Der Gesetzgeber hat keine Lust (mehr). Das Mindestlohngesetz, die nicht vorhandenen Ausnahme-Langzeitarbeitslosen und Flüchtlinge im Anerkennungspraktikum

Es ist ruhiger geworden um den gesetzlichen Mindestlohn. Die Kritiker schmollen ob der nicht-eingetretenen Vorhersagen und heben hin und wieder das Bein, um deutlich zu machen, dass der Mindestlohn trotzdem von schlechten Eltern ist und dass die schlimmen Folgen irgendwann mal in der Zukunft zu Tage treten könnten. Zum 1. Januar 2017 ist der Betrag von 8,50 Euro auf 8,84 Euro pro Stunde brutto angehoben worden – und damit ist erst einmal Ruhe, bis die Mindestlohn-Kommission erneut beratschlagen darf. Natürlich ist es immer so, dass im Verlauf der Zeit mit Blick auf das zugrundeliegende Gesetzeswerk an der einen oder anderen Stelle Anpassungsbedarfe erkennbar werden, die man dann normalerweise im Gesetzgebungsverfahren aufgreift und das Gesetz anpasst. Und derzeit sind zwei Baustellen erkennbar, die aber partout umschifft werden (sollen).

Das sind beispielsweise – immer wieder – „die“ Langzeitarbeitslosen, für die der Gesetzgeber bei der Normierung des Mindestlohngesetzes aus polit-kosmetischen Gründen und gegen die Empfehlungen der meisten Sachverständigen, die nicht interessengebunden sind, für die ersten sechs Monate eine Ausnahmeregelung von der (eigentlich für alle) geltenden Lohnuntergrenze in das Mindestlohngesetz geschrieben hat (§ 22 Abs. 4 MiLoG). Dort heißt es: »Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.« Hört sich eindeutiger an, als es ist.

Nun wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren von Experten darauf hingewiesen, dass diese Sonderregelung nicht nur inhaltlich mehr als fragwürdig ist, sondern wenn man ein wenig Ahnung hat von der Praxis war jedem klar, dass das kaum Relevanz entfalten wird in der wirklichen Wirklichkeit. So ist es denn auch gekommen. Der bereits aufgerufene Paragraf 22 Absatz 4 MiLoG enthält noch eine Ergänzung, die man angesichts der massiven Kritik schon bei der Entstehung der Norm mit aufgenommen hat: »Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Körperschaften zum 1. Juni 2016 darüber zu berichten, inwieweit die Regelung nach Satz 1 die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt gefördert hat, und eine Einschätzung darüber abzugeben, ob diese Regelung fortbestehen soll.«

Und dieser Bericht liegt nun vor (vgl. dazu Mindestlohn: Kabinett beschließt Bericht zur Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose vom 8. Februar 2017) – mit einer nicht erstaunlichen Erkenntnis und zugleich einer erstaunlichen Schlussfolgerung: Bericht und Einschätzung der Bundesregierung zur Regelung für Langzeitarbeitslose nach § 22 Absatz 4 Satz 2 des Mindestlohngesetzes, so ist der lediglich zwei Seiten umfassende Bericht überschrieben. Wir erfahren, dass die Bundesregierung die Regelung zur Ausnahme der Geltung des Mindestlohns für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat evaluieren lassen. Und der Befund?

»Die Analysen des IAB zeigen, dass die Ausnahmeregelung nur in sehr wenigen Fällen auch tatsächlich angewandt wird.«

So weit, so erwartbar. Was aber sind die Schlussfolgerungen der Bundesregierung? Die folgende Chuzpe muss man erst mal sacken lassen:

»Aus Sicht der Bundesregierung gibt es damit unter den bestehenden Rahmenbedingungen weder zwingende Gründe für eine Beibehaltung der Regelung noch zwingende Gründe für eine Abschaffung. Angesichts der Unsicherheiten über die weiteren Entwicklungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in den kommenden Jahren hält es die Bundesregierung jedoch für sinnvoll, Arbeitgebern weiterhin Anreize zu geben, Langzeitarbeitslosen einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Bundesregierung empfiehlt daher, zum jetzigen Zeitpunkt keine gesetzlichen Änderungen vorzunehmen. Nach Auffassung der Bundesregierung soll die weitere Entwicklung jedoch beobachtet und gegebenenfalls eine erneute Evaluation unter veränderten Bedingungen durchgeführt werden.«

Na klasse. Das Instrument wird wie vorhergesagt nicht genutzt, es ist ein mehr als begründungspflichtiger Fremdkörper in der Architektur einer allgemeinen gesetzlichen Lohnuntergrenze, die Evaluierung hat eindeutige Befunde gebracht – aber der Gesetzgeber lässt alles so, wie es ist und stellt eine nächste Evaluierung des toten Pferdes in Aussicht.

Man könnte das jetzt als eine unverschämte Arbeitsverweigerung des Gesetzgebers brandmarken, wenn da nicht noch eine weitere Fallkonstellation wäre, die möglicherweise erklärt, warum das Mindestlohngesetz als solches nicht angepackt werden soll – die auch immer wieder ins Feld geführten Flüchtlinge. Mit Blick auf diese Personengruppe gibt es seit 2015, als so viele Flüchtlinge zu uns gekommen sind, immer wieder die Forderung nach ihrer Herausnahme aus dem Geltungsbereich des gesetzlichen Mindestlohns, für einige Hardcore-Vertreter generell, für andere wenigstens analog zur Sonderregelung bei den Langzeitarbeitslosen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Es tut doch gar nicht weh … Gewerkschaften zwischenbilanzieren den – natürlich erfolgreichen – Mindestlohn und die Gegenseite greift auf Flüchtlinge zurück, um es noch mal zu versuchen vom 25. September 2015).

Dieses Ansinnen wurde in der Vergangenheit selbst aus dem Arbeitgeber-Lager zu Recht zurückgewiesen, auch deshalb, weil man keinen fatalen Unterbietungswettbewerb aufmachen wollte mit möglicherweise heftigen Reaktionen auf Seiten der einheimischen Bevölkerung vor allem in den unteren Lohngruppen, die von der (potenziellen) Konkurrenz dann eventuell ganz real getroffen werden.
Aber auch an dieser Front hat sich die Debatte eigentlich beruhigt, um jetzt an einer ganz speziellen Stelle wieder aufzuploppen.

Es geht um Praktika. Da wird dem einen oder anderen einfallen – da war doch was mit Praktika und dem Mindestlohn. Genau, nur in einem eng definierten Rahmen sind die von der Gültigkeit des Mindestlohns ausgenommen (worden) – und das mit diesem gestaltenden Anspruch der damaligen und Noch-Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), der von Thomas Öchsner in seinem Artikel  Ausnahme für Flüchtlinge so beschrieben wird:

„Ich will das Modell der Generation Praktikum beenden“, sagte sie damals. Mit Kettenpraktika von Hochschulabsolventen sollte nach dem Startschuss für den Mindestlohn Anfang 2015 endlich Schluss sein. Und so kam es dann auch: Praktikanten sind vom Mindestlohn nur dann ausgenommen, wenn es sich um Pflichtpraktika von bis zu drei Monaten während eines Studiums handelt, oder um Pflichtpraktika innerhalb einer schulischen, betrieblichen oder universitären Ausbildung. Der Mindestlohn, betonte Nahles stets, dürfe „kein Schweizer Käse“, der Ausnahmefall nicht zur Norm werden.

Schaut man in das Gesetz, dann findet man die entsprechende Regelung in dem bereits im anderen Zusammenhang aufgerufenen § 22 MiLoG, konkret im Absatz 1. Dort wird explizit und abschließend (weil nicht mit den üblichen Formulierungen wie „insbesondere“ als exemplarisch für einen weiteren Anwendungsbereich gekennzeichnet) aufgelistet, in welchen vier Fallkonstellationen der Mindestlohn nicht angewendet werden muss:

1. ein Praktikum verpflichtend auf Grund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie leisten,
2. ein Praktikum von bis zu drei Monaten zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums leisten,
3. ein Praktikum von bis zu drei Monaten begleitend zu einer Berufs- oder Hochschulausbildung leisten, wenn nicht zuvor ein solches Praktikumsverhältnis mit demselben Ausbildenden bestanden hat, oder
4. an einer Einstiegsqualifizierung nach § 54a des Dritten Buches Sozialgesetzbuch oder an einer Berufsausbildungsvorbereitung nach §§ 68 bis 70 des Berufsbildungsgesetzes teilnehmen.

Nun gibt es mit Blick (nicht nur) auf Flüchtlinge, sondern generell bei Zuwanderern das Problem, dass im Kontext der Anerkennung ihrer im Ausland erworbenen Berufsabschlüsse hier in Deutschland zuweilen ein Anerkennungspraktikum absolviert werden muss, also eine bestimmte Zeit der beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb, bevor man die Gleichwertigkeit ihres Abschlusses und damit deren Verwendbarkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt feststellen kann. Das ist insgesamt ein kompliziertes Feld, weiterführende Informationen kann man beispielsweise dieser Website entnehmen: Anerkennung in Deutschland. Das Informationsportal der Bundesregierung zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen.

Zu der aktuellen Problematik im Zusammenhang mit dem Mindestlohn schreibt Thomas Öchsner in seinem Artikel:

»Es geht dabei um Flüchtlinge und Zuwanderer, die sich für die Anerkennung ihres ausländischen Berufsabschlusses in Deutschland nachqualifizieren. In diesen Fällen soll für sie ebenfalls kein Mindestlohn gelten. Muss ein Geflüchteter mit einem Ausbildungsberuf noch praktische Kenntnisse in einem Betrieb erwerben, damit sein ausländischer Abschluss als gleichwertig gilt, sei dies wie ein Pflichtpraktikum zu werten – also gibt es keine 8,84 Euro die Stunde. So steht es in einem gemeinsamen Papier der drei Bundesministerien für Arbeit, Finanzen und Bildung.«

Nun kann man mit guten Gründen für diesen speziellen Bereich tatsächlich Argumente ins Feld führen, die bei einer Beschäftigung von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern in einem der Anerkennung ihres Berufsabschlusses dienenden Praktikum für die Nicht-Anwendung des Mindestlohns sprechen. Vor allem, wenn man ansonsten davon ausgehen muss, dass viele Unternehmen ansonsten auf das Angebot solcher Plätze verzichten würden, was wiederum fatal wäre für eine Integrationsperspektive, denn auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind nun mal Berufsabschlüsse von zentraler Bedeutung.

Die Bundesregierung will also mit dem erwähnten „Papier“ die Rechtslage klarstellen, ohne dies ausdrücklich in das Mindestlohngesetz aufzunehmen. Man will den Hinweis auf die Mindestlohnfreiheit bei Anerkennungspraktika lediglich als „Bestandteil des Informationsangebots der Bundesregierung“ kommunizieren.

Und da gibt es jetzt Probleme. Zum einen haben die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages mit Datum 17. Januar 2017 eine Stellungnahme verfasst unter der Überschrift Mindestlohnfreiheit von Anpassungspraktika nach dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz. Öchsner fasst den zentralen Befund aus dem Gutachten so zusammen: »Qualifizierungen, die im Rahmen der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen anfallen, seien „nach Wortlaut und Systematik nicht von der Ausnahmeregelung für Pflichtpraktika erfasst“. Diese Ausnahmeregelung ließe sich zwar im Prinzip auf die notwendigen Praktika und Kurse bei solchen Nachqualifizierungen übertragen. Der Wille des Gesetzgebers lasse sich aber „aus der Gesetzesgenese nicht zweifelsfrei ableiten“.«
In dem Gutachten selbst findet man auf S. 11 eine zusammenfassende Bewertung und einen an sich praktikablen Lösungsvorschlag:

»Betriebliche Phasen der Anpassungsqualifikationen im Kontext der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse können grundsätzlich als Praktika im Sinne der Definition des § 22 Abs. 1 Satz 3 MiLoG angesehen werden. Sie sind nach Wortlaut und Systematik nicht von der Ausnahmeregelung für Pflichtpraktika nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MiLoG erfasst. Der Wille des Gesetzgebers lässt sich aus der Gesetzesgenese nicht zweifelsfrei ableiten. Jedoch sind sie den in der der Ausnahmeregelung ausdrücklich erwähnten Pflichtpraktika im Hinblick auf ihren Zweck, die Interessenlage der Beteiligten und ihre fehlende Missbrauchsanfälligkeit wesentlich gleich gelagert, so dass Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung für deren Einbeziehung in § 22 Abs. 1 Satz Nr. 1 MiLoG im Wege der Analogie sprechen, wie sie in dem vorliegenden Entwurf der gemeinsamen Auslegung der Exekutive vorgeschlagen wird.«

Also gut, wird der eine oder andere an dieser Stelle für sich bilanzieren, dann fügt der Gesetzgeber eben in den genannten § 22 Absatz 1 neben den bereits verankerten vier Fallkonstellationen einen fünften Punkt ein und gut ist. So könnte das laufen, so müsste das laufen.

Aber: Das Bundesarbeitsministerium verweigert sich diesem nachvollziehbaren und gebotenen Ansinnen. Dazu Thomas Öchsner das BMAS zitierend:

»Es sei überhaupt nicht nötig, das Mindestlohngesetz deswegen zu erweitern, sagte eine Sprecherin. Eine vermeintlich klarstellende Regelung würde zwangsläufig neue Auslegungsfragen für andere Formen von Praktika und Qualifizierungszeiten aufwerfen, „die nicht im Gesetz explizit genannt werden“. Dies würde „nicht zu einem Mehr an Rechtssicherheit führen“.«

Warum zieren die sich so? Brigitte Pothmer, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, hat eine naheliegende Vermutung und spricht die auch aus: Sie glaubt, dass sich hinter diesem Nein des Ministeriums ein anderer Grund verbirgt: Nahles wolle das Gesetz nicht anfassen, „weil sie befürchtet, dass die Union diese Gelegenheit nutzen würde, um den Mindestlohn auszuhöhlen“.

Das wäre mit Blick auf die mehr als fragile Mechanik der Großen Koalition, die ja bereits in die Lähmungsphase angesichts des anlaufenden Bundestagswahlkampfs eingetreten ist, durchaus nachvollziehbar, wenn auch frustrierend. Denn damit droht der Sache, um die es im Interesse einer möglichst gelingenden Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern gehen sollte, eine große, möglicherweise existenzielle Gefahr – nämlich der Zustand einer bewusst in Kauf genommenen Rechtsunsicherheit für die Unternehmen, die im Ergebnis dazu führen kann und wird, dass diese nicht oder in einem viel zu geringem Umfang die dringend benötigten Praktikumsplätze zur Verfügung stellen. Und dass das eben keine theoretische Gefahr ist, kann man dem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags auch entnehmen. Dort heißt es wohlformuliert, aber mit klarer Ansage auf Seite 11:

»In Anbetracht des Umstandes, dass der Auffassung der Exekutive insoweit keine Bindungswirkung gegenüber der unabhängigen Arbeitsgerichtsbarkeit zukommt, kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese Auslegung von der Rechtsprechung geteilt wird. Im Sinne der Rechtssicherheit wäre daher eine ausdrückliche Aufnahme der Anpassungspraktika in das MiLoG durch eine entsprechende Gesetzesänderung einer Erstreckung der Ausnahmenregelung im Wege der Analogie vorzuziehen.«

Und da glaubt man, dass vor diesem Hintergrund Unternehmen bereitwillig genügend Anerkennungspraktika zur Verfügung stellen werden? Es wäre absolut nachvollziehbar, wenn sie einen Teufel tun.

Fazit: Weil die zuständige Bundesarbeitsministerin (institutionengoistisch im Gefüge der auslaufenden Großen Koalition durchaus nachvollziehbar) keine Lust hat, den zugeschnürten Sack Mindestlohngesetz an einer bestimmten Stelle wieder aufzumachen, weil sie befürchtet, dann erneut mit einem Hornissenschwarm an weiteren Ausnahmeforderungen konfrontiert zu werden, wird so getan, als könne man über die Kommunikation des „Informationsangebots der Bundesregierung“ eine rechtlich bindende Wirkung entfalten, was nachweisbar falsch ist – und was die betroffenen Betriebe in ein unlösbares Dilemma stürzt, das sie dann völlig rational mit Verweigerung beantworten werden müssen.

Das aber wäre mit Blick auf die sowieso schon nicht einfache und an vielen Stellen hakende Arbeitsmarktintegration von Menschen, die nach Deutschland gekommen sind und von denen viele hier auch bleiben wollen oder werden müssen, ein katastrophales Ergebnis. Die Bundesregierung hat nicht das Recht, aufgrund ihrer (parteipolitischen) Selbst-Blockade einen so wichtigen Änderungsbedarf (der übrigens aufgrund seiner Kleinteiligkeit gesetzgeberisch rasch erledigt werden kann, wenn man denn will) einfach liegen zu lassen. Auch hier wieder würde man die Verantwortlichen gerne in Haftung nehmen können für die sicher eintretenden Schäden.

Reale Ausformungen der Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik. Die einen haben sehr viele Plätze, aber keine Teilnehmer, die anderen wenige Plätze, aber die fast alle in Hamburg

Es ist wirklich ein Kreuz mit diesen Modell-, Sonder- und sonstigen Programmen in der Arbeitsmarktpolitik. Für alles und jeden werden irgendwelche Programme aufgelegt, nicht selten zur Aktivitätssimulation seitens der politisch Verantwortlichen, da die Voraussetzungen für die Ansprüche der Mittel aus den Programmen derart anspruchsvoll bzw. lebensfern sind, dass man Mühe haben muss, überhaupt lebende Teilnehmer gewinnen zu können (vgl. dazu auch grundsätzlich die Beiträge Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II vom 28. Juni 2016 sowie Programmitis als Krankheitsbild in der Arbeitsmarktpolitik: Wenn das „Wir tun was“ für die Langzeitarbeitslosen verloren geht im hyperkomplexen Raum der Sonderprogramme, die in der Realität scheitern müssen vom 12. März 2016). Leider muss hier nun von der unendlich daherkommenden Fortsetzungsgeschichte dieser wahrhaft pathologischen Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland berichtet werden.

Nehmen wir als erstes Beispiel die Flüchtlinge. Als sich alles um dieses Thema gedreht hat, musste die Politik Tatkräftigkeit signalisieren. Also hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ein gewaltiges Programm aufgelegt, um die frohe Botschaft unter die Leute zu bringen: Wir beschäftigen die. Dann wird es allerdings bei genauerem Hinsehen schon komplizierter. Denn bei „die“ geht es um die Flüchtlinge im Niemandsland zwischen einerseits da und andererseits noch nicht anerkannt sein. Denn solange „die“ noch nicht als Asylberechtigte bestätigt oder mit subsidiären Schutz ausgestattet sind, fallen sie in die Obhut der Kommunen und des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Nun gibt es im  im § 5 Asylbewerberleistungsgesetz einen Paragrafen, der die Überschrift trägt: Arbeitsgelegenheiten. Also das an sich gleiche Instrument, das man im SGB II (für das die Bundesarbeitsministerin zuständig ist) unter dem Paragrafen 16 d SGB II finden kann, umgangssprachlich auch als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet. Nur müssen die Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von den Kommunen bzw. den Ländern finanziert werden, während die „normalen“ Arbeitsgelegenheiten nach dem SGB II aus Bundesmitteln bedient werden. Man ahnt schon mit etwas Erfahrung, wohin das geführt hat. Der Bund nimmt den Kommunen den Finanzierungsanteil ab, allerdings geht man nicht den für den einen oder anderen naheliegenden Weg und gibt den Kommunen einfach die Kohle und sagt: Macht mal. Sondern man kreiert eben ein Sonderprogramm. Und das nennt man dann „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM). Und davon wurden mal eben 100.000 Plätze in Aussicht gestellt. Man muss diese Zahl „nur“ für Flüchtlinge auch vor dem Hintergrund sehen und bewerten, dass derzeit etwas über 80.000 Ein-Euro-Jobber aus der Grundgesamtheit aller Hartz IV-Empfänger in Deutschland unterwegs sind – also sollte für die Gruppe der Flüchtlinge eine mehr als ansehnliche Zahl an Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Die ja auch noch eingerichtet, betreut und begleitet werden müssen.

Ein grundlegendes Problem dieser 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden müssen, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird (aufgrund der Beschleunigung der Anerkennungsverfahren beim BAMF) und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen. Darauf wurde frühzeitig aufmerksam gemacht.

Egal, das Programm wurde auf die Schiene gesetzt – aber manchmal führen Schienen eben auch in die Irre. Der Bundestag hat das „Arbeitsmarktprogramm Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ zum 1. August 2016 beschlossen. Und wie sieht es an der Front aus? So, wie man es erwarten musste – tote Hose. Andreas Hammer berichtet:

„Im November 2016 waren rund 4.400 der geplanten 100.000 FIM (4,4%) besetzt“.

Die Insider wird der – nun ja – nicht wirklich überzeugende Stand der Umsetzung nicht überraschen: Schon frühzeitig wurde auf die Fragwürdigkeit des ganzen Ansatzes hingewiesen, beispielsweise in diesen Beiträgen: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? vom 12. Juni 2016 sowie am 23. Dezember 2016: „80-Cent-Jobs“ für Flüchtlinge – billiger geht’s nun wirklich nicht. Und dennoch: Sie werden kaum genutzt.

Und noch ein zweites Beispiel aus den Untiefen der arbeitsmarktpolitischen Prorammitis wird uns in diesen Tagen gemeldet: Job-Programm: Zu viele Plätze für Hamburg?, so die noch höfliche Betitelung.

Auch hier geht es – neben grundsätzlich zulässiger Infragestellung des Ansatzes an sich – um ein Verteilungsproblem. Konkret geht es um das neue Modellprogramm STAFFEL – das steht für „Soziale Teilhabe durch Arbeit für junge erwachsene Flüchtlinge und erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Das Bundesarbeitsministerium teilte uns dazu im Juli des vergangenen Jahres mit:

»Ziel des Programms „Staffel“ ist die Förderung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen für junge anerkannte Flüchtlinge sowie junge erwerbsfähige Leistungsberechtigte im SGB II, die auf Grund ihrer individuellen Vermittlungshemmnisse erst an die Anforderung des allgemeinen Arbeits- und Ausbildungsmarkes herangeführt werden müssen. Das Bundesprogramm soll dazu beitragen, das mit- und voneinander Lernen beider Zielgruppen zu stärken.«

Das hört sich doch gut an. Aber der bereits erwähnte Bericht des NDR – Job-Programm: Zu viele Plätze für Hamburg? – klärt uns dahingehend auf: »Das Programm mit dem Namen STAFFEL soll mit 21 Millionen Euro vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales Projekte in ganz Deutschland fördern. Die Idee für das Programm hatten zwei Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete. Bei der Vergabe gingen 75 Prozent der Plätze nach Hamburg. Kritiker glauben nicht an einen Zufall.«
Die Initiatoren des Projekts im SPD-geführten Arbeitsministerium in Berlin waren die beiden Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten Matthias Bartke und Johannes Kahrs.

Und vor diesem Hintergrund werden wir Zeugen einer wundersamen Beglückung:

»Der erfahrene Geschäftsführer eines Hamburger Beschäftigungsträgers, Peter Bakker, selbst SPD-Mitglied, schloss sich dafür mit einem anderen Hamburger Träger in der neuen Tochtergesellschaft FIT zusammen, besorgte zusätzliche Förderzusagen der Hamburger Sozialbehörde, beantragte 400 Plätze. „Wir waren nachher ein bisschen überrascht, dass wir die kompletten 400 Plätze bekommen, weil in der Praxis eher runtergestaffelt wird und man nicht alles das bekommt, was man haben möchte“, erklärt Bakker. Ein kleinerer Hamburger Bewerber bekam die Zusage für 20 Förderplätze. Damit gingen 75 Prozent aller Plätze nach Hamburg, 67 weitere Träger aus ganz Deutschland gingen dagegen leer aus. Der Grund dafür: Das Ministerium vergab die Mittel nach Antragseingang. Sprich: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

Die Genossen in Hamburg haben das Programm selbst initiiert. Und dann seien 70 Prozent der Plätze nach Hamburg gegangen – „an einen Träger, der sehr SPD nah ist und den es vorher gar nicht gab, sondern ja sozusagen seine Einrichtung für dieses Programm erst noch mal gegründet hat. Ich finde, dass ist doch ein bisschen sehr viel Zufall“, so wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert.

Der Geschäftsführer der eigens für das neue Programm gegründeten Tochtergesellschaft FIT, Peter Bakker, beteuert, keinen Wettbewerbsvorteil bei der Initiative der Hamburger Politiker gehabt zu haben: „Wir haben davon erfahren, wie alle anderen auch, als dieses Programm am 6. Juni veröffentlicht worden ist.“

Das kann man bezweifeln:

»Bemerkenswert ist, dass der Gesellschaftsvertrag für FIT laut Handelsregister schon am 31. Mai unterschrieben worden ist – also sechs Tage vor der Ausschreibung und nur auf eine vage Ankündigung des Programms im April hin.«

Vielleicht werden wir hier erneut Zeugen der Hinterzimmergeschäfte, die es schon immer gegeben hat. Auf alle Fälle ist das alles entnervend vor dem Hintergrund, dass wir endlich eine umfassende Aufräumaktion im hyperkomplexen SGB II-Förderrecht im Sinne einer positiven Deregulierung bräuchten. Das wird seit Jahren zu Recht gefordert – und von den Verantwortlichen in der Politik mit Arbeitsverweigerung beantwortet. Man spielt dann lieber mit Modell-, Sonder- und sonstigen Programmen.

Wenn hessische Unternehmerverbände was gegen Langzeitarbeitslosigkeit machen wollen – und ein „Spielhallenverbot für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger“ herauskommt

Es ist unbestritten und mehr als offensichtlich – die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit ist eines der drängten Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Und jeder Akteur auf dem Arbeitsmarkt sollte seinen Beitrag leisten, um den betroffenen Menschen Chancen auf Teilhabe über Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Und es ist ohne Zweifel von großer, wenn nicht zentraler Bedeutung, dass die Arbeitgeber mitziehen bei der Integration erwebsloser Menschen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund freut man sich angesichts der ebenfalls zu konstatierenden Verdrängung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit sowie einer an vielen Orten und bei vielen Menschen anzutreffenden Distanz gegenüber Hartz IV-Empfänger erst einmal, wenn sich die Vereinigung der hessischen Unternehmensverbände (VhU) zu Wort meldet mit einem Plan, der überschrieben ist mit 15 Punkte für weniger Langzeitarbeitslosigkeit in Hessen. „Die verfestigte Zahl der Langzeitarbeitslosen ist jedoch weiterhin Grund zur Sorge. In Hessen gibt es immer noch rund 64.000 Langzeitarbeitslose, davon die meisten im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Trotz der guten Lage am Arbeitsmarkt sind dies immer noch genauso viele wie im Jahr 2012″, so wird  Volker Fasbender, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU), zitiert. Dann aber stutzt man, was der Vereinigung bzw. dem Herrn Hauptgeschäftsführer offensichtlich besonders wichtig ist bei den Maßnahmen im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit.

Grundsätzlich wird anerkannt, dass Menschen, die ihre Existenz nicht aus eigenen Mitteln sichern könnten, zu Recht von der Allgemeinheit mit Arbeitslosengeld II unterstützt würden. Dann aber kommt das hier:

»Im Gegenzug müssen Leistungsbezieher aber auch alles in ihrer Kraft stehende tun, um ihre Hilfsbedürftigkeit und die ihrer Familie so schnell wie möglich durch Arbeit oder Weiterbildung zu beenden. Der Besuch von Spielhallen und das Verschwenden von Zeit und Hilfsleistungen beim Glücksspiel sind hiermit absolut unvereinbar. Betreiber von Spielhallen in Hessen sind bereits jetzt gesetzlich verpflichtet, spielsuchtgefährdete oder überschuldete Personen auszusperren und dies in eine Datei einzutragen. In diese Sperrdatei sollten auch arbeitslose Arbeitslosengeld-II-Empfänger eingetragen werden. Wir fordern die hessische Landesregierung und den Landtag auf, die Jobcenter hierzu zu verpflichten und das hessische Spielhallengesetz entsprechend zu ändern. Dies wäre ein wichtiges Signal dafür, dass Arbeitslosengeld II den Empfänger verpflichtet, mit ganzer Kraft selbst nach einer Beschäftigung zu suchen, mit der er sobald wie möglich wieder auf eigenen Füßen steht«, so Volker Fasbender.«

Warum, wird der eine oder andere fragen, soll eine ganz bestimmte Gruppe herausgegriffen und mit einem Spielhallenverbot belegt werden? Wenn man schon auf solche Gedanken kommt, warum dann nicht auch andere Gruppen? Wie wäre es mit Vätern, die unterhaltspflichtig sind und das Geld verpulvern, ohne dem Kind seinen Anteil zukommen zu lassen? Oder oder oder.

Was sagen die Praktiker aus den Jobcentern dazu? In seinem Artikel Kasinoverbot für Hartz IV-Empfänger? zitiert Rainer Hahne einen hessischen Jobcenter-Geschäftsführer, der die Sichtweise vieler auf den Punkt bringt:

Mit Unverständnis reagierte Stefan Schäfer, Geschäftsführer Jobcenter Stadt Kassel, auf die Forderung, seine Kunden automatisch in die Sperrdatei eintragen zu lassen. „Wir haben keine Erkenntnisse darüber, dass Spielsucht und dadurch eine Verschuldung zu den großen Problemen der Kunden unsers Jobcenters gehören. Außerdem gibt es bei uns in Deutschland das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das sollte man beibehalten und die Menschen nicht bevormunden. Rechtlich ist das meiner Meinung nach derzeit sowieso völlig ausgeschlossen.  Und wie sollte man das praktisch durchsetzen?  Das Wort Datenschutz will ich hier gar nicht nennen.“

Unabhängig von diesen richtigen Einwänden – der Vorschlag aus den Reihen der hessischen Unternehmerverbände ist ein weiterer trauriger Höhepunkt der gruppenbezogenen Stigmatisierung und öffentlichen Etikettierung „der“ Hartz IV-Empfänger. Vgl. dazu beispielsweise diesen Beitrag vom 2. September 2016: Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen.

Und besonders zu beklagen ist die Tatsache, dass mit solchen Vorschlägen wie einem „Spielhallenverbot für Hartz IV-Empfänger“ und den mit diesem Vorschlag ausgelösten Assoziationen bei vielen Menschen, die nur das lesen oder hören, eine hoch problematische Entwicklung befördert wird, die bereits in dem Beitrag Irrungen und Wirrungen der Diskussion über „den“ Arbeitsmarkt, „die“ Arbeitslosen – und natürlich darf „die“ Armut nicht fehlen vom 7. April 2015 angesprochen wurde – mit erschreckenden Zahlen aus einer Studie:

Im Jahr 2014 wurde die die folgende Studie veröffentlicht: Andreas Zick und Anna Klein: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Bonn 2014.

In der Zusammenfassung dieser Studie findet man eine Abbildung mit der Darstellung der Zustimmungswerte zu einzelnen Facetten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in der Gesellschaft und deren Teilgruppen weit verbreitet. Schaut man sich die konkreten Ausprägungen innerhalb der Bevölkerung genauer an, dann überraschen auf den ersten Blick sicher nicht solche Anteilwerte: 44 Prozent hinsichtlich der Abwertung asylsuchender Menschen oder 26,6 Prozent hinsichtlich der Abwertung von Sinti und Roma. Das was irgendwie zu erwarten. Aber dass der absolute Spitzenreiter hinsichtlich der Abwertung einer Gruppe mit 47,8 Prozent die langzeitarbeitslosen Menschen betrifft, wird sicher viele überraschen und erschrecken. Anders ausgedrückt: Nach dieser Studie sind es die langzeitarbeitslosen Menschen, denen die meisten Abwertung und Abneigung entgegenschlägt – noch vor den Asylsuchenden oder den Sinti und Roma. Das ist ein erschütterndes Ergebnis. Es verdeutlicht, wie weit fortgeschritten und radikalisiert das ist, was als Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung von Arbeitslosigkeit bezeichnet wurde.

Dazu wurde nun einer weiterer Beitrag geleistet unter dem scheinbar hehren Ziel, Langzeitarbeitsarbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen.

Nachtrag (11.11.2016): Wie viele Menschen sind eigentlich „spielsuchtgefährdet“ bzw. „glückspielsüchtig“, denn der Hinweis darauf taucht ja bei der Begründung für die Forderung nach einem Spielhallenverbot für Hartz IV-Empfänger auf. Eine wissenschaftliche fundierte Antwort versucht diese Studie zu geben:

Haß, Wolfgang und Lang, Peter (2016): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland. Ergebnisse des Surveys 2015 und Trends. Forschungsbericht der BZgA. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Januar 2016.

Aus der Zusammenfassung der Ergebnisse:

»Wie auch in den vorangegangenen Befragungen der BZgA zum Glücksspielverhalten wird mit der South Oaks Gambling Screen (SOGS) ein international verbreitetes Verfahren zur Klassifizierung des Schweregrades glücksspielassoziierter Probleme bzw. Symptome eingesetzt … Die Befragung 2015 kommt für die 16- bis 70-Jährigen bevölkerungsweit auf eine Schätzung der 12-Monats-Prävalenz des pathologischen Glücksspiels von 0,37 % (männliche Befragte: 0,68 %, weibliche: 0,07 %) und des problematischen Glücksspiels von 0,42 % (männliche Befragte: 0,66 %, weibliche: 0,18 %). Gegenüber der Befragung 2013 finden sich damit nur geringe, statistisch nicht signifikante Rückgänge sowohl des problematischen als auch des pathologischen Spielverhaltens. Am stärksten mit glücksspielassoziierten Problemen belastet erweisen sich im Jahr 2015 Männer mit einer Quote von 2,69 % bei den 21- bis 25-Jährigen und 2,43 % bei den 36- bis 45-Jährigen. Der Anteil Jugendlicher mit problematischem Glücksspielverhalten ist gegenüber 2013 nur geringfügig und statistisch nicht signifikant von 0,13 % auf 0,37 % angestiegen. Dies ist auf einen Anstieg bei den Jungen zurückzuführen; im Jahr 2015 ist bei keinem der befragten Mädchen ein problematisches Glücksspielverhalten festzustellen … Männliches Geschlecht, ein Alter bis 25 Jahre, ein niedriger Bildungsstatus und ein Migrationshintergrund erhöhen das Risiko für mindestens problematisches Glücksspielverhalten. Wird die Nutzung verschiedener Glücksspielformen betrachtet, finden sich bei Keno und Geldspielautomaten die höchsten Risiken.«

Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig

Sie haben es wieder getan. Wie jedes Jahr im oftmals trüben November haben sie ihr Jahresgutachten der Bundesregierung in Gestalt der Bundeskanzlerin höchstpersönlich übergeben. Gemeint sind die umgangssprachlich als „fünf Wirtschaftsweise“ titulierten derzeit vier Herren und eine Dame, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden. Es handelt sich um ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Der Rat wurde durch ein Gesetz im Jahre 1963 installiert mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. In der eigenen Aufgabenbeschreibung des Rates findet man neben der durchaus nachvollziehbaren Aufforderung, sich mit Wirtschaftsthemen zu befassen, u.a. diesen Hinweis: »Aufzeigen von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung, jedoch ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen.« Das sollten wir uns mal merken.

Das Jahresgutachten 2016/17 steht unter der wie auf einem Wahlplakat gedruckten Überschrift „Zeit für Reformen“. Und gleich im Vorwort, noch vor dem Dank an alle, die irgendwas beigetragen haben, statuieren die Wirtschaftsweisen ihren Anspruch mit energisch daherkommenden Formulierungen: »Im vorliegenden Jahresgutachten skizziert der Rat Reformen für Europa und Deutschland, um die politische Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu stärken. Jetzt ist die Zeit, diese Reformen umzusetzen.« Wie war das noch mal mit der Formulierung aus der Aufgabenbeschreibung?

Man ist das aus den vielen Jahren zuvor ja schon gewohnt – erneut handeln die Herren und derzeit eine Dame auch weite Teile der Sozialpolitik ab und sie machen genau das, was sie eigentlich nicht sollen: Bestimmte sozialpolitische Maßnahmen nicht nur empfehlen, sondern deren – natürlich baldigste – Umsetzung durch die Politik auch noch mit einer nicht mehr diskussionsbedürftigen Eindeutigkeit zu versehen. Trotz des Gewöhnungseffekts wird man immer wieder in Erstaunen versetzt, dass man sich offensichtlich in unseren komplexen Sozialsystemen mit einer derart schlafwandlerischen Sicherheit bewegen kann, völlig unbeeindruckt von den Widrigkeiten der Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik, die von den Betroffenen und den wirklichen sozialpolitischen Experten wahrgenommen und diskutiert werden.

Auch im diesjährigen Jahresgutachten widmen sie ganze Kapitel der Sozialpolitik. Da gibt es beispielsweise das Kapitel 7: Altersvorsorge: Drei-Säulen-Modell stärken. Das folgende Kapitel 8 befasst sich mit Flüchtlingsmigration: Integration als zentrale Herausforderung. Und dann setzen sie noch einen drauf mit dem Kapitel 9: Keine Kapitulation vor der verfestigten Arbeitslosigkeit. Und natürlich mussten auch sie zur Kenntnis nehmen, dass es eine intensive und sehr kritische Diskussion in unserem Land gibt hinsichtlich der Ungleichheit in der Gesellschaft. Was sie dann in diesem Kapitel verarbeitet haben: Starke Umverteilung, geringe Mobilität. Wen man es bis hierher geschafft hat, dann kommt Entlastung, denn die Weisen verlassen das sozialpolitische Terrain und sie arbeiten sich zum Ausklang an der Energiewende und der Transformation in China ab.

Nun gibt es im Jahresgutachten im ersten Kapitel eine Zusammenfassung, was man sich unter den angeblich notwendigen Reformen so vorstellt. Hier einige der sozialpolitisch besonders relevanten Leckerbissen, die man im Gutachten finden kann (S. 26 ff.):

Das Beschäftigungswachstum sollte in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt werden. »Ein flexibler Arbeitsmarkt mit einer hohen Qualifikation der Arbeitnehmer und entsprechenden Anreizen, produktive Leistung zu erbringen, ist langfristig am besten geeignet, um Beschäftigung sicherzustellen und wirtschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.« Und mit welchem Beispiel will der Rat das illustrieren?

»Ein gutes Beispiel dafür sind die Reformen der Agenda 2010, die in Wechselwirkung mit einer allgemeinen Lohnzurückhaltung dazu beigetragen haben, die Arbeitslosigkeit zu drosseln und damit einen weiteren Anstieg der Einkommensungleichheit zu verhindern. Eine höhere Umverteilung der Einkommen ist somit immer gegen die Schwächung des Anreizes abzuwägen, durch Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft hohe Markteinkommen zu erzielen.«

An dieser Stelle werden nicht nur diejenigen aufstöhnen, die tagtäglich erfahren müssen, dass die Kombination aus Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft eben oftmals nicht zu hohen Markteinkommen führen. Es werden sich auch Stimmen zur Wort melden, die zaghaft anfragen, ob nicht mit der Agenda 2010 der Auf- und Ausbau des größten Niedriglohnsektors in Europa einhergegangen ist, worauf Gerhard Schröder noch heute stolz ist.

Aber einfach vom Tisch wissen können die Wirtschaftsweisen natürlich nicht, dass wir ein echtes Ungleichheitsproblem haben. Sonst müsste man zu viele Ökonomen, die darauf hinweisen, für total bescheuert erklären und die Datenlage gibt denen ja auch noch an vielen Stellen recht. Also wählt man die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Zuerst hau man so eine Diagnose raus:

»Allerdings ist die Vermögensungleichheit in Deutschland hoch, und die Einkommens- und Vermögenspositionen sind verfestigt.«

Fast schon ist man bereit, Gefühle zu entwickeln, da schlägt die argumentative Guillotine zu:

»Der geringe Aufbau von privaten Nettovermögen hat verschiedene Gründe. So reduziert beispielsweise das bereits umfangreiche Steuer- und Sozialversicherungssystem gerade für einkommenschwächere Haushalte die Anreize und Möglichkeiten zur privaten Vermögensbildung.«

So ist das, wenn man die einkommensschwächeren Haushalte „zu gut“ absichert über den Sozialstaat, sie haben dann einfach keinen Anreiz mehr, privates Vermögen zu bilden. Darauf muss man erst einmal kommen und das sollte man den Betroffenen aber ganz schnell sagen.

Überhaupt kann man an diesem sensiblen Punkt exemplarisch verdeutlichen, wie gespalten der Sachverständigenrat zugleich ist, worauf Markus Sievers in seinem Artikel Wer hört noch auf die Weisen? hinweist. Anders ausgedrückt: Vier gegen einen:

»Grundlegende Differenzen zeigen sich auch in der Debatte über die Gerechtigkeit in Deutschland. Diese Diskussion werde hierzulande intensiv geführt, konstatieren die vier Mehrheitsökonomen. Das aber stößt auf ihr Unverständnis. „Allerdings ist die Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt weitgehend unverändert geblieben.“ Dagegen heißt es in einem Minderheitsvotum von Bofinger: „Bei der Entwicklung der Nettoeinkommen von Personen in Haushalten mit mindestens einem erwerbsfähigen Haushaltsmitglied hat sich seit dem Jahr 1999 eine deutliche Schere herausgebildet.“ Für die zehn Prozent am oberen Rand seien die Einkommen seitdem um zehn Prozent gestiegen, für die am unteren um zehn Prozent gefallen.«

Dass der Sachverständigenrat sogleich der immer wieder geforderten Wiederbelebung der Vermögenssteuer eine Absage erteilt, wird viele nicht wirklich verwundern. Aber was dann tun gegen die Ungleichheit, die sich zudem verfestigt hat?

Man ahnt es schon, da muss dann mal wieder die frühkindliche Bildung ran: »Dazu zählen Maßnahmen, die das Bildungssystem durchlässiger machen, sowie ein verpflichtendes, kostenfreies Vorschuljahr.«

Ja Wahnsinn. Für mehr Durchlässigkeit sind irgendwie alle und der konkrete Vorschlag mit einem „verpflichtenden, kostenfreien Vorschuljahr“ offenbart nicht nur hinsichtlich der Semantik das totale Zurückbleiben der sachverständigen Räte hinter einer jahrelangen Diskussion und Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Dass man im November 2016 eine Forderung in den Raum stellt, die man vielleicht um die Jahrtausendwende hätte aufstellen können, spricht für die totale Leerstelle, die man hier identifizieren muss.

Und der Arbeitsmarkt? Auch hier bleibt man in der eigenen Blase gefangen. Es wird dann zum einen darauf hingewiesen, dass wir mit Blick auf die Erwerbstätigen die bislang höchste Beschäftigtenzahl erreicht haben, zugleich aber ist bis zu den Wirtschaftsweisen das vorgedrungen, was Arbeitsmarktexperten seit vielen Jahren unter Begriffen wie verfestigte und verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit diskutieren. Dafür hat man natürlich ein Rezept aus der alten Hausapotheke: »Der Niedriglohnsektor ist für die Bewältigung dieser Herausforderungen der Dreh- und Angelpunkt.« Na klar, das war erwartbar:

»Aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Arbeitsangebots im niedrigproduktiven Bereich, beispielsweise durch den Arbeitsmarkteintritt von anerkannten Asylbewerbern, muss die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors weiter gestärkt werden … Zusätzlichen Maßnahmen, die Neueintritte behindern und Schutzwälle um die bereits Beschäftigen errichten, sollte eine Absage erteilt werden. Um die Arbeitnehmer von übermäßigen Anpassungserfordernissen abzuschirmen, dürften die bestehenden Mechanismen am Arbeitsmarkt wie Kündigungsschutz und Tarifbindung bereits hoch genug sein.«

Bitte? Ist die ganze Diskussion über die seit Jahren abnehmende Tarifbindung etwa an den Wirtschaftsweisen vorbeigegangen? Oder wollen sie das einfach nicht aufrufen?
Ja, natürlich, die Drängler unter den Lesern werden es wissen – jetzt ist der Mindestlohn nicht mehr weit weg.

»Der Mindestlohn stellt dabei eine Hürde für die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors dar, weil er die Entstehung von Arbeitsplätzen für Niedrigproduktive behindert. Diese Hürde ist im derzeitigen Konjunkturaufschwung mit Rekordbeschäftigungsstand und steigenden Löhnen geringer als bei einem Konjunkturabschwung.«

Sie werden sich nie abfinden mit dem Mindestlohn, was auch alles nicht passiert.

Zu den Arbeitsmarkt-Vorschlägen vgl. auch der Beitrag Wirtschaftsweise zur Langzeitarbeitslosigkeit: Deregulierung des Arbeitsmarktes soll helfen von O-Ton Arbeitsmarkt – mit dieser Anmerkung: »Im Übrigen interessant: Die bei fast allen Kapiteln des Gutachtens enthaltene „andere Meinung“ gibt es zum  Thema „verfestigte Arbeitslosigkeit“ nicht.«

Und das nur als Fußnote: Dass man offensichtlich in einem „weisen“ Gutachten am Ende des Jahrs 2016 das hier schreiben kann, zeigt die unauslöschliche Liebe zu völlig altbackenen Positionen:

»Ein erleichterter Zugang in geschützte Dienstleistungsbereiche, etwa durch Abschaffung des Meisterzwangs bei nicht gefahrgeneigten Berufen, könnte die Selbstständigkeit fördern.«

Auch hier hat man entweder die zahlreichen ernüchternden Erkenntnisse hinsichtlich der Nicht-Beschäftigungswirkungen der Deregulierung im Handwerk nicht zur Kenntnis genommen oder man ignoriert die geflissentlich, weil man nicht das kindliche Gottvertrauen in die Deregulierung an sich aufzugeben bereit ist. Dass ist aber selbst für Ökonomen ein trauriges Stück.

Wünschenswert sei eine stärkere Förderung der Qualifikation am unteren Ende der Qualifikationsskala. Und auch hier wird eine offensichtlich seit mehreren Jahrzehnte lebende Leiche ins Feld geführt: »Dies könnte zum Beispiel durch eine stärkere Modularisierung von Ausbildungswegen erreicht werden.« Wann endlich begreift man auch im Rat, dass gerade die breite und auch länger dauernde Ausbildung ein richtiges Pfund ist, das wir (noch) haben in unserem Land und dass die bestehenden Ausbildungen ein sicher wichtiger Faktor für die (noch) guten Rahmenbedingungen darstellen.

Beim Thema Flüchtlinge finden sich die üblichen salbungsvollen Worte hinsichtlich der besonderen Bedeutung einer Integration in Bildungseinrichtungen und/oder in Jobs. Konkreter:

»Fördermaßnahmen, wie Arbeitsgelegenheiten oder Lohnzuschüsse könnten sich für anerkannte Asylbewerber eher als für andere Arbeitslose als geeignet erweisen, um sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen … Die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt sollten niedrig gehalten werden. Denn flexible Beschäftigungsmöglichkeiten, beispielsweise Zeitarbeit und Werkverträge, sowie selbstständige Arbeit bieten Chancen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt.«

Und was ist mit dem so wichtigen Feld der Gesundheitspolitik? Auch hier nur altes Gebäck und konsequenterweise zitieren die Wirtschaftsweisen einfach nur noch aus ihren alten Gutachten, wenn es um das von ihnen erneut aufgerufen Ziel geht, „Ineffizienzen“ im Haifischbecken Gesundheitspolitik zu beseitigen:

»Dazu zählen die Stärkung der Vertragsfreiheit durch Ausweitung der Nutzung von Selektivverträgen (JG 2012 Ziffern 629 ff.), der Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung (JG 2012 Ziffer 635), die Wiedereinführung und ziel- führende Weiterentwicklung der Praxisgebühr (JG 2012 Ziffer 594), die Aufhe- bung des Fremd- und Mehrbesitzverbots von Apotheken (JG 2010 Ziffer 425) und die Ausdehnung von Kosten-Nutzen-Analysen im Arzneimittelbereich auf den Bereich der alternativen Medizin … Das jüngste Urteil des EuGH, das die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland im Widerspruch zu EU-Recht sieht, könnte mehr Wettbewerb unter Apotheken ermöglichen.«

Und mehr als schmunzeln muss man im Jahr 2016, wenn der Rat schreibt: »Außerdem hält der Sachverständigenrat die einkommensunabhängige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die Einführung einer Bürgerpauschale mit integriertem Sozialausgleich nach wie vor für die beste Finanzierungsform.« Warum soll man auch seine Meinung ändern, selbst wenn diese Diskussion nun schon seit Jahren beerdigt ist.

Ja, natürlich sagen sie auch was zur Rentenpolitik, die in diesen Tagen so im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Aber auch hier gilt – man sollte nichts erwarten, was einen irgendwie überraschen könnte und vor allem keine Auseinandersetzung mit dem nun mal komplexen Diskurs über das vielschichtige Alterssicherungssystem. Einige Empfehlung geben sie uns mit auf den Weg:

»Die Folgen des demografischen Wandels in der GRV lassen sich nicht beseitigen, aber abmildern. Dazu ist aus Sicht des Sachverständigenrates eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nach 2030 notwendig. Angesichts der steigenden ferneren Lebenserwartung bietet sich eine Kopplung an diese an, damit die relative Rentenbezugsdauer über die Zeit nicht weiter ansteigt. Dies würde bis zum Jahr 2080 bei einer Lebenserwartung von 88 Jahren für Männer und 91 Jahren für Frauen zu einem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 71 Jahren führen.«

Und wie ist das mit den Selbständigen und deren oftmals nur rudimentär vorhandene Alterssicherung?

»Eine Ausweitung des Versichertenkreises durch eine Pflichtversicherung von Selbstständigen in der GRV ist keine Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. Sie dürfte zu einer Leistungsausweitung für die heutige Rentnergeneration führen, während sich das Nachhaltigkeitsproblem für zukünftige Generationen verschärft. Der Sachverständigenrat plädiert hingegen für eine Vorsorgepflicht für Selbstständige, wobei Wahlfreiheit darin bestehen sollte, diese über die gesetzliche oder private Altersvorsorge zu erfüllen.«

Und auch das ist nicht überraschend – der Sachverständigenrat plädiert für eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung in Deutschland, also für einen weiteren Ausbau der kapitalgedeckten Systeme. »Mit einem stärkeren Gewicht auf die betriebliche und private, Riester-geförderte Altersvorsorge wird das System insgesamt krisenfester und federt gleichzeitig verschiedene Risiken ab«, wird einfach mal so behauptet, ohne auch nur zu zucken angesichts der vielfältigen Kritik an so einer Behauptung.

Besonders dreist ist die Bewertung der von vielen als gescheitert eingestuften Riester-Rente:

»In der privaten Altersvorsorge muss es darum gehen, den Verbreitungsgrad der Riester-Rente vor allem bei Geringverdienern zu erhöhen. Dabei dürften die Unkenntnis der Förderberechtigung, die (falsche) Annahme, später auf die Grundsicherung im Alter angewiesen zu sein, Marktintransparenz und fehlende finanzielle Bildung für den unzureichenden Verbreitungsgrad verantwortlich sein. Eine Verbesserung des Finanzwissens, eine allgemeine Förderberechtigung und mehr Transparenz wären daher sinnvoll.«

Die Leute, vor allem die in den unteren Einkommensbereichen, sind einfach zu blöd, die Ästhetik der Riester-Rente in all ihrer Pracht zu verstehen.

Aber auch hier muss wieder auf den Riss hingewiesen werden, der durch den Sachverständigenrat geht. Mit Peter Bofinger stellt ein Wirtschaftsweiser der Mehrheit bei fast allen wichtigen Punkten eine andere Position entgegen. Sieben Minderheitsvoten belegen die tiefen Meinungsverschiedenheiten. Dazu Markus Sievers in seinem Artikel am Beispiel der Riester-Rente:

»Das Mehrheits-Quartett lobt die Einführung der Riester-Rente als wichtigen und richtigen Schritt. Auch diese Einschätzung provoziert Widerspruch. Diese private Vorsorge mit staatlicher Unterstützung habe gerade bei den Menschen mit niedrigen Einkommen nicht zu einem erhöhten Sparaufkommen geführt, so Bofinger. Weil gleichzeitig aber die Leistungen der gesetzlichen Rente gekürzt wurden, drohe verstärkt Altersarmut.«

In Ordnung, alles muss ein Ende haben, so auch der kurze Ausflug in das sozialpolitische Niemandsland des Sachverständigenrats. Das ist insgesamt eine Nullnummer. Und erneut zeigt sich, dass es gut wäre, wenn man ein wirklich kompetentes Gremium zur Begleitung der Sozialpolitik hätte – wenn man ein überhaupt diesen Gremien noch irgendeinen Sinn zuschreiben möchte. Inhaltlich ist das, was man sozialpolitisch aus dem Gutachten serviert bekommt, ein extrem einseitiges und an vielen Stellen völlig von den Forschungsbefunden und den praktischen Erfahrungen in den Sozialsystemen entkoppeltes Gebräu aus angebotsorientierter Ökonomen-Denke, die uns in keinerlei Hinsicht weiterhilft.

Ein „neuer“ sozialer Arbeitsmarkt? Auf alle Fälle ein weiterer Vorstoß hin zu einer auf Dauer angelegten öffentlich geförderten Beschäftigung für einen Teil der Erwerbslosen

Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland, es leidet auch unter einer in manchen Regionen überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit, die sich dort dann oftmals in Form eines hohen Anteils langzeitarbeitsloser Menschen ausformt. Im Jahr 2015 lag der jahresdurchschnittliche Bestand aller Arbeitslosen in NRW bei 744.000 Menschen. 43,6 Prozent von ihnen wurden statistisch als Langzeitarbeitslose ausgewiesen, das waren 324.000. Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland, das die meisten Kreise mit besonders hohen Anteilen an Langzeitarbeitslosen aufweist. Und: Fünf der zehn Kreise mit den bundesweit höchsten Anteilen Langzeitarbeitsloser lagen im vergangenen Jahr in Nordrhein- Westfalen.

Das alles und noch viel mehr kann man dieser gerade erst veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit entnehmen:

Frank Bauer et al.: Langzeitarbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Entwicklungen und Abgänge in Beschäftigung. (IAB-Regional. Berichte und Analysen aus dem Regionalen Forschungsnetz. IAB Nordrhein-Westfalen 02/2016), Nürnberg 2016

Und das, was in der Arbeitsmarktforschung und in der Praxis als „Verfestigung und Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beschrieben und beklagt wird, kann man gerade in Nordrhein-Westfalen in aller Schärfe beobachten. Vor allem in den Ruhrgebietsstädten und teilweise auch in der Rheinschiene hat sich dieses Problem förmlich versteinert.

Die neue IAB-Studie berichtet, dass im vergangenen Jahr »etwa die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen zur Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen (gehörte), auf die somit knapp ein Viertel aller Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen entfiel. Bei dieser Gruppe ist somit die Langzeitarbeitslosigkeit bereits ein lang andauernder Zustand« (S. 44 f.), wobei der Terminus „arbeitsmarktfern“ an den Maßstäben des gegebenen Arbeitsmarktes und den dort vorfindbaren Anforderungen ausgerichtet ist. Die hochgradige Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit nimmt im Hinblick auf ihre quantitative Verbreitung in Nordrhein-Westfalen einen alarmierenden Stellenwert ein.

Die Diagnose ist das eine, die Frage „Was tun?“ das andere. Auch dazu findet man in der Studie von Frank Bauer et al. zwei zentrale Hinweise:

Zum einen: Arbeitslosigkeit möglichst frühzeitig nach ihrem Eintreten zu beenden – das muss ein zentrales arbeitsmarktpolitisches Ziel sein.

»Unter den Merkmalen, die Langzeitarbeitslosigkeit begünstigen und einen Übergang in Beschäftigung erschweren, ist insbesondere das Problem fehlender beruflicher Zertifikate schwerwiegend. Anders als z. B. das Alter oder die Nationalität, das Geschlecht oder eine Schwerbehinderung kann aber dieses Problem unmittelbar arbeitsmarktpolitisch bearbeitet werden. Gerade angesichts der für Nordrhein-Westfalen besonders auffälligen Problematik einer großen Zahl von jungen Langzeitarbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist der Bedarf an zusätzlichen Möglichkeiten, hier zu qualifizieren, eindeutig.« (S. 46 f.)

Und zum anderen wird der Blick auf die Gruppe der „arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen“ gerichtet:

»Für einen Teil der Langzeitarbeitslosen, insbesondere die “arbeitsmarktfernen“ Arbeitslosen, dürfte ein Zustand prägend werden, der als „sekundärer Integrationsmodus“ … beschrieben wird. Hier ist ein Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und eine nur ausnahmsweise und kurzzeitige Beschäftigung prägend für die Erwerbsbiografie. Für Teile dieser Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen, deren Erwerbsbiografie nachhaltig durch die Abwesenheit von Erwerbsarbeit geprägt ist, scheint die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes, der durch längere Förderketten öffentlich geförderter Beschäftigung gekennzeichnet ist, die einzige Lösung zu sein, um eine Erwerbsintegration noch gewährleisten zu können.« (S. 46).

Damit sind einzelne arbeitsmarktpolitische Förderkomponenten aufgerufen, die seit vielen Jahren unermüdlich sowohl aus der Wissenschaft wie auch der Praxis immer wieder gegenüber der Politik angemahnt werden, deren Realisierung aber nicht nur wegen fehlender finanzieller Ressourcen, sondern auch angesichts eines mit Blick auf diese Strategie völlig kontraproduktiven, restriktiven Förderrechts blockiert und verhindert wird (vgl. dazu ausführlicher und lösungsorientiert Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle daran denken, dass doch gerade aus NRW immer wieder unterstützende Stimmen zu hören waren und sind, die Arbeitsmarktpolitik in Richtung auf die Ermöglichung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ umzubauen. Und dass die Landesregierung seit 2013 „Modellprojekte öffentlich geförderter Beschäftigung in NRW“ auf den Weg gebracht hat. Diese Projekte basieren auf § 16e SGB II (Förderung von Arbeitsverhältnissen) und sie werden vorwiegend von gemeinnützigen Beschäftigungsträgern umgesetzt. Diese Modellprojekte ermöglichen eine sozialversicherungspflichtige (in der Regel) Vollzeitbeschäftigung. Die wird zudem durch Coaches begleitet, die überwiegend sozialpädagogisch qualifiziert sind, so dass eine zusätzliche Stabilisierung des Beschäftigungsverhältnisses und eine persönliche Unterstützung der Geförderten bei Bedarf gewährleistet sind.

Diese Modellprojekte sind wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden. 2016 wurde der IAB-Forschungsbericht Ergebnisse der Evaluation der Modellprojekte öffentlich geförderte Beschäftigung in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Darin findet man diese Zusammenfassung:

»Will man ausgewählte Ergebnisse der Teilnahme an den Modellprojekten in den Fokus nehmen, so ist zunächst auf die deutlichen Teilhabeeffekte zu verweisen: Sozialversicherungspflichtige geförderte Beschäftigung, die sozialpädagogisch flankiert wird, erzielt starke Effekte der sozialen Teilhabe während der Teilnahme. Zusätzlich kann eine Verflechtung der geförderten Beschäftigung mit kommunalen Dienstleistungen nach § 16a SGB II über die Begleitung durch Jobcoaches implementiert werden, da hier eine Arbeitsbeziehung zwischen Begleiter und Klient entstehen kann, die überhaupt erst den Zugang zu Problemen schafft, die der professionellen Bearbeitung bedürfen. Für viele Geförderte ist die Aufnahme einer Beratung zugleich der Beginn einer Bearbeitung der persönlichen Probleme, die den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigen. Mit der Teilnahme am Modellprojekt haben sich für viele Beschäftigte erwünschte Zustandsveränderungen ergeben, wie verbesserte Zukunftsaussichten, eine Erhöhung von Ausdauer, Kondition und Leistungsfähigkeit, eine verbesserte materielle Situation sowie ein erhöhter sozialer Status (…) Die Evaluation deutet darüber hinaus arbeitsmarktpolitische Desiderate an. Es gibt unter den Teilnehmenden an den Modellprojekten auch eine qualifizierte Minderheit, die nach eigenem Urteil und nach dem Urteil der Sozialpädagogen (noch) nicht für den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt gerüstet ist. Es gibt Personen, die Überforderungsgefühle artikuliert haben und bei denen keine nennenswerten Entwicklungen bewirkt oder beobachtet werden konnten. Das sind Indikatoren für den Bedarf nach einem sozialen Arbeitsmarkt für Personen, die länger brauchen als maximal 2 Jahre, um wieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt einsteigen zu können. Neben den Personen, bei denen durch die gebotenen Unterstützungsleistungen Entwicklungen erzielt werden konnten, die optimistisch in die Zukunft am Arbeitsmarkt blicken lassen, enthält die Zielgruppe systematisch auch solche Personen, die solche kurz- und mittelfristigen Aussichten nicht haben, die aber dennoch erwerbsfähig und erwerbsorientiert sind. Für diese Untergruppen fehlen bislang Fördermöglichkeiten.« (S. 22 f.)

Und für die letztgenannte Gruppe unter den Arbeitslosen soll nun auch was angeboten werden, das über die wenigen bestehenden Möglichkeiten weit hinausreichen würde. Der DGB NRW plädiert für einen „neuen sozialen Arbeitsmarkt“. Und sicher mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen im Frühjahr 2017 wird die Landesregierung zum konkreten Handeln aufgefordert, auch hinsichtlich der Finanzierungsbeteiligung. Unter der Überschrift DGB NRW: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren hat der DGB sein Modell für die Öffentlichkeit skizziert und passenderweise gleich beim Landesparteitag der regierenden SPD präsentiert.

„Über 300.000 Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos und haben so gut wie keine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, so wird der Vorsitzende des DGB NRW, Andreas Meyer-Lauber, zitiert. Grund dafür sei ein Mangel an Arbeitsplätzen für Un- oder Angelernte in der Privatwirtschaft. „Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Diese Menschen profitieren kaum von der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes. Deshalb muss hier die öffentliche Hand einspringen.“
Was also schlägt der DGB NRW vor?

Der DGB NRW schlägt vor, zunächst 10.000 Plätze bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen. „Uns ist wichtig, dass diese Stellen sozialversicherungspflichtig sind und die gültigen Tarifverträge eingehalten werden“, erklärte Meyer-Lauber. „Damit für die Beschäftigten tatsächlich eine Perspektive entsteht, müssen die Arbeitsplätze unbefristet sein. Und wir möchten, dass sich jeder Langzeitarbeitslose freiwillig auf die Stellen bewerben kann. In einem Auswahlverfahren wird dann die Person ausgewählt, die sich am besten für die Tätigkeit eignet.“ Entstehen könnten die Beschäftigungsverhältnisse überall dort, wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“

Natürlich stellt sich neben anderen Fragen sofort die nach der Finanzierung, also was „kostet“ das, was der DGB da vorschlägt. Dazu kann man der Pressemitteilung entnehmen:

»Finanziert werden solle der Neue soziale Arbeitsmarkt über einen Passiv-Aktiv-Transfer und Mittel des Landes. Nach groben Schätzungen würde dieser Landeszuschuss pro Arbeitsplatz und Monat etwa 1.100 Euro brutto betragen.«

Wie kommen die auf so einen Betrag? Und was hat es mit dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ (PAT) auf sich?

Die Grundidee, die hinter dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ steht, ist die einer (aktiven) Finanzierung von Arbeit statt der (passiven) Erwerbslosigkeit. Man nimmt die sowieso zu zahlenden (passiven) Leistungen und verwendet diese für die Mitfinanzierung einer „normalen“ Erwerbsarbeit – das „normal“ bezieht sich auf den Tatbestand, dass es sich nicht um eine Arbeitsgelegenheit („Ein-Euro-Job“) handelt, sondern um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die mindestens nach dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden muss. An diesem Punkt ist der Vorschlag des DGB NRW dahingehend abweichend, dass für eine Entlohnung nach den Tarifvertragsbestimmungen für den öffentlichen Dienst plädiert wird.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht den PAT in einem Rechenmodell:
So könnte mit dem Geld, das jeder Langzeitarbeitslose automatisch erhält, bereits gut 50% einer regulären Vollzeitanstellung mit 39 Stunden pro Woche finanziert werden, wenn diese nach dem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von derzeit 8,50 Euro pro Stunde vergütet wird. Bei einer Teilzeitstelle mit 30 Stunden pro Woche läge der Anteil bereits bei fast 70%. In dem Modell, das in der Abbildung dargestellt ist, wurde mit gerundeten Bundesdurchschnittswerten gerechnet.

Für den Vorschlag des DGB NRW kann man folgende überschlägige Kostenkalkulation aufstellen:
Ausgangspunkt ist die Forderung, 10.000 Plätze zu schaffen und diese nicht nach dem gesetzlichen Mindestlohn (der im allgemeinen Rechenmodell zum PAT in der Abbildung verwendet wurde), sondern die Beschäftigten in der untersten Tarifgruppe für den öffentlichen Dienst einzustufen, was einen höheren Betrag für den Arbeitnehmer (und damit natürlich auch für den Arbeitgeber) zur Folge hat. In der Kalkulation wird mit TV-L 1 gerechnet.

Das Arbeitgeberbrutto bei TV-L 1 beträgt 2.009,05 Euro, das sind 317 Euro mehr als bei einer Vollzeitstelle mit Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn (zur Info: Arbeitnehmerbrutto wäre 1.681 Euro ohne Jahressonderzahlung, netto käme der oder die Beschäftigte auf 1.063 Euro). Der in der Abbildung zum PAT errechnete notwendige Markterlös bzw. der über einen öffentlichen Zuschuss zu finanzierende Betrag von 783,33 Euro steigt also auf 1.100 Euro (weil eine höhere Vergütung als bei Anwendung des gesetzlichen Mindestlohns wie in der allgemeinen Modellrechnung zum PAT unterstellt angesetzt wird).

Bei 10.000 Plätzen bedeutet das: Zusätzlich zu den einzubringenden Hartz-IV-Leistungen von 910 Euro pro Platz und Monat (= 9,1 Millionen Euro passive Leistungen) müssten noch 11 Millionen Euro pro Monat aufgebracht werden. Hierbei handelt es sich um die anfallenden Brutto-Kosten.
Hinsichtlich der Gesamtkosten (brutto) ergeben sich pro Jahr Brutto-Kosten in Höhe von 132 Mio. Euro für 10.000 Plätze. Man muss an dieser Stelle anmerken, dass diese Kosten und damit auch das ausgewiesene Kostendifferential zwischen den aktivierten Hartz IV-Leistungen und dem Arbeitgeberbrutto in Höhe von 1.100 Euro pro Monat und Platz ausschließlich auf die Personalkosten der so Beschäftigten bezogen sind. Weitere mögliche Kosten, beispielsweise für Anleiter oder Betreuer, sind in diesem Betrag nicht enthalten, müssten aber ggfs. mit kalkuliert werden.

Allerdings sollte unbedingt darauf hingewiesen werden, dass für eine faire Beurteilung des notwendigen finanziellen Einsatzes nicht nur die Brutto-Kosten betrachtet werden dürfen, sondern die Netto-Kosten müssen ins Blickfeld genommen werden. Und gerade im vorliegenden Fall ist der Unterschied zwischen Brutto- und Nettokosten eben nicht trivial, sondern kann eine Bewertung maßgeblich verändern, wenn man volkswirtschaftlich an die Sache herangeht.
Für eine Berechnung der Netto-Kosten muss man wissen, um nur drei Punkte zu nennen:

  • Die Rückflüsse (wie in der PAT-Abbildung) in Form von Steuern und Sozialabgaben sind bei den 132 Mio. Euro Brutto-Kosten pro Jahr für 10.000 Plätze  im NRW-Fall noch nicht berücksichtigt.
  • Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die kostensenkenden Effekte durch eine Erwerbsarbeit beispielsweise bei den Krankenkassen (die übrigens im PAT-Modell deutlich höhere Einnahmen haben als bei den passiven Leistungsempfängern, denn für die gibt es nur eine Pauschale, die (zu) niedrig angesetzt ist – damit profitieren auch die „normalen“ Versicherten, die ansonsten die Kassenausgaben, wenn sie höher sind als die Einnahmen, durch die nur von ihnen zu leistenden Zusatzbeiträge finanzieren müssen).
  • Auch nicht berücksichtigt sind natürlich die Wertschöpfungseffekte vor Ort durch die konkrete Beschäftigung der ehemaligen Langzeitarbeitslosen.

Wenn man das einberechnen würde, dann schmilzt der Brutto-Kostenbetrag bei einer Netto-Betrachtung ganz erheblich zusammen.

Wie nun ist die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Realisierung des DGB NRW-Modells einzuschätzen und gibt es darüber hinaus kritische Anmerkungen aus Sicht der grundsätzlichen Befürworter einer Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung?
Hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit kann man natürlich zwei kritische Punkte identifizieren:
  1. Zum einen ist es so, dass das Modell die Aktivierung der passiven Hartz IV-Leistungen für die anteilige Finanzierung der Erwerbsarbeit vorsieht. Das ist nicht nur in der Abbildung zum PAT-Modell leichter geschrieben als getan, denn alle bisherigen Anläufe zur Umsetzung des PAT-Gedankens waren und sind konfrontiert mit der Problematik, dass diese Mittel eben nicht aus einem Topf kommen, den man ausschütten kann für die beabsichtigte Beschäftigung, sondern wir haben es hier mit Bundesmitteln, aber auch – wenn wir an die Kosten für Unterkunft denken, mit kommunalen Mitteln zu tun. Grundvoraussetzung für eine Umsetzung des PAT-Modells wäre also vereinfacht gesagt die Bereitschaft aller beteiligten Akteuere, „ihre“ Mittel gleichsam in einen Fonds einzubringen, aus dem dann das Geld für die Mitfinanzierung entnommen werden kann. Der DGB NRW selbst weiß um diese Problemstelle, denn in der Pressemitteilung wird der Vorsitzende so zitiert: „Wenn sich die Bundesregierung beim Passiv-Aktiv-Transfer querstellt, appelliere ich an die Landesregierung, das Programm trotzdem zügig zu starten.“ Das würde den sowieso schon vom Land zu finanzierenden Anteil – siehe den nächsten Punkt – nochmals erhöhen.
  2. Zum anderen müsste das Land in dem vorgeschlagenen Modell das ausgewiesene (Brutto-)Kostendifferential in Höhe von 1.100 Euro pro Platz und Monat gegenfinanzierten. Hier hilft im engeren Sinne der Hinweis auf die enormen Rückflüsse und Einsparungen an anderer Stelle nicht wirklich, denn diese fallen ganz überwiegend in anderen Bereichen unseres versäulten Steuer- und Sozialversicherungssystems an. Vom Land wird hier also eine Art „Ausfallfinanzierung“ für andere Akteure erwartet – angesichts der Haushaltslage des Landes kann man die tatsächliche Bereitschaft des Landes dazu nüchtern als sehr unwahrscheinlich einschätzen.

Aber selbst wenn es uns gelänge, das angesprochene bestehende Dilemma einer notwendigen Fondslösung aller Akteure für die Realisierung des PAT doch aufzulösen und die passiven Leistungen für die Mitfinanzierung der Arbeitsplätze verwenden zu können, muss man gerade aus Sicht der Befürworter einer umfassenden Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung kritische Anfragen an den DGB NRW-Vorschlag stellen:

Vorgesehen ist in dem Modell, die geförderten Arbeitsplätze „bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen“ und mit Blick auf die Tätigkeitsfelder wird die kommunale Begrenzung des Modells weiter verstärkt, denn gefördert werden sollen Arbeitsplätze dort, »wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“« An dieser Stelle ist die Fachdiskussion über eine notwendige Reform der öffentlich geförderten Beschäftigung schon seit Jahren wesentlich weiter entwickelt und gerade an dem Punkt der Frage, welche Tätigkeiten gefördert werden können, liegt ein substanzieller Unterschied zum DGB NRW-Modell. Nicht nur in meinem Vorschlag für eine Hilfe zur Arbeit 2.0 wird dafür plädiert, die Tätigkeitsfelder einer neuen öffentlich geförderten Beschäftigung gerade nicht zu begrenzen auf randständige Beschäftigungsfelder im kommunalen Raum (die durchaus für den einen oder anderen relevant und hilfreich sein können), sondern die öffentlich geförderte Beschäftigung am, mit und im „ersten Arbeitsmarkt“ zu realisieren.

Dazu sei beispielhaft Matthias Knuth vom IAQ zitiert aus seiner profunden Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags Nordrhein-Westfalen am 26.8.2015 unter der Überschrift „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ – Förderung eines dauerhaften sozialen Arbeitsmarktes:

»Die öffentlich geförderte Beschäftigung als „Sozialen Arbeitsmarkt“ neu zu konzipieren, impliziert die Überwindung der bisherigen strikten ordnungspolitischen Trennung zwischen „erstem“ und „zweitem“ Arbeitsmarkt und die Einbeziehung privatwirtschaftlicher Arbeitgeber in die soziale Verantwortung für Menschen, die bisher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Ein Sozialer Arbeitsmarkt würde bestehen aus (1) privaten erwerbswirtschaftlich orientierten Arbeitgebern, die Lohnkostenzuschüsse und bei Bedarf unterstützende Dienstleistungen (Qualifizierung, Coaching, Konfliktmoderation) für die Beschäftigung von einzelnen bisher Ausgegrenzten nutzen, die sie in ihre Belegschaften integrieren; (2) Sozialen Unternehmen, für die die Beschäftigung von andernfalls Ausgegrenzten ein vorrangiges Unternehmensziel darstellt, die aber gleichwohl strategisch auf Produkt- oder Dienstleistungsmärkten agieren1; und (3) traditionellen Beschäftigungsträgern, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, damit aber keine oder keine nennenswerten Markterlöse erzielen. Integrationsunternehmen i.S.v. §132 SGB IX könnten in der Kategorie (2) tätig werden, indem sie ihre Belegschaften um förderungsberechtigte Nichtbehinderte erweitern, oder sie könnten ihr know-how nutzen, um sich mit einem zusätzlichen Geschäftszweig im Sozialen Arbeitsmarkt zu diversifizieren … alle Arbeitgeber eines Sozialen Arbeitsmarktes (sind) auf ergänzende Kostendeckungsbeiträge in erheblicher Größenordnung angewiesen. Dieses sind für privatwirtschaftliche Arbeitgeber ebenso wie für Sozialunternehmen Erlöse in Produkt- oder Dienstleistungsmärkten; Beschäftigungsträger ohne Markterlöse sind auf ergänzende Förderungsquellen angewiesen, z.B. auf Zuwendungen des Landes oder von Kommunen im Zusammenhang mit unentgeltlich erbrachten Dienstleistungen.

Der Zwang zur Erzielung von Markterlösen und zum Umgang mit Kunden hat den positiven Effekt, dass die Arbeitsbedingungen im Sozialen Arbeitsmarkt denen im allgemeinen Arbeitsmarkt sehr ähnlich sein müssen. Dieses bietet die Chance, dass ein Teil der Beschäftigten in den ungeförderten Arbeitsmarkt hineinwächst. Sie werden von privaten Arbeitgebern dauerhaft übernommen, oder sie bekommen eine ungeförderte Dauerstellung als Stammkräfte bei Sozialen Unternehmen. Dadurch können die bisher stets zu beobachtenden „Einbindungseffekte“ der öffentlich geförderten Beschäftigung verringert werden. Man sollte diesbezüglich keine überzogenen Erwartungen haben, aber von einem Sozialen Arbeitsmarkt mit Anbindung an Produkt- und -dienstleistungsmärkte sind – bei gleicher Zusammensetzung der geförderten Personen – mehr Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erwarten als von einer geförderten Beschäftigung in einem abgeschotteten „Zweiten Arbeitsmarkt“.« (Knuth 2015: 4)

Genau in die Richtung sollte und muss eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen und daran sollten alle Vorstöße auch gemessen werden.
Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann ist der Vorstoß des DGB NRW zwar zu begrüßen, setzt er das Thema doch wieder auf die politische Agenda, und auch Merkmale wie unbedingte Freiwilligkeit der zu beschäftigenden Personen und eine an tariflichen Maßstäben gebundene Vergütung sind positiv hervorzuheben. Auch die Tatsache, dass eine der Lebenslügen der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die grundsätzliche und seit Jahren faktisch immer kürzer werdende Befristung der Förderung hier aufgehoben werden soll, ist als Pluspunkt zu vermerken.

Aber zu kurz gesprungen kommt das Modell rüber hinsichtlich der Ausgestaltung der Tätigkeitsfelder. Überhaupt nicht angesprochen werden in dem Vorschlag die eben auch notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen für eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung, denn die muss professionell organisiert und durchgeführt werden. Dazu auch der Hinweis von Matthias Knuth in seiner Stellungnahme für den nordrhein-westfälischen Landtag: »Der Stellenwert von Sozialunternehmen oder Sozialbetrieben in der Arbeitsmarktpolitik war in den 1990er Jahren schon einmal weiter entwickelt. Derartige unternehmerische Strukturen wieder aufzubauen und in geeigneten Märkten zu etablieren, wird auch strukturelle oder projektförmige Anschub- und Aufbaufinanzierung erfordern und ist allein mit Lohnkostenförderung für die Beschäftigten nicht zu erreichen.« (Knuth 2015: 6 f.)

Nicht vergessen werden sollte bei einer kritischen Analyse die Einordnung des DGB-Vorschlags die quantitativen Dimensionen: Bei mehr als 320.000 Langzeitarbeitslosen in NRW, darunter mehr als 160.000 sogenannte „arbeitsmarktferne“ Langzeitarbeitslose, wären selbst 10.000 Plätze nicht wirklich ein Durchbruch, sondern eher ein größerer Tropfen auf den heißen Stein.
Insgesamt kann man nur hoffen, dass der Vorstoß des DGB NRW einen weiteren Impuls setzen kann, über die dringend erforderliche grundsätzliche Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik überhaupt noch zu diskutieren. Notwendig wäre allerdings ein größerer Sprung nach vorn und die Überwindung des auch bei diesem Modell gegenüber der öffentlich geförderten Beschäftigung erkennbaren Angst des Torwarts vorm Elfmeter, um das mentale Hindernis mal allegorisch auszudrücken.