bonn). Dort findet man auf der Seite 7 den hier besonders interessierenden Passus – den man bitte genau lesen sollte, den bei solchen Punkten zeigt sich für den Normalleser erst im Nachhinein die Kunst des geschickten Formulierens:

»Wir wollen das Ende der Zwei-Klassen-Medizin einleiten. Dazu muss sich die Versorgung nach dem Bedarf der Patientinnen und Patienten und nicht nach ihrem Versicherungsstatus richten. Hierzu sind eine gerechtere Honorarordnung, die derzeit erhebliche Fehlanreize setzt, sowie die Öffnung der GKV für Beamte geeignete Schritte.«

In der Berichterstattung in den Medien wurde das so verdichtet, dass die SPD eine einheitliche Ärztevergütung mit der Union verhandeln will, dass also die bisherige und (für die Ärzte bessere) Bezahlung durch die PKV abgeschafft werden solle.

Das steht da aber erstens so nicht. Die Delegierten haben beschlossen, dass »eine gerechtere Honorarordnung« zu den „geeigneten Schritten“ auf dem Weg in eine Welt ohne „Zwei-Klassen-Medizin“ gehört. Da steht aber eben nicht, dass man explizit fordert, die derzeit völlig unterschiedlichen Vergütungssysteme (auf der EBM-Basis in der GKV und auf der GOÄ-Basis in der PKV) zu einem einheitlichen Vergütungssystem zusammenfassen will, das dann für alle ärztlichen Leistungen ohne Ausnahme Anwendung finden müsste. Das allerdings wäre ein massiver Angriff auf das Geschäftsmodell der Privaten Krankenversicherung, die ja gerade mit den Vergütungsunterschieden zwischen ihr und der „Holzklasse“ GKV Werbung macht.

Unabhängig davon, dass der Beschluss des SPD-Parteitags nun wirklich nicht als knallharte Forderung für ein einheitliches Vergütungssystem gelesen werden kann – diese Werbung ist für PKV-Versicherte selbst eine echte Zumutung, wenn man das mal zu Ende denkt, was da an Argumenten vorgetragen wird.

Schauen wir uns dazu einmal die Positionierung des PKV-Verbandes im Original an, die man dieser Meldung vom 21.01.2018 entnehmen kann: Einheitliche Gebührenordnung: „Einstieg in die Bürgerversicherung durch die Hintertür“:

»Volker Leienbach, Direktor des PKV-Verbandes, warnt eindringlich vor den Folgen einer einheitlichen Gebührenordnung, wie sie zurzeit von großen Teilen der SPD gefordert wird … ohne die Mehrzahlungen durch die Privatpatienten würden Ärzten, aber auch Physiotherapeuten oder Hebammen, Einnahmen fehlen. Die Folge: „Sie werden ihre Leistungen zum Teil einstellen.“ Wenn diese Verluste jedoch vom System der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgeglichen werden sollen, bedeute dies eine Beitragserhöhung. „Für einen Durchschnittsverdiener sind das ungefähr 400 Euro im Monat. Das will niemand“, so Leienbach.«

Der eine oder andere könnte auf die Frage kommen – wieso denn 400 Euro mehr im Monat zu dem, was bereits an Beiträgen gezahlt werden muss? Man sollte das mal abbuchen unter dem Motto: Hau einfach mal eine Zahl raus, die möglichst viel Schrecken verbreitet. Vielleicht hat der Herr Direktor einfach auch nur Monat mit Jahr vertauscht? Wer weiß das schon.

Was den PKV-Versicherten selbst mal gehörig auf die Nerven gehen sollte, wenn sie denn nicht masochistisch veranlagt sind, ist die ständig vorgetragene Argumentation der PKV, sie „subventioniere“ die vielen Versicherten aus der Holzklasse des dualen Systems, weil die Ärzte von der PKV überhöhte Honorare kassieren kann, die dann überdurchschnittlich zum Praxisumsatz beitrage. Was bedeutet das denn im Klartext? Die PKV lässt den Ärzten ja nicht eine Zusatzvergütung aus eigenen schwarzen Kassen zukommen, um sie bei Laune zu halten, sondern alles muss von den Versicherten mit ihren Prämien selbst bezahlt werden. Und offensichtlich muss der privat Versicherte eine ordentliche Schippe auf seine Prämien rauflegen, „subventioniert“ er doch die Arztpraxen mit deren Einnahmen aus der Behandlung der Privatversicherten (nur als Fußnote: Ökonomisch korrekt ist das natürlich alles nicht, denn die Subventionierungsrichtung ist natürlich umgekehrt: Die – wie auch immer in ihrer Ausgestaltung kritisierbare – Finanzierung für die 90 Prozent GKV-Versicherte ermöglicht es den Arztpraxen, einen Surplus aus der Behandlung der Privatversicherten zu ziehen). Dem in der PKV-Versicherten wird also permanent ins Stammbuch geschrieben, dass er zugespitzt formuliert ausgenommen wird wie eine Weihnachtsgans. Und würde der PKV-Versicherte nur einen Moment lang weiterdenken, könnte er auf die nächste unangenehme Erkenntnis stoßen: So wird ihm offiziell immer verkauft, dass er oder sie medizinisch viel besser versorgt werde als die die „normal“ Versicherten aus der unteren Etage, aber wenn er dann die Mechanik des bestehenden Vergütungssystems der PKV genauer anschaut, dann wird er feststellen, dass das vor allem aus zwei Gründen von den „Leistungserbringern“ geliebt wird: Zum einen können sie Einzelleistungen abrechnen, sie müssen sich nicht mit Pauschalen für dieses und jenes wie in der GKV herumschlagen. Und das muss man mit dem zweiten Punkt unauflösbar verbunden sehen: Man kann in die Menge gehen, es gibt keine Mengenbegrenzung.

Schön für die Leistungserbringer – zugleich kann das aber auch ein echtes Risiko für die Versicherten sein, wenn es zu einer pekuniär bedingten Überinanspruchnahme von Diagnostik und Therapie führt, die sich angesichts der ausgeprägten Arzt-Patienten-Asymmetrie auch seitens des dann profitierenden Leistungserbringer auf den Weg bringen lässt. In dem bereits zitierten Bericht von Rainer Woratschka über die Ergebnisse einer neuen Umfrage zur „Bürgerversicherung“ weist er darauf hin, dass jeder fünfte PKV-Kunde sich selbst für „überversorgt“ hält (vgl. dazu auch das Interview mit Birgit König, Chefin der Allianz Private Krankenversicherung, das hier besonders passend unter der Überschrift „Viele Behandlungen sind unnötig“ gestellt wurde).

Das sind doch summa summarum einige gewichtige Argumente, nun endlich den angesprochenen Weg einer einheitlichen Vergütungsordnung für die Ärzte anzugehen. Aber man muss sich in einem ersten Schritt klar darüber werden, dass wir nicht nur über zwei bislang getrennte Systeme sprechen, die man zu einem neuen System miteinander kombinieren müsste (was schon rein technisch enorm kompliziert werden würde), sondern man sollte bedenken, dass eine einheitliche Vergütung der Ärzte das gesamte Geschäftsmodell der PKV fundamental in Frage stellen würde, deshalb wird hiergegen massiv Widerstand mobilisiert werden.

Und interessanterweise – mit Blick auf die Konsequenzen einer Umsetzung des Anliegens – wird dieser Widerstand selbst von den Krankenkassen aus der GKV-Welt unterstützt, die doch auf den ersten Blick ein Interesse haben müssten an der Erschütterung des Geschäftsmodells der PKV. Die wissen aber eben auch, dass alles seinen Preis hat, den jemand zahlen muss: Unter der Überschrift Krankenkassen sehen SPD-Pläne skeptisch berichtet Peter Thelen, dass es die gesetzlichen Kassen ablehnen, »Ärzten mehr Geld zu zahlen. Damit sind sie sich mit den Privaten überraschend einig.« Der Vizevorstandschef des GKV-Spitzenverbands, Johann Magnus von Stackelberg, wird mit diesen institutionenegoistisch verständlichen Worte zitiert: „Wenn einheitliche Honorierung bedeutet, dass die gesetzlichen Krankenkassen in Zukunft mehr bezahlen und die privaten Krankenversicherungen weniger, dann lehnen wir das ab.“ Wir zahlen schon genug ist, lautet die Botschaft der gesetzlichen Kassen.

Wie dem auch sei, man könnte jetzt vertiefend einsteigen und der Frage analytisch nachgehen, wie denn so unterschiedliche Welten wie die EBM- und die GOÄ-Welt miteinander fusioniert werden könnten. Motiviert vielleicht durch solche Berichte: SPD rückt von Bürger­versicherung ab und nennt Arzthonorar­angleichung unverzichtbar. Und schon wieder wird Lauterbach zitiert, der hier große Erwartungen befeuert, die erneut als Bettvorleger enden werden. Denn man kann das auch mit guten Gründen sein lassen, nicht nur, weil die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Umbaus äußerst gering sein wird, sondern auch, weil die SPD selbst vorgesorgt hat mit der bereits zitierten  Formulierung in dem Verhandlungsauftrag an die, die jetzt möglichst schnell eine neue GroKo ins Leben rufen wollen: Danach gehöre »eine gerechtere Honorarordnung« zu den „geeigneten Schritten“ auf dem Weg in eine Welt ohne „Zwei-Klassen-Medizin“ – unter einer „gerechteren“ Honorarordnung kann man nun wirklich vieles hineinfwrmulieren, auch eine Angleichung der GKV-Vergütung nach oben ohne Infragestellung der PKV-Welt oder einfach nur einen schönen Prüfauftrag im Koalitionsvertrag neu. Prüfen heißt ja nicht, dass man etwas ändern muss.

Zwischen Verschiebebahnhof und einer der GKV fremden gruppenbezogenen Risikoäquivalenz: „Teure“ Hartz IV-Bezieher in der Krankenversicherung mit einer großen „Deckungslücke“

Wie so oft in der sozial- und hier besonders der gesundheitspolitischen Diskussion reden wir über Geld, über richtig viel Geld. Es geht um Milliarden, die man hat oder eben nicht. Und wenn man die nicht hat, vor allem dann nicht, wenn sie einem vorenthalten werden, gibt es große Anreize, diesen Tatbestand öffentlich zu machen, am besten nach dem etablierten Muster „Eine Studie hat ergeben …“, so dass man daraus und der sich anschließenden Berichterstattung Druck aufbauen kann, politische Weichenstellungen zu korrigieren. Diese Vorbemerkungen müssen sein, wenn man solche Schlagzeilen zur Kenntnis nehmen muss, deren Impulsgeber in dieser Meldung zu finden ist: Bund erstattet Krankenkassen Milliarden zu wenig, so die FAZ:

»Ein neues Gutachten zeigt, dass die Bundesregierung den Krankenkassen jedes Jahr fast zehn Milliarden Euro weniger zahlt, als diese für Hartz-IV-Bezieher ausgeben … Demnach decken die Überweisungen des Staates an die Kassen nur 38 Prozent der dort anfallenden Ausgaben für ALG-II-Bezieher, Aufstocker und Arbeitslose. Die Unterdeckung belaufe sich auf 9,6 Milliarden Euro im Jahr. Statt der bezahlten knapp 100 Euro sei eigentlich ein Betrag von bis zu 290 Euro je Hilfebezieher und Monat nötig, um deren Kosten auszugleichen.«

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Und vor jeder neuen Legislaturperiode grüßt die „Bürgerversicherung“. Über ein fundamentales Umbauanliegen und das Schattenboxen vor dem Haifischbecken

Die Cineasten unter den Lesern werden den Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 kennen. Bill Murray spielt darin einen arroganten, egozentrischen und zynischen Wetteransager, der in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer wieder erlebt, bis er als geläuterter Mann sein Leben fortsetzen kann. In so einer Zeitschleife scheint ganz offensichtlich auch die Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ festzustecken – wobei die Läuterung, die zur Auflösung der andauernden Wiederholung der Forderung und dann deren Nicht-Einlösung derzeit noch auf sich warten lässt.

Wenn man schon einige Jahre unterwegs ist in der Sozialpolitik, dann kennt man das Prozedere. Nehmen wir als Beispiel die erste Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die 2005 nach der Abwahl der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gebildet werden musste. CDU/CSU und SPD waren mit grundsätzlich verschiedenen Konzepten für einen Systemwechsel, zumindest hinsichtlich der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in den Wahlkampf 2005 gezogen („Bürgerversicherung“ versus „Gesundheitsprämie“). Diese beiden Konzepte waren derart unterschiedlich, dass sie für die Jahre 2005 bis 2009 stillgelegt werden mussten (vgl. zur Bilanz der damaligen GroKo, in deren Mittelpunkt der Gesundheitsfonds stand, diesen Beitrag: Stefan Sell: Die Suche nach der Goldformel. Bürgerversicherung oder Kopfpauschale – trotz großer Gegensätze haben Union und SPD die Gesundheitspolitik vier Jahre lang gemeinsam gelenkt. Das Zauberwort für die schwarz-rote Reform heißt Gesundheitsfonds, in: Gesundheit und Gesellschaft, Heft 7-8/2009, S. 35-41).

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Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist

Die Absicherung der großen Lebensrisiken ist der Kernbestandteil des Sozialstaats. Dass dazu auch eine Krankenversicherung gehört, versteht sich in Deutschland – anders als beispielsweise in den USA – eigentlich von selbst. Aber auch hier muss man der Versicherungsschutz finanziert werden, was über Beiträge passiert, die nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten bemessen werden. Im Ergebnis führt die sozialversicherungsförmige Absicherung der Krankheitsrisiken dazu, dass auch Leute, die nur sehr geringe Beiträge gezahlt haben, im Grunde das gleiche Leistungsspektrum bekommen wie Versicherte, die aufgrund ihres beitragspflichtigen Einkommens den Maximalbeitrag leisten müssen. Und auch Selbständige haben grundsätzlich die Möglichkeit, sich in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abzusichern, über eine freiwillige Mitgliedschaft bei einer der Krankenkassen. Ansonsten sollen sich die Selbständigen gemäß der alten Bismarckschen Logik als nicht-schutzbedürftige Personen selbst kümmern, wie bei ihrer Alterssicherung auch. Das ist so lange kein Problem, wie die Selbständigen tatsächlich von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen nicht schutzbedürftig sind, weil sie über in entsprechendes Einkommen verfügen, das ihnen eine private Absicherung für das Alter sowie über die private Krankenversicherung eine gegen die Krankheitsrisiken ermöglicht.

Aber Bismarck ist bekanntlich biologisch schon seit längerem verstorben und die Welt, in der er die grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherungssysteme mit auf den Weg gebracht hat, die verändert sich und immer öfter stoßen sich die grundlegenden Annahmen, auf denen auch unsere Sozialversicherungssysteme aufbauen, an den Teilen der anderen Wirklichkeit, die sich herausgebildet hat. Man kann (und müsste) das diskutieren für die Frage der überwiegend lohnbezogenen Finanzierung gerade im Alterssicherungssystem und man kann (und müsste) das diskutieren für die – historisch vielleicht noch sinnvolle – Trennung zwischen schutzbedürftigen Arbeitern (später dann auch Angestellte) versus sich selbst überlassenen Selbständigen (wobei eine genauere historische Analyse zeigen kann, dass es immer schon ein absolut prekär aufgestelltes Kleinunternehmertum gegeben hat. Und die Einbeziehung eines Teils der Selbständigen in die Sozialversicherung in den vergangenen Jahrzehnten war ja auch immer schon eine Reaktion auf die sich verändernde Welt und das Anerkenntnis, dass die (aus sozialpolitischer Sicht) zunehmend zu einer rein formalen Statusgrenze geschrumpften Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung versus Selbständigkeit nicht mehr hinreichend ist.

Diese grundsätzlichen und strukturellen Andeutungen sollen einleiten in eine Auseinandersetzung mit einem scheinbar aktuellen Problem im Bereich der Krankenversicherung, hinter dem aber strukturell viel von dem steht, was einleitend angesprochen wurde:

Die Beitragsschulden von freiwillig Krankenversicherten in der GKV explodieren. Ende vergangenen Jahres standen die GKV-Mitglieder mit sechs Milliarden Euro in der Kreide (vgl. beispielsweise Beitragsschulden bei den Kassen sprengen Sechs-Milliarden-Grenze). Die Zunahme der Beitragsschulden ist enorm: Sie entspricht binnen Jahresfrist einer Zunahme von 1,5 Milliarden Euro. Anfang 2016 schuldeten die freiwillig Versicherten den gesetzlichen Kassen noch 4,48 Milliarden Euro. »Damit sich das Beitragsschuldengesetz der Koalition, das im August 2013 in Kraft getreten ist, als weitgehend wirkungslos erwiesen. Bis dahin hatten die Säumniszuschläge der Kassen nach der Vorgabe des Gesetzgebers 60 Prozent pro Jahr betragen. Seitdem ist der Zuschlag auf ein Monat pro Jahr reduziert worden.«

Dazu wurde hier bereits im Kontext mit Berichten über Menschen ohne Krankversicherungsschutz berichtet, konkret am 18. Januar 2017 in dem Beitrag Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz: Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht. Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Und jetzt diese Entwicklungen bei den Beitragsschulden. Warum die Schulden der gesetzlichen Krankenversicherung explodieren – diese Frage von Timot Szent-Ivanyi drängt sich natürlich auf. Wer sind die Hauptschuldner? Das ist klar auszumachen: Die Selbstständigen. Sie allein schulden den gesetzlichen Kassen fast fünf Milliarden Euro.

Timot Szent-Ivanyi schreibt in seinem Artikel: »Die Beitragsberechnung bei Selbstständigen in der gesetzlichen Krankenversicherung unterscheidet sich von der bei angestellten Arbeitnehmern. Weil man früher davon ausgegangen ist, dass Selbstständige in der Regel gut verdienende Unternehmer mit Angestellten sind, wurde ein Mindestbeitrag festgelegt. Er soll verhindern, dass sich der Selbstständige arm rechnet. Derzeit wird bei der Beitragsberechnung so getan, als verdiene der Betroffene brutto mindestens 2231 Euro. Da die Selbstständigen auch den Arbeitgeberanteil selbst zahlen müssen, sind für den Versicherungsschutz (inklusive Krankengeldanspruch und Pflegeversicherung) im Schnitt mindestens knapp über 400 Euro im Monat fällig. Nur in besonderen Härtefallen lässt sich der Beitrag auf rund 270 Euro drücken. Weniger geht nicht.« In der Abbildung findet man die aktuell korrekten Beträge, wenn die Selbständigen auf ein Krankengeldanspruch verzichten.

Dann kommt er zu dem entscheidenden  Punkt: »Die Szene der Unternehmer hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Inzwischen sind etwa 71 Prozent der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Selbstständigen sogenannte Solo-Selbstständige; sie haben also keine Angestellten. Sie können von dem Gehalt, das beim Mindestbeitrag unterstellt wird, nur träumen. 82 Prozent dieser Solo-Angestellten haben lediglich ein Jahreseinkommen von brutto bis zu 15.010 Euro. Das Jahresdurchschnittseinkommen dieser Personengruppe liegt bei brutto 9444 Euro, also lediglich 787 Euro im Monat. Daran gemessen ist ihr Beitragsanteil für die Krankenversicherung deutlich zu hoch. Er kann fast 50 Prozent betragen, während Arbeitnehmer derzeit im Schnitt 8,4 Prozent zahlen.«

Was kann man tun? »Naheliegend ist eine Absenkung des Mindestbeitrags. Auch Gleitzonen für geringe Einkommen wären möglich. Das alles klingt allerdings leichter, als es in der Praxis ist. Denn die Möglichkeiten, sich im Zweifel arm zu rechnen, um Beiträge zu sparen, bestehen heute noch. Es muss also darauf geachtet werden, dass nicht am Ende andere Versicherte die Lasten tragen müssen, also insbesondere die Arbeitnehmer.«

Wir sehen und lesen, dass es jetzt weniger einfach wird, als man vielleicht im ersten Moment denkt. Auch der »Bundesrat sorgt sich, weil immer mehr Kleinunternehmer ihre Krankenversicherung nicht mehr zahlen können. Ihre Beitragsschulden in der GKV explodieren«, kann man diesem Artikel entnehmen: Selbstständige in der GKV-Schuldenfalle. Im Bundesrat gab es einen Antrag von Thüringen, Berlin und Brandenburg. »Noch bis zur Bundestagswahl soll die Regierung einen Bericht zur Lage dieser Gruppe vorlegen, heißt es darin. Zudem fordern die Länder konkrete Vorschläge, wie diese Gruppe bei den GKV-Beiträgen entlastet werden kann.« Und weiter erfahren wir:

»Der GKV-Mindestbeitrag für diese Gruppe belief sich im vergangenen Jahr auf 342 Euro pro Monat. Nur durch einen Härtefallantrag lässt sich der Obolus nochmals um rund ein Drittel auf 228 Euro drücken. Ursache dafür ist die Mindestbemessungsgrenze, die bei der Beitragsermittlung von Selbstständigen unterstellt wird (aktuell 2231,25 Euro). Eine Senkung dieser Grenze hätte „erhebliche Mindereinnahmen“ in der GKV zur Folge, ihre Abschaffung stünde „im Widerspruch zum Solidarprinzip der GKV“, erklärte die Regierung im September 2016 auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag. Diese besonderen Bemessungsgrenzen für Selbständige dienten der „Beitragsgerechtigkeit“ – auf diese Weise werde der Vorteil ausgeglichen, dass die Beitragshöhe anhand des Nettoprinzips ermittelt wird – anders als bei abhängig Beschäftigten.«

Und andere Stimmen, beispielsweise von den Krankenkassen? »Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands muss die Koalition ran, um die Schuldenlast von Versicherten abzubauen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Gesetzgeber ist am Zug. „Wenn der ‚Versicherungsschutz für alle‘ aus gesamtgesellschaftlichen Gründen nach wie vor politisch gewollt ist, brauchen die Krankenkassen eine Lösung für diejenigen, die ihre Beiträge tatsächlich nicht zahlen können“, wird Ann Marini, stellvertretende Sprecherin des GKV-Spitzenverbands, in dem Artikel zitiert. Hier müsse die öffentliche Hand mit Steuergeld einspringen, diese Last dürfe nicht auf die anderen Beitragszahler abgewälzt werden. Größtmögliche Hilfe hat das Beitragsschuldengesetz der kleinen Gruppe der bisher Nichtversicherten gewährt, die sich bis Ende 2013 bei einer Krankenkasse gemeldet haben – ihnen wurden Beiträge erlassen, darüber wurde schon in diesem Beitrag berichtet: Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Nicht angegangen worden ist vom Gesetzgeber aber die wachsende Gruppe der Solo-Selbstständigen, die so wenig verdienen, dass sie die GKV-Beiträge nicht stemmen können.

Die Grünen im Bundestag votieren dafür, die Mindestbeiträge für kleine Selbstständige zumindest auf das Niveau der sonstigen freiwillig Versicherten in der GKV zu senken (siehe Abbildung). Aber man kann an dieser Stelle natürlich die grundsätzliche Frage aufrufen – bis wohin runter soll es denn gehen? Und ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, auch Geschäftsmodelle von Selbständigen zu subventionieren, bei denen die weniger als 900 Euro im Monat verdienen? Eine Frage, daran sei hier nur erinnert, die sich auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB II stellt, bei den selbständigen Aufstockern im Hartz IV-System also. Leistet man, anders gefragt, nicht einen Beitrag zur Stabilisierung von Kümmerexistenzen, wenn man denen die Absicherung auch noch erleichtert? Vgl. zu den multiplen Schwierigkeiten, die sich mit Blick auf diese Personengruppe ergeben, auch den Beitrag von Markus Krüsemann: Was tun gegen die Prekarität des Kleinunternehmertums?

Man sollte an dieser Stelle zumindest darauf hinweisen, dass es diese Probleme nicht nur in der GKV gibt, sondern auch in der privaten Krankenversicherung: »Auch in der PKV sieht es für einen Teil der Solo-Selbstständigen finanziell düster aus. Die am schlechtesten verdienende Gruppe muss sogar bis zu 58 Prozent ihres Einkommens aufwenden, um die PKV-Police bedienen zu können, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ermittelt. Während die Zahl der PKV-Versicherten im Basistarif mit rund 29.000 gering blieb, gehörten rund 116.000 Versicherte dem neu geschaffenen „Notlagentarif“ an.« Das muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass 58 Prozent der Selbstständigen im Jahr 2012 in der GKV versichert waren, 42 Prozent in der PKV. Hier gilt die Regel: Je höher die Einkommensklasse, desto höher ist der Anteil der PKV-Versicherten. Doch auch in der Privatassekuranz nimmt der Zahl der „Niedriglöhner“ zu.

Wieder zurück in die GKV: „Die Beitragslast ist zu hoch“, moniert Rainer Woratschka in seinem Artikel hinsichtlich der Ist-Situation ja auch nicht zu Unrecht: »Sie arbeiten als Paketauslieferer Unternehmensberater und Kosmetikerin, sind Kioskbesitzer, Hausmeister, Boutiquenbetreiber. Die Altersvorsorge sparen sie sich, wenn es nicht reicht. Aber an einer Krankenversicherung kommen auch sogenannte Solo-Selbständige nicht vorbei. Ein Problem, denn für viele ist dieser Posten selbst in gesetzlichen Kassen finanziell kaum noch zu stemmen. Die Beiträge fressen auch in gesetzlichen Kassen inzwischen oft die Hälfte der gesamten Einnahmen.« So die bekannte Diagnose. Und weiter: »Das Problem der Solo-Selbständigen mit den Kassenbeiträgen rührt vor allem aus zwei Umständen. Zum einen fehlt ihnen die Arbeitgeberbeteiligung, sie müssen den Krankenversicherungsbeitrag komplett aus eigener Tasche zahlen. Zum andern schert sich die Sozialversicherung nicht groß um ihr Einkommen. Zur Beitragsberechnung wird ihnen einfach ein monatliches Mindesteinkommen unterstellt, von dem viele Kleinunternehmer nur träumen können.«

Dietmar Haun und Klaus Jacobs kommen in ihrer 2016 veröffentlichten Studie Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar zu diesem Fazit:

»Die Option GKV oder PKV pauschal am Kriterium der Selbstständigkeit festzumachen, hat mit der Arbeitsmarkt- und Einkommensrealität schon längst nichts mehr zu tun. Dass dabei Entscheidungen über den Krankenversicherungsschutz mit potenziell lebenslanger Bindungswirkung getroffen werden, passt nicht mehr zu den immer häufigeren Patchwork-Erwerbsbiografien. Aber noch etwas ist bei der empirischen Analyse deutlich geworden: Die Beitragsregelungen sowohl in der GKV als auch in der PKV sind für viele Selbstständige nicht mehr angemessen. In der PKV wird die Intention der erst 2009 eingeführten Krankenversicherungspflicht durch den Notlagentarif bereits heute ausgehöhlt. Das Geschäftsmodell der PKV ist vom Grundsatz her nicht in der Lage, auf sich ändernde individuelle Erwerbs- und Lebenslagen der Versicherten zu reagieren. Doch auch in der GKV werden die weithin auf Typisierungen basierenden Beitragsregelungen der konkreten Situation vieler Selbstständiger nicht mehr gerecht, wie nicht zuletzt die hohe Zahl von Nichtzahlern unterstreicht. Allerdings prallen hier zwei Schutzinteressen aufeinander: einerseits die Schutzbedürftigkeit kleiner Selbstständiger in prekären Einkommenslagen, aber andererseits auch die Notwendigkeit, die Solidargemeinschaft der GKV vor Überforderung zu schützen. An der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes müssen sich deshalb alle Bürger beteiligen, nicht zuletzt auch die nach wie vor vielen Selbstständigen mit hohen und sehr hohen Einkommen.«

Das würde wieder auf eine stärkere oder gar alleinige Steuerfinanzierung verweisen, für die es gute Argumente gibt, aber eben auch Einwände.

Einen anderen Ansatz bringt Florian Staeck in die Debatte ein. In seinem Kommentar Abschied von Bismarck schreibt er: »Was tut die Regierung? Nichts. Sie ignoriert ein sozialpolitisches Problem, das zugleich eine ordnungspolitische Großbaustelle ist: Die Zahl der Selbstständigen ist – politisch gewollt – im Kielwasser der „Agenda 2010“ gestiegen. Darunter sind Gutverdiener genauso wie Menschen mit Einkommen nahe dem Mindestlohn – nur, dass sie auf eigene Rechnung arbeiten.  Doch in der Gesetzlichen Krankenversicherung lebt die alte Bismarck-Welt weiter. Vor 20 Jahren wurde bereits die überkommene Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten abgeschafft. Inzwischen stellt sich aber die Frage, ob formale Kriterien der Erwerbsbiografie überhaupt über den Krankenversicherungsschutz bestimmen sollten. Die bisher existierenden Vorschläge, die schlicht auf eine Senkung der Mindestbemessungsgrenzen hinauslaufen, werden der Komplexität nicht gerecht. Eine ordnungspolitisch tragfähige Regelung muss die GKV als Solidargemeinschaft neu austarieren. Völliges Neuland muss dafür nicht betreten werden. Mit der Künstlersozialversicherung liegt ein Bauplan vor, der Orientierung geben kann.«

Fazit: Noch sind wir auf der Suche nach einem wirklich überzeugenden Rezept für die Lösung der beschriebenen Probleme.

Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz

Während in den USA derzeit die nach langen Widerständen unter dem Namen „Obamacare“ eingeführte Möglichkeit einer Krankenversicherungspflicht für Millionen armer Bürger wieder vor der Zerschlagung steht, ohne dass klar ist, ob überhaupt und wenn ja welche Alternative für die betroffenen Menschen von der neuen Trump-Administration ins Leben gerufen wird (immerhin geht es um 20 Mio. Menschen in den USA, die unter den Affordable Care Act (ACA) fallen), kann sich Deutschland im Bereich der Absicherung der Krankheitsrisiken eines umfassenden und auch Menschen mit niedrigen oder gar kein Einkommen einbeziehenden Schutzssystems rühmen. Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht.

Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Und dass es sich dabei teilweise um ein systematisches Problem handelt, das sich selbst verstärkt, hat dann auch der Gesetzgeber erkannt: Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Die Betroffenen mussten sich bis zum 31. Dezember 2013 bei einer Kasse melden. Die Bundesregierung ging damals von rund 130.000 nicht-krankenversicherten Menschen in Deutschland aus, bei denen oftmals hohe Schulden gegenüber Krankenversicherungsunternehmen aufgelaufen sind. Die Zahl der mit dem damaligen Gesetz angesprochenen Menschen mit erheblichen Beitragsschulden lag aber mit (geschätzt) fast 650.000 deutlich höher – es wurde von »deutlich mehr als eine halbe Million freiwillig gesetzlich Versicherter mit Beitragsschulden und rund 144.000 Nichtzahler« in der PKV gesprochen (vgl. dazu Anno Fricke: Schnitt bei Kassenschulden tritt in Kraft vom 01.08.2013).

Ein gutes Jahr später wurde Bilanz gezogen: »Die Krankenkassen haben mehr als 50.000 Versicherten Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 1,1 Milliarden Euro erlassen«, konnte man diesem Artikel entnehmen: Schuldenerlass für mehr als 50.000 Versicherte. Interessant auch die damals genannten Relationen: »Die reinen Beitragsschulden belaufen sich demnach auf knapp 232 Millionen Euro. Gut 909 Millionen Euro sind aufgelaufene Säumniszuschläge.«
Diejenigen, die sich bis 31. Januar 2013 bei den Kassen gemeldet hatten, die seit 2007 aufgelaufenen Beiträge und Säumniszuschläge nicht (in voller Höhe) nachbezahlen.

Jetzt müsste also alles in Ordnung sein.

Dann wird man aber mit solchen Meldungen konfrontiert, die es eigentlich nicht geben dürfte:

»Trotz Versicherungspflicht haben in Deutschland weiterhin rund 80.000 Menschen keine Krankenversicherung. Das entspricht rund 0,1 Prozent der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt berichtet«, so der Artikel Wie viele Deutsche sind nicht krankenversichert? vom 4. Oktober 2016.
Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2015. Angaben zum Krankenversicherungsschutz in der Bevölkerung werden nur alle vier Jahre erhoben.
Es gebe eine positive Veränderung, denn: »2011 waren noch 128.000 Menschen ohne Versicherungsschutz, 2007 waren 196.000 Menschen nicht krankenversichert.«

Aber: »Ein genauer Vergleich ist aber nicht möglich, da sich zwischenzeitlich die Gesetzeslage geändert hat und auch die Erhebungsmethode verändert wurde.« Um wem handelt sich hierbei?

»Überdurchschnittlich häufig nicht krankenversichert seien Ausländer und Selbstständige … Rund ein Drittel der Nicht-Krankenversicherten sind selbstständig. Bei Ausländern liegt der Anteil mit 0,5 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.«

Dieses Thema wurde nun wieder aufgegriffen in dem Beitrag Krank ohne Versicherung des Politikmagazins „Kontrovers“. Mit Blick auf die vom Statistischen Bundesamt für 2015 gemeldete und bereits zitierte Zahl von rund 80.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz wird darauf hingewiesen, dass Experten schätzen, dass die „wahre“ Zahl der Nicht-Versicherten „mindestens viermal so hoch“ sei, damit würden wir uns in einer Größenordnung von 320.000 Betroffenen bewegen, also der Einwohnerschaft einer Großstadt.

Bei einer Erkrankung stehen sie ohne Hilfe da. Denn weil sie mit ihren Beitragszahlungen in Rückstand geraten sind, ruht ihre Versicherung. Und dass es davon sei viele gibt bzw. geben soll, ist nicht überraschend: Die, bei denen vorher schon das Geld nicht reichte, konnten auch nachher nicht zahlen und häuften so Beitragsschulden an.

Und wir werden hier mit dem konfrontiert, was 2013 zu der gesetzlichen Regelung der Altfälle geführt hat – allerdings eben nur für die Altfälle bis zu dem Stichtag Ende 2013:

»Um wieder normal krankenversichert zu sein, müssten sie rückwirkend ihre Beitragsschulden begleichen, dazu kommen Säumniszuschläge. Für viele ist das der Weg in die Schuldenfalle. Und einige Krankenkassen sind knallhart: So lange die Schulden nicht komplett zurückgezahlt sind, gibt es nur im Notfall Hilfe.«

Und was machen diese Menschen in ihrer Notlage? Wenn sie Glück haben, finden sie ein Notbehelfsangebot außerhalb des Regel-Versorgungssystems:

»Letzter Ausweg für die Betroffenen sind oft die Notsprechstunden. Praxen wie die „Malteser-Migranten-Medizin“ oder das Kloster Sankt Bonifaz in München behandeln Menschen, die keine Versichertenkarte haben. Überwiegend sind das Zuwanderer, die illegal in Deutschland leben. Im Wartezimmer sitzen jedoch auch Obdachlose und Geringverdiener, die keine Beiträge zahlen können, aber auch keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Die Praxen sind überlaufen.
Auch die Organisation Ärzte der Welt betreibt in München eine Praxis, die Unversicherte behandelt. Ursprünglich wurde die Praxis gegründet, um Menschen ohne Papiere zu behandeln. Mittlerweile sind allerdings Deutsche ohne Krankenversicherung die zweitgrößte Patientengruppe.«

Immer wieder taucht in Medienberichten über das Thema auch die „Praxis ohne Grenzen“ für die Region Bad Segeberg, gegründet von Uwe Denker und seit 2010 in Betrieb, auf.

Das abschließende Fazit des Politikmagazins: »Die Politik drängt immer mehr Bürger in Notfallpraxen – finanziert aus Spenden – mit Ärzten, die kostenlos arbeiten. Ein Armutszeugnis für den deutschen Sozialstaat.«