Die zwei Welten des (Nicht-)Personalmangels in der Krankenhauspflege

Es ist schon so viel geschrieben und damit gesagt worden zum Thema Pflegekräftemangel in den Krankenhäusern unseres Landes. Man mag eigentlich nicht mehr, aber dieser Impuls kann und darf nur ein vorübergehender sein, wenn man sich die vielen Hilferufe aus der Pflege anhören muss, die den erreichen, der hinhört und hinhören will. Man könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass doch in zahlreichen Studien immer wieder der heute schon manifeste und sich weiter zuspitzende Pflegemangel nicht nur in der Altenpflege, sondern auch in vielen Kliniken herausgearbeitet worden ist – und das dringender Handlungsbedarf besteht. Zuweilen ist es mehr als aufschlussreich, ganz nach unten zu gehen und sich den Verhältnissen und deren Interpretation vor Ort anzuschauen, um einen Eindruck zu bekommen, wie „auf Kante genäht“ viele Pflegekräfte ihren Arbeitsalltag offensichtlich verbringen müssen – und zugleich, wie die Verantwortlichen in ihrer Welt agieren und argumentieren.

Ein lehrreiches Beispiel dafür erreicht uns aus Baden-Württemberg, genauer: aus dem Krankenhaus in Bietigheim-Bissingen, Landkreis Ludwigsburg.  Hilferuf der Pflegekräfte – so ohne jeden Schnörkel hat Melanie Braun ihren Artikel überschrieben. Kurz zum Sachverhalt: Ein Stationsleiter des Bietigheimer Krankenhauses hat seine Position wegen Arbeitsüberlastung nach 15 Jahren gekündigt. Er habe erklärt, die herrschenden Verhältnisse dem Personal und den Patienten gegenüber ethisch nicht mehr vertreten zu können, heißt es. Seine Mitarbeiter prangern nun in einem offenen Brief massive Missstände an.  Die Belegschaft der kardiologischen Station 1B im Bietigheimer Krankenhaus spricht in diesem offenen Brief »von unzumutbaren Zuständen in ihrem Arbeitsalltag, von einem schändlichen Umgang der Klinikleitung mit Mitarbeitern und Patienten und von dramatischen Personalengpässen.«

Und wie unter einem Brennglas kann man an diesem konkreten Fall die beiden Welten des (Nicht-)Personalmangels studieren. Auf der einen Seite die Pflegekräfte, auf der anderen das Management und die Verantwortlichen für die Organisation der Klinik.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die, die die Arbeit machen (müssen). Über deren Perspektive berichtet Melanie Braun:

„Wir sind geschockt, aufgewühlt und sehr traurig, aber auch sehr wütend gegenüber der gesamten Führungsebene, aber auch gegenüber den Politikern“, heißt es darin. Denn es werde „extrem rücksichtslos“ mit der Gesundheit der Menschen umgegangen, die Pflegekräfte würden „benutzt wie Material“ und „ohne Rücksicht auf Verluste bis aufs Letzte ausgelaugt“. Wegen der angespannten Personalsituation und einem seit Langem hohen Krankenstand komme es immer wieder zu Versorgungsengpässen bei den Patienten, zudem steige die Gefahr, dass Fehler passierten … Marc Kappler, Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Gesundheit bei Verdi, wurde bereits vor Monaten vom Team der Station 1B zu Hilfe gerufen. Tatsächlich habe es zwischendurch Verbesserungen gegeben, bestätigt er: So sei die Zahl der Betten von 36 auf 30 reduziert worden und die Beratungsfirma habe versucht, Abläufe zu optimieren. Doch weil das Team, das aus 15 Vollzeitstellen besteht, bereits seit Jahren zusammen arbeite und sehr eingespielt sei, habe es wenig Verbesserungspotenzial gegeben. Zudem sei die Zahl der belegten Betten inzwischen wieder gestiegen … Aus seiner Sicht würde es bereits helfen, in dieser Notsituation nur für eine gewisse Zeit mehr Kräfte auf der Station einzusetzen, damit das Personal sich erholen und wieder gesund werden könne – dann könne man schauen, ob die aktuelle Besetzung ausreiche oder nicht. Doch die Chefetage habe bislang auf stur geschaltet.«

Aber offensichtlich kann man das auch alles ganz anders sehen. Hier die Perspektive des Managements:

Die Klinikleitung kann die Aufregung jedoch nicht verstehen. „Ich bin überrascht über das Schreiben“, sagt Jörg Martin, Chef der Regionalen Klinikenholding (RKH), zu der auch das Bietigheimer Krankenhaus gehört. Denn man sei schon seit Monaten mit der Station im Gespräch und habe bereits Maßnahmen ergriffen, um die Belastung der Pflegekräfte zu reduzieren. So habe man ein externes Beratungsunternehmen ins Haus geholt, das zusammen mit den Mitarbeitern Lösungen suche. Es habe Coachings gegeben, Workshops und eine Reduzierung der Betten … Ein strukturelles Problem gibt es laut Jörg Martin allerdings nicht: „Ich sehe nicht, dass die Station chronisch unterbesetzt ist“, sagt er – die externe Beratungsfirma stimme ihm da zu. Engpässe oder Probleme könne es immer mal geben, aber er versuche stets, rechtzeitig gegenzusteuern. Auch der Landrat Rainer Haas, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Klinikenholding, sieht keinen Handlungsbedarf: „Ich habe keinen Anlass, an den Informationen der Geschäftsführung zu zweifeln“, sagt er.

So oder ähnlich wird es derzeit in vielen Krankenhäusern ablaufen. Und es wird immer schlimmer (werden müssen), wenn man sich nur einige wenige strukturelle Rahmenbedingungen verdeutlicht. Im Kontext des unbefristeten Streiks von Pflegekräften an der Berliner Charité im Sommer dieses Jahres (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015) hat Rainer Woratschka seinen Artikel zutreffend und das Kernproblem auf den Punkt bringend so überschrieben: Immer weniger Pflegekräfte für immer mehr Patienten.
Daraus nur einige wenige Zahlen:

»Musste 1991 eine Vollzeitkraft rechnerisch 45 Fälle versorgen, waren es 2013 schon 59. Die Zahl der Behandlungsfälle stieg bundesweit um 28,9 Prozent auf fast 19 Millionen. Gleichzeitig ging das Personal, in Vollzeitkräften gerechnet, um 1,2 Prozent auf 316 000 zurück. Massiv gestiegen ist auch die Zahl der Pflegekräfte, die über das vereinbarte Pensum hinaus zu arbeiten hatten – wie eine Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes ergab. Waren es 2011 noch 79 000, die derartige Mehrarbeit erbrachten, lag die Zahl 2013 bereits bei 104 000 – ein Anstieg um 32 Prozent. Die Zahl der Beschäftigten mit Mehrarbeit in Form von Überstunden erhöhte sich um 57 Prozent. Die Fälle von Mehrarbeit über Arbeitszeitkonten nahmen um 24 Prozent zu.«

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer erheblichen Verschiebung der Grundgesamtheit der pflegerisch zu versorgenden Patienten, die sich eindampfen lässt auf: Immer kürzer, immer intensiver.

»Hintergrund ist neben der steigenden Patientenzahl auch die infolge des Kostendrucks kürzere Verweildauer der Patienten. Sie sank zwischen 1991 und 2013 von 14 auf durchschnittlich 7,5 Tage – an der Charité gar auf 5,9 Tage.«

Das alles hat was mit dem Finanzierungssystem der Krankenhäuser zu tun, also dem Fallpauschalensystem auf DRG-Basis sowie dem erheblichen Investitionsstau, der sich herausgebildet hat im System der dualen Krankenhausfinanzierung, weil die Bundesländern ihren Part bei der Finanzierung der notwendigen Investitionen nicht ausreichend gerecht geworden sind.

Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden

Es ist vollbracht. Auch die zweite Stufe der Pflegereform
hat die parlamentarischen Hürden genommen und das „Zweite Pflegestärkungsgesetz“
wurde im Bundestag verabschiedet. Auf der Mitteilungsseite
des Bundestags
zu den Beschlüssen liest sich das bürokratisch-trocken so: »Gegen
das Votum der Linken bei Enthaltung der Grünen hat der Bundestag am 13.
November den zweiten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der
pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (18/5926, 18/6182) in der vom
Gesundheitsausschuss geänderten Fassung (18/6688) angenommen.
Damit wird ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues
Begutachtungsinstrument mit fünf Pflegegraden eingeführt. Dadurch sollen die
Inhalte der Pflegeversicherung und die pflegerische Leistungserbringungen auf
eine neue pflegefachliche Grundlage gestellt werden. Erstmals werden alle für
die Feststellung der Pflegebedürftigkeit relevanten Kriterien in einer
einheitlichen Systematik erfasst. Ergänzt und neu strukturiert werden die
Vorschriften zur Sicherung und Entwicklung der Qualität in der Pflege. Der
Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung wird um 0,2 Beitragssatzpunkte
erhöht.« Immerhin kann man der Mitteilung entnehmen, dass es nicht nur eine
Große Pflegekoalition gibt, sondern auch die beiden Oppositionsparteien hatten
– erwartungsgemäß erfolglos – versucht, den Finger auf weiter offene Wunden zu
legen: der Finanzierung des Systems und der Personalfrage:

»Gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen scheiterte Die
Linke mit ihrem Entschließungsantrag (18/6692), einen
Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs vorzulegen. Mit
dem gleichen Stimmenverhältnis lehnte der Bundestag einen Antrag der Linken (18/5110) ab, in dem
die Einführung einer Bürgerversicherung in der Pflege gefordert wird. Damit
ließen sich Reformen wie die Einführung des neuen Pflegebegriffs und deutliche
Leistungsverbesserungen schultern, argumentierte die Fraktion. Gegen das Votum
der Opposition scheiterten die Grünen mit einem Antrag (18/6066), indem
umfassende Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege gefordert werden.
Unter anderem wollten die Grünen eine Pflege-Bürgerversicherung einführen und
pflegende Angehörige stärker unterstützen.«

Wenn es jemand gerne überschäumender hätte hinsichtlich der
positiven Bewertung der nun verabschiedeten zweiten Stufe der Pflegereform,
dann sollte man einen Blick werfen in den Artikel Bundestag
beschließt Revolution des Pflegesystems
von Rainer Woratschka.
Offensichtlich ist hier Großes geleistet worden: »Der Bundestag hat eine
Pflegereform abgesegnet, die den Namen wirklich verdient. An Kleinreparaturen
hatten sich schon etliche Minister versucht. Hermann Gröhe vollendet nun einen
Kraftakt.«

Vielleicht liegt die Wahrheit ja irgendwie in der Mitte.
Dann wären wir konfrontiert mit der Gleichzeitigkeit von wichtigen und guten
Weiterentwicklungen des bestehenden Systems (bei denen es anders als ansonsten
mittlerweile beim Thema Reformen nicht um Einsparungen und
Leistungsreduzierungen geht) und zugleich aber auch die Fortexistenz
grundlegender Systemprobleme, deren Bearbeitung entweder ausgeklammert oder auf
die zeitlich lange Bank zwischengelagert werden.

Einen Hinweis auf die Ambivalenz der Pflegereform kann man
beispielsweise der reichlich miesepetrigen Kommentierung in der FAZ entnehmen.
Heike Göbel schreibt unter der wegweisenden Überschrift Wähler-Pflege:
»Der Bundestag hat den teuersten Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung
seit deren Gründung vor zwanzig Jahren beschlossen. Aber die Regierung scheut
sich, die Bürger mit den vollen Konsequenzen zu konfrontieren.« Und weiter:

»Pünktlich zur Bundestagswahl 2017 wächst damit der Kreis
der Anspruchsberechtigten, vor allem durch die Einbeziehung der Demenzkranken,
um eine halbe Million. Zugleich steigen vielfach die Leistungen, die
Eingruppierung der zu Pflegenden erfolgt nach einem ganz neuen Schlüssel. Die
Umstellung ist mit Bestandsschutz für die verbunden, die schon Geld erhalten.
Ihre Leistungen können nur steigen, nicht sinken. Das alles verschlingt fünf
Milliarden Euro jährlich zusätzlich, finanziert über abermals höhere
Beitragssätze und aus den – noch – vorhandenen Reserven der Pflegekasse.«

Was aber stört sie? »Notwendig wäre eine noch stärkere
Anhebung der Beitragssätze – und zwar begleitet von Einsparungen in anderen
Säulen des Sozialsystems. Stattdessen wird überall gleichzeitig erweitert, die
Kranken- ebenso wie die Rentenversicherung. Hier baut sich Druck auf die
Lohnkosten auf, verbunden mit Gefahren für die Beschäftigung nicht nur der
Flüchtlinge.« Und sie legt noch eine Schippe nach: »Auch fehlt der klare
Hinweis, dass die gesetzliche Versicherung nur dazu gedacht ist, einen
(kleinen) Teil der Kosten zu decken. Der zügige Ausbau erweckt den Eindruck,
eigene Vorsorge sei nicht nötig. Die Regierung pflegt mit dieser Reform ihre
älteren Wähler, die Jüngeren müssen wieder einmal sehen, wo sie bleiben.«

Nach so viel Kritik muss man einfach zum Ausgleich einen
Blick werfen in den Artikel, der uns eine Revolution des Pflegesystems
verspricht. Woratschka sieht „eine wirkliche Grundsanierung des Systems“. Im
weiteren Gang seiner Argumentation wird auch klar, dass er das Bild von der
Revolution kopiert hat, denn es geht hierbei um den neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff:
»Experten wie der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang
sehen darin „eine Art Revolution“ . Das bisherige System orientierte sich fast
ausschließlich an den körperlichen Gebrechen der Pflegebedürftigen. Danach
wurden sie eingestuft und entsprechend sahen die Leistungen aus
(„Satt-Sauber-Pflege“). Nun rücken auch Alltagskompetenz und kognitive
Fähigkeiten in den Fokus, die soziale und psychische Situation wird
gleichwertig berücksichtigt. Dadurch bleiben etwa Demenzkranke, die körperlich
fit sind, aber dennoch aufwendige Betreuung benötigen, nicht länger außen vor.
Statt der bisherigen drei Pflegestufen gibt es künftig fünf Pflegegrade … Beurteilt
werden die Menschen künftig nach ihrer Fähigkeit zu Mobilität, Orientierung,
Kommunikation, Selbstversorgung, Alltagsgestaltung und sozialen Kontakten. An
den daraus erwachsenden Bedürfnissen sollen sich künftig die zugestandenen
Leistungen bemessen. Die Verrichtungspflege nach Minuten wird abgeschafft.«

Weitere Verbesserungen müssen genannt werden: So bekommen Heimbewohner
garantiert, dass sich ihr Eigenanteil an den Kosten auch bei zunehmender
Pflegebedürftigkeit nicht erhöht. Bisher droht ihnen bei jeder Einstufung in
eine höhere Pflegestufe auch eine höhere Zuzahlung. »Laut Ministerium soll der
heimindividuelle Eigenanteil in den Pflegegraden zwei bis fünf künftig für alle
im Schnitt bei 580 Euro liegen. Bisher sind es, je nach Pflegestufe, 460 bis
900 Euro im Monat.« Alle Heimbewohner haben einen Anspruch auf zusätzliche
Betreuungsangebote, was auch für die Pflegebedürftigen gilt, die zu Hause
betreut werden. Damit nicht genug: »Die Versicherer haben jedem
Pflegebedürftigen einen persönlichen Berater zu nennen. Länger als zwei Wochen
braucht künftig keiner mehr auf einen Beratungstermin zu warten. Auch
Angehörige erhalten einen eigenständigen Anspruch auf Beratung, wenn die Pflegebedürftigen
zustimmen – und auf kostenlose Pflegekurse.« Auch die pflegenden Angehörigen
dürfen auf Verbesserungen hoffen – sie werden in der Renten- und
Arbeitslosenversicherung besser abgesichert. »Und wer seinen Job aufgibt, um
sich der Pflege eines Angehörigen zu widmen, erhält künftig auch seine Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung aus dem Topf der Pflegeversicherung – für die
gesamte Dauer seiner Pflegetätigkeit.«


Nun muss man aber auch darauf hinweisen, dass das Gesetz
zwar zum 1. Januar 2016 in Kraft treten wird, die wesentlichen Reformpunkte
aber erst zu einem späteren Zeitpunkt wirksam werden. So werden der neue
Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Leistungen nach den fünf Pflegegraden sowie
die Fixierung des Eigenanteils bei den Heimbewohnern erst ab dem 1. Januar 2017
das Licht der Pflegewelt erblicken.
Ein große Leerstelle auch dieser ambitionierten Reform
bleibt leider wieder die Personalfrage. Man muss nur die Twitter-Beiträge mit
dem Hashtag #Pflegestreik verfolgen, um zu erkennen, wie prekär bis skandalös
schlecht schon heute die Pflege-Bedingungen in den Kliniken und gerade auch in
den Pflegeheimen sind. Das ganze System lebt offensichtlich von der Substanz.
Dazu nur ein – scheinbar – krasser Ausnahmefall aus dem
Pflegealltag in unserem Land: Feuerwehrleute
kommen Pflegerin zu Hilfe und retten Kranke
oder Wenn
einer Pflegerin nur der Notruf bleibt
, um nur zwei der
Artikel-Überschriften zu zitieren. »Sie war allein mit 21 hochgradig
Pflegebedürftigen eines privaten Altenheims. Als sie merkte, dass sie nicht
alle versorgen konnte, wählte sie die 112. Das Heim ist in Branchenkreisen
bekannt«, so Antje Hildebrandt in ihrer Schilderung der Ereignisse in Berlin.
Das Pflegeheim in Berlin-Rudow nennt sich Gartenstadt und wirbt auf seiner
Homepage mit dem Slogan „Ein Platz zum Wohlfühlen“ und dem Hinweis
auf „Ausgezeichnete Pflegequalität – jetzt auch geprüft!“

»Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen dort offenbar weit
auseinander – und am vergangenen Sonntag wurde das zum ersten Mal auch
öffentlich bekannt. Eigentlich waren zwei Kollegen für die Sonntagsschicht
eingeteilt, doch die Fachkraft, so heißt es heute beim Träger Casa Reha, sei
kurzfristig erkrankt. Die Hilfspflegerin habe daraufhin einen Kollegen aus
einem anderen Wohnbereich um Hilfe gebeten, doch der habe abgelehnt.«

Und mit dieser Konstellation wurde eine Angehörige
konfrontiert:
»Es ist der Albtraum aller Menschen, deren Angehörige in
einem Pflegeheim betreut werden: Man besucht diesen Verwandten an einem
Sonntagvormittag. Man stellt fest, es geht ihm nicht gut. Er hätte schon um
sieben Uhr morgens Insulin und andere Medikamente benötigt. Doch niemand kommt.
Es ist nur eine Pflegerin für 21 Bewohner da. Und auf Anfrage erfährt der
Besucher, diese Pflegerin dürfe leider keine Medikamente verabreichen. Sie sei
nur Hilfspflegekraft.«
Die Angehörige des Pflegeheimbewohners »hat die Polizei
alarmiert. Die wiederum forderte die Pflegerin auf, die 112 zu wählen, um einen
Notfallarzt zu rufen.«

Das Landeskriminalamt ermittelt jetzt wegen des Verdachts
der Vernachlässigung von Schutzbefohlenen. Der Fall hat ein grelles Licht auf
den Pflegenotstand in deutschen Altenheimen geworfen.

Nun wird der eine oder andere nicht ganz unplausibel
einwenden, dass das sicherlich ein krasser Fall ist, unakzeptabel, aber eben
ein Ausreißer, ein bedauerlicher Einzelfall.
Dann also ein Blick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Thema Personalnotstand in der Altenpflege. Im
Nachtdienst versorgt eine Pflegerin 52 Bewohner
, so ein Bericht von Rainer
Woratschka über eine neue Studie von Wissenschaftlern der Universität
Witten/Herdecke. Die Zahlen sind skandalös: »Nachts haben die Altenpflegerinnen
in vielen Heimen „Stress pur“. Einer aktuellen Studie zufolge muss
sich fast jede zehnte Pflegekraft sogar um mehr als 100 Menschen kümmern.« Legt
man den Durchschnittswert von 52 Heimbewohnern zugrunde, dann bedeutet das: Für
einen Heimbewohner pro Nacht  stehen gerade
mal zwölf Minuten Zeit zur Verfügung. Aber: »Mindestens 40 dieser 52 Bewohner
benötigten nachts nämlich auch „direkte Unterstützung“ – sei es, dass sie
regelmäßig umgelagert werden, Medikamente gespritzt bekommen oder zur Toilette
begleitet werden müssten. Allein für die vorgeschriebene Handhygiene seien pro
Nacht mindestens zwei Stunden zu veranschlagen.« Es gibt in den an sich schon
untragbaren Zuständen in der wirklichen Wirklichkeit noch Steigerungsformen: In
einigen Fällen seien Pflegekräfte sogar für mehrere Häuser verantwortlich und
hätten mit dem Auto hin- und herzupendeln, berichtete die Studienleiterin. Noch
ein paar weitere Aspekte aus der Befragung der Pflegekräfte? »26 Prozent gaben an,
während ihres Nachtdienstes nur selten oder nie Pausen machen zu können. Knapp
zwei Drittel hätten sich „häufig“ oder „sehr oft“ um herumirrende Patienten mit
Demenz zu kümmern. Und jede zweite Pflegekraft kann nachts auch in Notfällen
auf keinen Hintergrunddienst zurückgreifen.« Kann es da wirklich noch
verwundern, wenn berichtet wird, »dass etwa ein Viertel der Versorgten mit
freiheitseinschränkenden Maßnahmen oder Medikamenten ruhiggestellt wird. Der
Studie zufolge verabreicht im Schnitt jede Pflegeperson pro Nacht rund zwölf
ihrer Schützlinge Schlafmittel, bei sieben kommen Bettgitter zum Einsatz.«

Und auch diese Zahl sollte gerade vor dem aktuellen
Hintergrund der Diskussion und parlamentarischen Behandlung von
Palliativmedizin wie auch Sterbehilfe zur Kenntnis genommen werden: »Am meisten
litten die Pflegekräfte darunter, im Nachtdienst keine Zeit für Sterbende zu
haben … 66 Prozent der Befragten klagten in der Studie darüber.«
Aber die Befragten haben auch Rückmeldungen gegeben, was
sich ändern müsste. Diese Stimmen aus der Praxis haben die Forscher in
einem Forderungskatalog zusammengefasst
:
  • In der Nacht muss gewährleistet sein, dass mindestens zwei
    bis drei Pflegende für 60 Bewohner anwesend sind
  • Verantwortliche Pflegefachpersonen müssen über die beste
    Qualifikation verfügen, da sie schnell und alleine Situationen einschätzen und
    passgenaue Versorgungsmaßnahmen einleiten können müssen
  • Jede Einrichtung muss einen hochqualifizierten
    Hintergrunddienst bereitstellen, der jederzeit beratend und unterstützend
    eingreifen kann
  • Notfallleitlinien, ein erreichbarer ärztlicher
    Hintergrunddienst und eine stetig lieferbereite Apotheke stellen eine
    erforderliche Grundlage dar
  • Es muss gewährleistet sein, dass Nachtpflegende mindestens
    pro Nacht eine 30-minütige Pause haben, die sie ohne Störungen verbringen
    können
  • Mehr als vier Nächte hintereinander sollten Pflegende nicht
    die Verantwortung für die BewohnerInnen übernehmen
  • Es muss sichergestellt werden, dass Pflegende des
    Nachtdienstes an  Fortbildungen
    teilnehmen können, ohne ihre Schlafzeit reduzieren zu müssen

Die Pflegeexpertin der Grünen im Bundestag, Elisabeth
Scharfenberg, zeigte sich „entsetzt“ über die Ergebnisse der Studie. Sie frage
sich, „wie Pflegekräfte das mit sich machen lassen können“ und wo die
Aufsichtsbehörden seien. Gute Fragen.

Wer die ganze Studie im Original lesen möchte, der kann die
hier als PDF-Datei downloaden:
Christel Bienstein 
und Jörg große Schlarmann: Die
Nacht in deutschen Pflegeheimen. Ergebnisbericht
, Department für Pflegewissenschaft,
Universität Witten/Herdecke, 2015.
Wir könnten das jetzt fortführen – natürlich gibt es auch am
Tag erhebliche Personalprobleme in der Altenpflege. Und was sagt die
Pflegereform zu diesem nicht nur sensiblen, sondern auch zentralen Thema für
eine wirkliche Reform der Pflege?

Also hier fehlt der revolutionäre Impuls, den Rainer
Woratschka für die Pflegereform generell unterstellt hat – und er
schreibt selbst
: » Die Selbstverwaltung werde verpflichtet … „bis
Mitte 2020 ein wissenschaftlich abgesichertes Verfahren zur
Personalbedarfsbemessung zu entwickeln“. Damit soll dann zumindest irgendwo
stehen, wie viele Pflegekräfte theoretisch für gute Pflege benötigt werden. Ob
und wie das in den Heimen umgesetzt werden kann, bleibt offen.«
Was für ein Signal an die immer stärker
aufgebracht-frustrierten Pflegekräfte. Haltet durch, nur noch ein paar Jahre.
Und wenn wir schon bei dem Muster „auf die lange Bank
schieben sind“, dann sollten wir den Pflege-TÜV an dieser Stelle nicht
vergessen. Pflege-TÜV? Wurde der nicht vom Pflegebeauftragten der
Bundesregierung, Staatssekretär Laumann höchstpersönlich, für gescheitert
erklärt? Einer Bewertung, der sich auch 95 Prozent der Experten und vor allem
der Praktiker zustimmen werden. Im Prinzip ja, muss die Antwort hier ausfallen.
Was aber nicht bedeutet, dass man das jetzt konsequent entsorgt und in die
Tonnen haut:

»Es gibt einen Neuanlauf. Ab 2018 soll es für die Heime und
ab 2019 auch für die ambulanten Pflegedienste ein völlig neues Bewertungssystem
geben. Damit habe „die Irreführung der Bürger ein Ende“, sagte der
Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU). Danach werde
es bei der Beurteilung eines Heims beispielsweise nicht mehr möglich sein,
„dass schwere Pflegefehler bei der Medikamentenausgabe durch eine schön
gedruckte Speisekarte ausgeglichen werden können“. Bis dahin dürfen die
Betreiber allerdings weiter mit ihren offensichtlich geschönten Noten werben.
Der sogenannte Pflege-TÜV war in die Kritik geraten, weil bei dem bisherigen
Prüfverfahren selbst Heime mit offensichtlichen Mängel Bestnoten erreichten.«

Die Idiotie muss man sich erst einmal verdeutlichen. Da wird
festgestellt, dass man mit den Noten des Pflege-TÜV eigentlich nichts anfangen
kann und dass das abgeschafft gehört, dann trifft man die Entscheidung, mit
einem neuen, (hoffentlich) besseren Verfahren das alte System zu ersetzen – aber
bis dahin macht man erst einmal mit dem alten Unsinn weiter. Bis 2018.
Ein anderer Teilbereich der Pflegelandschaft geht hingegen
seinen Weg – gemeint sind hier die privaten, auf Gewinnerzielung ausgerichteten
Pflegekonzerne. Die wachsen und konsolidieren sich, wie die Ökonomen das
nennen. Sie schließen sich also untereinander zusammen. Und hier können wir
wieder anknüpfen an die Geschichte mit der völlig überforderten Pflegehelferin
aus einem Berliner Altenheim, der die Polizei geraten hatte, den Notarzt zu
rufen, was sie dann auch gemacht hat. Das Heim, in dem es zu diesem
schwerwiegenden Vorfall gekommen ist, gehört zu Casa Reha, einer dieser
privaten, auf Gewinn ausgerichteten Betreiber. Casa Reha mit Sitz in Oberursel
bei Frankfurt betreibt 70 Pflegeheime mit mehr als 10.000 Betten und 4.100
Mitarbeitern. Der Jahresumsatz liegt bei 270 Millionen Euro, der operative
Gewinn (Ebitda) Finanzkreisen zufolge bei 30 Millionen Euro.

Für die wird sich auf der obersten Ebene und mit Blick auf
das ganze Unternehmen eine Menge ändern, denn: Casa
Reha geht an französische Korian
. Es handelt sich dabei um einen französischen
Altenheim- und Klinikbetreiber. QCasa Reha mit Sitz in Oberursel bei Frankfurt
betreibt 70 Pflegeheime mit mehr als 10.000 Betten und 4100 Mitarbeitern. Der
Jahresumsatz liegt bei 270 Millionen Euro, der operative Gewinn (Ebitda)
Finanzkreisen zufolge bei 30 Millionen Euro.«
Und der schlägt jetzt zum dritten Mal zu in Deutschland: »Nach
den Pflegeheim-Ketten Phoenix und Curanum verleibt sich Korian auch die Nummer
drei Casa Reha ein, wie die Unternehmen am Dienstag mitteilten. Casa Reha hatte
seit 2007 dem britischen Finanzinvestor Hg Capital gehört … .«

Fazit: Hier
laufen die Geschäfte. Die Betonung liegt auf hier. 

Arbeitsmarkt: Frauen, die Frauen ersetzen, die Frauen ersetzen. Über globale „Care-Ketten“, „Gefühlsarbeiterinnen“ oft ohne Gegengefühl und dann diese „Wirtschaftsflüchtlinge“

Nein, das ist keine Sprachspiel, sondern eine eigene Realität, die Millionen Menschen betrifft und die in der Fachdiskussion als globale „Care-Ketten“ diskutiert wird. Gabriela Herpell berichtet darüber in ihrem Artikel Frauen, die Frauen ersetzen, die Frauen ersetzen: Weil Frauen in den Industrieländern berufstätig sind, übernehmen Frauen aus ärmeren Ländern die Fürsorgearbeiten. Ein riesiger weiblicher Wirtschaftszweig entsteht.

Und die Autorin ist selbst Teil dieser Kette: »Lidija kam nach München, als mein Sohn sechs war. Sie hat Blanca vertreten. Blancas Sohn war krank und brauchte seine Mutter. Blanca putzte schon etwas länger in München als Lidija. Bei Anwälten, Journalisten, Ärzten, Werbern, Architekten. Bei Paaren mit Kindern, allein erziehenden Müttern, Paaren ohne Kinder, und in jeder dieser Familien oder familienähnlichen Konstellationen arbeiten die Frauen.« 

mehr

An sich ein guter Tag für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörige. Mehr Leistungen und – diskussionsbedürftige – Weichenstellungen. Gleichzeitig twittert der #Pflegestreik mit sich selbst

Mit einem umfassenden Reformanspruch geht das Pflegestärkungsgesetz II einher, das vom Bundeskabinett am heutigen Mittwoch angeschoben wurde. Mehr Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, so hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Erläuterungen seines Ministeriums zur Pflegerform überschreiben lassen. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten und es enthält auch den – gefühlt seit Jahrzehnten angekündigten – neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der mit einem neuen Begutachtungsverfahren zum 1. Januar 2017 kommen soll. Bereits Anfang 2015 wurde mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet und jetzt wird noch mal was nachgelegt. Und keiner soll behaupten, es gehe hier um Peanuts: Insbesondere Menschen mit Demenz und psychischen Störungen eine bessere Pflege erhalten. Sie haben künftig Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die bislang drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Bis zu 500.000 Menschen können nach Angaben des Ministers mittelfristig durch die Reform zusätzliche Unterstützung erhalten. Auch die pflegenden Angehörigen werden bedacht: »Wer für die Pflege aus dem Beruf aussteigt, erhält künftig von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Bislang werden Beiträge nur während der maximal sechsmonatigen gesetzlichen Pflegezeit übernommen. Auch werden betreuenden Angehörigen in Zukunft höhere Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse gutgeschrieben«, kann man dem Artikel Bundeskabinett beschließt grundlegende Pflegereform entnehmen.

»Finanziert wird die zweite Stufe der Reform mit einer erneuten Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017. Bereits zu Beginn dieses Jahres war er mit Inkrafttreten des ersten Pflegestärkungsgesetzes um 0,3 Punkte gestiegen. Beide Erhöhungen bringen zusammen rund fünf Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen«, kann man dem Artikel Demenzkranke haben Anspruch auf höhere Leistungen entnehmen.

Es gibt auch kritische Stimmen: Zum großen Wurf hat es wieder nicht gereicht, kommentiert Wolfgang Prosinger. Neben den unbestreitbar positiven Aspekten der neuen Pflegereform identifiziert er die folgenden Schwachstellen:

»Die Entlastungen für die Angehörigen sind jedenfalls entschieden zu gering ausgefallen. Und eine Aufstockung des Personals für die stationäre oder ambulante Pflege ist ganz und gar nicht in Sicht … Auch das unsinnige, weil irreführende Bewertungssystem von Pflegeheimen ist nicht abgeschafft worden, genauso wenig wie das nicht gerade humane System der Pflege im Minutentakt. Ebenso wenig hat sich das Gesundheitsministerium an die Aufwertung des Berufs der Altenpfleger herangetraut. Aufwertung hieße auch bessere Bezahlung. Der physische und psychische Einsatz von Pflegern und deren beschämende Entlohnung stehen noch immer in einem krassen Missverhältnis zueinander.«

Damit spricht Prosinger tatsächlich einige diskussionsbedürftige Punkte an.

Nehmen wir die von vielen begrüßte Ankündigung, das bisherige System der Pflegestufen zu ersetzen durch ein System der Pflegegrade Bisher haben wir vier Pflegestufen (also eigentlich drei plus der so genannten „Pflegestufe 0“ bei Feststellung einer erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Das soll durch fünf Pflegegrade abgelöst werden. Zum neuen System und seinen Unterschieden zum Status Quo erfährt man vom Ministerium: »In Zukunft werden körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und in die  Einstufung einbezogen. Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und – mit unterschiedlicher Gewichtung – zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt.« Vereinfacht gesagt: „Gleichbehandlung“ der Einschränkungen und damit weg von der bisherigen Engführung auf einen rein somatischen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zweitens weg von der Defizit- und hin zur Ressourcenorientierung („Grad der Selbständigkeit“). Das hört sich erst einmal gut an. Aber es lohnt sich, hier einmal genauer und durchaus auch kritisch hinzuschauen. Das Versprechen des neuen Systems lautet ja, dass es jetzt darum geht, die (noch verbliebene) Selbständigkeit zu taxieren und daran die Hilfeleistung zu taxieren.

Letztendlich ist das aber auch nur die andere Seite dessen, was bislang als „defizitorientierter“ Ansatz kritisiert wurde, denn es gilt: Das Begutachtungssystem wird auch in Zukunft die zentrale Aufgabe haben, Bedarfe und aus deren Grad abgeleitet dann die entsprechenden Hilfevolumina zuzuteilen (oder eben auch zu begrenzen oder zu verweigern). Und was soll jetzt wirklich anders sein als vorher? Die Einschränkungen und ihre Intensität lösen eine entsprechende Einstufung und damit verbundene Mittel aus.

Nur wenige Beiträge in der Pflegedebatte greifen diese Punkte kritisch-ablehend auf. Ein Beispiel wäre der Artikel Warnung vor dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus dem Pflege-Selbsthilfeverband. Dort findet man die folgenden Hinweise:

»Im Ergebnis hat dieser Ansatz jedoch den Effekt, dass sich jene finanziell belohnt sehen, die Pflegebedürftigkeit verstärken, hingegen andere bestraft sehen, die sich erfolgreich um Aktivierung und Wiedererlangung der Selbstständigkeit bemühen. Nach wie vor wird Pflege, die den Bedürftigen bedürftiger werden lässt besser bezahlt als solche die seine Selbstständigkeit fördert. Wie das alte, so wirkt auch das neue Verfahren entgegen der eigentlichen Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetztes: Es fördert den Pflegebedarf und behindert Prävention, Aktivierung und Rehabilitation.«

Und auch bei einem anderen Hoffnungspunkt wird in dem Artikel Wasser in den Wein gegossen – bei der Hoffnung, dass mit dem neuen Pflegebedürfigkeitsbegriff endlich die zerstörerische „Minutenpflege“ abgeschafft wird. Für das „aber“ an dieser Stelle wird ein ausgewiesener Pflege-Experte zitiert:

»Heinz Rothgang von der Universität Bremen … spricht von jähen Enttäuschungen, die vorprogrammiert seien. „Der Wissenschaftler räumte mit weiteren Mythen rund um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf. So führe dieser nicht, wie vielfach erhofft, zur Abschaffung der so genannten Minutenpflege.“«

Viele kritische Stimmen heute in den Medien haben darauf hingewiesen, dass eines der drängendsten Probleme im Bereich der Pflege nicht adressiert wird mit der Gesetzgebung – der Personalmangel und die Frage, ob und wie es gelingen kann, ausreichend Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Nun könnte man an dieser Stelle sehr viel empirisch gesichertes Material anführen, das zu einer Bestätigung der Skepsis beitragen würde.

Aber man kann es auch anders machen und lediglich einen Satz zitieren, der dem Artikel Wirtschaft sucht Arbeitskräfte: Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge entnommen ist. »Die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen: Viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen – etwa als Bäcker oder Stuckateure. Wenn die Politik sie lässt«, können wir dort lesen. Und welche Branchen sich besondere Hoffnungen machen. Aus allen Ecken werden positive Erwartungen laut. Und dann am Ende des Artikels dieser eine Satz:

»Nur in den Pflegeberufen sind die Arbeitsbedingungen nach Ansicht des zuständigen Verbandes so schlecht, dass sie auch für Flüchtlinge unattraktiv seien.«

Den sollte man sich ausschneiden, um das in den Worten einer tradierten Arbeitstechnik zu benennen. Mehr muss man gar nicht sagen oder schreiben.

Und die Pflegekräfte selbst? Die machen tagaus tagein ihren Job, sie arbeiten oftmals unter skandalös schlechten Bedingungen. Wenn sie denn aufbegehren, dann erfolgt das eher im Modus der „Privatisierung“, also als individuelle Reaktion, beispielsweise durch Flucht aus dem Arbeitsfeld Pflege, durch Bemühungen, durch Aufstieg den Bedingungen an der Pflegefront zu entkommen, bei nicht wenigen anderen durch Krankheit und innerer Kapitulation.

Und ein Teil der Pflegekräfte twittert sich den Frust über die real existierenden Arbeitsbedingungen aus der Seele. Schon seit längerem – und heute war wieder so ein Höhepunkt – wird unter dem Hashtag #Pflegestreik versucht, zum einen auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch immer wieder daran zu erinnern, was wäre, wenn die Pflege mal streiken würde. Und viele wollen genau das, sie fordern ihn ein, den Pflegestreik.

Dann aber auch wieder aggressiv-empörte Reaktionen auf die wahrgenommene Nicht-Reaktion des Themas in den Medien und der Politik. Man wird einfach nicht gehört. Durchaus naheliegend die Vermutung: man wird nicht für voll genommen. Denn bei allen Problemen aus Sicht der Betroffenen – der Laden läuft doch (noch). Keine Ausfälle, keine katastrophalen Zustände aufgrund eines für die Öffentlichkeit offensichtlichen Personalmangels und wenn der mal an die Oberfläche kommt, dann kann man das als Einzelprobleme kleinschreddern.

In dieser Gemengelage könnte man durchaus zur der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es dann wohl wirklich an der Zeit ist, durch einen echten Arbeitskampf der Welt zu zeigen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Streik des Pflegepersonals hätte. Und im Prinzip hätten die Pflegekräfte eine gewaltige Schlagkraft bei einem flächendeckenden Streik, denn innerhalb kürzester Zeit würde in unserer Gesellschaft in Millionen von Familien vieles zusammenbrechen.
Im Prinzip heißt aber eben auch – nicht unbedingt in der Realität. Denn die Pflegekräfte sind durchaus mit zahlreichen analogen Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen oder den Jugendämtern oder den Jugendhilfeeinrichtungen, die erst vor kurzem erste Erfahrungen sammeln konnten mit einem unbefristeten Streikversuch. Und letztendlich gescheitert sind, wenn man das aktuelle Desaster um den von den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit abgelehnten, von der Gewerkschaftsspitze vorher bei den Verhandlungen aber durchgewunkenen Schlichterspruchs betrachtet und der leider erwartbaren Reaktivierung in Form punktueller, tageweiser Streiks, die den Arbeitgebern noch weniger weh tun werden als die mehrwöchigen Streikaktionen vor der Schlichtung. Irgendwann wird man das abbrechen.

Und die Pflege hat nicht nur vergleichbare Strukturprobleme wie die Sozial- und Erziehungsdienste, bei ihr sehen die noch krasser aus. Denn es handelt sich eben nicht um „klassische“ Streikmaßnahmen gegen Unternehmen, die die Streikfolgen unmittelbar und sofort zu spüren bekommen in der eigenen Schatulle. Anders ausgedrückt: Sowohl für Kitas wie auch für Pflegeeinrichtungen gilt der Tatbestand, dass man mit den Streiks die Eltern/Kinder bzw. die Pflegebedürftigen und deren Angehörige primär treffen würde, obgleich die Arbeitgeber gemeint sind. Die hingegen sind in einer wesentlich besseren Situation als privatwirtschaftliche Unternehmen, weil sie nur dann wirklich unter Druck geraten würden, wenn die gar nicht gemeinten, tatsächlich aber getroffenen Dritten ihre Wut gegen sie richten würden und nicht gegen die Streikenden.

Damit das nicht missverstanden wird – wenn man sich in der gegebenen Machtkonfiguration bewegt, dann wäre ein aufrüttelnder Arbeitskampf in der Pflege längst überfällig. Die berühmte „Eine-Million-Euro-Frage“ lautet hingegen: Wie bekommt einen solchen organisiert? Und wie verhindert man ein Desaster wie im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Das sind keine trivialen Fragen, aber sie müssen a) gestellt und b) bearbeitet werden. Denn das zeigen leider auch die Erfahrungen des Streiks der Sozial- und Erziehungsdienste: Wenn man das machen will oder meint zu müssen, dann hat man eigentlich nur einen Schuss frei und gerade deshalb sollte man sich vorher auf einer realistischen Basis klar sein darüber, wie man wieder raus kommen kann, wenn man irgendwo reingeht. Beispielsweise in einen Arbeitskampf.

Pflegestreik? Den brauchen wir möglicherweise bald nicht mehr – die Verhältnisse erledigen das zunehmend selbst

Derzeit tobt auf Twitter der verzweifelte Versuch, unter dem Hashtag #pflegestreik auf die Missstände in der Pflege aufmerksam zu machen und an die Medien zu appellieren, sich in ihrer Berichterstattung endlich dieses Themas anzunehmen. Außerdem wird diskutiert, ob nicht eigentlich endlich mal ein richtig großer, also echter Streik in der Pflege notwendig wäre.
Aber vielleicht erübrigt sich das ja – zynisch gesprochen – mit der Organisation eines größeren Arbeitskampfes (der aus ganz unterschiedlichen Gründen höchst unwahrscheinlich ist), denn die Verhältnisse schaffen zunehmend eine vergleichbare Situation, nämlich die Einstellung der pflegerischen Aktivitäten.

Dazu passt dann diese Meldung: Fachkräfte fehlen – Pflegeheim in Hüpstedt muss schließen. »Wegen des akuten Fachkräftemangels beim Pflegepersonal wird das Altenpflegeheim Dünwald in Hüpstedt (Unstrut-Hainich-Kreis) mit sofortiger Wirkung komplett geschlossen. Zur Einstellung des Geschäftsbetriebes hat sich die Pflegedienst Mieth GbR als Betreiberin auf Anraten der Heimaufsicht des Landes Thüringen in der vorigen Woche entschlossen.« Es habe immer wieder Prüfungen und Beschwerden zur pflegerischen Versorgung gegeben.

Einem anderen Artikel kann man entnehmen: »Nach einigen Kündigungen habe es zuletzt nur eine Pflege-Fachkraft gegeben, hieß es. Die Frau habe sowohl Früh- als auch Spätdienst gemacht. Normalerweise seien mindestens 5 Fachkräfte bei 25 Heimbewohnern vorgesehen.«

Es handelt sich um die erste Schließung eines Pflegeheimes in Thüringen überhaupt. Betroffen sind derzeit 25 Bewohner, die zum größten Teil bereits in anderen Heimen der Region untergebracht worden sind. Den meisten der 16 Mitarbeitern droht die Arbeitslosigkeit.

Eine berechtigte Frage könnte lauten: Schlimm, aber vielleicht ist das nur ein bedauerlicher Einzelfall. Das es sich um einen soclhen handelt, darauf deuten die ersten Einschätzungen hin, die man diesem Artikel entnehmen kann: Thüringer Pflegeheime warnen: Viel zu wenig Fachkräfte:

»Ein Personal-Notstand wie in Hüpstedt sei jedoch anderswo in Thüringen nicht zu erkennen, erklärten mehrere Experten. „Das ist ein trauriger und bedauernswerter Einzelfall“, betonte Robert Büssow, Pressesprecher der Krankenkasse Barmer GEK Thüringen. „Dieser Fall ist sicher ein krasses Einzelbeispiel von Missmanagement in der Thüringer Pflege“, unterstrich AOK-Sprecher Jürgen Frühauf.«

Da sollen wir jetzt aber beruhigt sein. Aber der Blick auf einige Hintergrund-Informationen zu Thüringen und der Pflegelandschaft dort verdeutlicht, dass wir hier – wie in vielen anderen Regionen auch – mit einem strukturellen Problem konfrontiert sind:

»In Thüringen arbeiten mehr als 27.000 Pflegekräfte in 829 Heimen. Knapp 87.000 Menschen sind pflegebedürftig.
Im bundesweiten Vergleich liegen die Gehälter der Pflege-kräfte ziemlich weit hinten. So verdient eine Fachkraft in Thüringen durchschnittlich 1.982 Euro brutto pro Monat. Das ist der viertletzte Platz unter allen Bundesländern.
In Hessen bringt es eine Pflege-Fachkraft im Schnitt auf 2.484 Euro, in Bayern auf 2.709 Euro. „Die weitere Abwanderung gut ausgebildeter Pflegefachkräfte aus Thüringen in benachbarte westliche Bundesländer ist damit vorgezeichnet“, schreibt der Paritätische Wohlfahrtsverband.«

Nach einer Studie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena braucht Thüringen bis 2030 rund 8.000 zusätzliche Pflegekräfte.

Natürlich versucht auch die Politik auf die Entwicklungen und die grundsätzlichen Herausforderungen zu reagieren. In Thüringen gibt es nicht nur eine rot-rot-grüne Landesregierung, sondern auch den ersten Ministerpräsidenten aus den Reihen der Linkspartei. Und Bodo Ramelow hat sich einbringen wollen in die Debatte – mit einem Vorschlag, der wieder einmal zeigt, auf welchem Hilflosigkeitsniveau man angekommen ist: Griechische Lehrlinge sollen Pflegenotstand lösen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) will mit Lehrlingen aus Griechenland den eigenen Fachkräftebedarf sichern. Dem Arbeitsministerium in Athen wolle Ramelow ein Kooperationsangebot unterbreiten, bestätigte Regierungssprecher Alexander Fischer am Donnerstag in Erfurt. In Zusammenarbeit mit der Deutsch-Hellenischen Wirtschaftsvereinigung (DHW) bieten wir an, bei der Vermittlung von jungen Griechen auf Ausbildungsplätze in Thüringen zu helfen, vorrangig im Pflegebereich.

Immerhin – so könnte man hier zynisch anmerken – gibt es einen Schritt nach vorn: Denn in der Vergangenheit wurden die Hoffnungen auf die Rekrutierung chinesischer Altenpflegekräfte gerichtet, die Zuwendung nach Griechenland verkürzt die Entfernung, die man überwinden muss, doch ganz erheblich und außerdem sind die Griechen (noch) in der EU.

Die Vorkommnisse in Thüringen werden auch in ganz anderen Regionen von den dortigen Medien wahrgenommen und aufgegriffen, so beispielsweise von der Südwest-Presse, wo man einen Kommentar von Elisabeth Zoll unter der Überschrift Auf dem Rücken der Mitarbeiter lesen:

»Das ist ein unguter Vorbote – und er weist über Thüringen hinaus: Im Eichsfeldort Hüpstedt musste ein Pflegeheim schließen, weil Fachkräfte fehlten … Im thüringischen Fall mögen mehrere Faktoren zusammentreffen: kleiner Ort, abgelegene Lage, wirtschaftlich labile Situation des Betreibers. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht nur dort der Pflegenotfall droht … Vielerorts sind Pflegeheime, was die Personalausstattung betrifft, auf Kante genäht – um es noch positiv zu formulieren … Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden. Der Mangel kommt nicht von ungefähr. Schichtbetrieb, eine hohe körperliche und seelische Belastung, der immense Zeitdruck – und das alles zu vergleichsweise lausiger Bezahlung – führen dazu, dass selbst hochmotivierte Kräfte oft schon nach wenigen Jahren das Handtuch werfen oder mit Rücksicht auf die eigene Gesundheit beruflich zurückstecken. In vielen Heimen wurde in den vergangenen Jahren die Rechnung auf dem Rücken der Mitarbeiter gemacht.«

So weit, so im Prinzip bekannt. Und auch ihre Schlussfolgerung ist nicht neu: »Wäre es da nicht angebracht, eine Attraktivitätsoffensive für Pflegekräfte zu starten, angemessene Bezahlung inbegriffen?«

Ja, so ist es. Das sollte man tun.

Aber wie sagte schon der berühmte Philosoph und Politikwissenschaftler Peer Steinbrück: „Hätte, hätte, Fahrradkette“.

Noch mal zurück zu der Frage nach dem Einzelfall, der uns da aus Thüringen berichtet wurde:
Bereits im März musste in Langenhorn bei Hamburg das Altenheim Röweland schließen. Auch dort fehlten ausreichend qualifizierte Fachkräfte, um das Haus mit insgesamt 230 Betten weiter betreiben zu können.