Seit dem 1. Januar 2015 gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn auf Basis des Mindestlohngesetzes (MiLoG). Zwei Jahre lang galt die Höhe von 8,50 Euro, mit einigen wenigen Ausnahmen. Zum 1. Januar 2017 ist der gesetzliche Mindestlohn auf 8,84 Euro erhöht worden. Dieser hat ebenfalls eine zweijährige Laufzeit. Die nächste Anpassung der Höhe steht erst zum 1. Januar 2019 an. Darüber hinaus gibt es allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis des Tarifvertragsgesetzes (TVG), des Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) sowie des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gab es bekanntlich eine intensive Debatte über die angeblichen „Jobkiller“-Qualitäten der vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde – weil die „zu hoch“ seien für viele Unternehmen, vor allem in Ostdeutschland und deshalb bis zu eine Million Jobs verloren gehen werden. Ein Betrag übrigens, den man als eine politische Setzung verstehen muss, der hatte sich im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens verselbständigt und wurde dann als Startpunkt gesetzt. Und es gab auch damals schon eine Diskussionslinie, die darauf hingewiesen hat, dass die 8,50 Euro „zu niedrig“ seien und man beispielsweise für eine gesetzliche Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus nach 45 Jahren ununterbrochener beitragspflichtiger Erwerbsarbeit einen Stundenlohn von deutlich mehr als 11 Euro brauchen würde.
Mindestlohn
Sie nimmt zu, sie nimmt nicht zu. Die Ungleichheit. Und einige machen Vorschläge, was man tun könnte, wenn man wollte
Wenn es eine Begrifflichkeit gibt, die den Blutdruck vieler Diskussionsteilnehmer nach oben treibt, dann die Ungleichheit. Für die einen ist die zunehmende Ungleichheit ein zentrales gesellschaftliches Problem, gerade in Deutschland – die anderen verweisen darauf, dass es das gar nich geben würde. Für die letztere Position vgl. beispielsweise Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit ihrem Beitrag Die Mittelschicht ist stabiler als ihr Ruf. Das lässt das andere Lager nicht ruhen und als Antwort veröffentlichte Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Replik mit dem fast schon trotzig daherkommenden Titel Und die Ungleichheit hat doch zugenommen. Man ahnt schon, dass der eben nich eindeutige Begriff der Ungleichheit mit vielen Fallstricken verbunden ist, wenn man ihre Entwicklung in Zahlen auszudrücken versucht. Dann muss man genau hinschauen. Reden wir über die Ungleichheit beim Haushaltseinkommen, das sich aus mehren Quellen speist? Oder schauen wir uns die Entwicklung der Löhne an, mit denen die Arbeitnehmer nach Hause kommen? Oder geht es gar nicht nur um die (laufenden) Einkommen, sondern um die Verteilung des vorhandenen Vermögens?
Verengt man beispielsweise den Blick auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt und speziell der dort erzielten Löhne, dann muss man sehr wohl eine auseinanderlaufende Entwicklung zur Kenntnis nehmen, obgleich man immer wieder die Behauptung zu hören bekommt, die Lohnungleichheit in Deutschland hätte in den vergangenen Jahren nicht zugenommen, ganz im Gegenteil, gerade die unteren Lohngruppen hätten doch profitiert beispielsweise von dem gesetzlichen Mindestlohn.
Marcel Fratzscher kommt zu einem anderen Befund: Seit 1995 ist die Lohnungleichheit stark angestiegen: »Die unteren 40 Prozent erzielen heute sogar geringere Reallöhne, also Löhne nach Bereinigung der Inflation, als noch 1995. Die oberen 40 Prozent dagegen erlebten einen zum Teil sehr starken Anstieg ihrer Reallöhne. Es ist richtig, dass seit 2010 auch die Löhne am unteren Ende steigen, zum Teil durch die Einführung des Mindestlohns und zum Teil durch die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt. Aber im selben Zeitraum sind die Reallöhne für das obere Drittel stärker gestiegen als die in der Mitte und am unteren Rand der Einkommensverteilung.«
Am Ende seines Beitrags verweist Fratzscher auf einen wichtigen Punkt in der aktuellen Ungleichheitsdebatte (und die jetzt wieder auf der höheren Ebene der Einkommen der haushalte angesiedelt): Nicht wenige Ökonomen verweisen darauf, die Einkommensungleichheit sei seit 2005 in Deutschland nicht systematisch weiter gestiegen. Dazu seine Bewertung: »Selbst wenn man das Krisenjahr 2005 als Vergleichsjahr akzeptiert: Soll dies wirklich als Erfolg gefeiert werden? Ist es nicht eher ein Scheitern, wenn trotz Wirtschaftsbooms, Halbierung der Arbeitslosenquote und guten Wirtschaftswachstums die Einkommensungleichheit auf ihren historischen Höhepunkt von 2005 verharrt?«
Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört zu denen, die eine zunehmende Ungleichheit als Problem diagnostizieren. Und die IMK-Ökonomen bleiben nicht bei der Diagnose – über die man sich streiten kann – stehen, sondern sie haben auch Vorschläge vorgelegt, wie man die Ungleichheit bekämpfen könne – worüber man sich noch mehr streiten kann, vor allem, wenn jemand konkrete politische Maßnahmen zur Diskussion stellt. Dazu diese Veröffentlichung:
Gustav A. Horn et al. (2017): Was tun gegen Ungleichheit? Wirtschaftspolitische Vorschläge für eine reduzierte Ungleichheit. IMK Report 129, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), September 2017
Ein zusammenfassender Bericht über die Vorschläge des IMK wurde unter die Überschrift Ein Drei-Säulen-Konzept gegen Ungleichheit und Armut gestellt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vorschläge findet man auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags.
Eine der drei Säulen steht unter der Überschrift „Die Starken mehr beteiligen“. Und die IMK-Ökonomen wagen sich auf ein Terrain, das in Deutschland besonders vermint ist – die Steuerpolitik. Ihre zentralen Forderungen: »Um Gutverdiener stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, seien Änderungen des Steuersystems unumgänglich, so die Experten. Sie schlagen unter anderem vor, Unternehmensgewinne durch das Schließen von Schlupflöchern effektiver zu besteuern, private Steuerflucht konsequent zu verfolgen, den Spitzensteuersatz anzuheben, die überzogene Privilegierung von Unternehmenserben bei der Erbschaftsteuer abzuschaffen und die Vermögensteuer zu reaktivieren. Um auszuschließen, dass höhere Steuern Unternehmen in Schwierigkeiten bringen, halten es die Wissenschaftler für sinnvoll, dass der Staat in solchen Fällen mit den geschuldeten Summen als stiller Teilhaber einsteigen kann. Die entsprechenden Anteile würde ein Staatsfonds verwalten.«
Und dann gibt es da noch einen weiteren höchst sensiblen steuerpolitischen Reformvorschlag, der zugleich relevant ist für eine der drängendsten sozialpolitischen Fragen – die Wohnungsfrage und der Anstieg der Mieten in vielen Gegenden unseres Landes, vor allem in den Städten:
»Ein wichtiger Schritt wäre darüber hinaus die Umwandlung der Grundsteuer in eine Bodenwertsteuer, so das IMK. Eine Reform der Grundsteuer, die mit 13 Milliarden Euro für einen erklecklichen Teil der kommunalen Einnahmen verantwortlich ist, sei wegen eines anhängigen Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ohnehin fällig. Der Übergang zu einer reinen Bodenwertsteuer hätte den Vorteil, dass die Belastung je Wohneinheit umso geringer ausfällt, je intensiver ein Grundstück genutzt wird. Das heißt: Die Bewohner von Ein- oder Zweifamilienhäusern, die oft auch die Eigentümer und vergleichsweise wohlhabend sind, werden stärker belastet. Die Bewohner von mehrgeschossigen Gebäuden – typischerweise Mieter – werden entlastet. Der größere Anreiz für die effiziente Nutzung von Grundbesitz dürfte zudem dazu beitragen, die Wohnungsknappheit in Ballungsgebieten zu lindern.«
Ebenfalls fehlt nicht der Hinweis auf die unmittelbar nach der Finanzkrise im Schockzustand der Politik versprochene, mittlerweile auf die lange Bank geschobene Finanztransaktionssteuer. Das IMK plädiert für einen neuen Anlauf zur Einführung dieser Besteuerung: »Da die betroffenen Akteure an den Finanzmärkten in der Regel gut betucht sind, könnte eine solche Steuer nach Einschätzung der IMK-Forscher einen nennenswerten Beitrag zum Abbau der Ungleichheit leisten. Einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission, der Steuersätze von 0,1 Prozent auf Wertpapiertransaktionen und 0,01 Prozent auf den Handel mit Derivaten vorsieht, gibt es bereits. Das Sitzlandprinzip soll dabei verhindern, dass sich Handelspartner der Besteuerung durch Verlagerung der Geschäfte entziehen.«
Und die vielbeschworene „Mitte“? Dazu findet man Vorschläge in der Kategorie „Die Mitte stärken“. Das IMK fordert hier mehr Kindergeld statt Ehegattensplitting und die Entlastung finanzschwacher Kommunen als Beitrag zu einer besseren öffentlichen Infrastruktur. Und für gewerkschaftsnahe Ökonomen nicht überraschend ist die Forderung an die Politik, das Tarifsystem zu stärken. Denn von Tarifverträgen profitiere insbesondere der mittlere und untere Bereich der Lohnverteilung, so die Wirtschaftswissenschaftler. Nur ist die Tarifbindung bekanntlich seit Jahren auf dem Sinkflug (vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017).
Was aber soll und kann die Politik hier machen? »Als einfachen, aber wirkungsvollen Schritt empfehlen sie, Allgemeinverbindlicherklärungen zu erleichtern. Bislang ist vorgesehen, dass beide Tarifpartner einen gemeinsamen Antrag einreichen, dem ein paritätisch besetzter Tarifausschuss zustimmen muss. Zudem muss die Allgemeinverbindlichkeit „im öffentlichen Interesse geboten“ sein. Die Folge: Von 73.000 derzeitig gültigen Tarifverträgen sind nur 443 allgemeinverbindlich. Die Autoren der Studie sprechen sich dafür aus, dass Anträge vom Tarifausschuss nicht mehr mit Mehrheit bestätigt werden müssen, sondern nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können. So hätten die Arbeitgeber kein Vetorecht mehr. Zudem sollte der Begriff des „öffentlichen Interesses“ präzisiert werden.« Vgl. zu diesem wichtigen Punkt auch den Beitrag Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt vom 9. Mai 2017.
Die Diskussion über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ kennen viele. Die IMK-Ökonomen präsentieren einen Vorschlag, der eine semantische Nähe dazu hat, aber einem ganz anderen Ansatz folgt: Sie schlagen ein „bedingungsloses Kapitaleinkommen“ vor. Was muss man sich darunter vorstellen?
»Kapitaleinkünfte seien bei der Oberschicht konzentriert, weil die Angehörigen der unteren und mittleren Einkommensklassen kaum Ressourcen zum Investieren übrig haben. Abhilfe schaffen könnte ein Staatsfonds, der in Wertpapiere investiert und die Rendite jährlich zu gleichen Teilen an alle Bürger ausschüttet. Der Aufbau eines solchen Fonds könnte aus Haushaltsüberschüssen geleistet werden sowie aus stillen Beteiligungen an Unternehmen, die sich aus Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erbschafts- und der Vermögenssteuer ergeben, schreiben die Ökonomen.«
Nach dem Oben und der Mitte fehlt nun noch das Unten – die Vorschläge hierzu finden sich in der Rubrik „Die Armut reduzieren“. Auch hier eine klare und sicher diskussionsauslösende Ansage: »Geeignete Mittel gegen Armut wären der Analyse zufolge die Eindämmung prekärer Beschäftigung und eine Stärkung der gesetzlichen Rente.
Zusätzlich sollte der Mindestlohn schneller steigen.« Der Mindestlohn solle »stärker steigen als der Medianlohn. Das heißt: Die Kommission, die für die Anpassung zuständig ist, sollte sich nicht wie bisher allein an der Reallohnentwicklung orientieren, sondern einen Aufschlag einkalkulieren.«
Auch eine angemessene Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes ist hier Thema: »Der derzeitige Anpassungsmodus enthalte einen „Automatismus zu mehr Ungleichheit“. Denn als Maßstab diene die Entwicklung der Konsumausgaben beim ärmsten Fünftel der Haushalte. Das führe dazu, dass Hartz-IV-Empfänger in Zeiten gesamtwirtschaftlich steigender Reallöhne in der Einkommensverteilung immer weiter zurückfallen. Das könnte verhindert werden, indem die Anpassung an die Entwicklung des Mindestlohns gekoppelt wird. Der Abstand zum niedrigsten Lohn bliebe so unverändert, gleichzeitig würden die Arbeitslosen am steigenden Wohlstand beteiligt.«
Fazit: Das IMK hat hier konkrete und zugleich die Strukturen verändernde Vorschläge gemacht, über die man sich hoffentlich streiten wird. Aber keiner soll sagen, es gibt keine Alternativen zu dem angeblich „alternativlosen“ bisherigen Gang der Dinge.
IAQ: Niedriglohnbeschäftigung 2015 – bislang kein Rückgang im Jahr der Mindestlohneinführung
Regelmäßig veröffentlicht das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen eine Abschätzung des Umfangs und der Struktur der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland.
Zur Bestimmung des Umfangs der Niedriglohnbeschäftigung verwenden die Wissenschaftler des IAQ gemäß der OECD-Definition eine Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (Median) für Deutschland insgesamt. Datengrundlage für die Berechnungen ist das Sozio-ökonomische Panel (SOEP), das – anders als z.B. Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) – auch die Einbeziehung von Teilzeitbeschäftigten und Minijobber/innen erlaubt, die überproportional häufig für niedrige Stundenlöhne arbeiten, so die Erläuterung in diesem neuen Bericht:
Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf (2017): Niedriglohnbeschäftigung 2015 – bislang kein Rückgang im Zuge der Mindestlohneinführung. IAQ-Report 2017-06, Duisburg: Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ), August 2017
Nun wurden die Berechnungen bis einschließlich des Jahres 2015 aktualisiert. Ein ganz zentrales Ergebnis: »Im Jahr 2015 arbeiteten 22,6% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Stundenlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten damit lediglich um 0,1 Prozentpunkte verringert.«
Dieser Befund muss natürlich auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass am Anfang des Jahres 2015 der gesetzliche Mindestlohn als Lohnuntergrenze in Höhe von damals 8,50 Euro pro Stunde für (fast) alle Beschäftigten in Kraft getreten ist.
Die IAQ-Berechnungen auf der Basis des SOEP beziehen sich auf alle abhängig Beschäftigten (einschließlich sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit und Minijobs). Selbständige und Freiberufler sowie mithelfende Familienangehörige wurden ausgeschlossen, da sich für sie ein Stundenlohn nicht sinnvoll berechnen lässt. Nicht berücksichtigt wurden darüber hinaus auch Auszubildende, Praktikanten, Personen in Rehabilitation, Umschulung sowie in weiteren arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Beschäftigte in Behindertenwerkstätten, Personen im Bundesfreiwilligendienst sowie Beschäftigte in Altersteilzeit. Die Wissenschaftler kommen vor diesem Hintergrund zu der Feststellung:
»Das Ausmaß des Niedriglohnsektors wird in unserer Auswertung eher unter- als überschätzt, da Nebentätigkeiten nicht einbezogen werden.« (S. 3)
Für 2015 ergibt sich auf dieser Grundlage der Befund: »In Ostdeutschland arbeiteten im Jahr 2015 gut 36% der Beschäftigten in Niedriglohnjobs, wobei der Anteil im Jahr 2015 um 0,3 Prozentpunkte sogar leicht gestiegen ist. In Westdeutschland ist der Niedriglohnanteil demgegenüber von 20% im Jahr 2014 auf 19,7% im Jahr 2015 etwas gesunken. Für Deutschland insgesamt lag der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen im Jahr 2015 bei 22,6%.«
Ab wann spricht man von einer Niedriglohnbeschäftigung?
»Die Niedriglohnschwelle in Deutschland ist von 7,22 € im Jahr 1995 auf 10,22 € im Jahr 2015 gestiegen. Grund dafür ist das Lohnwachstum in der Gesamtwirtschaft.« (S. 4)
Wer ist besonders betroffen von dem Risiko, zu einem Niedriglohn arbeiten zu müssen?
»Für einen Stundenlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle arbeiteten nach unseren Berechnungen im Jahr 2015 gut 77% der Minijobber/innen, knapp 55% der Jüngeren (bis 25 Jahre), fast 44% der Beschäftigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung, knapp 38% der befristet Beschäftigten und gut 35% der Ausländer/innen.«
Vgl. dazu auch die Tabelle 2 in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags.
Von Interesse ist auch die Frage, wie sich die Beschäftigten mit geringen Stundenlöhnen auf die unterschiedlichen Beschäftigtengruppen verteilen. Bei vielen ist hinsichtlich dieser Frage sicher das Bild der Arbeitnehmer mit geringer oder gar keiner (formaler) Qualifikation im Kopf. Die Daten zeigen anderes:
»Die Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland sind weiterhin Beschäftigte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (knapp 63%), Frauen (gut 60%), Beschäftigte aus den mittleren Altersgruppen (knapp 63%), Deutsche (knapp 84%) und unbefristet Beschäftigte (78,5%). Nach Arbeitszeitform differenziert handelt es sich bei 42% der Beschäftigten mit Niedriglohn um Vollzeitbeschftigte, bei gut 34% um geringfügig Beschäftigte und bei knapp einem Viertel um sozialversicherungsflichtig Teilzeitbeschäftigte.«
Abschließend natürlich die Frage – hat denn der gesetzliche Mindestlohn nichts ändern können? Auch hier muss man genauer hinschauen:
»Wie unsere Auswertungen zeigen, hat die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 am Umfang der Niedriglohnbeschäftigung kaum etwas geändert … (das ist) auch nicht überraschend, da der Mindestlohn die Löhne im unteren Bereich zwar komprimiert, sie aber nicht unbedingt über die Niedriglohnschwelle hebt, die deutlich über dem Mindestlohn liegt (2015: 10,22 €). Der Umfang des Niedriglohnsektors wird stärker von der Tarifbindung als vom Mindestlohn beeinflusst, da in tarifgebundenen Branchen mit dem Mindestlohn meistens auch die Löhne der oberhalb des Mindestlohns liegenden Lohngruppen steigen, um die Abstände zu den unteren Lohngruppen zu wahren (so genannte „ripple effects“).«
Zugleich sind wir aber damit konfrontiert, dass der Anteil der Beschäftigten und der Unternehmen steigt, in denen keine Tarifbindung (mehr) gegeben ist. Vgl. hierzu Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017 sowie „Orientierung“ am Tarif kann auch 25 Prozent weniger bedeuten vom 27. Juni 2017.
Panikmache mit (scheinbar) wissenschaftlichem Flankenschutz. Die bösen Sozialabgaben mal wieder und das Jobkiller-Motiv
Ältere Semester werden schon bei dem Begriff mit den Augen rollen, begleitet uns dieser doch seit Jahrzehnten in höchst aufgeladener Form durch die wirtschafts- und sozialpolitische Debatte: Lohnnebenkosten. Man spricht auch von „indirekten Arbeitskosten“. Das Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft verwendet den Terminus „Personalzusatzkosten“ und versteht darunter alles, was zusätzlich zum (Brutto-)Lohn für tatsächlich geleistete Arbeit gezahlt wird (vgl. Arbeit in Deutschland ist teuer). Dazu gehört beispielsweise die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, betriebliche Altersvorsorge bis hin zum größten Posten, den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung.
Und um die geht es hier besonders. Wobei man anmerken muss, dass die Sozialversicherungsbeiträge formal differenziert werden in den Teil, den die Arbeitgeber zu finanzieren haben, und einen anderen, der von den Arbeitnehmern von deren Bruttolöhnen bzw- gehältern einbehalten wird. Das war mal „paritätisch“, auch so eine scheinbare Zauberformel der deutschen Finanzierungsarchitektur der sozialen Sicherung, also beide Seiten teilen sich die Gesamtsumme zu Hälfte. Aber damit ist schon seit längerem Schluss. Nicht nur in der Krankenversicherung, wo der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wurde und die Arbeitnehmer den übersteigenden Finanzbedarf über Zusatzbeiträge alleine zu finanzieren haben. Man denke hier auch an die Rentenversicherung, wo wir seit dem rentenpolitischen Paradigmenwechsel 2001 mit der Riester-Rente (die alleine von den Arbeitnehmern zu stemmen ist) und der gleichzeitigen Absenkung der Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit entsprechenden Auswirkungen auf den Beitragssatz eine faktische Abkehr von der Parität im Sinne einer einseitigen Belastungsverschiebung haben. Bei der sozialen Pflegeversicherung wird gerne vergessen, dass dort zwar formal eine Arbeitgeberbeteiligung praktiziert wird – am Anfang stand aber die Streichung eines Feiertags als Kompensation für die Arbeitgeberseite.
Arbeitsproduktivität als Fetisch einer angeblichen Leistungsgesellschaft
Der eine oder andere wird sich noch an sie erinnern – an die „Partei der Leistungsträger“. So hatte sich die FDP schon in den 1990er Jahren unter dem Vorsitzenden Klaus Kinkel selbst abzusetzen versucht von den anderen Konkurrenten auf dem Markt um Wählerstimmen und die offenherzige Ausrichtung als Klientelpartei hat ihr eine Menge Sympathien gekostet. Der damalige FDP-Generalsekretär Werner Hoyer war sogar so ehrlich, von der „Partei der Besserverdiener“ zu schwärmen, was im Volksmund schnell und kompakt in „Zahnärzte-Partei“ umdefiniert wurde. Und schon sind wir mittendrin im hier interessierenden Schlamassel, denn auch wenn Zahnärzte eine wichtige und anerkennenswerte Leistung erbringen (können), so wurde doch von vielen das Problem erkannt, das hinter dem klientelistischen Zugriff auf bestimmte „Leistungsträger“ steht: Die Anbindung an Einkommen, an einen bestimmten (gesellschaftlich so definierten bzw. verzerrten) Status, die offen oder versteckte Abwertung vieler anderer, die es „nicht geschafft“ haben, obwohl viele von ihnen durchaus eine Menge „schaffen“, hier verstanden im Sinne des schwäbischen Verbs.
Auf der anderen Seite und unabhängig von einer normativen oder stilistischen Bewertung dieser schamlosen Abgrenzung nach unten muss man dem Ansatz zugute halten, dass er offen anspricht, was durchaus weit verbreitet ist in unserer Gesellschaft: »Die Arbeitsleistung, so heißt es, ist das Fundament der Gesellschaft, die dadurch zur Leistungsgesellschaft wird, in der jeder gemäß seiner Leistung bezahlt wird oder werden sollte.«