Es gibt mehr. Mehr Mindestlohn. Also wahrscheinlich etwas mehr. Und später dann ganz sicher noch mehr, wenn nicht …

Bis Ende Juni 2016 muss die Mindestlohn-Kommission darüber befinden, um welchen Betrag der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Januar 2017 – zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten – angehoben wird. Damit wären wir in Deutschland in guter Gesellschaft, denn in anderen Ländern geht es derzeit auch um teilweise deutliche Anhebungen des gesetzlichen Mindestlohns (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Großbritannien: Möglicherweise vor dem „Brexit“. Auf alle Fälle am Beginn einer deutlichen Mindestlohn-Anhebung vom 10. April 2016). Selbst aus den USA werden zahlreiche Mindestlohn-Bewegungen nach oben berichtet. Aber wir sind ja in Deutschland und da geht das alles seine „geordneten“ Bahnen. Und die hat man beim Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG) vorsorglich gut markiert. Einschlägig hierfür ist der § 9 des MiLoG. Darin ist festgehalten: »Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung. (§ 9 Abs. 2 MiLoG). Eine „nachlaufende Orientierung an der Tarifentwicklung“ ist der entscheidende Passus. Diese Formulierung kann man nun weit oder eng auslegen. Eine weite Interpretation würde heißen, man orientiert sich an der vergangenen Tariflohnentwicklung, kopiert diese aber nicht, sondern könnte, wenn man wollte, auch weitere Aspekte bei der Festlegung des Anpassungsbetrages heranziehen. Aber wir sind a) in Deutschland und b) ist die Kommission paritätisch besetzt aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern und man ahnt schon, was c) jetzt kommt. Es wird die enge Interpretation gewählt.

Dass es in diese Richtung geht und dass deshalb mit keinem wirklich großen Sprung zu rechnen sein wird, wurde bereits in dem Beitrag Der gesetzliche Mindestlohn: Wie viel darf, soll oder muss es sein? Und wer schaut eigentlich genau hin, ob er überhaupt gezahlt wird? vom 27. Februar 2016 angesprochen.

Diesen Aspekt greift Stefan Schulte in seinem Artikel Warum der Mindestlohn nicht stärker steigt auf: »Bis Ende Juni muss die Mindestlohn-Kommission eine neue Untergrenze verkünden. Sie wird mutmaßlich deutlich unter 9 Euro liegen. Daran und am Verfahren, das zu einer eher geringen Anhebung führt, entzündet sich vorab heftige Kritik.« Und er benennt das derzeit zentrale Problem, das so einige Akteuere mit dem haben, was wir spätestens Ende Juni von der Kommission serviert bekommen werden:

»Tatsächlich bleiben nach jetzigem Stand mit den Abschlüssen in der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst wohl Tariferhöhungen für fast sechs Millionen Beschäftigte bei der Mindestlohn-Anpassung außen vor.«

Da wird jetzt so mancher schlucken angesichts der Abschlüsse, die hier genannt werden. An dieser Stelle müssen wir wieder erinnern an die Formulierung aus dem MiLoG mit der „nachlaufenden Orientierung an der Tarifentwicklung“. Die Kommission hat das für ihre eigene Arbeit präzisiert:

»Die Kommission hat für sich festgelegt, dafür nachwirkend den Tarifindex für Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen heranzuziehen.«

So weit, so nachvollziehbar, wenn man das vorgegebene Korsett akzeptiert (oder akzeptieren muss). Aber das reicht noch nicht vom Detallierungsgrad, denn die Tarifabschlüsse fallen ja nicht alle auf einen Termin, sondern man muss eine Berücksichtigungsgrenze definieren – genau das hat die Kommission auch getan und das schafft jetzt Probleme:

Für »die erste Anpassung hat die Kommission entschieden, nur die Tarifentwicklung von Januar 2015 bis Juni 2016 zu berücksichtigen, obwohl eigentlich ein Zeitraum von zwei Jahren nachgezeichnet werden müsste. Das Jahr 2014 mit seinen hohen Tarifabschlüssen fällt mit der Begründung unter den Tisch, der Mindestlohn gelte ja erst seit 2015.«

Und das hat Konsequenzen mit Blick auf die Tarifergebnisse am aktuellen Rand:

»Dass nun auch die jüngsten Abschlüsse nicht einfließen, liegt am von der Politik gesetzten Termin, bis Ende Juni entscheiden zu müssen. Bis dahin spiegeln sie sich nicht im Tarifindex wider. „Wir können im Index nur tatsächlich ausgezahlte Tariferhöhungen abbilden“, heißt es vom Statistischen Bundesamt. Und das ist in den großen Branchen bisher nicht geschehen. Die Metaller erhalten ihre Erhöhung zu 1. Juli. Auf dem Bau und im Öffentlichen Dienst laufen noch die Erklärungsfristen, in denen die Tarifpartner einen Abschluss endgültig annehmen müssen. Obwohl die Tariferhöhung im Öffentlichen Dienst rückwirkend ab März gilt, können etwa die Kommunen sie frühestens im Juni auszahlen.«

Das alles hat jetzt ganz handfeste Konsequenzen, die Stefan Schulte so auf den Punkt bringt:

»Das Statistische Bundesamt wird kommende Woche den Tarifindex um die Mai-Daten aktualisieren. Dies dürfte der letzte Stand sein, den die Kommission berücksichtigen kann. Bis April ist der Index gegenüber Dezember 2014 um 3,0 Prozent gestiegen. Danach würde der Mindestlohn um 16 Cent auf 8,76 klettern, mit dem Mai könnte er an 8,80 herankommen. Hätte man die Jahre 2014 und 2015 berücksichtigt, stünde mit 8,97 Euro ein weit größerer Sprung an.«

Zwischenfazit an dieser Stelle: Man kann (und man hat ja auch) darüber streiten, ob 8,50 Euro pro Stunde überhaupt ein akzeptabler Mindestlohn sind – oder auch, was für ein Sinn eine Mindestlohnkommission macht, die man auch durch eine Excel-Tabelle substituieren könnte, wenn es nur darum geht, die Tariflohnentwicklung „nachlaufend“ abzubilden, was man über einen entsprechenden Algorithmus sicher hervorragend darstellen kann. Aber wenn wir von diesem letztendlich damals politisch gesetzten Wert in Höhe von 8,50 Euro ausgehen, dann muss man erstens mal zur Kenntnis nehmen, dass dieser Stundenlohn bis zum 1. Januar 2017 zwei Jahre lang nicht erhöht worden ist – anders als in vielen Tarifbereichen, wo es auch oft Tarifverträge gibt, die kürzer als 24 Monate laufen. Dann müsste man erwarten, dass wenigstens nachholend die bis dahin real vollzogenen Tarifabschlüsse Berücksichtigung finden. Wie wir gesehen haben, tun sie das aber nicht, weil die Anpassungsempfehlung bis spätestens Ende Juni stattfinden muss und die Daten wenn überhaupt dann maximal bis Mai des Jahres reichen, auch wenn die Abschlüsse schon fixiert sind, aber leider erst im Juni oder Juli in Kraft treten. Die bis zum 1. Januar liegenden sechs Monate sind damit tot für die Entscheidung, wie viel es denn mehr sein sollen.

Nun wird der eine oder andere einwenden, auch wenn die betroffenen Mindestlohn-Arbeitnehmer dannen der ersten Runde ihnen eigentlich zustehenden Erhöhungsbeträge verlieren, dann wird das spätestens in der nächsten Runde (wenn auch erst wieder nach zwei Jahren) nachgeholt.

Dazu schreibt Stefan Schulte – und das sollte uns alle zum Nachdenken animieren:

»Umso höher müsste – eigentlich – die zweite Anpassung ausfallen, die aber erst 2019 ansteht. Dann werden zwei volle Tarifjahre berücksichtigt, auch die nun verpassten Abschlüsse. Sollte die wirtschaftliche Lage bis dahin aber Zweifel aufkommen lassen, ob ein zu hoher Mindestlohn Arbeitsplätze gefährden könnte, muss sich die Kommission nicht an den Tarifindex halten.«

Man ahnt schon die Themenstellung für einen Beitrag im Jahr 2018.

Der Mindestlohn ist eben nur eine Lohnuntergrenze, die man auch erreichen kann, wenn man das Zusätzliche zum Mindesten macht

Vor der heutigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wurde in der Süddeutschen Zeitung in dem Artikel Bundesarbeitsgericht entscheidet über Tricksereien beim Mindestlohn die zentrale Frage klar formuliert: »Wie zahlt man seinen Mitarbeitern den gesetzlichen Mindestlohn, ohne ihnen aber tatsächlich mehr zahlen zu müssen als bisher?« Und weiter erfahren wir zum Sachverhalt: »An diesem Mittwoch nun hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt zum ersten Mal über einen solchen Trick zu entscheiden. Angewandt hat ihn aber kein Friseur, kein Schlachtkonzern oder einer der sonstigen üblichen Verdächtigen, sondern ein staatlicher Arbeitgeber: eine Tochterfirma des Städtischen Klinikums in Brandenburg an der Havel.«

»Die Klägerin arbeitet in der Cafeteria des Hauses, die von der Tochterfirma betrieben wird. Ihre Grundvergütung betrug Anfang 2015 knapp 1400 Euro – was einem Stundenlohn von 8,03 Euro entsprach und damit deutlich unter den 8,50 Euro lag, die seitdem gesetzliche Vorschrift sind. Der Arbeitgeber behob das Problem, indem er das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld nicht mehr im Mai respektive im November zahlt, sondern übers ganze Jahr verteilt. In jedem Monat überweist es jeweils ein Zwölftel. Auf diese Weise ist das Monatsgehalt der Klägerin auf etwas mehr als 1500 Euro und ihr Stundenlohn auf 8,69 Euro gestiegen.«

Die Betroffene wollte sich das nicht gefallen lassen und klagte. Aber sowohl das Arbeitsgericht Brandenburg als auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg haben der Klage nicht entsprochen und das Vorgehen des Unternehmens für zulässig befunden.

Die Argumentation beider Instanzen hat vor allem auf zwei Punkte abgestellt: »Erstens hatten die Klinikmanager mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung geschlossen, die die Verteilung auf zwölf Zahlungen erlaubte. Zweitens überwiesen sie das Geld unabhängig davon, ob jemand tatsächlich in Urlaub fährt oder nur einen Teil des Jahres angestellt ist. Unter diesen Umständen könnten die beiden Sonderzahlungen auf den Mindestlohn angerechnet werden.«
Die Klägerin hingegen argumentiert, das Urlaubsgeld sei zusätzlich zum Lohn vereinbart, und das Weihnachtsgeld belohne die Betriebstreue.

Folglich landete der Streit bei der letzten Instanz, dem Bundesarbeitsgericht. Und der 5. Senat des hohen Gerichts hat dazu heute seine Entscheidung verkündet (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16). Die Mitteilung des Gerichts steht unter der trockenen Überschrift Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohn und der Inhalt kann die Klägerin nicht gefreut haben:

»Der Arbeitgeber schuldet den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Er erfüllt den Anspruch durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis als Gegenleistung für Arbeit erbrachten Entgeltzahlungen, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben. Die Erfüllungswirkung fehlt nur solchen Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung (zB § 6 Abs. 5 ArbZG) beruhen.«

Der Hinweis auf den Beispielfall des § 6 Abs. 5 ArbZG bezieht sich auf die Nachtarbeit („Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.“)

Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Die Klägerin hat aufgrund des Mindestlohngesetzes keinen Anspruch auf erhöhtes Monatsgehalt, erhöhte Jahressonderzahlungen sowie erhöhte Lohnzuschläge. Der gesetzliche Mindestlohn tritt als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen, verändert diese aber nicht. Der nach den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bemessene Mindestlohnanspruch der Klägerin für den Zeitraum Januar bis November 2015 ist erfüllt, denn auch den vorbehaltlos und unwiderruflich in jedem Kalendermonat zu 1/12 geleisteten Jahressonderzahlungen kommt Erfüllungswirkung zu.«

Also anders formuliert: Das bislang Zusätzliche zum normalen Lohn kann in dem Moment, wo der bislang normale Lohn zu niedrig geworden ist durch die Mindestlohnregelung, zum Mindesten gemacht werden.

Mit dieser Entscheidung wird die Umwandlung des bisher Zusätzlichen zum normalen Lohn höchstrichterlich sanktioniert. Letztendlich kann man das auch so interpretieren, dass der Mindestlohn eben nur eine Lohnuntergrenze fixiert und nicht mehr. Und die muss erfüllt werden – und das kann eben auch durch die Anrechnung dessen erfolgen, was bislang als zusätzliche Leistung ausgewiesen wurde.
Damit folgt das Gericht der Argumentation des beklagten Unternehmens, die man dem Artikel Sonderzahlungen sind auf Mindestlohn anrechenbar entnehmen kann:

»Der Anwalt der Klinik-Servicegesellschaft, Alexander Schreiber, argumentierte, das Unternehmen würde alle Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag erfüllen und damit gleichzeitig die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro einhalten. „Der Klägerin wird nichts weggenommen“, es gehe um das Gesamteinkommen. Das Gesetz sage nicht, dass zum Mindestlohn noch etwas draufzulegen sei.«

Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler sieht im Anrechnen bisheriger Zahlungen den Hauptkonflikt bei der Umsetzung des Mindestlohngesetzes, das seit Anfang 2015 gilt. Das Spektrum reiche vom Urlaubs- und Weihnachtsgeld über Prämien aller Art bis zum Trinkgeld in der Gastronomie, wird der Rechtsprofessor der Universität Bremen in einem Artikel zitiert. „Der Gesetzgeber hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht.“

Es gibt auch Stimmen aus dem politischen Raum, die aufgrund des Urteils des Bundesarbeitsgerichts gesetzgeberische Aktivitäten einfordern:

»Thüringens Arbeitsministerin Heike Werner (Linke) forderte die Bundesregierung auf, das Gesetz nachzubessern. Nach dem heutigen Urteil müsse klargestellt werden, dass Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht auf den Mindeststundenlohn von 8,50 Euro angerechnet werden dürfen. Das Urteil mache deutlich, dass die Regierung „nicht sorgfältig genug gearbeitet hat“, sagte Werner. Ihrer Meinung nach sollten Sonderzahlungen den Arbeitnehmern Mehrausgaben ermöglichen, „damit sie in den Urlaub fahren und ihren Kindern zu Weihnachten Geschenke kaufen können“.«

Wenn man realistisch bis zynisch veranlagt ist, könnte man einwenden, dass die hier verhandelte Frage ganz viele Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten (müssen), gar nicht betreffen wird. Nicht, weil ihre Arbeitgeber nicht auch gerne eine solche Verrechnung vornehmen würden, sondern weil die Arbeitnehmer schlichtweg gar kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bekommen.  So hat beispielsweise das Tarifarchiv des WSI vor einiger Zeit gemeldet: »43 Prozent der Beschäftigten erhalten von ihrem Arbeitgeber ein Urlaubsgeld.« Und zum Weihnachtsgeld wurde berichtet: »Rund 54 Prozent der Beschäftigten in Deutschland erhalten eine Jahressonderzahlung in Form eines Weihnachtsgeldes.« Man kann sich gut vorstellen, dass viele dieser Arbeitnehmer in den hier mindestlohnrelevanten Bereichen arbeiten.

Die nicht existenten Nicht-Mindestlohn-Langzeitarbeitslosen. Von einer Opfergabe innerhalb der Großen Koalition vor dem Mindestlohngesetz zu einer erwartbar geplatzten Seifenblase

Viele werden sich noch erinnern an die aufgeregten Debatten vor der konkreten Ausformulierung des Mindestlohngesetzes. Interessierte Kreise hatten damals alles versucht, Ausnahmeregelungen für diesen und jenen in den Gesetzgebungsprozess einzuspeisen. Gelungen ist das an einigen Stellen, von den Zeitungszustellern bis zu den Langzeitarbeitslosen. Kurz vor Toresschluss hatte man der Kritiker- und Apokalyptiker-Seite unter den Mindestlohngegnern in der schwarz-roten Koalition gerade mit der Ausnahmeregelung für die Langzeitarbeitslosen eine Opfergabe bereitet. Folgsam formulierten die Juristen den folgenden Passus in den § 22 Absatz 4 Mindestlohngesetz:

»Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.«

Zu der mehr als fraglichen Sinnhaftigkeit einer solchen Ausnahme hat es frühzeitig Kritik gegeben, so beispielsweise seitens des WSI in der Veröffentlichung Kein Mindestlohn für Langzeitarbeitslose? von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten aus dem Juni 2014 sowie in meinem Blog-Beitrag Je näher der gesetzliche Mindestlohn kommt, desto konkreter werden die offenen Fragen. Beispielsweise: Wer ist eigentlich ein Langzeitarbeitsloser und wie erkennt man rechtssicher einen solchen? vom 21. Juli 2014.

Dort konnte man beispielsweise die folgenden Anmerkungen lesen: »Wenn die GroKo im Streit über den Mindestlohn um sich kreist, dann muss jemand Opfer bringen. Wenn nimmt man da? Wie wäre es mit den Langzeitarbeitslosen? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich darüber jemand aufregt, ist überschaubar und beherrschbar. Aus der Berliner Perspektive.«

Es ging damals vor allem um zwei Hauptkritikpunkte:

  • Zum einen ist es mehr als irritierend, dass in einem Gesetz, das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ genannt wird und in dem der Mindestlohn als ein Bestandteil enthalten ist, eine Ausnahmeregelung eingebaut wird, die aber nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das Unternehmen nicht tarifgebunden ist, denn in den anderen Unternehmen ist eine Vergütung der Langzeitarbeitslosen unterhalb der 8,50 € zumeist durch die tarifvertragliche Struktur von vornherein ausgeschlossen. Denkt man das also weiter, dann hätte das zur Folge, dass tarifgebundenen Unternehmen, die sich also an die Regeln halten, die man doch fördern möchte, dergestalt bestraft werden, dass sie bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen diesem den gesetzlichen Mindestlohn mindestens schulden, während genau die Unternehmen, die sich außerhalb der Tarifbindung befinden, den Lohn nach unten drücken können. Ich bin gespannt, mit welcher mir sich derzeit nicht mal in Spurenelementen erschließenden Logik man das zu begründen glauben meint.
  • Zum anderen ist die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose auch systematisch falsch: Es gibt vor allem angesichts der erheblichen Heterogenität der so genannten Langzeitarbeitslosen keine wirklich überzeugende Begründung, diese generell von der Gültigkeit eines Mindestlohnes auszuschließen. Wenn einzelne Arbeitslose teilweise oder erheblich leistungsgemindert sind, so dass ihre Produktivität eine Einstellung zu den gegebenen Mindestlohnbedingungen verhindern würde, dann muss man mit einem bekannten und erprobten und an dieser Stelle auch sinnvollen Instrumentarium gegensteuern und eine solche Einstellung ermöglichen: Hierzu gibt es das Instrument der Lohnkostenzuschüsse, mit deren Hilfe dann eine möglicherweise vorhandene lohnkostenbedingte Einstellungshürde beseitigt oder zumindest abgemildert werden kann.

Und schon im Vorfeld des Mindestlohngesetzes konnte man mit einer gewissen Erfahrung in Arbeitsmarktpolitik ausgestattet sicher vorhersagen, dass es gerade nicht zu dem kommen wird, was auch zahlreiche Kritiker der Ausnahmeregelung im Empörungsmodus vorgetragen haben – dass also die Unternehmen sich in großer Zahl auf die Langzeitarbeitslosen stürzen werden, um den Lohnkostenvorteil für die ersten sechs Monate einzustreichen. Denn die Arbeitgeber sehen eben nicht nur sechs Monate, sondern sie bewerten die (potenziellen) Mitarbeiter insgesamt. Und wenn sie Vorbehalte gegen Langzeitarbeitslose haben, dann werden sie sich auch nicht durch eine für sechs Monate möglichen Absenkung des Gehalts verführen lassen.

Aber nun ist der gesetzliche Mindestlohn für (fast) alle seit dem 1. Januar 2015 in Kraft und der apokalyptisch in den Raum gestellte Arbeitsmarkt-Kollaps ist vollständig ausgeblieben. Da bietet es sich doch an, einmal nachzuschauen, was denn nun in praxi die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose gebracht hat. Genau dieser Frage ist die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, nachgegangen und sie hat das parlamentarische Instrument der Anfrage an die Bundesregierung genutzt, um zu erfahren, wie es denn mit der Umsetzung und Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung aussieht. Und die Bundesagentur für Arbeit hat ihr geantwortet.

Thomas Öchsner hat seinen Artikel dazu überschrieben mit: Die wahrscheinlich unsinnigste Mindestlohn-Ausnahme. Die zentrale Botschaft, die man den von der BA gelieferten Daten entnehmen kann, lautet eben nicht wirklich überraschend:

»Die Ausnahme, auf die die Wirtschaftsverbände, assistiert von der Union, so vehement gepocht hatten, wird praktisch kaum genutzt.«

Und man kann das genauer quantifizieren:

»So haben die Arbeitsagenturen und Jobcenter von August 2015 bis April 2016 gerade einmal 1.990 Bescheinigungen ausgestellt, die für die Nutzung der Sonderregelung erforderlich sind. Hochgerechnet auf das ganze Jahr sind das nicht einmal 0,3 Prozent der Zielgruppe – 2015 waren in Deutschland durchschnittlich 1,04 Millionen Langzeitarbeitslose gemeldet.«

Und damit an dieser Stelle keine Missverständnisse auftreten – selbst diese nun wirklich nicht als nennenswert zu bezeichnende Zahl bildet nicht die tatsächliche Inanspruchnahme ab:

»Tatsächlich dürften sogar noch weniger über diesen Weg eine neue Arbeit gefunden haben, heißt es bei der BA. Denn „die Ausstellung einer Bescheinigung ist nicht gleichzusetzen mit dem Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses“, teilte die Behörde … mit. Die Bescheinigungen müssen die Langzeit-Jobsucher selbst beantragen, um ihrem Arbeitgeber nachzuweisen, dass sie zuvor ein Jahr ohne Stelle waren. Die Betriebe benötigen die Dokumente, um bei Zollkontrollen darlegen zu können, dass sie diesen Mitarbeitern keine 8,50 Euro zahlen müssen.«

Thomas Öchsner stellt sich natürlich auch eine Frage, we viele andere auch: Warum wird die Ausnahmeregelung so gut wie gar nicht in Anspruch genommen?

»Für Arbeitgeber sei es möglicherweise attraktiver, Langzeitarbeitslose über einen Eingliederungszuschuss einzustellen. Dieser betrage für maximal zwölf Monate immerhin 50 Prozent des Arbeitsentgelts, sagt ein Sprecher der BA.
Viele Arbeitgeber glauben aber offenbar auch nicht daran, dass Langzeitarbeitslose immer produktiv genug sind, um ihnen helfen zu können. Das zeigt eine Umfrage der Bundesagentur bei 1000 Unternehmen: Demnach führten 82 Prozent der befragten Firmen andauernde Erwerbslosigkeit auf fehlende Motivation zurück. Dabei hatte knapp die Hälfte der Arbeitgeber überhaupt keine Erfahrung mit Langzeitarbeitslosen gemacht.«

Und schon sind wir mittendrin in der Diskussion über mögliche Ursachen. Und da gibt es eben nicht nur eine. Auf alle Fälle sehen wir auch an diesem Beispiel, wie exkludiert die meisten Langzeitarbeitslosen mittlerweile sind, denn die haben nachweislich in den vergangenen Jahren mit einer insgesamt betrachtet guten Arbeitsmarktentwicklung (= Rückgang der offiziell registrierten Arbeitslosen sowie steigende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) kaum bis gar nicht profitieren können. Viele von ihnen sind schlichtweg aussortiert und bekommen selbst mit dem Angebot eines Lohnkostenzuschusses keinen Fuß in die Unternehmen.

Was daraus folgt? Zumindest für die Mindestlohn-Ausnahmeregelung die Langzeitarbeitslosen müsste es eine Rückabwicklung dergestalt geben, dass man einfach den Passus wieder streicht. Dann fällt wenigstens ein Absatz weg und das wäre mithin ein handfester Beitrag zum vielbeschworenen Bürokratieabbau.

Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander

Da wird der eine oder andere aber irritiert den Kopf schütteln. Was denn nun? Zum einen meldet die Berliner Zeitung: In Berlin gibt es immer weniger „Aufstocker“. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit »waren im Dezember 2014 rund 124.000 Arbeitnehmer auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Ein Jahr später, im Dezember 2015, waren es nur noch etwa 118.000.« Und gleichzeitig kann man der Rheinischen Post entnehmen: Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns. Dieser Artikel bezieht sich nicht nur auf Berlin, sondern berichtet von den Zahlen deutschlandweit und auch hier fungiert die Bundesagentur für Arbeit als Datenlieferant. »Demnach erhielten im September 2015 nach den letztverfügbaren Daten 592.215 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ergänzende staatliche Leistungen in Form von Arbeitslosengeld II. Ein Jahr zuvor, im September 2014, waren es dagegen mit 589.701 etwa 2500 Beschäftigte weniger.« Das hätten doch – eingedenk der Argumentation bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, dass man damit auch die eigene Existenzsicherung unabhängig von ergänzenden, eben aufstockenden Leistungen aus der Grundsicherung sicherstellen wolle – weniger und nicht etwas mehr werden müssen.
Entweder läuft da was schief – oder aber, man muss wieder einmal genauer auf die Zahlen schauen.

Wenn man das macht, dann zeigt sich sehr schnell, dass das scheinbare Durcheinander gar keines ist.

An den Anfang gestellt sei der Hinweis, dass die „Aufstocker“ eine durchaus heterogene Gruppe sind, denn darunter können Vollzeitbeschäftigte mit sehr niedrigen Löhnen fallen, aber auch Arbeitslosengeld II-Bezieher, die einen „kleinen“ Minijob ausüben, der sich an der Zuverdienstgrenze nach den bestehenden Einkommensanrechungsvorschriften orientiert.

Schauen wir zuerst auf die Daten aus Berlin, von wo ja ein Rückgang der Zahl der Aufstocker in der Größenordnung 5 Prozent im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 berichtet wird. Und dann erfahren wir etwas genauer:

»Im selben Zeitraum zwischen 2014 und 2015 ging die Zahl der sogenannten „Minijobber“ – erwerbstätiger Hartz-IV-Empfänger mit einem Einkommen bis zu 450 Euro – um etwa 15 Prozent zurück. Gleichzeitig erzielten 17 Prozent mehr Menschen, die auch auf Sozialhilfe angewiesen sind, ein Brutto-Einkommen über 1200 Euro.«

Und von besonderer Bedeutung ist dann dieser Hinweis: »Bemerkenswert sei jedoch die Umwandlung von „Minijobs“ in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Mit der Einführung des Mindestlohns sei auch die Zahl der geringfügig Beschäftigten gesunken.«

Das ist anschlussfähig an die Erkenntnisse, die man dem Artikel Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns entnehmen kann. Hier wird mit dem Jahresvergleich September 2014 zu September 2015 gearbeitet: Die Zahl der Aufstocker sei von 589.701 auf 592.215 gestiegen – aber aufpassen, die beiden Werte beziehen sich (nur) auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Und dann kommt die Auflösung, die anschlussfähig ist an die eben nur scheinbar abweichende Meldung aus Berlin:

»Leicht rückläufig war die Aufstocker-Zahl lediglich bei den Vollzeitbeschäftigten mit sozialversicherungspflichtigen Jobs. Sie sank zwischen September 2014 und September 2015 um knapp 17.000 auf 201.078. Dagegen stieg die Zahl der teilzeitbeschäftigten Arbeitslosengeld-II-Empfänger um knapp 20.000 auf 391.120 an. Spürbar positiv wirkte der Mindestlohn lediglich auf die geringfügig Beschäftigten. Die Zahl der Mini-Jobber, die auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren, lag im September 2015 mit knapp 421.000 rund 53.000 niedriger als ein Jahr zuvor. Vor allem dieser Rückgang erklärt, warum die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker Ende 2015 insgesamt mit 1,21 Millionen um rund 50.000 unter dem Vorjahreswert gelegen hat.«

Eine Zusammenfassung mit Blick auf den Mindestlohn könnte so formuliert werden:
Der Mindestlohn wirkt bei den Aufstocken, die eine Vollzeitarbeit ausüben, denn die 8,50 Euro heben zumindest den Alleinstehenden über die Bedürftigkeitsschwelle, deren Unterschreiten aufstockende Hartz IV-Leistungen ermöglicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der (sozialversicherungspflichtig) teilzeitbeschäftigten Aufstocker (denn bei geringer Stundenzahl wäre man selbst bei deutlich höheren Löhnen als den 8,50 Euro leistungsberechtigt, wenn man sonst keine Einnahmen hätte), das aber vor allem deshalb, weil gleichzeitig ein Teil der früheren Mini-Jobber im Aufstockungsbezug deshalb nicht mehr auftauchen, weil schlichtweg ihre bisherigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden sind in sozialversicherungspflichtige Teilzeit-Jobs – und deren Zahl unter den Aufstocken steigt ja auch an.

Insofern sind wir hier mit den Umwälzungsprozessen auf einem eben nicht statischen Arbeitsmarkt konfrontiert, die mit dem Mindestlohn zusammenhängen:

Ein Teil der bisherigen Minijobs ist abgebaut, ein anderer Teil ist hochgezogen worden in den Bereichen der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung (und generiert hier jetzt „neue“, letztendlich aber „alte“ Aufstockerfälle) und die Vollzeitbeschäftigten müssen wegen des Mindestlohns weniger oft aufstocken als früher, zumindest wenn sie alleinstehend sind.

Weitere systematische Aspekte kann man auch dem Beitrag Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016 entnehmen.

Für die einen zu hoch, für die anderen (viel) zu niedrig. Der (in der Gegenwart existenzsichernde?) Mindestlohn und dann noch eine (daraus in Zukunft erzielbare?) Rente über der Grundsicherung. Anders gesagt: Auf die Perspektive kommt es an

Zwei Dinge muss man wissen, wenn man sich mit Sozialpolitik beschäftigt: Zum einen hängen die Dinge mehrfach verschachtelt miteinander zusammen, was aber immer auch bedeutet, dass man mitdenken muss, was in anderen Systemen passiert, wenn man irgendwo Veränderungen macht oder diese vorschlägt. Und zum anderen: Oftmals werden Aspekte, die schon seit langem bekannt sind, als neue Botschaft unters Volk gebracht.

Ein aktuelles Fallbeispiel dazu betrifft die Debatte über Altersarmut, Rentenversicherung und den Mindestlohn. Unter der Überschrift Mindestlohn reicht nicht für Rente oberhalb der Grundsicherung kann man auf Zeit Online lesen:

»Ein Gehalt auf Mindestlohnniveau reicht auch nach 45 Beitragsjahren nicht für eine Rente oberhalb der Grundsicherung. Vielmehr müsste der Stundenlohn dafür bei 11,68 Euro liegen, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervorgeht.
Die 11,68 Euro werden gebraucht, um eine Nettorente zu bekommen, die über dem durchschnittlichen Bruttobedarf in der Grundsicherung in Höhe von 788 Euro monatlich liegt. Zugrunde gelegt werden bei der Rechnung eine Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden und 45 Arbeitsjahre.
Der Linken-Abgeordnete Klaus Ernst wird dann mit dieser Aussage zitiert: »Wer einen Mindestlohn erhalte und 45 Jahre einen vollen Job mache, habe im Rentenalter nur Anspruch auf Sozialhilfe. „Das ist eine Blamage für unseren Sozialstaat.“ Der Mindestlohn müsse deutlich steigen.«

Das interessierte Publikum sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das grundsätzliche Problem des gesetzlichen Mindestlohns hinsichtlich seiner Nicht-Funktionalität im bestehenden Rentensystem mit Blick auf die Zielsetzung einer Rente oberhalb der Grundsicherung seit langem bekannt und in der Mindestlohn-Debatte wurde immer wieder auch darauf hingewiesen. An dieser Stelle der Verweis auf meinen Blog-Beitrag 8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn vom 17. Februar 2015.

Die damals gewählte (und nur auf den ersten Blick) verwirrende Überschrift soll andeuten, dass es entscheidend darauf ankommt, aus welcher Perspektive man den Mindestlohn bewertet. Genau darum geht es ja auch bei der aktuellen Meldung, wenn beispielsweise der Linken-Abgeordnete Klaus Ernst mit diesen Worten zitiert wird: „Der Mindestlohn soll vor Armut schützen – gerade auch im Alter. Doch mit 8,50 Euro wird dieses Ziel nicht annähernd erreicht.“ Der eine oder andere wird sich erinnern an die heftige Debatte im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, in der die Befürworter dieser Lohnuntergrenze tatsächlich immer auch so argumentiert haben: Man soll von der Arbeit leben können – und beispielsweise nicht auf ergänzende, das Erwerbseinkommen aufstockende Hartz IV-Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen sein. Und eine Altersrente oberhalb der Grundsicherung für Ältere soll auch drin sein.

Der Vollständigkeit halber mit Blick auf die hier besonders interessierenden Perspektiven sollte darauf hingewiesen werden, dass die Gegner des Mindestlohns (und vor allem seiner konkreten Höhe) im Wesentlichen abgestellt haben (und das trotz der mittlerweile vorliegenden empirischen Evidenz immer noch tun) auf die behaupteten negativen Beschäftigungseffekte des Instruments und kaum bis gar nicht auf die sozialpolitische Funktionalität eingegangen sind. Dieser Unterschied wird gleich noch mal höchst bedeutsam werden.

Wie es mit der existenzsichernden Funktion des seit dem 1. Januar 2015 in Kraft gesetzten gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde (für fast, aber eben nicht alle) bestellt ist, wurde bereits im Februar 2015 in diesem Blog mit Bezug auf eine damals veröffentlichte Ausarbeitung des Rentenexperten Johannes Steffen aus Bremen dargestellt. Wobei man gleich anmerken sollte, dass es bei der existenzsichernden Funktion des Mindestlohns nicht um etwas Singuläres geht, sondern man muss von mehreren (am Grundsicherungsniveau gemessenen) Existenzsicherungen sprechen, darunter mindestens zwei: Geht es um die Existenzsicherung im Hier und Jetzt der Arbeitswelt, wenn man zu diesem Lohn arbeitet bzw. arbeiten muss – oder geht es um die aus einer solchen Arbeit in Zukunft erzielbaren Existenzsicherung im Alter, wenn man davon ausgeht, dass die gesetzliche Rente die einzige Einkommensquelle darstellen wird? Die Unterscheidung ist nicht nur theoretisch, sondern – wie Steffen damals hat zeigen können – von größter praktischer Relevanz. Und mit Blick auf die Zukunft, das sei hier vorangestellt, doppelt problematisch.

Beginnen wir mit der Einordnung des Hier und Jetzt, also der Gegenwart auf dem Arbeitsmarkt. Das Prüfergebnis war: Es kann funktionieren, mit der Existenzsicherung durch die 8,50 Euro, wenn man einige notwendige Rahmenbedingungen beachtet – und wenn man akzeptiert, dass das jeweiligen Grundsicherungsniveau der Maßstab für „Existenzsicherung“ ist, was man durchaus mit guten Gründen in Frage stellen kann, wenn man an die Diskussion über die Kritik an der Höhe der Hartz IV-Leistungen denkt. Unbeschadet dieses Einwands ergibt sich dann der folgende Befund, der hier aus dem Blog-Beitrag vom Februar 2015 zitiert wird:

»Wenn man auf dieser Grundlage die Frage stellt, welcher Stundenlohn notwendig ist, damit ein Single in Vollzeitarbeit keinen Anspruch mehr hat auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II), dann ergibt sich der erste Wert für einen existenzsichernden Mindestlohn: »Nach gegenwärtigem Stand wäre dies ein Brutto-Stundenlohn in Höhe von 8,17 Euro oder monatlich 1.333 Euro«, so Johannes Steffen. Insofern könnte man an dieser Stelle also zu dem Ergebnis kommen, dass der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zu einer Existenzsicherung führt, wenn man diese daran bemisst, dass man keine Ansprüche mehr auf SGB II-Leistungen hat. Allerdings gilt das nur unter den beschriebenen Rahmenbedingungen, also eine alleinstehende Person in Vollzeit. Anders würde es aussehen, wenn weitere Haushaltsmitglieder dazu kommen und vor allem natürlich, wenn Teilzeit gearbeitet oder – bei Aufstocken sehr häufig – nur eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt wird. Aber das kann man nicht dem Mindestlohn an sich anlasten. Für den hier definierten Referenzfall Alleinstehende und Vollzeit würde es funktionieren mit en 8,50 Euro.«

Anders stellt sich die Situation dar, wenn es um eine existenzsichernde Rentenleistung geht. Hier kam Steffen zu einem in zweifacher Hinsicht überaus ernüchternden Befund. Er berechnete das notwendige Erwerbseinkommen, um nach 45 Beitragsjahren eine Nettorente in Höhe von 706 Euro erzielen zu können. »Nach den vorläufigen Werten für 2015 sind dies monatlich 1.793 Euro, so dass bei einer 37,7-Stunden-Woche ein Stundenlohn von 10,98 Euro für eine existenzsichernde Altersrente notwendig wäre.«


Die Qualität der damaligen Berechnungen zeigt sich, wenn man berücksichtigt, dass man nicht nur von den heutigen Verhältnissen ausgehen darf (genau an diesem Punkt bleiben die meisten anderen Berechnungen immer stehen, so auch die aus der zitierten Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linken), sondern bereits verabschiedete gesetzliche Veränderungen in der Rentenversicherung müssen auch einberechnet werden. Und wenn man das tut, dann öffnet sich eine zusätzliche Problemdimension:

»Aber selbst die 10,98 Euro reichen eigentlich nicht, denn man muss die Rentenniveausenkungen berücksichtigen, die im bestehenden Rentenrecht verankert sind und die derzeit nicht von der Regierung nicht in Frage gestellt werden … Zur Wahrung einer existenzsichernden Rente müsste (der derzeitige Mindestlohn) c. p. bis zum Jahr 2028 um gut 62 Prozent auf 17,84 Euro steigen. Und: Der nach heutigen Werten fürs Alter als existenzsichernd ermittelte Mindestlohn von 10,98 Euro erweist sich im Nachhinein – also aus Sicht des Jahres 2028 – als zu niedrig. Denn als Minimum ist dann bereits im Schnitt der 45 Beitragsjahre eine Entgeltposition von 67 (statt 61) Prozent des Durchschnitts nötig. Rückblickend wäre im Jahr 2015 demnach ein Mindestlohn von 11,94 Euro erforderlich gewesen. Der Grund für den Wertverlust des aus heutiger Sicht mit 10,98 Euro noch ausreichend hohen Mindestlohns liegt in dem künftig deutlich niedrigeren Rentenniveau.«

Steffen selbst wurde damals mit diesen Worten zitiert, die gerade im Kontext der aktuellen Debatte über Altersarmut und Rentenversicherung erneut aufgerufen werden müssen:

»Erforderlich sind vielmehr ein Stopp der weiteren Absenkung des Leistungsniveaus sowie die Rückkehr zu einer lebensstandardsichernd ausgerichteten Rente. Denn ohne Abkehr von dem unter Rot-Grün eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik bleiben alle Instrumente sowohl auf der Ebene der Primärverteilung, wie etwa ein Mindestlohn, als auch auf der Sekundärverteilungsebene (beispielsweise die nachträgliche Hochwertung niedriger Pflichtbeitragszeiten) im Kampf gegen Altersarmut weitgehend stumpf.«

Im Lichte der bereits vor über einem Jahr präsentierten differenzierten Befunde wird verständlich, dass man die aktuellen Schlussfolgerungen ebenfalls differenziert einordnen muss. Denn die Forderung des Linken-Politikers Ernst machen nur Sinn, wenn man dem gesetzlichen Mindestlohn unter den bestehenden Bedingungen die Funktion zuweist, für eine Rente zu sorgen, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegen soll. Aber – das hat das Rechenexempel zeigen können – der Mindestlohn ist nicht nur bei seinem Start deutlich zu niedrig gewesen, diese Aufgabe erfüllen zu können und die erhebliche Lücke wird besonders erkennbar, wenn man die bereits verabschiedeten Eingriffe in das Rentenniveau berücksichtigt. Aber – und das ist die zentrale Frage – ist das wirklich ein Problem der 8,50 Euro? Wenn ja, müsste man diesen Betrag tatsächlich anpassen. Oder ist es ein Problem der infolge einer politischen Entscheidung im Rentensystem vorgenommenen Manipulation an der Rentenformel? Wenn das der Fall ist, dann würde die Frage, wie hoch müsste der Mindestlohn sein, hinsichtlich ihrer Beantwortung wie ein Hase-und-Igel-Wettlauf enden, man müsste den Mindestlohn ständig mit Blick auf die erzielbare Rente nach oben anpassen. Man könnte an dieser Stelle durchaus aber auf die Idee kommen können, dass eine kausale Therapie in diesem Fall an der Ausgestaltung des Rentensystems ansetzen müsste, dass man also nicht nur die drastischen Rentenkürzungen zurücknimmt oder partiell wenigstens für die Geringverdiener korrigiert oder gleich einen weiteren Schritt macht und die Konstruktion des Alterssicherungssystems an die veränderten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt anpasst.

Denn das ist dem aufmerksamen Leser nicht entgangen: Wir sprechen hier über Renten, die – auch wenn sie knapp über dem (an anderer Stelle umstrittenen) Grundsicherungsniveau liegen – voraussetzen, dass die Modellrentner 45 Jahre lang zu dem Mindestlohnniveau gearbeitet haben. Jeder halbwegs geerdete Analytiker der bestehenden Rentensystematik wird zugestehen, dass es viele Menschen geben wird, die selbst bei höheren Stundenlöhnen im Zusammenspiel mit den Anforderungen, die man nach der Rentenformel erfüllen muss, um auf eine halbwegs akzeptable Rentenhöhe zu kommen, nicht werden erfüllen können. Zu wenige Entgeltpunkte mag als Stichwort genügen.

Auch wenn man dennoch an der Funktionszuschreibung des Mindestlohns im bestehenden Rentensystem festhalte will, würde man konfrontiert werden mit der arbeitsmarkteichen Perspektive auf den Mindestlohn. Es geht dabei nicht um die eigentlich geklärte Frage, ob schon die 8,50 Euro zu hoch sind. Aber man kann aus dieser – anderen – Perspektive nicht einfach vom Tisch wischen, dass ein Mindestlohn von gut 12 Euro, der bereits im vergangenen Jahr notwendig gewesen wäre, durchaus negative Beschäftigungseffekte zeigen könnte. Wenn dann aber Menschen in die Arbeitslosigkeit fallen würden, dann hätte das „tödliche“ Folgen im bestehenden Rentensystem angesichts der Tatsache, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit immer weniger und im Hartz IV-System überhaupt nicht mehr beitragsseitig abgebildet werden, mit entsprechenden Auswirkungen auf die erreichbaren Entgeltpunkte. Zur Rutschbahn nach unten bei der Berücksichtigung von Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Rentenversicherung vgl. auch Zeiten der Arbeitslosigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung von Johannes Steffen aus dem Jahr 2014.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Das eigentliche – und weit über die Mindestlohnbeschäftigten hinausreichende – Problem liegt in der immer größer werdenden Inkompatibilität des bestehenden Rentensystems mit den realen Erwerbsbiografien eines wachsenden Teils der Beschäftigten, wobei das nicht alle und auch nicht jeden Zweiten betreffen wird, aber definitiv immer mehr Menschen, die keine Renten mehr oberhalb der Grundsicherung werden erwirtschaften können. Auch bei 30 oder mehr Beitragsjahren. Wohl gemerkt, im bestehenden System in Verbindung mit den politischen Eingriffen in Richtung erheblicher Rentensenkungen. An einer grundlegenden Reform des Rentensystems führt kein Weg vorbei, auch weil sich das Sicherungsproblem nicht nur beschränkt auf die nach Mindestlohn arbeitenden Menschen, sondern in Bereiche vorgestoßen ist, wo die Stundenlöhne darüber liegen.