Wenn hessische Unternehmerverbände was gegen Langzeitarbeitslosigkeit machen wollen – und ein „Spielhallenverbot für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger“ herauskommt

Es ist unbestritten und mehr als offensichtlich – die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit ist eines der drängten Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Und jeder Akteur auf dem Arbeitsmarkt sollte seinen Beitrag leisten, um den betroffenen Menschen Chancen auf Teilhabe über Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Und es ist ohne Zweifel von großer, wenn nicht zentraler Bedeutung, dass die Arbeitgeber mitziehen bei der Integration erwebsloser Menschen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund freut man sich angesichts der ebenfalls zu konstatierenden Verdrängung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit sowie einer an vielen Orten und bei vielen Menschen anzutreffenden Distanz gegenüber Hartz IV-Empfänger erst einmal, wenn sich die Vereinigung der hessischen Unternehmensverbände (VhU) zu Wort meldet mit einem Plan, der überschrieben ist mit 15 Punkte für weniger Langzeitarbeitslosigkeit in Hessen. „Die verfestigte Zahl der Langzeitarbeitslosen ist jedoch weiterhin Grund zur Sorge. In Hessen gibt es immer noch rund 64.000 Langzeitarbeitslose, davon die meisten im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Trotz der guten Lage am Arbeitsmarkt sind dies immer noch genauso viele wie im Jahr 2012″, so wird  Volker Fasbender, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU), zitiert. Dann aber stutzt man, was der Vereinigung bzw. dem Herrn Hauptgeschäftsführer offensichtlich besonders wichtig ist bei den Maßnahmen im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit.

Grundsätzlich wird anerkannt, dass Menschen, die ihre Existenz nicht aus eigenen Mitteln sichern könnten, zu Recht von der Allgemeinheit mit Arbeitslosengeld II unterstützt würden. Dann aber kommt das hier:

»Im Gegenzug müssen Leistungsbezieher aber auch alles in ihrer Kraft stehende tun, um ihre Hilfsbedürftigkeit und die ihrer Familie so schnell wie möglich durch Arbeit oder Weiterbildung zu beenden. Der Besuch von Spielhallen und das Verschwenden von Zeit und Hilfsleistungen beim Glücksspiel sind hiermit absolut unvereinbar. Betreiber von Spielhallen in Hessen sind bereits jetzt gesetzlich verpflichtet, spielsuchtgefährdete oder überschuldete Personen auszusperren und dies in eine Datei einzutragen. In diese Sperrdatei sollten auch arbeitslose Arbeitslosengeld-II-Empfänger eingetragen werden. Wir fordern die hessische Landesregierung und den Landtag auf, die Jobcenter hierzu zu verpflichten und das hessische Spielhallengesetz entsprechend zu ändern. Dies wäre ein wichtiges Signal dafür, dass Arbeitslosengeld II den Empfänger verpflichtet, mit ganzer Kraft selbst nach einer Beschäftigung zu suchen, mit der er sobald wie möglich wieder auf eigenen Füßen steht«, so Volker Fasbender.«

Warum, wird der eine oder andere fragen, soll eine ganz bestimmte Gruppe herausgegriffen und mit einem Spielhallenverbot belegt werden? Wenn man schon auf solche Gedanken kommt, warum dann nicht auch andere Gruppen? Wie wäre es mit Vätern, die unterhaltspflichtig sind und das Geld verpulvern, ohne dem Kind seinen Anteil zukommen zu lassen? Oder oder oder.

Was sagen die Praktiker aus den Jobcentern dazu? In seinem Artikel Kasinoverbot für Hartz IV-Empfänger? zitiert Rainer Hahne einen hessischen Jobcenter-Geschäftsführer, der die Sichtweise vieler auf den Punkt bringt:

Mit Unverständnis reagierte Stefan Schäfer, Geschäftsführer Jobcenter Stadt Kassel, auf die Forderung, seine Kunden automatisch in die Sperrdatei eintragen zu lassen. „Wir haben keine Erkenntnisse darüber, dass Spielsucht und dadurch eine Verschuldung zu den großen Problemen der Kunden unsers Jobcenters gehören. Außerdem gibt es bei uns in Deutschland das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das sollte man beibehalten und die Menschen nicht bevormunden. Rechtlich ist das meiner Meinung nach derzeit sowieso völlig ausgeschlossen.  Und wie sollte man das praktisch durchsetzen?  Das Wort Datenschutz will ich hier gar nicht nennen.“

Unabhängig von diesen richtigen Einwänden – der Vorschlag aus den Reihen der hessischen Unternehmerverbände ist ein weiterer trauriger Höhepunkt der gruppenbezogenen Stigmatisierung und öffentlichen Etikettierung „der“ Hartz IV-Empfänger. Vgl. dazu beispielsweise diesen Beitrag vom 2. September 2016: Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen.

Und besonders zu beklagen ist die Tatsache, dass mit solchen Vorschlägen wie einem „Spielhallenverbot für Hartz IV-Empfänger“ und den mit diesem Vorschlag ausgelösten Assoziationen bei vielen Menschen, die nur das lesen oder hören, eine hoch problematische Entwicklung befördert wird, die bereits in dem Beitrag Irrungen und Wirrungen der Diskussion über „den“ Arbeitsmarkt, „die“ Arbeitslosen – und natürlich darf „die“ Armut nicht fehlen vom 7. April 2015 angesprochen wurde – mit erschreckenden Zahlen aus einer Studie:

Im Jahr 2014 wurde die die folgende Studie veröffentlicht: Andreas Zick und Anna Klein: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Bonn 2014.

In der Zusammenfassung dieser Studie findet man eine Abbildung mit der Darstellung der Zustimmungswerte zu einzelnen Facetten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in der Gesellschaft und deren Teilgruppen weit verbreitet. Schaut man sich die konkreten Ausprägungen innerhalb der Bevölkerung genauer an, dann überraschen auf den ersten Blick sicher nicht solche Anteilwerte: 44 Prozent hinsichtlich der Abwertung asylsuchender Menschen oder 26,6 Prozent hinsichtlich der Abwertung von Sinti und Roma. Das was irgendwie zu erwarten. Aber dass der absolute Spitzenreiter hinsichtlich der Abwertung einer Gruppe mit 47,8 Prozent die langzeitarbeitslosen Menschen betrifft, wird sicher viele überraschen und erschrecken. Anders ausgedrückt: Nach dieser Studie sind es die langzeitarbeitslosen Menschen, denen die meisten Abwertung und Abneigung entgegenschlägt – noch vor den Asylsuchenden oder den Sinti und Roma. Das ist ein erschütterndes Ergebnis. Es verdeutlicht, wie weit fortgeschritten und radikalisiert das ist, was als Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung von Arbeitslosigkeit bezeichnet wurde.

Dazu wurde nun einer weiterer Beitrag geleistet unter dem scheinbar hehren Ziel, Langzeitarbeitsarbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen.

Nachtrag (11.11.2016): Wie viele Menschen sind eigentlich „spielsuchtgefährdet“ bzw. „glückspielsüchtig“, denn der Hinweis darauf taucht ja bei der Begründung für die Forderung nach einem Spielhallenverbot für Hartz IV-Empfänger auf. Eine wissenschaftliche fundierte Antwort versucht diese Studie zu geben:

Haß, Wolfgang und Lang, Peter (2016): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland. Ergebnisse des Surveys 2015 und Trends. Forschungsbericht der BZgA. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Januar 2016.

Aus der Zusammenfassung der Ergebnisse:

»Wie auch in den vorangegangenen Befragungen der BZgA zum Glücksspielverhalten wird mit der South Oaks Gambling Screen (SOGS) ein international verbreitetes Verfahren zur Klassifizierung des Schweregrades glücksspielassoziierter Probleme bzw. Symptome eingesetzt … Die Befragung 2015 kommt für die 16- bis 70-Jährigen bevölkerungsweit auf eine Schätzung der 12-Monats-Prävalenz des pathologischen Glücksspiels von 0,37 % (männliche Befragte: 0,68 %, weibliche: 0,07 %) und des problematischen Glücksspiels von 0,42 % (männliche Befragte: 0,66 %, weibliche: 0,18 %). Gegenüber der Befragung 2013 finden sich damit nur geringe, statistisch nicht signifikante Rückgänge sowohl des problematischen als auch des pathologischen Spielverhaltens. Am stärksten mit glücksspielassoziierten Problemen belastet erweisen sich im Jahr 2015 Männer mit einer Quote von 2,69 % bei den 21- bis 25-Jährigen und 2,43 % bei den 36- bis 45-Jährigen. Der Anteil Jugendlicher mit problematischem Glücksspielverhalten ist gegenüber 2013 nur geringfügig und statistisch nicht signifikant von 0,13 % auf 0,37 % angestiegen. Dies ist auf einen Anstieg bei den Jungen zurückzuführen; im Jahr 2015 ist bei keinem der befragten Mädchen ein problematisches Glücksspielverhalten festzustellen … Männliches Geschlecht, ein Alter bis 25 Jahre, ein niedriger Bildungsstatus und ein Migrationshintergrund erhöhen das Risiko für mindestens problematisches Glücksspielverhalten. Wird die Nutzung verschiedener Glücksspielformen betrachtet, finden sich bei Keno und Geldspielautomaten die höchsten Risiken.«

Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig

Sie haben es wieder getan. Wie jedes Jahr im oftmals trüben November haben sie ihr Jahresgutachten der Bundesregierung in Gestalt der Bundeskanzlerin höchstpersönlich übergeben. Gemeint sind die umgangssprachlich als „fünf Wirtschaftsweise“ titulierten derzeit vier Herren und eine Dame, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden. Es handelt sich um ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Der Rat wurde durch ein Gesetz im Jahre 1963 installiert mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. In der eigenen Aufgabenbeschreibung des Rates findet man neben der durchaus nachvollziehbaren Aufforderung, sich mit Wirtschaftsthemen zu befassen, u.a. diesen Hinweis: »Aufzeigen von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung, jedoch ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen.« Das sollten wir uns mal merken.

Das Jahresgutachten 2016/17 steht unter der wie auf einem Wahlplakat gedruckten Überschrift „Zeit für Reformen“. Und gleich im Vorwort, noch vor dem Dank an alle, die irgendwas beigetragen haben, statuieren die Wirtschaftsweisen ihren Anspruch mit energisch daherkommenden Formulierungen: »Im vorliegenden Jahresgutachten skizziert der Rat Reformen für Europa und Deutschland, um die politische Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu stärken. Jetzt ist die Zeit, diese Reformen umzusetzen.« Wie war das noch mal mit der Formulierung aus der Aufgabenbeschreibung?

Man ist das aus den vielen Jahren zuvor ja schon gewohnt – erneut handeln die Herren und derzeit eine Dame auch weite Teile der Sozialpolitik ab und sie machen genau das, was sie eigentlich nicht sollen: Bestimmte sozialpolitische Maßnahmen nicht nur empfehlen, sondern deren – natürlich baldigste – Umsetzung durch die Politik auch noch mit einer nicht mehr diskussionsbedürftigen Eindeutigkeit zu versehen. Trotz des Gewöhnungseffekts wird man immer wieder in Erstaunen versetzt, dass man sich offensichtlich in unseren komplexen Sozialsystemen mit einer derart schlafwandlerischen Sicherheit bewegen kann, völlig unbeeindruckt von den Widrigkeiten der Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik, die von den Betroffenen und den wirklichen sozialpolitischen Experten wahrgenommen und diskutiert werden.

Auch im diesjährigen Jahresgutachten widmen sie ganze Kapitel der Sozialpolitik. Da gibt es beispielsweise das Kapitel 7: Altersvorsorge: Drei-Säulen-Modell stärken. Das folgende Kapitel 8 befasst sich mit Flüchtlingsmigration: Integration als zentrale Herausforderung. Und dann setzen sie noch einen drauf mit dem Kapitel 9: Keine Kapitulation vor der verfestigten Arbeitslosigkeit. Und natürlich mussten auch sie zur Kenntnis nehmen, dass es eine intensive und sehr kritische Diskussion in unserem Land gibt hinsichtlich der Ungleichheit in der Gesellschaft. Was sie dann in diesem Kapitel verarbeitet haben: Starke Umverteilung, geringe Mobilität. Wen man es bis hierher geschafft hat, dann kommt Entlastung, denn die Weisen verlassen das sozialpolitische Terrain und sie arbeiten sich zum Ausklang an der Energiewende und der Transformation in China ab.

Nun gibt es im Jahresgutachten im ersten Kapitel eine Zusammenfassung, was man sich unter den angeblich notwendigen Reformen so vorstellt. Hier einige der sozialpolitisch besonders relevanten Leckerbissen, die man im Gutachten finden kann (S. 26 ff.):

Das Beschäftigungswachstum sollte in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt werden. »Ein flexibler Arbeitsmarkt mit einer hohen Qualifikation der Arbeitnehmer und entsprechenden Anreizen, produktive Leistung zu erbringen, ist langfristig am besten geeignet, um Beschäftigung sicherzustellen und wirtschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.« Und mit welchem Beispiel will der Rat das illustrieren?

»Ein gutes Beispiel dafür sind die Reformen der Agenda 2010, die in Wechselwirkung mit einer allgemeinen Lohnzurückhaltung dazu beigetragen haben, die Arbeitslosigkeit zu drosseln und damit einen weiteren Anstieg der Einkommensungleichheit zu verhindern. Eine höhere Umverteilung der Einkommen ist somit immer gegen die Schwächung des Anreizes abzuwägen, durch Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft hohe Markteinkommen zu erzielen.«

An dieser Stelle werden nicht nur diejenigen aufstöhnen, die tagtäglich erfahren müssen, dass die Kombination aus Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft eben oftmals nicht zu hohen Markteinkommen führen. Es werden sich auch Stimmen zur Wort melden, die zaghaft anfragen, ob nicht mit der Agenda 2010 der Auf- und Ausbau des größten Niedriglohnsektors in Europa einhergegangen ist, worauf Gerhard Schröder noch heute stolz ist.

Aber einfach vom Tisch wissen können die Wirtschaftsweisen natürlich nicht, dass wir ein echtes Ungleichheitsproblem haben. Sonst müsste man zu viele Ökonomen, die darauf hinweisen, für total bescheuert erklären und die Datenlage gibt denen ja auch noch an vielen Stellen recht. Also wählt man die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Zuerst hau man so eine Diagnose raus:

»Allerdings ist die Vermögensungleichheit in Deutschland hoch, und die Einkommens- und Vermögenspositionen sind verfestigt.«

Fast schon ist man bereit, Gefühle zu entwickeln, da schlägt die argumentative Guillotine zu:

»Der geringe Aufbau von privaten Nettovermögen hat verschiedene Gründe. So reduziert beispielsweise das bereits umfangreiche Steuer- und Sozialversicherungssystem gerade für einkommenschwächere Haushalte die Anreize und Möglichkeiten zur privaten Vermögensbildung.«

So ist das, wenn man die einkommensschwächeren Haushalte „zu gut“ absichert über den Sozialstaat, sie haben dann einfach keinen Anreiz mehr, privates Vermögen zu bilden. Darauf muss man erst einmal kommen und das sollte man den Betroffenen aber ganz schnell sagen.

Überhaupt kann man an diesem sensiblen Punkt exemplarisch verdeutlichen, wie gespalten der Sachverständigenrat zugleich ist, worauf Markus Sievers in seinem Artikel Wer hört noch auf die Weisen? hinweist. Anders ausgedrückt: Vier gegen einen:

»Grundlegende Differenzen zeigen sich auch in der Debatte über die Gerechtigkeit in Deutschland. Diese Diskussion werde hierzulande intensiv geführt, konstatieren die vier Mehrheitsökonomen. Das aber stößt auf ihr Unverständnis. „Allerdings ist die Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt weitgehend unverändert geblieben.“ Dagegen heißt es in einem Minderheitsvotum von Bofinger: „Bei der Entwicklung der Nettoeinkommen von Personen in Haushalten mit mindestens einem erwerbsfähigen Haushaltsmitglied hat sich seit dem Jahr 1999 eine deutliche Schere herausgebildet.“ Für die zehn Prozent am oberen Rand seien die Einkommen seitdem um zehn Prozent gestiegen, für die am unteren um zehn Prozent gefallen.«

Dass der Sachverständigenrat sogleich der immer wieder geforderten Wiederbelebung der Vermögenssteuer eine Absage erteilt, wird viele nicht wirklich verwundern. Aber was dann tun gegen die Ungleichheit, die sich zudem verfestigt hat?

Man ahnt es schon, da muss dann mal wieder die frühkindliche Bildung ran: »Dazu zählen Maßnahmen, die das Bildungssystem durchlässiger machen, sowie ein verpflichtendes, kostenfreies Vorschuljahr.«

Ja Wahnsinn. Für mehr Durchlässigkeit sind irgendwie alle und der konkrete Vorschlag mit einem „verpflichtenden, kostenfreien Vorschuljahr“ offenbart nicht nur hinsichtlich der Semantik das totale Zurückbleiben der sachverständigen Räte hinter einer jahrelangen Diskussion und Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Dass man im November 2016 eine Forderung in den Raum stellt, die man vielleicht um die Jahrtausendwende hätte aufstellen können, spricht für die totale Leerstelle, die man hier identifizieren muss.

Und der Arbeitsmarkt? Auch hier bleibt man in der eigenen Blase gefangen. Es wird dann zum einen darauf hingewiesen, dass wir mit Blick auf die Erwerbstätigen die bislang höchste Beschäftigtenzahl erreicht haben, zugleich aber ist bis zu den Wirtschaftsweisen das vorgedrungen, was Arbeitsmarktexperten seit vielen Jahren unter Begriffen wie verfestigte und verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit diskutieren. Dafür hat man natürlich ein Rezept aus der alten Hausapotheke: »Der Niedriglohnsektor ist für die Bewältigung dieser Herausforderungen der Dreh- und Angelpunkt.« Na klar, das war erwartbar:

»Aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Arbeitsangebots im niedrigproduktiven Bereich, beispielsweise durch den Arbeitsmarkteintritt von anerkannten Asylbewerbern, muss die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors weiter gestärkt werden … Zusätzlichen Maßnahmen, die Neueintritte behindern und Schutzwälle um die bereits Beschäftigen errichten, sollte eine Absage erteilt werden. Um die Arbeitnehmer von übermäßigen Anpassungserfordernissen abzuschirmen, dürften die bestehenden Mechanismen am Arbeitsmarkt wie Kündigungsschutz und Tarifbindung bereits hoch genug sein.«

Bitte? Ist die ganze Diskussion über die seit Jahren abnehmende Tarifbindung etwa an den Wirtschaftsweisen vorbeigegangen? Oder wollen sie das einfach nicht aufrufen?
Ja, natürlich, die Drängler unter den Lesern werden es wissen – jetzt ist der Mindestlohn nicht mehr weit weg.

»Der Mindestlohn stellt dabei eine Hürde für die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors dar, weil er die Entstehung von Arbeitsplätzen für Niedrigproduktive behindert. Diese Hürde ist im derzeitigen Konjunkturaufschwung mit Rekordbeschäftigungsstand und steigenden Löhnen geringer als bei einem Konjunkturabschwung.«

Sie werden sich nie abfinden mit dem Mindestlohn, was auch alles nicht passiert.

Zu den Arbeitsmarkt-Vorschlägen vgl. auch der Beitrag Wirtschaftsweise zur Langzeitarbeitslosigkeit: Deregulierung des Arbeitsmarktes soll helfen von O-Ton Arbeitsmarkt – mit dieser Anmerkung: »Im Übrigen interessant: Die bei fast allen Kapiteln des Gutachtens enthaltene „andere Meinung“ gibt es zum  Thema „verfestigte Arbeitslosigkeit“ nicht.«

Und das nur als Fußnote: Dass man offensichtlich in einem „weisen“ Gutachten am Ende des Jahrs 2016 das hier schreiben kann, zeigt die unauslöschliche Liebe zu völlig altbackenen Positionen:

»Ein erleichterter Zugang in geschützte Dienstleistungsbereiche, etwa durch Abschaffung des Meisterzwangs bei nicht gefahrgeneigten Berufen, könnte die Selbstständigkeit fördern.«

Auch hier hat man entweder die zahlreichen ernüchternden Erkenntnisse hinsichtlich der Nicht-Beschäftigungswirkungen der Deregulierung im Handwerk nicht zur Kenntnis genommen oder man ignoriert die geflissentlich, weil man nicht das kindliche Gottvertrauen in die Deregulierung an sich aufzugeben bereit ist. Dass ist aber selbst für Ökonomen ein trauriges Stück.

Wünschenswert sei eine stärkere Förderung der Qualifikation am unteren Ende der Qualifikationsskala. Und auch hier wird eine offensichtlich seit mehreren Jahrzehnte lebende Leiche ins Feld geführt: »Dies könnte zum Beispiel durch eine stärkere Modularisierung von Ausbildungswegen erreicht werden.« Wann endlich begreift man auch im Rat, dass gerade die breite und auch länger dauernde Ausbildung ein richtiges Pfund ist, das wir (noch) haben in unserem Land und dass die bestehenden Ausbildungen ein sicher wichtiger Faktor für die (noch) guten Rahmenbedingungen darstellen.

Beim Thema Flüchtlinge finden sich die üblichen salbungsvollen Worte hinsichtlich der besonderen Bedeutung einer Integration in Bildungseinrichtungen und/oder in Jobs. Konkreter:

»Fördermaßnahmen, wie Arbeitsgelegenheiten oder Lohnzuschüsse könnten sich für anerkannte Asylbewerber eher als für andere Arbeitslose als geeignet erweisen, um sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen … Die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt sollten niedrig gehalten werden. Denn flexible Beschäftigungsmöglichkeiten, beispielsweise Zeitarbeit und Werkverträge, sowie selbstständige Arbeit bieten Chancen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt.«

Und was ist mit dem so wichtigen Feld der Gesundheitspolitik? Auch hier nur altes Gebäck und konsequenterweise zitieren die Wirtschaftsweisen einfach nur noch aus ihren alten Gutachten, wenn es um das von ihnen erneut aufgerufen Ziel geht, „Ineffizienzen“ im Haifischbecken Gesundheitspolitik zu beseitigen:

»Dazu zählen die Stärkung der Vertragsfreiheit durch Ausweitung der Nutzung von Selektivverträgen (JG 2012 Ziffern 629 ff.), der Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung (JG 2012 Ziffer 635), die Wiedereinführung und ziel- führende Weiterentwicklung der Praxisgebühr (JG 2012 Ziffer 594), die Aufhe- bung des Fremd- und Mehrbesitzverbots von Apotheken (JG 2010 Ziffer 425) und die Ausdehnung von Kosten-Nutzen-Analysen im Arzneimittelbereich auf den Bereich der alternativen Medizin … Das jüngste Urteil des EuGH, das die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland im Widerspruch zu EU-Recht sieht, könnte mehr Wettbewerb unter Apotheken ermöglichen.«

Und mehr als schmunzeln muss man im Jahr 2016, wenn der Rat schreibt: »Außerdem hält der Sachverständigenrat die einkommensunabhängige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die Einführung einer Bürgerpauschale mit integriertem Sozialausgleich nach wie vor für die beste Finanzierungsform.« Warum soll man auch seine Meinung ändern, selbst wenn diese Diskussion nun schon seit Jahren beerdigt ist.

Ja, natürlich sagen sie auch was zur Rentenpolitik, die in diesen Tagen so im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Aber auch hier gilt – man sollte nichts erwarten, was einen irgendwie überraschen könnte und vor allem keine Auseinandersetzung mit dem nun mal komplexen Diskurs über das vielschichtige Alterssicherungssystem. Einige Empfehlung geben sie uns mit auf den Weg:

»Die Folgen des demografischen Wandels in der GRV lassen sich nicht beseitigen, aber abmildern. Dazu ist aus Sicht des Sachverständigenrates eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nach 2030 notwendig. Angesichts der steigenden ferneren Lebenserwartung bietet sich eine Kopplung an diese an, damit die relative Rentenbezugsdauer über die Zeit nicht weiter ansteigt. Dies würde bis zum Jahr 2080 bei einer Lebenserwartung von 88 Jahren für Männer und 91 Jahren für Frauen zu einem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 71 Jahren führen.«

Und wie ist das mit den Selbständigen und deren oftmals nur rudimentär vorhandene Alterssicherung?

»Eine Ausweitung des Versichertenkreises durch eine Pflichtversicherung von Selbstständigen in der GRV ist keine Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. Sie dürfte zu einer Leistungsausweitung für die heutige Rentnergeneration führen, während sich das Nachhaltigkeitsproblem für zukünftige Generationen verschärft. Der Sachverständigenrat plädiert hingegen für eine Vorsorgepflicht für Selbstständige, wobei Wahlfreiheit darin bestehen sollte, diese über die gesetzliche oder private Altersvorsorge zu erfüllen.«

Und auch das ist nicht überraschend – der Sachverständigenrat plädiert für eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung in Deutschland, also für einen weiteren Ausbau der kapitalgedeckten Systeme. »Mit einem stärkeren Gewicht auf die betriebliche und private, Riester-geförderte Altersvorsorge wird das System insgesamt krisenfester und federt gleichzeitig verschiedene Risiken ab«, wird einfach mal so behauptet, ohne auch nur zu zucken angesichts der vielfältigen Kritik an so einer Behauptung.

Besonders dreist ist die Bewertung der von vielen als gescheitert eingestuften Riester-Rente:

»In der privaten Altersvorsorge muss es darum gehen, den Verbreitungsgrad der Riester-Rente vor allem bei Geringverdienern zu erhöhen. Dabei dürften die Unkenntnis der Förderberechtigung, die (falsche) Annahme, später auf die Grundsicherung im Alter angewiesen zu sein, Marktintransparenz und fehlende finanzielle Bildung für den unzureichenden Verbreitungsgrad verantwortlich sein. Eine Verbesserung des Finanzwissens, eine allgemeine Förderberechtigung und mehr Transparenz wären daher sinnvoll.«

Die Leute, vor allem die in den unteren Einkommensbereichen, sind einfach zu blöd, die Ästhetik der Riester-Rente in all ihrer Pracht zu verstehen.

Aber auch hier muss wieder auf den Riss hingewiesen werden, der durch den Sachverständigenrat geht. Mit Peter Bofinger stellt ein Wirtschaftsweiser der Mehrheit bei fast allen wichtigen Punkten eine andere Position entgegen. Sieben Minderheitsvoten belegen die tiefen Meinungsverschiedenheiten. Dazu Markus Sievers in seinem Artikel am Beispiel der Riester-Rente:

»Das Mehrheits-Quartett lobt die Einführung der Riester-Rente als wichtigen und richtigen Schritt. Auch diese Einschätzung provoziert Widerspruch. Diese private Vorsorge mit staatlicher Unterstützung habe gerade bei den Menschen mit niedrigen Einkommen nicht zu einem erhöhten Sparaufkommen geführt, so Bofinger. Weil gleichzeitig aber die Leistungen der gesetzlichen Rente gekürzt wurden, drohe verstärkt Altersarmut.«

In Ordnung, alles muss ein Ende haben, so auch der kurze Ausflug in das sozialpolitische Niemandsland des Sachverständigenrats. Das ist insgesamt eine Nullnummer. Und erneut zeigt sich, dass es gut wäre, wenn man ein wirklich kompetentes Gremium zur Begleitung der Sozialpolitik hätte – wenn man ein überhaupt diesen Gremien noch irgendeinen Sinn zuschreiben möchte. Inhaltlich ist das, was man sozialpolitisch aus dem Gutachten serviert bekommt, ein extrem einseitiges und an vielen Stellen völlig von den Forschungsbefunden und den praktischen Erfahrungen in den Sozialsystemen entkoppeltes Gebräu aus angebotsorientierter Ökonomen-Denke, die uns in keinerlei Hinsicht weiterhilft.

Ein „neuer“ sozialer Arbeitsmarkt? Auf alle Fälle ein weiterer Vorstoß hin zu einer auf Dauer angelegten öffentlich geförderten Beschäftigung für einen Teil der Erwerbslosen

Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland, es leidet auch unter einer in manchen Regionen überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit, die sich dort dann oftmals in Form eines hohen Anteils langzeitarbeitsloser Menschen ausformt. Im Jahr 2015 lag der jahresdurchschnittliche Bestand aller Arbeitslosen in NRW bei 744.000 Menschen. 43,6 Prozent von ihnen wurden statistisch als Langzeitarbeitslose ausgewiesen, das waren 324.000. Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland, das die meisten Kreise mit besonders hohen Anteilen an Langzeitarbeitslosen aufweist. Und: Fünf der zehn Kreise mit den bundesweit höchsten Anteilen Langzeitarbeitsloser lagen im vergangenen Jahr in Nordrhein- Westfalen.

Das alles und noch viel mehr kann man dieser gerade erst veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit entnehmen:

Frank Bauer et al.: Langzeitarbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Entwicklungen und Abgänge in Beschäftigung. (IAB-Regional. Berichte und Analysen aus dem Regionalen Forschungsnetz. IAB Nordrhein-Westfalen 02/2016), Nürnberg 2016

Und das, was in der Arbeitsmarktforschung und in der Praxis als „Verfestigung und Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit beschrieben und beklagt wird, kann man gerade in Nordrhein-Westfalen in aller Schärfe beobachten. Vor allem in den Ruhrgebietsstädten und teilweise auch in der Rheinschiene hat sich dieses Problem förmlich versteinert.

Die neue IAB-Studie berichtet, dass im vergangenen Jahr »etwa die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen zur Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen (gehörte), auf die somit knapp ein Viertel aller Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen entfiel. Bei dieser Gruppe ist somit die Langzeitarbeitslosigkeit bereits ein lang andauernder Zustand« (S. 44 f.), wobei der Terminus „arbeitsmarktfern“ an den Maßstäben des gegebenen Arbeitsmarktes und den dort vorfindbaren Anforderungen ausgerichtet ist. Die hochgradige Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit nimmt im Hinblick auf ihre quantitative Verbreitung in Nordrhein-Westfalen einen alarmierenden Stellenwert ein.

Die Diagnose ist das eine, die Frage „Was tun?“ das andere. Auch dazu findet man in der Studie von Frank Bauer et al. zwei zentrale Hinweise:

Zum einen: Arbeitslosigkeit möglichst frühzeitig nach ihrem Eintreten zu beenden – das muss ein zentrales arbeitsmarktpolitisches Ziel sein.

»Unter den Merkmalen, die Langzeitarbeitslosigkeit begünstigen und einen Übergang in Beschäftigung erschweren, ist insbesondere das Problem fehlender beruflicher Zertifikate schwerwiegend. Anders als z. B. das Alter oder die Nationalität, das Geschlecht oder eine Schwerbehinderung kann aber dieses Problem unmittelbar arbeitsmarktpolitisch bearbeitet werden. Gerade angesichts der für Nordrhein-Westfalen besonders auffälligen Problematik einer großen Zahl von jungen Langzeitarbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist der Bedarf an zusätzlichen Möglichkeiten, hier zu qualifizieren, eindeutig.« (S. 46 f.)

Und zum anderen wird der Blick auf die Gruppe der „arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen“ gerichtet:

»Für einen Teil der Langzeitarbeitslosen, insbesondere die “arbeitsmarktfernen“ Arbeitslosen, dürfte ein Zustand prägend werden, der als „sekundärer Integrationsmodus“ … beschrieben wird. Hier ist ein Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und eine nur ausnahmsweise und kurzzeitige Beschäftigung prägend für die Erwerbsbiografie. Für Teile dieser Gruppe der „arbeitsmarktfernen“ Langzeitarbeitslosen, deren Erwerbsbiografie nachhaltig durch die Abwesenheit von Erwerbsarbeit geprägt ist, scheint die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes, der durch längere Förderketten öffentlich geförderter Beschäftigung gekennzeichnet ist, die einzige Lösung zu sein, um eine Erwerbsintegration noch gewährleisten zu können.« (S. 46).

Damit sind einzelne arbeitsmarktpolitische Förderkomponenten aufgerufen, die seit vielen Jahren unermüdlich sowohl aus der Wissenschaft wie auch der Praxis immer wieder gegenüber der Politik angemahnt werden, deren Realisierung aber nicht nur wegen fehlender finanzieller Ressourcen, sondern auch angesichts eines mit Blick auf diese Strategie völlig kontraproduktiven, restriktiven Förderrechts blockiert und verhindert wird (vgl. dazu ausführlicher und lösungsorientiert Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle daran denken, dass doch gerade aus NRW immer wieder unterstützende Stimmen zu hören waren und sind, die Arbeitsmarktpolitik in Richtung auf die Ermöglichung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ umzubauen. Und dass die Landesregierung seit 2013 „Modellprojekte öffentlich geförderter Beschäftigung in NRW“ auf den Weg gebracht hat. Diese Projekte basieren auf § 16e SGB II (Förderung von Arbeitsverhältnissen) und sie werden vorwiegend von gemeinnützigen Beschäftigungsträgern umgesetzt. Diese Modellprojekte ermöglichen eine sozialversicherungspflichtige (in der Regel) Vollzeitbeschäftigung. Die wird zudem durch Coaches begleitet, die überwiegend sozialpädagogisch qualifiziert sind, so dass eine zusätzliche Stabilisierung des Beschäftigungsverhältnisses und eine persönliche Unterstützung der Geförderten bei Bedarf gewährleistet sind.

Diese Modellprojekte sind wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden. 2016 wurde der IAB-Forschungsbericht Ergebnisse der Evaluation der Modellprojekte öffentlich geförderte Beschäftigung in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Darin findet man diese Zusammenfassung:

»Will man ausgewählte Ergebnisse der Teilnahme an den Modellprojekten in den Fokus nehmen, so ist zunächst auf die deutlichen Teilhabeeffekte zu verweisen: Sozialversicherungspflichtige geförderte Beschäftigung, die sozialpädagogisch flankiert wird, erzielt starke Effekte der sozialen Teilhabe während der Teilnahme. Zusätzlich kann eine Verflechtung der geförderten Beschäftigung mit kommunalen Dienstleistungen nach § 16a SGB II über die Begleitung durch Jobcoaches implementiert werden, da hier eine Arbeitsbeziehung zwischen Begleiter und Klient entstehen kann, die überhaupt erst den Zugang zu Problemen schafft, die der professionellen Bearbeitung bedürfen. Für viele Geförderte ist die Aufnahme einer Beratung zugleich der Beginn einer Bearbeitung der persönlichen Probleme, die den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigen. Mit der Teilnahme am Modellprojekt haben sich für viele Beschäftigte erwünschte Zustandsveränderungen ergeben, wie verbesserte Zukunftsaussichten, eine Erhöhung von Ausdauer, Kondition und Leistungsfähigkeit, eine verbesserte materielle Situation sowie ein erhöhter sozialer Status (…) Die Evaluation deutet darüber hinaus arbeitsmarktpolitische Desiderate an. Es gibt unter den Teilnehmenden an den Modellprojekten auch eine qualifizierte Minderheit, die nach eigenem Urteil und nach dem Urteil der Sozialpädagogen (noch) nicht für den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt gerüstet ist. Es gibt Personen, die Überforderungsgefühle artikuliert haben und bei denen keine nennenswerten Entwicklungen bewirkt oder beobachtet werden konnten. Das sind Indikatoren für den Bedarf nach einem sozialen Arbeitsmarkt für Personen, die länger brauchen als maximal 2 Jahre, um wieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt einsteigen zu können. Neben den Personen, bei denen durch die gebotenen Unterstützungsleistungen Entwicklungen erzielt werden konnten, die optimistisch in die Zukunft am Arbeitsmarkt blicken lassen, enthält die Zielgruppe systematisch auch solche Personen, die solche kurz- und mittelfristigen Aussichten nicht haben, die aber dennoch erwerbsfähig und erwerbsorientiert sind. Für diese Untergruppen fehlen bislang Fördermöglichkeiten.« (S. 22 f.)

Und für die letztgenannte Gruppe unter den Arbeitslosen soll nun auch was angeboten werden, das über die wenigen bestehenden Möglichkeiten weit hinausreichen würde. Der DGB NRW plädiert für einen „neuen sozialen Arbeitsmarkt“. Und sicher mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen im Frühjahr 2017 wird die Landesregierung zum konkreten Handeln aufgefordert, auch hinsichtlich der Finanzierungsbeteiligung. Unter der Überschrift DGB NRW: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren hat der DGB sein Modell für die Öffentlichkeit skizziert und passenderweise gleich beim Landesparteitag der regierenden SPD präsentiert.

„Über 300.000 Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos und haben so gut wie keine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, so wird der Vorsitzende des DGB NRW, Andreas Meyer-Lauber, zitiert. Grund dafür sei ein Mangel an Arbeitsplätzen für Un- oder Angelernte in der Privatwirtschaft. „Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Diese Menschen profitieren kaum von der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes. Deshalb muss hier die öffentliche Hand einspringen.“
Was also schlägt der DGB NRW vor?

Der DGB NRW schlägt vor, zunächst 10.000 Plätze bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen. „Uns ist wichtig, dass diese Stellen sozialversicherungspflichtig sind und die gültigen Tarifverträge eingehalten werden“, erklärte Meyer-Lauber. „Damit für die Beschäftigten tatsächlich eine Perspektive entsteht, müssen die Arbeitsplätze unbefristet sein. Und wir möchten, dass sich jeder Langzeitarbeitslose freiwillig auf die Stellen bewerben kann. In einem Auswahlverfahren wird dann die Person ausgewählt, die sich am besten für die Tätigkeit eignet.“ Entstehen könnten die Beschäftigungsverhältnisse überall dort, wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“

Natürlich stellt sich neben anderen Fragen sofort die nach der Finanzierung, also was „kostet“ das, was der DGB da vorschlägt. Dazu kann man der Pressemitteilung entnehmen:

»Finanziert werden solle der Neue soziale Arbeitsmarkt über einen Passiv-Aktiv-Transfer und Mittel des Landes. Nach groben Schätzungen würde dieser Landeszuschuss pro Arbeitsplatz und Monat etwa 1.100 Euro brutto betragen.«

Wie kommen die auf so einen Betrag? Und was hat es mit dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ (PAT) auf sich?

Die Grundidee, die hinter dem „Passiv-Aktiv-Transfer“ steht, ist die einer (aktiven) Finanzierung von Arbeit statt der (passiven) Erwerbslosigkeit. Man nimmt die sowieso zu zahlenden (passiven) Leistungen und verwendet diese für die Mitfinanzierung einer „normalen“ Erwerbsarbeit – das „normal“ bezieht sich auf den Tatbestand, dass es sich nicht um eine Arbeitsgelegenheit („Ein-Euro-Job“) handelt, sondern um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die mindestens nach dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden muss. An diesem Punkt ist der Vorschlag des DGB NRW dahingehend abweichend, dass für eine Entlohnung nach den Tarifvertragsbestimmungen für den öffentlichen Dienst plädiert wird.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht den PAT in einem Rechenmodell:
So könnte mit dem Geld, das jeder Langzeitarbeitslose automatisch erhält, bereits gut 50% einer regulären Vollzeitanstellung mit 39 Stunden pro Woche finanziert werden, wenn diese nach dem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von derzeit 8,50 Euro pro Stunde vergütet wird. Bei einer Teilzeitstelle mit 30 Stunden pro Woche läge der Anteil bereits bei fast 70%. In dem Modell, das in der Abbildung dargestellt ist, wurde mit gerundeten Bundesdurchschnittswerten gerechnet.

Für den Vorschlag des DGB NRW kann man folgende überschlägige Kostenkalkulation aufstellen:
Ausgangspunkt ist die Forderung, 10.000 Plätze zu schaffen und diese nicht nach dem gesetzlichen Mindestlohn (der im allgemeinen Rechenmodell zum PAT in der Abbildung verwendet wurde), sondern die Beschäftigten in der untersten Tarifgruppe für den öffentlichen Dienst einzustufen, was einen höheren Betrag für den Arbeitnehmer (und damit natürlich auch für den Arbeitgeber) zur Folge hat. In der Kalkulation wird mit TV-L 1 gerechnet.

Das Arbeitgeberbrutto bei TV-L 1 beträgt 2.009,05 Euro, das sind 317 Euro mehr als bei einer Vollzeitstelle mit Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn (zur Info: Arbeitnehmerbrutto wäre 1.681 Euro ohne Jahressonderzahlung, netto käme der oder die Beschäftigte auf 1.063 Euro). Der in der Abbildung zum PAT errechnete notwendige Markterlös bzw. der über einen öffentlichen Zuschuss zu finanzierende Betrag von 783,33 Euro steigt also auf 1.100 Euro (weil eine höhere Vergütung als bei Anwendung des gesetzlichen Mindestlohns wie in der allgemeinen Modellrechnung zum PAT unterstellt angesetzt wird).

Bei 10.000 Plätzen bedeutet das: Zusätzlich zu den einzubringenden Hartz-IV-Leistungen von 910 Euro pro Platz und Monat (= 9,1 Millionen Euro passive Leistungen) müssten noch 11 Millionen Euro pro Monat aufgebracht werden. Hierbei handelt es sich um die anfallenden Brutto-Kosten.
Hinsichtlich der Gesamtkosten (brutto) ergeben sich pro Jahr Brutto-Kosten in Höhe von 132 Mio. Euro für 10.000 Plätze. Man muss an dieser Stelle anmerken, dass diese Kosten und damit auch das ausgewiesene Kostendifferential zwischen den aktivierten Hartz IV-Leistungen und dem Arbeitgeberbrutto in Höhe von 1.100 Euro pro Monat und Platz ausschließlich auf die Personalkosten der so Beschäftigten bezogen sind. Weitere mögliche Kosten, beispielsweise für Anleiter oder Betreuer, sind in diesem Betrag nicht enthalten, müssten aber ggfs. mit kalkuliert werden.

Allerdings sollte unbedingt darauf hingewiesen werden, dass für eine faire Beurteilung des notwendigen finanziellen Einsatzes nicht nur die Brutto-Kosten betrachtet werden dürfen, sondern die Netto-Kosten müssen ins Blickfeld genommen werden. Und gerade im vorliegenden Fall ist der Unterschied zwischen Brutto- und Nettokosten eben nicht trivial, sondern kann eine Bewertung maßgeblich verändern, wenn man volkswirtschaftlich an die Sache herangeht.
Für eine Berechnung der Netto-Kosten muss man wissen, um nur drei Punkte zu nennen:

  • Die Rückflüsse (wie in der PAT-Abbildung) in Form von Steuern und Sozialabgaben sind bei den 132 Mio. Euro Brutto-Kosten pro Jahr für 10.000 Plätze  im NRW-Fall noch nicht berücksichtigt.
  • Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die kostensenkenden Effekte durch eine Erwerbsarbeit beispielsweise bei den Krankenkassen (die übrigens im PAT-Modell deutlich höhere Einnahmen haben als bei den passiven Leistungsempfängern, denn für die gibt es nur eine Pauschale, die (zu) niedrig angesetzt ist – damit profitieren auch die „normalen“ Versicherten, die ansonsten die Kassenausgaben, wenn sie höher sind als die Einnahmen, durch die nur von ihnen zu leistenden Zusatzbeiträge finanzieren müssen).
  • Auch nicht berücksichtigt sind natürlich die Wertschöpfungseffekte vor Ort durch die konkrete Beschäftigung der ehemaligen Langzeitarbeitslosen.

Wenn man das einberechnen würde, dann schmilzt der Brutto-Kostenbetrag bei einer Netto-Betrachtung ganz erheblich zusammen.

Wie nun ist die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Realisierung des DGB NRW-Modells einzuschätzen und gibt es darüber hinaus kritische Anmerkungen aus Sicht der grundsätzlichen Befürworter einer Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung?
Hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit kann man natürlich zwei kritische Punkte identifizieren:
  1. Zum einen ist es so, dass das Modell die Aktivierung der passiven Hartz IV-Leistungen für die anteilige Finanzierung der Erwerbsarbeit vorsieht. Das ist nicht nur in der Abbildung zum PAT-Modell leichter geschrieben als getan, denn alle bisherigen Anläufe zur Umsetzung des PAT-Gedankens waren und sind konfrontiert mit der Problematik, dass diese Mittel eben nicht aus einem Topf kommen, den man ausschütten kann für die beabsichtigte Beschäftigung, sondern wir haben es hier mit Bundesmitteln, aber auch – wenn wir an die Kosten für Unterkunft denken, mit kommunalen Mitteln zu tun. Grundvoraussetzung für eine Umsetzung des PAT-Modells wäre also vereinfacht gesagt die Bereitschaft aller beteiligten Akteuere, „ihre“ Mittel gleichsam in einen Fonds einzubringen, aus dem dann das Geld für die Mitfinanzierung entnommen werden kann. Der DGB NRW selbst weiß um diese Problemstelle, denn in der Pressemitteilung wird der Vorsitzende so zitiert: „Wenn sich die Bundesregierung beim Passiv-Aktiv-Transfer querstellt, appelliere ich an die Landesregierung, das Programm trotzdem zügig zu starten.“ Das würde den sowieso schon vom Land zu finanzierenden Anteil – siehe den nächsten Punkt – nochmals erhöhen.
  2. Zum anderen müsste das Land in dem vorgeschlagenen Modell das ausgewiesene (Brutto-)Kostendifferential in Höhe von 1.100 Euro pro Platz und Monat gegenfinanzierten. Hier hilft im engeren Sinne der Hinweis auf die enormen Rückflüsse und Einsparungen an anderer Stelle nicht wirklich, denn diese fallen ganz überwiegend in anderen Bereichen unseres versäulten Steuer- und Sozialversicherungssystems an. Vom Land wird hier also eine Art „Ausfallfinanzierung“ für andere Akteure erwartet – angesichts der Haushaltslage des Landes kann man die tatsächliche Bereitschaft des Landes dazu nüchtern als sehr unwahrscheinlich einschätzen.

Aber selbst wenn es uns gelänge, das angesprochene bestehende Dilemma einer notwendigen Fondslösung aller Akteure für die Realisierung des PAT doch aufzulösen und die passiven Leistungen für die Mitfinanzierung der Arbeitsplätze verwenden zu können, muss man gerade aus Sicht der Befürworter einer umfassenden Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung kritische Anfragen an den DGB NRW-Vorschlag stellen:

Vorgesehen ist in dem Modell, die geförderten Arbeitsplätze „bei Kommunen bzw. kommunalen Betrieben und Gesellschaften zu schaffen“ und mit Blick auf die Tätigkeitsfelder wird die kommunale Begrenzung des Modells weiter verstärkt, denn gefördert werden sollen Arbeitsplätze dort, »wo notwendige Dienstleistungen in der Kommune nicht erbracht werden, weil es die Haushaltslage nicht zulässt. „Von der Parkpflege bis zum Vorlesen im Altersheim sind viele Tätigkeiten denkbar, die das Leben der Allgemeinheit verbessern.“« An dieser Stelle ist die Fachdiskussion über eine notwendige Reform der öffentlich geförderten Beschäftigung schon seit Jahren wesentlich weiter entwickelt und gerade an dem Punkt der Frage, welche Tätigkeiten gefördert werden können, liegt ein substanzieller Unterschied zum DGB NRW-Modell. Nicht nur in meinem Vorschlag für eine Hilfe zur Arbeit 2.0 wird dafür plädiert, die Tätigkeitsfelder einer neuen öffentlich geförderten Beschäftigung gerade nicht zu begrenzen auf randständige Beschäftigungsfelder im kommunalen Raum (die durchaus für den einen oder anderen relevant und hilfreich sein können), sondern die öffentlich geförderte Beschäftigung am, mit und im „ersten Arbeitsmarkt“ zu realisieren.

Dazu sei beispielhaft Matthias Knuth vom IAQ zitiert aus seiner profunden Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags Nordrhein-Westfalen am 26.8.2015 unter der Überschrift „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ – Förderung eines dauerhaften sozialen Arbeitsmarktes:

»Die öffentlich geförderte Beschäftigung als „Sozialen Arbeitsmarkt“ neu zu konzipieren, impliziert die Überwindung der bisherigen strikten ordnungspolitischen Trennung zwischen „erstem“ und „zweitem“ Arbeitsmarkt und die Einbeziehung privatwirtschaftlicher Arbeitgeber in die soziale Verantwortung für Menschen, die bisher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Ein Sozialer Arbeitsmarkt würde bestehen aus (1) privaten erwerbswirtschaftlich orientierten Arbeitgebern, die Lohnkostenzuschüsse und bei Bedarf unterstützende Dienstleistungen (Qualifizierung, Coaching, Konfliktmoderation) für die Beschäftigung von einzelnen bisher Ausgegrenzten nutzen, die sie in ihre Belegschaften integrieren; (2) Sozialen Unternehmen, für die die Beschäftigung von andernfalls Ausgegrenzten ein vorrangiges Unternehmensziel darstellt, die aber gleichwohl strategisch auf Produkt- oder Dienstleistungsmärkten agieren1; und (3) traditionellen Beschäftigungsträgern, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, damit aber keine oder keine nennenswerten Markterlöse erzielen. Integrationsunternehmen i.S.v. §132 SGB IX könnten in der Kategorie (2) tätig werden, indem sie ihre Belegschaften um förderungsberechtigte Nichtbehinderte erweitern, oder sie könnten ihr know-how nutzen, um sich mit einem zusätzlichen Geschäftszweig im Sozialen Arbeitsmarkt zu diversifizieren … alle Arbeitgeber eines Sozialen Arbeitsmarktes (sind) auf ergänzende Kostendeckungsbeiträge in erheblicher Größenordnung angewiesen. Dieses sind für privatwirtschaftliche Arbeitgeber ebenso wie für Sozialunternehmen Erlöse in Produkt- oder Dienstleistungsmärkten; Beschäftigungsträger ohne Markterlöse sind auf ergänzende Förderungsquellen angewiesen, z.B. auf Zuwendungen des Landes oder von Kommunen im Zusammenhang mit unentgeltlich erbrachten Dienstleistungen.

Der Zwang zur Erzielung von Markterlösen und zum Umgang mit Kunden hat den positiven Effekt, dass die Arbeitsbedingungen im Sozialen Arbeitsmarkt denen im allgemeinen Arbeitsmarkt sehr ähnlich sein müssen. Dieses bietet die Chance, dass ein Teil der Beschäftigten in den ungeförderten Arbeitsmarkt hineinwächst. Sie werden von privaten Arbeitgebern dauerhaft übernommen, oder sie bekommen eine ungeförderte Dauerstellung als Stammkräfte bei Sozialen Unternehmen. Dadurch können die bisher stets zu beobachtenden „Einbindungseffekte“ der öffentlich geförderten Beschäftigung verringert werden. Man sollte diesbezüglich keine überzogenen Erwartungen haben, aber von einem Sozialen Arbeitsmarkt mit Anbindung an Produkt- und -dienstleistungsmärkte sind – bei gleicher Zusammensetzung der geförderten Personen – mehr Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erwarten als von einer geförderten Beschäftigung in einem abgeschotteten „Zweiten Arbeitsmarkt“.« (Knuth 2015: 4)

Genau in die Richtung sollte und muss eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen und daran sollten alle Vorstöße auch gemessen werden.
Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann ist der Vorstoß des DGB NRW zwar zu begrüßen, setzt er das Thema doch wieder auf die politische Agenda, und auch Merkmale wie unbedingte Freiwilligkeit der zu beschäftigenden Personen und eine an tariflichen Maßstäben gebundene Vergütung sind positiv hervorzuheben. Auch die Tatsache, dass eine der Lebenslügen der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die grundsätzliche und seit Jahren faktisch immer kürzer werdende Befristung der Förderung hier aufgehoben werden soll, ist als Pluspunkt zu vermerken.

Aber zu kurz gesprungen kommt das Modell rüber hinsichtlich der Ausgestaltung der Tätigkeitsfelder. Überhaupt nicht angesprochen werden in dem Vorschlag die eben auch notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen für eine wirkliche Weiterentwicklung der öffentlich geförderten Beschäftigung, denn die muss professionell organisiert und durchgeführt werden. Dazu auch der Hinweis von Matthias Knuth in seiner Stellungnahme für den nordrhein-westfälischen Landtag: »Der Stellenwert von Sozialunternehmen oder Sozialbetrieben in der Arbeitsmarktpolitik war in den 1990er Jahren schon einmal weiter entwickelt. Derartige unternehmerische Strukturen wieder aufzubauen und in geeigneten Märkten zu etablieren, wird auch strukturelle oder projektförmige Anschub- und Aufbaufinanzierung erfordern und ist allein mit Lohnkostenförderung für die Beschäftigten nicht zu erreichen.« (Knuth 2015: 6 f.)

Nicht vergessen werden sollte bei einer kritischen Analyse die Einordnung des DGB-Vorschlags die quantitativen Dimensionen: Bei mehr als 320.000 Langzeitarbeitslosen in NRW, darunter mehr als 160.000 sogenannte „arbeitsmarktferne“ Langzeitarbeitslose, wären selbst 10.000 Plätze nicht wirklich ein Durchbruch, sondern eher ein größerer Tropfen auf den heißen Stein.
Insgesamt kann man nur hoffen, dass der Vorstoß des DGB NRW einen weiteren Impuls setzen kann, über die dringend erforderliche grundsätzliche Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik überhaupt noch zu diskutieren. Notwendig wäre allerdings ein größerer Sprung nach vorn und die Überwindung des auch bei diesem Modell gegenüber der öffentlich geförderten Beschäftigung erkennbaren Angst des Torwarts vorm Elfmeter, um das mentale Hindernis mal allegorisch auszudrücken.

Nicht immer gleich abschreiben: Laut BILD-Zeitung ist die Zahl der Dauer-Hartz IV-Empfänger deutlich zurückgegangen. Das ist falsch

Wieder einmal können wir ein Beispiel für die journalistische Grundregel studieren, dass man nicht einfach abschreiben sollte, vor allem nicht, wenn es a) um Statistiken geht und b) als Quelle die Bild-Zeitung fungiert. Weniger Menschen beziehen dauerhaft Hartz IV, meldet beispielsweise Spiegel Online unter Berufung auf die unter b) genannte Tageszeitung. Selbst die Nachrichten im Deutschlandfunk verbreiten die frohe Botschaft unter der Überschrift Zahl der Langzeit-Empfänger von Hartz IV rückläufig und liefern sogar eine Begründung für diesen erfreulich daherkommenden Trend: »Demnach gab es Ende 2015 knapp 2,6 Millionen Menschen, die diese Leistung schon länger als vier Jahre erhalten. Das sind fast acht Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit sagte dem Deutschlandfunk, ein Grund für diese Entwicklung sei die gute wirtschaftliche Lage. Es gebe mehr Stellen, davon profitierten auch Langzeitarbeitslose.« Das hört sich doch gut an – aber leider ist es falsch, wie O-Ton Arbeitsmarkt aufzeigen kann: Dauer-Hartz-IV-Bezieher: Falschmeldung der BILD-Zeitung.

Was genau ist da los? Man liegt nicht falsch mit der Vermutung, dass hier mal wieder Äpfel mit Birnen verglichen worden sind. Der zusammenfassende Befund von O-Ton Arbeitsmarkt: »Laut BILD-Zeitung ist die Zahl der Dauer-Hartz-IV-Bezieher stark gesunken. Tatsächlich beruht dieser Rückgang aber auf einer Umstellung in der Statistik. Laut Bundesagentur für Arbeit hat sich die Zahl der Betroffenen um lediglich ein Prozent verringert.«

»Die Zahl der Dauer-Hartz-IV-Bezieher ist erstmals stark gesunken. Laut Bundesagentur für Arbeit lebten Ende 2015 insgesamt 2.572.134 Personen bereits länger als 4 Jahre von der Stütze. Das waren 7,9% weniger als im Dezember 2014 (2,8 Mio.) und der niedrigste Stand seit Einführung von Hartz IV.« Das berichtete die BILD-Zeitung am gestrigen Sonntag. Und andere Medien schrieben fleißig ab.

Doch die BILD hat hier unterschiedliche Personengruppen in der Hartz-IV-Statistik, nämlich Regelleistungsbezieher im Dezember 2015 (2.572.134 Personen) und Leistungsberechtigte im Dezember 2014 (2.792.787 Personen) miteinander, und deshalb schlichtweg falsch verglichen. Denn Regelleistungsberechtigte sind nur eine Teilgruppe der Leistungsberechtigten und daher natürlich insgesamt weniger Personen.

Hintergrund der offensichtlichen Verwirrung in der BILD-Redaktion ist eine Revision in der Hartz-IV-Statistik (darüber hatte O-Ton Arbeitsmarkt bereits am 8. Juni 2016 berichtet:Statistikänderung lässt rund 130.000 Hartz-IV-Kinder verschwinden). Seit April 2016 erfasst die Bundesagentur für Arbeit Personengruppen in Hartz-IV-Hauhalten differenzierter. Daten vor der Revision und nach der Revision sind daher nicht mehr miteinander vergleichbar.

Die BILD-Redaktion hat aber genau das getan. Sie hat die Daten der alten, unrevidierten Statistik vom Dezember 2014 an denen der neuen, revidierten Statistik vom Dezember 2015 gemessen – und ist nur so auf den starken Rückgang gekommen.

Vergleichbare Werte für Dezember 2014 hat die Bundesagentur für Arbeit bisher nicht veröffentlicht. Laut Auskunft eines Mitarbeiters der Statistikabteilung gab es aber tatsächlich nur einen minimalen Rückgang um etwa ein Prozent bei den Personen, die schon seit vier Jahren oder länger auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind – und nicht um rund 8 Prozent, wie die BILD berichtete. Die ältesten reviderten Daten im Online-Angebot der BA stammen vom Juni 2015. Zu diesem Zeitpunkt bezogen 2,62 Millionen Menschen dauerhaft Hartz-IV-Leistungen, etwa 1,8 Prozent mehr als im Dezember desselben Jahres. So der Bericht von O-Ton Arbeitsmarkt.

Es ist doch immer wieder gut, wenn es Institutionen und Menschen gibt, die bei statistischen Befunden dem Lebensmotto folgen: Glaub ich erst einmal nicht.

Die Zukunft des Wohlfahrtsstaats aus der Umfrage-Sicht der Bevölkerung: Mehr wollen, zahlen sollen die da oben und eine Hierarchie der Wohlfahrtsbedürftigkeit

»Die deutsche Bevölkerung plädiert in ihrer übergroßen Mehrheit für einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Dieser Befund ergibt sich aus einer von TNS Infratest im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten repräsentativen Umfrage, bei der insgesamt 2.000 Wahlberechtigte ab 18 Jahren zu ihren reformpolitisch relevanten Präferenzen und Einstellungen befragt wurden.« Das berichtet die Friedrich-Ebert-Stiftung unter der Überschrift Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Man hat eine repräsentative Umfrage machen lassen und verdichtet die wichtigsten Erkenntnisse der auf dieser Grundlage erstellten Studie (Roberto Heinrich, Sven Jochem, Nico A. Siegel: Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Einstellungen zur Reformpolitik in Deutschland. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2016) in fünf Punkten, die auf den ersten Blick dem Sozialpolitiker gefallen dürften.

1.) 82 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland mittlerweile ein zu hohes Ausmaß angenommen hat. Diese Wahrnehmung zieht sich durch alle sozialen Schichten und politischen Lager. Zudem sind viele der Befragten überzeugt, dass sich die zu hohe soziale Ungleichheit negativ auf die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft auswirkt.
2.) Die vollständige Gleichstellung von Mann und Frau sowie der effiziente Ausbau von wohlfahrtsstaatlichen Humandienstleistungen werden von der Bevölkerung als Prioritäten für die Reformpolitik genannt. Insbesondere in den Bereichen Bildung, Familie und Kinderbetreuung wird dringender Handlungsbedarf gesehen.
3.) Die Kerninstitutionen des deutschen Sozialstaats, die Sozialversicherungen, erfahren nach wie vor hohen Zuspruch in der Bevölkerung. Jedoch wird deutliches Verbesserungspotential auf der Leistungsseite ausgemacht: Ein Großteil der Befragten stuft das Niveau der Absicherung nur als „gerade ausreichend“ ein und bezweifelt, dass der Wohlfahrtsstaat die soziale Ungleichheit in Deutschland effektiv und nachhaltig bekämpfen kann.
4.) Die Verantwortung für eine adäquate Absicherung des Lebensstandards bei gesundheitlichen und sozialen Risiken liegt nach Überzeugung einer großen Mehrheit noch immer beim Staat. Sämtliche Bevölkerungsgruppen wünschen sich mindestens eine Konservierung des bisherigen Ausgabenniveaus und plädieren eher für eine weitere Expansion, statt für Aufgabenkürzungen.
5.) Zur Finanzierung des gewünschten Leistungsniveaus finden höhere Steuern auf Erbschaften, für Unternehmen und auf Vermögenswerte hohen Zuspruch. Sozialstaatliche Ausgabenkürzungen und eine staatliche Kreditaufnahme werden als Finanzierungsinstrumente abgelehnt. Gleiches gilt für eine Erhöhung der Einkommenssteuer und von Sozialabgaben.

Schauen wir uns den letzten Punkt einmal genauer an. Florian Diekmann hat genau hier angesetzt und das bereits in der Überschrift zu seinem Artikel auf den Punkt gebracht: Die Deutschen wollen mehr Sozialstaat – aber kaum dafür zahlen. »Der deutsche Sozialstaat soll stärker werden, allerdings sollen breite Schichten der Bevölkerung nicht dafür bezahlen müssen. Auch neue Schulden wollen die Deutschen nicht machen.« Die Ablehnung höherer Steuern gilt bei der Mehrheit selbst für eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, die aufgrund der hohen Freibeträge vor allem Vermögende zu spüren bekommen würden.

Wo aber soll dann das Geld herkommen?

Irgendwie von denen da oben, zu denen man selbst nicht gehört. In der Studie wird darauf hingewiesen, dass die große Mehrheit der Deutschen die soziale Ungleichheit im Land als zu groß empfindet. Dementsprechend gibt es nur bei höheren Steuern für Unternehmen und Vermögende Zustimmung.
Daraus resultiert aber, so Florian Diekmann, ein Dilemma: Höhere Steuern für Unternehmen und Vermögende allein würden aber wohl kaum ausreichen, den Wohlfahrtsstaat im gewünschten Ausmaß auszubauen.

Ein Verdacht liegt nahe: Die Deutschen haben ein paradoxes Verhältnis zur Solidarität. Aber das sich gleichsam aufdrängende Bewertungsschema einer „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“-Mentalität wird von Florian Diekmann selbst hinterfragt:

»Erstens sind selbst unter jenen Befragten zwei Drittel für höhere Vermögensteuern, die davon betroffen wären – nämlich die, die sich selbst in der Oberschicht oder oberen Mittelschicht verorten oder über ein Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 4000 Euro im Monat verfügen. Diese Leistungsfähigen sehen sich also durchaus in der Pflicht.
Und zweitens ist die Haltung nur logisch: Würde das nötige Geld über höhere Beitragssätze oder Einkommensteuern – oder gar über Kürzungen in anderen Bereichen der Sozialversicherung – erhoben, würde sich die Ungleichheit noch vergrößern.«

Nur: »Selbst wenn man die Vermögensteuer wieder einführt und die Unternehmenssteuern erhöht, dürfte das Geld kaum reichen, den Wohlfahrtsstaat wie gewünscht auszubauen und massiv in Bildung zu investieren.«

Hier wird auch ein Dilemma der Linken erkennbar. »DIE LINKE vertritt die Position der übergroßen Mehrheit: Mehr soziale Sicherheit durch Reichensteuern finanzieren.« So ein Tweet von Sarah Wagenknecht. Aber wie gesagt, das wird nicht reichen und zugleich blockiert so eine Position – bei aller berechtigten und notwendigen Debatte über ein anderes Maß der Umverteilung als heute – die Einsicht, dass wir angesichts der enormen Aufgabenbedarfe in Rente, Pflege, Gesundheit und anderen sozialpolitischen Bereichen eine deutliche Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage der sozialen Sicherungssysteme brauchen bis hin zu einer Diskussion über neue Finanzierungsquellen.

Ein anderer Aspekt, den man der Untersuchung entnehmen kann, wurde bislang nirgendwo thematisiert. Wieder werden wir Zeugen einer seit langem sichtbaren Hierarchisierung der Wohlfahrtsbedürftigkeit der einzelnen Handlungsfelder.

Man schaue sich die beiden Abbildungen am Anfang dieses Beitrags an, die der neuen Studie entnommen sind. Sowohl bei der Frage, wofür der Staat Verantwortung zu übernehmen hat wie auch hinsichtlich der Frage, wo der Staat denn mehr Gelder ausgeben sollte, finden wir ganz unten die Arbeitslosen und die Hartz IV-Empfänger.

Das ist einer der bedrückendsten Befunde, die man in der Umfrage finden kann. Offensichtlich werden wir hier mit dem konfrontiert, was ich als Dreiklang von „Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung“ von Arbeitslosigkeit, vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit, bezeichnet habe.

Die Abkoppelung der Langzeitarbeitslosen in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft hat sich verfestigt und man gesteht ihnen immer weniger bis gar nicht zu, von einem aktiven Sozialstaat profitieren zu können. Man kann es auch so zuspitzend formulieren: Ihnen wird die Schuld in die eigenen Schuhe geschoben. Unabhängig davon, dass das bei dem einen oder anderen durchaus nicht unberechtigt sein mag – eine ganze Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen, mit ihren ganz eigenen Geschichten, wird in die Kollektivhaft einer gesellschaftlichen Zuschreibung genommen, nach der es an ihnen liegt, sich aus der Arbeitslosigkeit zu befreien. Auf alle Fälle sieht man auf diese Menschen bezogen den geringsten Verantwortungsgrad staatlichen Handelns und zusätzliche Ausgaben will man gar nicht in Erwägung ziehen.

Nicht nur, aber auch wegen solcher Befunde sind die Ergebnisse der Studie beim genaueren Hinsehen für den Sozialpolitiker gar nicht so ohne. Und man sollte nicht vergessen – die Entsolidarisierung beginnt immer an den Rändern, die man noch gut verkaufen kann, aber sie frisst sich unaufhaltsam vor in die Mitte der Wohlfahrtswelt. Wenn sie da angekommen ist, wird es zu spät sein.