Während Deutschland noch auf den Beginn von irgendwelchen Koalitionsverhandlungen wartet und darüber nachdenken kann, welche Vorteile eine regierungslose Zeit hat (beispielsweise keine halbgaren oder sogar das bestehende Durcheinander potenzierende sozialpolitische Gesetzgebung erdulden zu müssen), haben die Nachbarn in Österreich nicht nur nach uns gewählt, sondern mittlerweile auch eine neue Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ bekommen. Wobei die alte Tante ÖVP für den Wahlkampf kurzerhand in „Liste Sebastian Kurz“ umgespritzt wurde und jetzt als „Neue Volkspartei“ firmiert. Namen werden halt immer beliebiger und auf das reduziert, was sie sind: Marketing-Instrumente. Nun soll es in diesem Beitrag nicht um eine generelle Einordnung der seit dem 18. Dezember 2017 im Amt befindlichen neuen Bundesregierung gehen, die von vielen Beobachtern vor allem angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ mehr als kritisch gesehen wird. Sondern hier soll es um die Frage gehen, ob und in welcher Form die Österreicher ein Modell aus Deutschland importieren, dass hier bei uns mehr als umstritten ist, um das mal vorsichtig zu formulieren. Anders gesagt: Ist die österreichische Sozialpolitik auf dem Weg in einen Hartz IV-Staat?
Österreich
Von Deutschland lernen, kann auch bedeuten, etwas nicht so zu machen: Österreich und die Hartz IV-Debatte
Also ehrlich – als wenn Deutschland gerade nicht sowieso genug internationalen Stress hätte angesichts der enormen Exportüberschüsse, mit denen die „bad Germans“, um in der Trump’schen Fachterminologie zu bleiben, die Welt mehr oder weniger beglücken. Da muss nicht noch ein weiterer „Exportschlager“ dazu kommen. Vor allem nicht, wenn es sich um das deutsche Hartz IV-System handelt.
Aber offensichtlich gibt es in Österreich Stimmen, die genau das vorschlagen. Ein Import des deutschen Grundsicherungssystems. Solche Meldungen erreichen uns nun aus dem Nachbarland: Hartz-IV auch in Österreich? oder dieser Artikel: Hartz-IV in Österreich? Studie sieht Einsparpotenzial: »In der ÖVP nehmen Bemühungen, das deutsche Hartz-IV-System auf Österreich umzulegen, Formen an. Das Finanzministerium hat das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung mit einer Studie zu diesem Thema beauftragt, deren Ergebnisse nun vorliegen.« Und was hat diese Studie, über die jetzt berichtet wird, zu Tage gefördert? »Die Gesamteinsparung bei einer Umsetzung von Hartz IV in Österreich würden laut Studie mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr ausmachen.« Das ist eine Menge Geld. Aber der eine oder andere wird an dieser Stelle skeptisch einwenden – was heißt hier „Einsparung“? Das bedeutet doch, dass man diese Geldsumme weniger ausgibt, also für die betroffenen Menschen eine Kürzung. Dazu kann man wohl der Studie entnehmen: »uf der anderen Seite würde das Modell laut Studienautoren zu einem Anstieg der Armutsgefährdung und zu deutlichen Änderungen der Einkommensverteilung führen.«
In Österreich gibt es die Notstandshilfe und die Mindestsicherung. Die Notstandshilfe ist in der Regel höher als der Hartz-IV-Bezug. In der Studie wird davon ausgegangen, dass nach Bezug des Arbeitslosengeldes statt der Notstandshilfe als bedarfsorientierter Sicherheitsleistung die bedarfsorientierte Mindestsicherung als staatliche Unterstützung folgt. Durch den Wegfall der bisherigen Notstandshilfe würde das Bundesbudget jährlich um eine Milliarde Euro entlastet.
Die Studie wurde laut Finanzministerium bereits vor zwei Jahren in Auftrag gegeben, man prüfe laufend Effizienzpotenziale. Ein Modell wie Hartz IV sei in Österreich nicht geplant, hieß es aus dem österreichischen Finanzministerium. Allerdings mehren sich die Stimmen interessierter Kreise, genau das zu machen, zum einen aus dem Arbeitgeberlager, aber auch Politiker aus den Reihen der ÖVP, so hat beispielsweise der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka rund um den 1. Mai für eine De-facto-Abschaffung der Notstandshilfe plädiert.
Allerdings scheinen Teil der Regierung da nicht so sicher zu sein: Stöger mahnt ÖVP: Hartz IV in Österreich bedeutet Armut und soziale Ausgrenzung, so ist eine Pressemitteilung überschrieben. Und die kommt nicht von irgendwelchen Sozialverbänden, sondern vom österreichischen Sozialminister, Alois Stöger von der SPÖ. „Ich werde nicht zulassen Arbeitssuchende mit Hartz IV zu bestrafen, ihnen beinahe das gesamte Ersparte, das Haus und die Eigentumswohnung, das Auto und den Bausparer wegzunehmen“, verweist Stöger auf die Folgen einer derartigen Zerstörung des Sozialsystems“, so wird der Minister von seinem Haus zitiert.
Zu den möglichen Auswirkungen eines Transfers des deutschen Hartz IV-Systems berichtet das Sozialministerium:
»Die Folgen einer Einführung von Hartz IV nach deutschem Beispiel wären enorm: Knapp eine dreiviertel Million Österreicherinnen und Österreicher wären betroffen. Die Armut würde explodieren, 160.000 Menschen wären zusätzlich massiv armutsgefährdet. Statt der Arbeitslosenversicherung würden die Menschen nur noch eine Fürsorgeleistung, etwa die Mindestsicherung erhalten, zuvor müsste allerdings das gesamte Vermögen bis auf 4.000 Euro aufgebraucht werden. Darüber hinaus würden den Menschen auch weitreichende Pensionsverluste drohen.«
Die Debatte über das „Vorbild“ Hartz IV für Österreich läuft schon seit längerem. Dazu beispielsweise dieser Artikel von Anita Staudacher aus dem November 2016: Welche Folgen „Hartz IV“ für Österreich hätte: »Der in Deutschland geschaffene Niedriglohnsektor sei eine Sackgasse und führe zu Altersarmut, warnen Gewerkschafter.« Die möglichen Folgen wurden dort bereits skizziert.
Man kann an dieser Stelle den Österreichern auch vor dem Hintergrund der enormen Kritik, die es in Deutschland an diesem teilweise absurden System gibt, nur zurufen, auf keinen Fall so ein System wir Hartz IV zu importieren – es sei denn, man will eine massive Absenkung der sozialen Sicherungsleistungen erreichen. Dann passt das.
Die Armut aus der Perspektive der statistischen Umlaufbahn und mit Blick auf die Betroffenen: Von den großen Zahlen und den vielen kleinen Einzelfällen
Um es gleich voran zu stellen: Es gibt nicht lösbare Dilemmata. Man kann und muss sich diese bewusst machen, aber man wird das eine nicht zugunsten des anderen aufheben können und umgekehrt. Die Armutsforschung und gerade die armutspolitische Debatte wären hier als Beispiel zu nennen: Da gibt es zum einen den Blick von oben auf die großen Zahlen, mit denen man versucht, eine überaus komplexe und zugleich immer viele Einzelfälle umfassende gesellschaftliche Problematik wie „die“ Armut quantitativ abzubilden. Das führt dann nicht nur zu den immer wiederkehrenden und letztendlich nicht beantwortbaren Fragen nach dem Muster: Wie viele Menschen sind denn nun arm? Sondern auch zu einem unvermeidbaren methodischen Streit, ob man überhaupt Armut richtig misst, was dann gerne im politischen Streit über die Zahlen instrumentalisiert wird. Wir haben das jüngst erst wieder erleben müssen im Umfeld des nach langen Geburtswehen veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Und zum anderen sind da Millionen Einzelfälle, bei deren genauerer Betrachtung jedem klar wird, dass wir mit Armut und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben konfrontiert sind – und jeder der davon Betroffenen kann sich aber auch gar nichts davon kaufen, dass es „uns“ angeblich immer besser geht oder gar, dass es bei uns doch eigentlich gar keine „richtige“ Armut geben würde. Mit diesem Dilemma sind nicht nur wir konfrontiert – sondern auch die Menschen in Österreich.
Auch in Österreich wird an der Pflegeausbildung herumgedoktert
Die Reform der Pflegeberufe ist in Deutschland derzeit heftig umstritten und das Gesetzgebungsverfahren dazu hängt im Bundestag (vgl. dazu den Beitrag Reform der Pflegeausbildung: Noch auf der Kippe oder schon vor der Geburt verstorben? vom 15. Januar 2017).
Vor diesem Hintergrund ist der Blick in das Nachbarland Österreich von Interesse, denn auch dort wird gerade über eine Reform der Pflegeausbildung gestritten. Es gibt durchaus Analogien zu dem, was in Deutschland verhandelt wird, aber aufgrund der Systemunterschiede auch abweichende Entwicklungslinien, deren Verfolgung für die deutsche Diskussion interessant sein könnte.
Im Juli 2016 konnte man solche Meldungen in der österreichischen Presse lesen: Nationalrat beschließt neue Krankenpflege-Ausbildung. Die kompakteste Kurzfassung geht so: »Künftig gibt es drei Gruppen, neben einer Pflegeassistenz noch eine Pflegefachassistenz sowie die gehobenen Pflegefachkräfte«, wobei die gehobenen Pflegefachkräfte akademisch an Fachhochschulen ausgebildet werden (sollen). Etwas ausführlicher: »Laut Gesundheits- und Krankenpflegegesetz gibt es in Zukunft drei Berufsbilder. Neben der Pflegeassistenz (bisher: Pflegehilfe) wird auch eine Pflegefachassistenz geschaffen, die mehr Kompetenzen haben soll. Beide sollen weiterhin an den Krankenpflegeschulen ausgebildet werden, die Ausbildung ein bzw. zwei Jahre dauern. Die gehobenen Pflegefachkräfte (derzeit „diplomierte Pflegekräfte“) absolvieren künftig ausnahmslos eine FH-Ausbildung. In Kraft treten soll die Neuregelung ab September 2016 stufenweise bis 2024.« Diesem Beschluss vorangegangen war eine kontroverse Diskussion, die bereits in den Überschriften deutlich wird und teilweise an das erinnert, was wir derzeit in Deutschland erleben: Neuorganisation der Pflegeberufe gefällt nicht allen, Breite Kritik an Plan für neue Pflegeausbildung oder Arbeiterkammer: Entwurf für neue Pflegeausbildung überarbeiten, um nur eine kleine Auswahl zu zitieren.
Auf nach Österreich? Mit einem vergleichenden Blick auf die Rente hier und dort wäre das naheliegend. Für die Rentner in Deutschland
Das war ja zu erwarten. Das Gesamtkonzept zur Alterssicherung, das die Bundessozialministerin Andrea Nahles gestern der Öffentlichkeit präsentiert hat, wird von vielen kritisch kommentiert. Das kann bei so einem Thema auch nicht wirklich überraschen. Vor allem ihr Vorschlag, eine „Haltelinie“ beim absinkenden Rentenniveau einzuziehen und das bei 46 Prozent bis 2045 zu stabilisieren, sorgt für strittige Diskussionen. So hat sich der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu Wort gemeldet, er hält das von Nahles vorgeschlagene Mindest-Rentenniveau von mindestens 46 Prozent für nicht ausreichend: „Die Rente muss höher sein als die Grundsicherung, sonst verliert das System seine Legitimität. Ein Niveau von 46 Prozent wird dafür nicht reichen“, so wird er in dem Artikel Blüm und Riester kritisieren Rentenkonzept zitiert. Aber viele Kommentatoren argumentieren so wie Thomas Öchsner von der Süddeutschen Zeitung, der unter der bezeichnenden Überschrift Wer soll das bezahlen? schreibt:
»Nahles hat auch recht, wenn sie eine neue langfristige Haltelinie beim Rentenniveau und bei den Beitragssätzen fordert. Wer das Rentenniveau ins Bodenlose fallen lässt, untergräbt die Legitimation der Rentenversicherung … Jedoch ist die Ministerin übers Ziel hinausgeschossen. Man kann darüber reden, die gesetzliche Haltelinie von mindestens 43 Prozent des Durchschnittslohns über 2030 hinaus zu stabilisieren. Die 46 Prozent, die Nahles anpeilt, werden allerdings viel zu teuer.«
Es geht hier gar nicht um die Frage, warum das eigentlich so sein soll (vgl. dazu mein Hinweis auf die eigentliche Finanzierungsfrage als zentrale Baustelle der rentenpolitischen Diskussion, die aber weiterhin gemieden wird, in dem Beitrag Die Rente soll gesamtkonzeptionell verbessert werden. Aber welche Rente? Und der großen Koalition geht die Puste aus beim Anblick der wirklich großen Baustellen im Alterssicherungssystem vom 25.11.2016).
Auffällig ist hingegen, dass kaum bis gar nicht die eigentlich naheliegende Frage aufgerufen wird, wie hoch eigentlich viele Renten heute sind und wie hoch sie in Zukunft sein sollten.
Da kann es dann auch mal schnell zur Irritationen – um das nett auszudrücken – kommen, wenn man den vergleichenden Blick auf andere Länder richtet und feststellen muss, dass es den Menschen im Ruhestand deutlich besser geht als bei uns, was die Höhe der Rente angeht.
Und wenn so was dann auch noch in einer der vielen Talk-Shows passiert, dann zeigt sich sehr schnell, wer Experte ist und wer nur so tut.
Und im Ergebnis kann es dann zu solchen Schlagzeilen kommen: Staunen bei „Illner“: Warum gibt es in Österreich 40 Prozent mehr Rente?, so ist der Artikel von Tatjana Grassl überschrieben.
In »der Show von Maybrit Allner (ging es) um das Thema Rente – bis ein Praxis-Beispiel plötzlich sämtliche Teilnehmer verstummen ließ: In einem Einspieler wurden die Renten eines Österreichers und eines Deutschen miteinander verglichen. Das Ergebnis: Der österreichische Facharbeiter bekommt im Alter 40 Prozent mehr Rente als der deutsche. Dabei verdienen beide das gleiche Bruttogehalt.«
»Wie kann das sein? Auch Illners Gäste konnten sich das nicht erklären: Weder der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt noch der Uni-Professor Antonio Brettschneider waren in der Lage, die Diskrepanz zu erklären.«
Die Bewertung Antonio Brettschneider betreffend ist so nicht zutreffend, in anderem anderen Artikel (vgl. Nicht einmal Wirtschaftsweise blicken bei der Rente durch) wird darauf hingewiesen, dass er folgendes ausgeführt hat: Zum einen zahlen Selbständige in die Rentenversicherung ein, zum andern habe Österreich das politisch so entschieden. „Es geht auch anders als in Deutschland.“ Das ist zumindest schon mal eine Annäherung an die rentenpolitische Wirklichkeit.
Dass aber der Wirtschaftsweise Schmidt die erhebliche Diskrepanz nicht erklären kann, liegt nahe, er ist eben kein Experte für Rentenpolitik und sonstige sozialpolitische Fragen – wie seine vier anderen Mitstreiter im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung übrigens auch nicht. Dennoch nehmen sie jedes Jahr ganz selbstverständlich in Anspruch, die gesamte Sozialpolitik zu kommentieren und zumeist völlig einseitige Ratschläge zu erteilen (vgl. dazu am Beispiel des erst vor kurzem veröffentlichten Jahresgutachtens 2016/17 der „fünf Wirtschaftsweisen“ meine Kritik in dem Beitrag Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig vom 2. November 2016).
Folgendes Bespiel wurde in der Illner-Sendung präsentiert:
Zwei Fachharbeiter verdienen je rund 50.000 Euro im Jahr. Einer arbeitet als Schweißer bei Lufthansa Technik in Hamburg arbeitet in Deutschland, der andere als Elektriker bei einem Autohersteller in Österreich. Wenn der Deutsche (Jahresbrutto 52.000 Euro) in Rente geht, kann er aus der gesetzlichen Rentenkasse mit einer monatlichen Zahlung von 2.211 Euro rechnen.
Der Österreicher (Jahresbrutto 49.000 Euro) kann dagegen laut seinem Rentenbescheid mit 2.956 Euro Rente rechnen – und das sogar 14 mal im Jahr, weil Rentner in der Alpenrepublik auch Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommen. Auf den Monat gerechnet sind das rund 3.500 Euro brutto.
Damit kommt der Österreicher auf eine Jahresrente von 41.384 Euro, der Deutsche aber nur auf 26.539 Euro. Ein Unterschied von fast 40 Prozent.
Tatjana Grassl ist in ihrem Artikel nun selbst auf Suche nach der Antwort auf die Frage, wie es denn zu so einem erheblichen Unterschied kommen kann, gegangen und hat das hier bezogen auf das offensichtlich anders funktionierende Rentensystem der Österreicher herausgefunden:
»In Österreich sichert die gesetzliche Rentenversicherung den Lebensstandard der Pensionäre komplett ab, weitere Säulen der Altersvorsorge (Riester, betriebliche Rente) werden nicht staatlich gefördert.
Die Sozialabgaben zur Rentenversicherung betragen dort 22,8 Prozent des Bruttogehalts, liegen also höher als in Deutschland. Davon trägt der Arbeitnehmer 10,25 Prozentpunkte, also weniger als die Hälfte. 12,55 Prozentpunkte zahlt der Arbeitgeber.
In Österreich zahlen außerdem alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung ein, auch Selbstständige. Ausgenommen sind lediglich Beamte, deren Pensionen aus einem anderen Topf bestritten werden.
Alle Personen ab dem Jahrgang 1955 besitzen ein sogenanntes Pensionskonto. Für jedes Jahr, in dem sie erwerbstätig waren, wird ihnen dort vom Staat 1,78 Prozent ihres jährlichen Bruttoverdienstes gutgeschrieben. Der Höchstbetrag liegt bei 4980 Euro brutto im Monat. Erreicht ein Arbeitnehmer das Renteneintrittsalter, wird die angesammelte Summe auf dem Pensionskonto durch 14 geteilt. Daraus ergibt sich die monatliche Bruttorente.
In Österreich sind für Erwerbstätige 14 Monatsgehälter üblich, es gibt also volles Urlaubs- und Weihnachtsgeld. In diesen Genuss kommen auch die Rentner.«
Dass es diese Diskrepanz zugunsten der österreichischen Rente geben muss, ist jedem klar, der sich etwas mit den System-Unterschieden befasst hat. Dazu reicht es, die entsprechenden Fachdiskussion und die dort vorgebrachten Veröffentlichungen zu verfolgen.
Anfang 2016 wurde beispielsweise diese Studie vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung publiziert:
Florian Blank, Camille Logeay, Erik Türk, Josef Wöss, Rudolf Zweiter (2016): Alterssicherung in Deutschland und Österreich: Vom Nachbarn lernen? WSI-Report Nr. 27, Düsseldorf, Januar 2016
Eine Zusammenfassung der Studie wurde unter diese Überschrift gestellt: Rente: Deutsche oft schlechter abgesichert als Österreicher: In Österreich konzentriert sich die Altersversorgung nach wie vor weitgehend auf die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), in die auch die Selbständigen einbezogen wurden und deren Bestimmungen schrittweise für Beamte zur Anwendung kommen. Eine der Bedingungen für die besseren Leistungen in Österreich ist ein spürbar höherer Beitrag zur Rentenversicherung. Die gesamte Beitragsbelastung für Beschäftigte ist im Vergleich zu Deutschland allerdings nur höher, wenn man die 4 Prozent Beitragssatz zur zusätzlichen Riester-Vorsorge nicht mit einrechnet, die in Deutschland die Beschäftigten selbst aufbringen müssten, um eine gewisse Kompensation der Kürzungen der umlagefinanzierten Rente ausgleichen zu können, was sie tun können, aber nicht müssen.
In Österreich ist das Rentenniveau deutlich höher als in Deutschland, wo es sich zudem auf dem kontinuierlichen Sinkflug befindet.
Angesichts der selbst von der OECD kritisierten besonders schlechten Absicherung der Geringverdiener im deutschen Alterssicherungssystem ist das hier interessant: Geringverdiener sind im österreichischen System merklich besser abgesichert. Neben dem höheren Rentenniveau sichern die von der Rentenversicherung ausbezahlten, steuerfinanzierten „Ausgleichszulagen“ mit rund 12.000 Euro jährlich (für Alleinstehende) Rentnern ein merklich höheres Mindesteinkommen.
Kritiker werden sofort einwenden, dass dafür aber auch die Beitragssätze deutlich höher seien. Auch hier lohnt der genauere Blick:
»Die deutlich höheren GRV-Leistungen in Österreich sind mit einem deutlich höheren Beitragssatz verbunden. Er beträgt seit 1988 unverändert 22,8 Prozent, in Deutschland sind es im Jahr 2015 18,7 Prozent. Rechnet man in Deutschland 4 Prozent Beitragssatz zur Riester-Vorsorge hinzu, dann sind die Beitragssätze in beiden Ländern fast gleich hoch. Dabei tragen die österreichischen Arbeitgeber einen höheren Anteil am Rentenbeitrag als die Beschäftigten (12,55 Prozent vs. 10,25 Prozent), während es in Deutschland umgekehrt ist, wenn man die Beiträge zur Riester-Rente mit einrechnet.«
Die österreichische Rentenversicherung ist zudem als Erwerbstätigenversicherung ausgestaltet, auch die Selbständigen sind einbezogen. Zudem werden seit rund einem Jahrzehnt die vordem deutlich großzügigeren Regelungen zur Beamtenversorgung an das Leistungsniveau der GRV angeglichen.
In der Bewertung der vergleichenden Analyse wurde dann eine Schlussfolgerung vorgetragen, die gerade in diesem Tagen vor dem Hintergrund der aktuellen rentenpolitischen Beschlüsse der großen Koalition wie auch des „Gesamtkonzepts zur Alterssicherung“ der Ministerin Nahles an dieser Stelle ganz besonders hervorgehoben werden sollte, geht doch die Politik bei uns leider in die andere Richtung, also eine weitere Stärkung und ein Ausbau der Kapitaldeckung:
»Die Erfahrungen aus dem Nachbarstaat zeigten, dass eine starke öffentliche Alterssicherung bessere Ergebnisse bringt. So habe es sich als sinnvoller erwiesen, öffentliche Mittel in eine Stärkung der GRV unter anderem zur Aufstockung niedriger Renten zu investieren als damit kapitalgedeckte Zusatzvorsorge zu subventionieren, von der Besserverdienende am ehesten profitieren.«
Und wenn man denn schon meint, die betriebliche Altersvorsorge ausbauen zu müssen, dann sollte man sich durchaus eine österreichische Lerneinheit gönnen:
»Dort sind Arbeitgeber an der Finanzierung der – insgesamt wenig verbreiteten Betriebsrenten – verpflichtend mindestens zur Hälfte beteiligt. In Deutschland ist es dagegen möglich, dass der Arbeitgeber bei der „Entgeltumwandlung“ keine Beiträge leistet, so unter dem Strich sogar Lohnnebenkosten einspart und damit durch die Nutzung einer „betrieblichen Altersvorsorge“ sogar Zusatzgewinne erzielen kann.«
Der – zumindest von vielen Rentner sicher als erfolgreich wahrgenommene – Weg der Österreicher in der Rentenpolitik hat zwei Folgen bzw. Voraussetzungen: Zum einen handelt sich um eine politische Entscheidung, das Rentensystem so und nicht beispielsweise wie in Deutschland auszugestalten und das ganze führt natürlich auch zu höheren anteiligen Ausgaben, wenn man denn diese misst am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dieser Anteil lag in Deutschland bei 10,6 Prozent, während für Österreich 13,2 Prozent ausgewiesen werden. Das deutlich höhere Niveau der Renten hat seinen Preis.
Aber es gibt natürlich auch deutliche Kritik am österreichischen Weg in der Rentenpolitik. Eine in weiten Teilen sehr negative Besprechung dessen, was in unserem Nachbarland passiert (ist), findet man beispielsweise in dem Beitrag Die Pensionisten-Republik von Stephan Ozsváth. Schon der Beginn verdeutlicht, wohin die Reise geht: »Vorruhestand ist in Österreich beliebt, und viele der Frührentner beziehen auch noch Mehrfachpensionen. Das kostet den Steuerzahler viel Geld. Geld, das bei Zukunftsinvestitionen fehlt. Verlierer sind auch hier die Jungen.« In dem einseitigen Beitrag wird als einziger Experte der österreichische Sozialwissenschaftler Bernd Marin zitiert, der seit Jahren aggressiv gegen die offizielle Rentenpolitik im Alpenstaat argumentiert und diese dem sichereren Untergang geweiht sieht. Marin war bis 2015 Executive Director des European Centre for Social Welfare Policy and Research in Wien. Man sollte und darf diese massive Kritik am österreichischen System nicht unterschlagen, sollte sich mit ihr auseinandersetzen.
Zumindest die heutigen Rentner würden sicher eine klare Entscheidung treffen können, wenn sie wählen müssten. Was nicht heißt, dass das System in Österreich so bleibt, wie es ist. Aber derzeit ist es attraktiv – und eine Alternative zu dem, was in Deutschland zuweilen nur noch als „alternativlos“ dargestellt wird: immer weiter runter mit dem Rentenniveau und bloß nicht (noch) mehr ausgeben für die Alterssicherungspolitik.