Viele werden sich noch erinnern an die aufgeregten Debatten vor der konkreten Ausformulierung des Mindestlohngesetzes. Interessierte Kreise hatten damals alles versucht, Ausnahmeregelungen für diesen und jenen in den Gesetzgebungsprozess einzuspeisen. Gelungen ist das an einigen Stellen, von den Zeitungszustellern bis zu den Langzeitarbeitslosen. Kurz vor Toresschluss hatte man der Kritiker- und Apokalyptiker-Seite unter den Mindestlohngegnern in der schwarz-roten Koalition gerade mit der Ausnahmeregelung für die Langzeitarbeitslosen eine Opfergabe bereitet. Folgsam formulierten die Juristen den folgenden Passus in den § 22 Absatz 4 Mindestlohngesetz:
»Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.«
Zu der mehr als fraglichen Sinnhaftigkeit einer solchen Ausnahme hat es frühzeitig Kritik gegeben, so beispielsweise seitens des WSI in der Veröffentlichung Kein Mindestlohn für Langzeitarbeitslose? von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten aus dem Juni 2014 sowie in meinem Blog-Beitrag Je näher der gesetzliche Mindestlohn kommt, desto konkreter werden die offenen Fragen. Beispielsweise: Wer ist eigentlich ein Langzeitarbeitsloser und wie erkennt man rechtssicher einen solchen? vom 21. Juli 2014.
Dort konnte man beispielsweise die folgenden Anmerkungen lesen: »Wenn die GroKo im Streit über den Mindestlohn um sich kreist, dann muss jemand Opfer bringen. Wenn nimmt man da? Wie wäre es mit den Langzeitarbeitslosen? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich darüber jemand aufregt, ist überschaubar und beherrschbar. Aus der Berliner Perspektive.«
Es ging damals vor allem um zwei Hauptkritikpunkte:
- Zum einen ist es mehr als irritierend, dass in einem Gesetz, das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ genannt wird und in dem der Mindestlohn als ein Bestandteil enthalten ist, eine Ausnahmeregelung eingebaut wird, die aber nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das Unternehmen nicht tarifgebunden ist, denn in den anderen Unternehmen ist eine Vergütung der Langzeitarbeitslosen unterhalb der 8,50 € zumeist durch die tarifvertragliche Struktur von vornherein ausgeschlossen. Denkt man das also weiter, dann hätte das zur Folge, dass tarifgebundenen Unternehmen, die sich also an die Regeln halten, die man doch fördern möchte, dergestalt bestraft werden, dass sie bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen diesem den gesetzlichen Mindestlohn mindestens schulden, während genau die Unternehmen, die sich außerhalb der Tarifbindung befinden, den Lohn nach unten drücken können. Ich bin gespannt, mit welcher mir sich derzeit nicht mal in Spurenelementen erschließenden Logik man das zu begründen glauben meint.
- Zum anderen ist die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose auch systematisch falsch: Es gibt vor allem angesichts der erheblichen Heterogenität der so genannten Langzeitarbeitslosen keine wirklich überzeugende Begründung, diese generell von der Gültigkeit eines Mindestlohnes auszuschließen. Wenn einzelne Arbeitslose teilweise oder erheblich leistungsgemindert sind, so dass ihre Produktivität eine Einstellung zu den gegebenen Mindestlohnbedingungen verhindern würde, dann muss man mit einem bekannten und erprobten und an dieser Stelle auch sinnvollen Instrumentarium gegensteuern und eine solche Einstellung ermöglichen: Hierzu gibt es das Instrument der Lohnkostenzuschüsse, mit deren Hilfe dann eine möglicherweise vorhandene lohnkostenbedingte Einstellungshürde beseitigt oder zumindest abgemildert werden kann.
Und schon im Vorfeld des Mindestlohngesetzes konnte man mit einer gewissen Erfahrung in Arbeitsmarktpolitik ausgestattet sicher vorhersagen, dass es gerade nicht zu dem kommen wird, was auch zahlreiche Kritiker der Ausnahmeregelung im Empörungsmodus vorgetragen haben – dass also die Unternehmen sich in großer Zahl auf die Langzeitarbeitslosen stürzen werden, um den Lohnkostenvorteil für die ersten sechs Monate einzustreichen. Denn die Arbeitgeber sehen eben nicht nur sechs Monate, sondern sie bewerten die (potenziellen) Mitarbeiter insgesamt. Und wenn sie Vorbehalte gegen Langzeitarbeitslose haben, dann werden sie sich auch nicht durch eine für sechs Monate möglichen Absenkung des Gehalts verführen lassen.
Aber nun ist der gesetzliche Mindestlohn für (fast) alle seit dem 1. Januar 2015 in Kraft und der apokalyptisch in den Raum gestellte Arbeitsmarkt-Kollaps ist vollständig ausgeblieben. Da bietet es sich doch an, einmal nachzuschauen, was denn nun in praxi die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose gebracht hat. Genau dieser Frage ist die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, nachgegangen und sie hat das parlamentarische Instrument der Anfrage an die Bundesregierung genutzt, um zu erfahren, wie es denn mit der Umsetzung und Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung aussieht. Und die Bundesagentur für Arbeit hat ihr geantwortet.
Thomas Öchsner hat seinen Artikel dazu überschrieben mit: Die wahrscheinlich unsinnigste Mindestlohn-Ausnahme. Die zentrale Botschaft, die man den von der BA gelieferten Daten entnehmen kann, lautet eben nicht wirklich überraschend:
»Die Ausnahme, auf die die Wirtschaftsverbände, assistiert von der Union, so vehement gepocht hatten, wird praktisch kaum genutzt.«
Und man kann das genauer quantifizieren:
»So haben die Arbeitsagenturen und Jobcenter von August 2015 bis April 2016 gerade einmal 1.990 Bescheinigungen ausgestellt, die für die Nutzung der Sonderregelung erforderlich sind. Hochgerechnet auf das ganze Jahr sind das nicht einmal 0,3 Prozent der Zielgruppe – 2015 waren in Deutschland durchschnittlich 1,04 Millionen Langzeitarbeitslose gemeldet.«
Und damit an dieser Stelle keine Missverständnisse auftreten – selbst diese nun wirklich nicht als nennenswert zu bezeichnende Zahl bildet nicht die tatsächliche Inanspruchnahme ab:
»Tatsächlich dürften sogar noch weniger über diesen Weg eine neue Arbeit gefunden haben, heißt es bei der BA. Denn „die Ausstellung einer Bescheinigung ist nicht gleichzusetzen mit dem Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses“, teilte die Behörde … mit. Die Bescheinigungen müssen die Langzeit-Jobsucher selbst beantragen, um ihrem Arbeitgeber nachzuweisen, dass sie zuvor ein Jahr ohne Stelle waren. Die Betriebe benötigen die Dokumente, um bei Zollkontrollen darlegen zu können, dass sie diesen Mitarbeitern keine 8,50 Euro zahlen müssen.«
Thomas Öchsner stellt sich natürlich auch eine Frage, we viele andere auch: Warum wird die Ausnahmeregelung so gut wie gar nicht in Anspruch genommen?
»Für Arbeitgeber sei es möglicherweise attraktiver, Langzeitarbeitslose über einen Eingliederungszuschuss einzustellen. Dieser betrage für maximal zwölf Monate immerhin 50 Prozent des Arbeitsentgelts, sagt ein Sprecher der BA.
Viele Arbeitgeber glauben aber offenbar auch nicht daran, dass Langzeitarbeitslose immer produktiv genug sind, um ihnen helfen zu können. Das zeigt eine Umfrage der Bundesagentur bei 1000 Unternehmen: Demnach führten 82 Prozent der befragten Firmen andauernde Erwerbslosigkeit auf fehlende Motivation zurück. Dabei hatte knapp die Hälfte der Arbeitgeber überhaupt keine Erfahrung mit Langzeitarbeitslosen gemacht.«
Und schon sind wir mittendrin in der Diskussion über mögliche Ursachen. Und da gibt es eben nicht nur eine. Auf alle Fälle sehen wir auch an diesem Beispiel, wie exkludiert die meisten Langzeitarbeitslosen mittlerweile sind, denn die haben nachweislich in den vergangenen Jahren mit einer insgesamt betrachtet guten Arbeitsmarktentwicklung (= Rückgang der offiziell registrierten Arbeitslosen sowie steigende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) kaum bis gar nicht profitieren können. Viele von ihnen sind schlichtweg aussortiert und bekommen selbst mit dem Angebot eines Lohnkostenzuschusses keinen Fuß in die Unternehmen.
Was daraus folgt? Zumindest für die Mindestlohn-Ausnahmeregelung die Langzeitarbeitslosen müsste es eine Rückabwicklung dergestalt geben, dass man einfach den Passus wieder streicht. Dann fällt wenigstens ein Absatz weg und das wäre mithin ein handfester Beitrag zum vielbeschworenen Bürokratieabbau.