Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem?

Kinderarmut nimmt in Deutschland wieder zu. Unter dieser Überschrift berichtet Thomas Öchsner, dass die »Zahl der armen Kinder in Deutschland wächst: Mehr als 1,6 Millionen Jungen und Mädchen unter 15 Jahren leben von Hartz IV.« Das wurde sofort aufgegriffen: In einem der reichsten Länder der Welt steigt die Zahl von Kindern in Armut, berichtet Spiegel Online in einem Beitrag, der die gleiche Überschrift trägt wie der Artikel von Öchsner. Die FAZ hingegen scheint etwas verschnupft ob der neuen Zahlen: »Jahrelang lebten in Deutschland immer weniger Kinder von Hartz IV, weil ihre Eltern Arbeit fanden. Doch dieser Trend ist jetzt gestoppt« und stellt das unter die Überschrift Etwas mehr Kinder in Hartz IV, irgendwie etwas beleidigt daherkommend und zugleich mit der Aussage, bislang sei die Zahl der Kinder mit Hartz IV-Bezug gesunken, weil ihre Eltern eine Arbeit gefunden hätten, eine These aufstellend, die einfach in den Raum gestellt wird, denn es kann dafür auch noch andere Gründe geben.

Zwei Vorbemerkungen sind besonders relevant für eine Einordnung dessen, was hier diskutiert wird:

1. Zum einen wird „Kinderarmut“ fokussiert auf den Tatbestand des Hartz IV-Bezugs. Das kann man, wenn einem an einer Beschwichtigung des Themas gelegen wäre, damit relativieren, dass es sich beim Grundsicherungsbezug doch um „bekämpfte Armut“ handelt, denn angeblich werde hier das soziokulturelle Existenzminimum der Menschen gesichert. Aber eine andere Perspektive ist viel wichtiger: Die tatsächliche Dimension der Einkommensarmut, von der Kinder betroffen sind, ist weitaus größer als es die Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalten nahelegt, beispielsweise wenn man die Einkommensarmutsschwellen der EU zugrundelegt. An einem Beispiel kann man das aufzeigen: In Deutschland gibt es das Instrument des Kinderzuschlags, dass Eltern bekommen können, um zu vermeiden, dass sie ansonsten durch die Existenz des Kindes bzw. der Kinder zu Hartz IV-Empfänger werden würden. Man vermeidet also temporär den offiziellen Status Grundsicherungsempfänger, insofern tauchen die Kinder auch nicht in den Zahlen auf, die jetzt diskutiert werden, trotzdem sind diese Kinder knapp oberhalb der gegebenen Hartz IV-Sätze von Einkommensarmut betroffen, wenn man das nach den etablierten Standards der Armutsforschung bemessen würde.

2. Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll.

Und letztendlich geht es bei der aktuellen Debatte um die Eltern, denn die Zahlen, die von Öchsner berichtet werden, stammen aus einer neuen Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), »die der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy vorgelegt hat. Darin schlägt der DGB ein Aktionsprogramm für Eltern vor, die zusammen mit ihren Kindern schon länger von Hartz IV leben müssen.«

Laut der DGB-Studie erhalten derzeit mehr als 1,2 Millionen unter 15-Jährige seit mindestens einem Jahr Hartz IV. 642 000 dieser Kinder sind sogar seit vier Jahren oder länger auf die staatliche Hilfe angewiesen. Vor allem bei den Jüngeren sei davon auszugehen, „dass sie direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch“.

Und dann wird der DGB deutlicher, wo jetzt angesetzt werden sollte:

»Die Gefahr sei auch erheblich, dass die Eltern als Vorbilder ausfallen, schreibt DGB-Experte Adamy. Keine Arbeit zu haben, könne „eine Abwärtsspirale von sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe in Gang setzen“. Viele Eltern schaffen es dann nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern.«

Aber was kann bzw. soll man tun? Hierzu findet man in dem Artikel von Öchsner Hinweise, was zumindest der DGB fordert:

»Der DGB fordert deshalb ein Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut. Es soll sich zunächst auf die 450.000 Eltern konzentrieren, die arbeitslos gemeldet sind, Kinder im Haushalt haben, Hartz IV nicht mit einem Zusatzjob aufstocken und an keiner Maßnahme eines Jobcenters teilnehmen.
Solche Eltern müssten „eine neue berufliche Perspektive erhalten, auch um ihre Vorbildrolle gegenüber ihren Kindern zu stärken“, verlangte Buntenbach. Dem DGB schwebt dabei vor, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, „sofern eine Beschäftigung anders nicht möglich ist“. Das Programm müssten Jobcenter, Kommunen, der Bund, Wohlfahrtsverbände und Vereine gemeinsam tragen.«

Die vom DGB genannte Größenordnung von 450.000 deckt sich erstaunlich gut mit dem Ergebnis einer Quantifizierung des „harten“ Kerns an Langzeitarbeitslosen im Grundsicherungssystem, die potenziell für eine öffentlich geförderte Beschäftigung in Frage kommen und die im vergangenen Jahr vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz (IBUS) in einer Studie veröffentlicht wurde. Bei dieser Studie ging es darum, die Größenordnung derjenigen abzuschätzen, die seit langem keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen konnten und die mehrere so genannte „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen, wie sie von der BA definiert werden – ungeachtet der immer gebotenen Infragestellung und kritischen Diskussion solcher Konstruktionen ging es darum, potenzielle Kandidaten für eine öffentlich geförderte Beschäftigung zu identifizieren, bei denen man mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, dass sie mittel- und auch langfristig so gute wie keine „normale“ Chance auf Vermittlung in irgendeine Erwerbsarbeit haben werden. Die Studie kam zu den folgenden Ergebnissen hinsichtlich der Größenordnung:

»Über 609.000 beschäftigungslose Menschen in Deutschland haben mindestens vier Vermittlungshemmnisse.
Als „arbeitsmarktfern“ stufen wir die Menschen ein, die 2011 beschäftigungslos und in den letzten 36 Monaten mehr als 90 Prozent der Zeit ohne Beschäfti- gung waren und zudem mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen.
Nach unserem Messkonzept zählen 435.178 Menschen zu den arbeitsmarktfernen Personen, die für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage kommen – auf Grundlage der restriktiven Bestimmung der möglichen Zielgruppe, wie sie der Gesetzgeber vorgegeben hat. In den Haushalten mit diesen 435.178 Personen leben über 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders von der Situation ihrer Eltern betroffen sind und die von einer teilhabeorientierten öffentlich geförderten Beschäftigung ihrer Eltern unmittelbar und mittelbar profitieren würden, was angesichts der bekannten zerstörerischen Effekte von Langzeitarbeitslosigkeit auch und gerade auf das System Familie einen eigenen Wert darstellt, der für die Nutzung des Instruments öffentlich geförderte Beschäftigung spricht.« (Obermeier/Sell/Tiedemann 2013: 3)

Die gesamte Studie hier im Original:

Obermeier, Tim; Sell, Stefan und Tiedemann, Birte: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013).

Nun muss man allerdings anmerken, dass gerade die Angebote öffentlich geförderter Beschäftigung in den Jahren seit 2010 massiv zurückgefahren worden sind, schon bei einer rein quantitativen Betrachtung. Wir sprechen hier von Rückgängen von 50% und mehr in wenigen Jahren. Zugleich aber wurde auch die (mögliche) Qualität der öffentlich geförderten Beschäftigung nach unten gedrückt, da der Gesetzgeber das Förderrecht in den vergangenen Jahren systematisch derart verengt hat, dass nunmehr im Wesentlichen nur noch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“) bezeichnet, übrig geblieben sind und zugleich müssen die Tätigkeiten, um angebliche Konkurrenzen zum ersten Arbeitsmarkt zu verhindern, so künstlich ausgestaltet werden, dass man erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit vieler dieser Tätigkeiten haben muss.

Wenn also die an sich schlüssige Forderung des DGB wirklich mit sinnvollen Leben gefüllt werden soll, dann müsste ein solches „Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut“ voraussetzen, dass a) nicht nur mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden, b) die Teilnahme an einem solchen Programm für die Betroffenen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren sollte, sondern c) vor allem bei der anstehenden SGB II-Reform dafür Sorge getragen wird, dass das völlig kontraproduktive Förderrecht hinsichtlich der öffentlich geförderten Beschäftigung derart umfassend entschlackt und neu ausgerichtet wird, dass man überhaupt sinnvolle Beschäftigungsangebote organisieren könnte. Das ist derzeit nicht gegeben.

Wenn diese Rahmenbedingungen geschaffen bzw. ermöglicht werden, dann ist das im Grunde ein Ansatz von zentraler Bedeutung, die weit über die Einkommensfrage hinausgeht. Denn tatsächlich ist es so, dass man gar nicht unterschätzen kann, was für eine gesellschaftspolitisch verheerende Wirkung lang andauernde Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen wie auch auf die Gesellschaft insgesamt hat. Und auf die Kinder sowieso.

Aber die Signale aus der Politik stimmen angesichts der Größenordnung des Problems nicht gerade vielversprechend. Für den Herbst dieses Jahres hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein neues Programm für die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen in Aussicht gestellt. » Das Arbeitsministerium will Langzeitarbeitslose mit einem neuen ESF-Bundesprogramm in Betrieben unterbringen, die hierfür Lohnkostenzuschüsse erhalten. Betriebsakquisiteure sollen geeignete Arbeitgeber finden und Coaches die Teilnehmer sozialpädagogisch betreuen. Die Arbeitsmarktfernsten könnten aber kaum profitieren. Das geht aus einem Entwurf der Förderbedingungen hervor«, so der Artikel Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose: Details zum neuen ESF-Bundesprogramm auf O-Ton Arbeitsmarkt. Die Kritik richtet sich vor allem gegen zwei Punkte: Zum einen soll das neue Programm 30.000 Teilnehmer erreichen (wenn die denn überhaupt erreicht werden) – viel zu gering dimensioniert angesichts der quantitativen Herausforderungen. Darüber hinaus sind die Förderstrukturen des geplanten Programms so schlecht, dass man sich eher auf ein Scheitern in der Praxis einstellen sollte:

»Neu ist die Idee, Langzeitarbeitslose mittels Lohnkostenzuschüssen in der Privatwirtschaft unterzubringen, nicht. Mit dem Beschäftigungszuschuss (BEZ) bzw. dem Nachfolgeinstrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) gibt es seit Jahren die Möglichkeit, Löhne für schwer vermittelbare Arbeitslose staatlich zu subventionieren. Hinzu kommt: Bei der FAV ist ein Zuschuss von 75 Prozent für die gesamte bis zu 24-monatige Förderdauer möglich. Beim neuen Bundesprogramm hingegen erhalten die Arbeitgeber umgerechnet auf die gesamte Förderdauer etwas mehr als 40 Prozent Zuschüsse für die regulär geförderten und 63 Prozent für die intensiv geförderten Teilnehmer (bei einer dreijährigen Förderung).«

Wieder einmal beschleicht einen das Gefühl, dass hier seitens der Politik Aktivitätssimulation betrieben werden soll. Wenn man wirklich in die Richtung marschieren wollte, wie sie der DGB anmahnt, dann muss da noch einiges an Substanz nachgereicht werden.

Offizielle Arbeitslose statistisch auf der Flucht, viele tatsächliche Arbeitslose im Niemandsland der Nicht-Zählung und viel wichtiger: Die Baustelle Hartz IV zwischen vielen kleinen geplanten Änderungen und dem Ruf nach einer grundsätzlichen Reform

„Die Arbeitslosigkeit ist allein aus jahreszeitlichen Gründen angestiegen. Der Arbeitsmarkt steht insgesamt stabil da.“ Mit diesen Worten wird der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-J. Weise, anlässlich der Präsentation der neuen Arbeitsmarktzahlen für den Juli 2014 in der Pressemitteilung Der Arbeitsmarkt im Juli 2014: Arbeitslosigkeit steigt allein aus jahreszeitlichen Gründen zitiert. Dann wird die Zahl genannt, die im Anschluss durch die Medien geistert: 2.871.000 Arbeitslose gibt es. Aber eigentlich sind es mehr. Denn einige Zeilen später weist die BA selbst darauf hin, dass es 3.756.000 Personen sind, was ja ein paar mehr sind als die erstgenannte Zahl. Die BA nennt das dann „Unterbeschäftigung“ und da sind eben auch die enthalten, die sich „in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit“ befinden, aber natürlich weiterhin arbeitslos sind. Aber damit noch nicht genug. Während die meisten Medien immer noch nicht einmal bis zu dieser, die Wirklichkeit schon etwas besser abbildenden Zahl der Arbeitslosen vordringen, sondern bei den niedrigeren 2,8 Millionen hängen bleiben, kann man der Verlautbarung der BA eine noch größere Zahl entnehmen, die dann vollends zu verwirren scheint und gleichzeitig zu dem hier besonders interessierenden Thema Hartz IV überleitet.

»Die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) lag im Juli bei 4.395.000 … In der Grundsicherung für Arbeitsuchende waren 1.963.000 Menschen arbeitslos gemeldet … Ein Großteil der Arbeitslosengeld II-Bezieher ist nicht arbeitslos.« Wir werden auch darüber informiert, wie es zu dieser Lücke kommen kann: »Das liegt daran, dass diese Personen erwerbstätig sind, kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich noch in der Ausbildung befinden.« Wir haben also neben den 909.000 Arbeitslosen, die sich (noch) in der Arbeitslosenversicherung befinden, nicht nur fast 4,4 Mio. erwerbsfähige Menschen, die Arbeitslosengeld II bekommen, obgleich nur eine Minderheit von ihnen als offizielle Arbeitslose geführt werden, sondern mit Blick auf das Grundsicherungssystem kommen noch mehr als 1,7 Mio. nicht erwerbsfähige Leistungsempfänger hinzu, die Sozialgeld bekommen, vor allem Kinder. Zusammen macht das 6,1 Millionen Menschen im Hartz IV-System. Die Abbildung der BA verdeutlicht etwas die Verhältnisse. Und dieses System soll nun – wieder einmal – vom Gesetzgeber an mehreren Stellen verändert werden, während gleichzeitig der Sozialverband Deutschland (SoVD) eine umfassende Hartz-Reform fordert.

Weniger Bürokratie, strengere Auflagen – so hat Rainer Woratschka seinen Artikel betitelt und will damit bereits in der Schlagzeile auf die Ambivalenz hinweisen, die sich mit den derzeit diskutierten und im Herbst in das Gesetzgebungsverfahren einzubringenden Änderungen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz unter Beteiligung von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit verbindet. Die Liste der geplanten Rechtsvereinfachungen, die das Bundesarbeitsministerium während des Sommers in Gesetzesform gießen soll, umfasst 36 Punkte. Für die derzeit mehr als 6,1 Mio. Hartz IV-Empfänger verbergen sich hinter diesen Punkten mehr Großzügigkeit, aber auch schärfere Vorgaben. Das generelle Ziel der Veränderungen sei angeblich, mehr Zeit für die Betreuung der Arbeitsuchenden in den Jobcentern freizuschaufeln, wogegen man ja nun erst einmal nichts haben kann. Beginnen wir mit einigen positiven Veränderungen des bestehenden Rechts:

»Die Pfändbarkeit von Hartz-IV-Bezügen soll künftig generell ausgeschlossen und nicht mehr Einzelprüfungen unterzogen werden, bei denen man ohnehin fast immer zu dem gleichen Ergebnis kam. Und auch die Sanktionen bei sogenannten „Pflichtverletzungen“ sollen entschärft werden. So ist künftig nur noch ein einheitlicher Minderungsbetrag pro Fall und unabhängig von etwaigen Wiederholungen vorgesehen. Und gesonderte Sanktionsregeln für unter 25-Jährige soll es auch nicht mehr geben. Damit kommen die Regierenden einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuvor, das die bisherigen Sonderregeln womöglich kassiert hätte.«

Aber es gibt auch eine andere Seite der neuen Änderungsvorschläge:

»Tatsächlich mündet mancher Vorschlag zur Beseitigung unsinniger Detailhuberei für Betroffene auch in eine Verschärfung. So soll die Regelung, Hartz- IV-Bezieher beim Umzug in eine teurere Wohnung selbst dann auf den Differenzkosten sitzen zu lassen, wenn die neue Unterkunft von Größe und Preis her als „angemessen“ eingestuft wird, nun auch auf diejenigen ausgeweitet werden, die in eine „unangemessene“ Wohnung ziehen. Auch sie sollen nicht mehr die „angemessenen“, sondern nur noch die Kosten ihrer früheren, billigeren Wohnung erstattet bekommen … Auch Nachzahlungen aufgrund von Grundsatzurteilen, mit denen die bisherige Verwaltungspraxis korrigiert wird, soll es künftig seltener geben. Die Politik will vermeiden, dass die Jobcenter „massenhaft Leistungen rückwirkend neu berechnen müssen“.«

Die Kritik an diesem Sammelsurium lässt nicht lange auf sich warten: Von einem „Apparatschik-Klein-Klein“ und der puren Glättung von Verwaltungsabläufen spricht beispielsweise Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Wolfgang Strengmann-Kuhn wird mit den Worten zitiert, der Ertrag der Arbeitsgruppe sei „mehr als dürftig“.

„Klein-klein“ und „mehr als dürftig“ hinsichtlich der vorgeschlagenen Änderungen im SGB II muss man auch vor dem Hintergrund der folgenden Überschriften lesen: Hartz-IV-Bilanz »niederschmetternd«Bankrotterklärung oder Verband zieht verheerende Hartz-IV-Bilanz. Das hört sich nicht gut an. Hintergrund dieser Artikel ist ein neues Positionspapier des Sozialverbands Deutschland (SoVD):

Sozialverband Deutschland (SoVD): Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik. Inklusion statt Hartz IV, Berlin, Juli 2014

Verfasserinnen des Papiers sind Ursula Engelen­-Kefer und Gabriele Hesseken. Es sind vor allem drei Punkte, um die herum der Sozialverband seine Forderungen sortiert:

  1. Arbeitslose Menschen dürfen nicht länger als Menschen mit Defiziten betrachtet und ausgesondert werden. Die Stärkung ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten muss im Vordergrund der künftigen Arbeits­marktpolitik stehen. Dies erfordert ein ausreichendes Angebot an qualifizierter Arbeit mit fairer Ent­lohnung und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.
  2. Langzeitarbeitslose Menschen, die über einen längeren Zeitraum erwerbstätig waren und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, müssen finanziell besser gestellt werden. Für sie muss es eine zusätzliche Geldleistung zu „Hartz IV“ geben, um ihr Armutsrisiko abzufedern.
  3. Die Vermittlung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen ist erheblich zu verbessern. Die Betreuungs­-, Vermittlungs­- und Eingliederungsleistungen sind für sämtliche Arbeitslosen allein bei der Bundesagentur für Arbeit anzusiedeln.

An dieser Stelle kann keine Gesamtauseinandersetzung mit der Gesamtheit der SoVD-Vorschläge geleistet werden, aber an zwei aus den Vorschlägen herausgegriffenen Beispielen soll durchaus kritisch aufgezeigt werden, dass es sich weniger um eine fundamentale Hartz-Reform handelt, die hier gefordert wird, sondern eher um ein „add on“-Modell, bei dem also auf das weiter bestehende System etwas raufgepackt werden soll und zugleich werden alte Schlachten hinsichtlich der Frage, wer denn nun die Hartz IV-Empfänger „betreuen“ soll – die Bundesagentur für Arbeit oder die Kommunen oder beide zusammen – erneut zugunsten des „Arbeitsamtsmodells“ auf die Tagesordnung gesetzt, was sicher auch damit zu tun hat, dass eine der Verfasserinnen Ursula Engeln-Kefer ist, die früher jahrelang als stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit im Verwaltungsrat gewirkt hat. Diese einseitige Positionierung für die BA erscheint irgendwie etwas gestrig.

Vorweg allerdings sei besonders hervorgehoben, dass ein Paradigmen- und Perspektivenwechsel mit Blick auf die betroffenen Menschen im Grundsicherungssystem eingefordert wird und es werden konkrete Veränderungsvorschläge gemacht, die weit über das hinausgehen, was wir seitens der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Kenntnis nehmen müssen. Damit wird hier die besondere Problematik adressiert, dass eine leider immer größere Gruppe von langzeitarbeitslosen Menschen offensichtlich auf Dauer exkludiert werden vom Arbeitsmarkt und man gleichzeitig die Förderbedingungen und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel immer weiter begrenzt hat, wodurch sich in den Jahren seit 2010 zunehmend ein Teufelskreis der „Verfestigung“ und der „Verhärtung“ von Langzeitarbeitslosigkeit herausgebildet hat.

Nun aber zu den beiden – exemplarischen – Anfragen an die Reformvorschläge:

Auf der Seite 20 des Positionspapiers findet man diesen Hinweis: „Öffentlich geförderte Beschäftigung weiterentwickeln“. Und ein erster Blick scheint zu belegen, dass hier eine der ansonsten nur wenigen die öffentlich geförderte Beschäftigung befürwortende Positionierungen erfolgt: »Besonders schwer haben es Langzeitarbeitslose, die trotz erheblicher Vermittlungsbemühungen der Arbeitsverwaltung derzeit kaum noch Aussicht darauf haben, in den ersten Arbeits­markt integriert zu werden. Der SoVD setzt sich für die Schaffung öffentlich geförderter und sozial­ versicherungspflichtiger Beschäftigung mit tarif­- bzw. ortsüblichen Löhnen für diesen Personenkreis ein. Diese müssen die Ein­-Euro­-Jobs ersetzen. Es muss ein Anspruch auf eine sozialversicherungs­pflichtige öffentlich geförderte Beschäftigung geschaffen werden, um die Beschäftigungsfähigkeit der benachteiligten Personengruppen zu verbessern, ihre Qualifikationen zu erweitern und damit ihre Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Annahme einer öffentlich geför­derten Beschäftigung mit Sozialversicherungspflicht muss freiwillig sein.« So weit, so gut. Dann aber fällt das Papier in den alten Geist der auf dem Kopf stehenden öffentlich geförderten Beschäftigung zurück, denn es wird gefordert: »Um der latenten Gefahr der Verdrängung von regulärer Arbeit durch öffentlich geförderte Beschäftigung entgegenzuwir­ken, sind nur solche Beschäftigungsverhältnisse zu fördern, in deren Rahmen wettbewerbsneutrale, zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten erledigt werden.« Also Wettbewerbsneutralität – übrigens erst mit der letzten restriktiven Ausgestaltung des Förderrechts von einer untergesetzlichen Norm „geadelt“ durch die direkte Implementierung im Gesetz – wird seit Jahren von sehr vielen Experten und vor allem Praktikern als eine der zentralen Ursachen dafür identifiziert, dass wir konfrontiert werden mit teilweise hanebüchen ausgestalteten Maßnahmen, die so weit weg sein müssen vom ersten Arbeitsmarkt, dass sie mit großer Sicherheit auch den Betroffenen kaum neue Perspektiven eröffnen können. Hier sind die Forderungen des SoVD weit hinter dem zurückgeblieben, was seit Jahren im Fachdiskurs debattiert und entwickelt worden ist.

Das zweite Beispiel betrifft die Forderung, – so könnte man es scheinbar zynisch formulieren, hier aber erst einmal ohne irgendeinen Unterton gemeint – ein „Zwei-Klassen-System“ innerhalb der Grundsicherung einzuführen. Und diese Forderung wird intuitiv bei vielen Menschen auf eine zustimmende Wahrnehmung stoßen, die sich vor allem speist aus der tiefen Verankerung des Äquivalenzprinzips in der deutschen Kollektivseele. Der SoVD fordert (S. 26-31) zahlreiche Verbesserungen im bestehenden Arbeitslosengeld II-System, um dann eine weitere, neue Komponente vorzuschlagen: das »Arbeitslosengeld II Plus«. Dazu erfahren wir:

»Der SoVD fordert die Einführung einer zusätzlichen unbefristeten Geldleistung („Arbeitslosen­geld II Plus“), die neben dem Arbeitslosengeld II gewährt wird und im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I beansprucht werden kann. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll anerkannt wer­ den, dass die ehemaligen Arbeitslosengeld I­Empfänger bzw. die ­empfängerinnen durch oftmals langjährige Erwerbstätigkeit einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung geleistet haben. Mit dem Arbeitslosengeld II Plus soll gleichzeitig ein Teil der Einkommenseinbußen ausgeglichen werden, die regelmäßig beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in den Bezug von Arbeitslosengeld II entsteht. Der Höhe nach muss sich das Arbeitslosengeld II Plus vor allem an dem zuvor bezogenen Arbeitslo­sengeld I orientieren. Dabei könnte als Richtschnur für die Höhe des Arbeitslosengeldes II Plus der ehemalige befristete Zuschlag dienen. Dieser errechnete sich im ersten Bezugsjahr aus zwei Drit­teln der Differenz zwischen dem vormaligen Arbeitslosengeld I zuzüglich Wohngeld und dem nach Bedürftigkeit zustehenden Arbeitslosengeldes II. Gleichzeitig war er auf Höchstbeträge beschränkt, nämlich auf 160 Euro für Alleinstehende, 320 Euro für Paare plus 60 Euro für jedes minderjäh­rige Kind. Im Gegensatz zum ehemaligen befristeten Zuschlag, der nach einem Bezugsjahr halbiert wurde, sollte das Arbeitslosengeld II Plus in voller Höhe und zeitlich unbefristet gewährt werden.« (S. 31 f.)
Man will also für eine bestimmte Gruppe unter den Leistungsempfängern deren monetäre Besserstellung durch Zuschläge auf die weiterhin bestehende Grundsicherungsleistung. Die wird zwar hinsichtlich der Leistungshöhe kritisiert, nicht aber als solche in Frage gestellt, was aber auch bedeutet, dass man akzeptiert, dass es sich um eine bedürftigkeitsabhängige Fürsorgeleistung handelt. Offensichtlich will man gleichsam einen „Echoeffekt“ aus dem Versicherungssystem in das Grundsicherungssystem verlängern und das nicht nur für eine bestimmte wie auch immer definierte Übergangsphase, sondern dauerhaft soll dieser Zuschlag fließen. Da kann man schon auf die Idee kommen, dass es hier noch einen erheblichen Diskussionsbedarf gibt.

Ob „Klein-klein“ oder aber die Verbesserungsvisionen des Sozialverbands Deutschland – offensichtlich wird der jetzt anstehende 10. Geburtstag von Hartz IV nicht der letzte bleiben.

Je näher der gesetzliche Mindestlohn kommt, desto konkreter werden die offenen Fragen. Beispielsweise: Wer ist eigentlich ein Langzeitarbeitsloser und wie erkennt man rechtssicher einen solchen?

Der flächendeckende, gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 € pro Stunde kommt – zum 1. Januar 2015 ist es soweit. Jedenfalls im Prinzip. Denn es gibt Ausnahmen von dem – eigentlich – alle umfassenden Mindestlohn. Darüber wurde in den vergangenen Wochen und Monaten heftig diskutiert. Eine dieser Ausnahmen bezieht sich auf die Langzeitarbeitslosen. Hier hatte sich die große Koalition auf eine Ausnahmeregelung verständigt, die vorsieht, dass Arbeitgeber, die einen Langzeitarbeitslosen einstellen, in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht verpflichtet sind, den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde zahlen zu müssen. Die offizielle Begründung für diesen Schritt lautete: Man wolle die Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen durch einen „zu hohen“ Einstiegslohn nicht gefährden. Als ein solcher wird offensichtlich die allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 € pro Stunde gesehen, die man gerade flächendeckend einführt.

Im Umfeld dieser Ausnahmeregelung wurde schon viel Kritik vorgetragen an der Sinnhaftigkeit bzw. an der Unsinnigkeit dieser Ausnahmeregelung. Nun steht die aber im Gesetz und jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie man diese Regelung im Alltag der Unternehmen umsetzen kann bzw. muss. Und ganz offensichtlich, folgt man einen neuen Artikel in der Print-Ausgabe der FAZ mit dem Titel „Die Mindestlohn-Ausnahme wird zur Stolperfalle“, handelt es sich bei dieser Ausnahmeregelung nur auf den ersten Blick um eine vermeintlich einfache Regelung. Offensichtlich, so der Artikel, stellen sich für die Praktiker mehrere offene Fragen. So wird beispielsweise die Beigeordnete für Soziales und Arbeit beim Deutschen Landkreistag, Irene Vorholz, mit den Worten zitiert: »Allerdings fragt sich aus Sicht der Praxis, wie genau festgestellt werden soll, wer langzeitarbeitslos ist.« Dies sei angeblich bislang nicht zufriedenstellend geklärt.

Schaut man in die gesetzliche Definition, dann diejenige  Personen als Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr ununterbrochen arbeitslos sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Zeiten von Krankheit oder die Teilnahme an bestimmten – die Betonung liegt hierbei auf bestimmten – Fördermaßnahmen innerhalb dieser Jahresfrist nicht als Unterbrechung der Arbeitslosigkeit gewertet werden. Bei anderen Fördermaßnahmen ist das allerdings anders, denn dann beginnen die Langzeitarbeitslosen hinsichtlich ihrer statistischen Dauerexistenz wieder bei Null, gelten also als Kurzzeit-Arbeitslose, was sie faktisch in der Realität aber natürlich nicht sind. Das wird übrigens in den Jobcentern bei der praktischen Arbeit auch berücksichtigt – also obgleich die dann in der Statistik mit den derzeit 1,1 Millionen Langzeitarbeitslosen nicht mehr mitgezählt werden, behandelt man sie bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzung „Langzeitarbeitslosigkeit“ als Zugangskriterium für bestimmte Fördermaßnahmen aber als solche, weil sie es ja auch faktisch sind.

Für die anstehende Mindestlohn-Ausnahme-Praxis stellt sich nun die entscheidende Frage, wie ein Arbeitgeber überhaupt rechtssicher feststellen kann, ob ein Bewerber in diesem gesetzlichen Sinne langzeitarbeitslos ist. Denn das muss er ja wissen, um die Ausnahmeregelung, in den ersten sechs Monaten niedriger bezahlen zu können, in Anspruch nehmen zu können. Denn andernfalls müsste der Arbeitgeber ständig befürchten, dass er wegen illegaler Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns auch im Nachhinein belangt werden kann.

Der Artikel berichtet, dass derzeit im Bundesarbeitsministerium an den Durchführungsbestimmungen zum Mindestlohngesetz gearbeitet wird. Es wird behauptet, dass es den Arbeitgebern eher schwer gemacht werden soll, die Mindestlohn-Ausnahme zu nutzen. Angeblich »würde es nicht ausreichen, dass ein Bewerber persönlich versichert, er sei langzeitarbeitslos. Vielmehr ist vorgesehen, dass Langzeitarbeitslosigkeit amtlich bescheinigt sein muss, bevor der Mindestlohn unterschritten werden darf.« So weit, so gut – würde der eine oder die andere an dieser Stelle denken. Das dürfte doch eigentlich kein Problem sein, wenn das Jobcenter dem Arbeitgeber diesen Tatbestand bescheinigt. Aber so einfach scheint es nicht zu sein: »Ungeklärt sei indessen noch, ob diese Bescheinigung wirklich ein rechtsverbindlicher Bescheid sein werde – oder ob dem Arbeitgeber am Ende trotzdem noch Ärger droht, falls sich später herausstellt, dass der Mitarbeiter im strengen Rechtssinn nicht langzeitarbeitslos war.«

Das kommt irgendwie putzig daher: Da stellt eine Behörde eine Bescheinigung aus, dass ein von ihr betreuter Mensch langzeitarbeitslos sei, zugleich aber soll die Möglichkeit bestehen, das für den Empfänger dieser Bescheid keine Rechtsverbindlichkeit hat, er sich also im Fall der Fälle nicht darauf berufen kann.

Man kann das auch als skurril bezeichnen.

Allerdings gilt das gleiche auch für den Alternativvorschlag, der von Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag vorgetragen wird: »Einfacher wäre eine Regelung gewesen, bei der die Erklärung des Betroffenen, bisher langzeitarbeitslos zu sein, ausreicht«, sagt Frau Vorholz. Das ist natürlich ebenso problematisch, denn hier öffnet sich durchaus eine problematische Missbrauchstür, denn der Arbeitgeber kann später bei einer solchen scheinbar einfachen Regelung immer behaupten, dass der Arbeitnehmer ihm gegenüber bestätigt habe, dass er langzeitarbeitslos sei und dass er in Treu und Glauben darauf gebaut hat, dass das schon seine Richtigkeit habe.

Aber damit nicht genug. Je länger man über einen Sachverhalt nachdenkt, umso mehr offene Fragen stellen sich. So beispielsweise, »was geschehen soll, wenn der Arbeitslose nach Inkrafttreten des Mindestlohns am 1. Januar 2015 sein Status gar nicht offen legen will.« Aus Datenschutzgründen können Jobcenter oder Arbeitsagenturen solche Information bisher nicht an Arbeitgeber weitergeben – es sei denn, es liegt eine ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen vor.
Und für die Jobcenter stellt sich eine weitere problematische Dimension des Themas, nämlich ein möglicher Zielkonflikt zwischen den Datenschutz und den so genannten Zumutbarkeitsregeln, worauf der Artikel hinweist – eine übrigens hochbrisante Frage, denn mit der Zumutbarkeitsregelung sind im bestehenden Recht Sanktionen gegenüber den Leistungsbeziehern verbunden:

»Kann man von Langzeitarbeitslosen, für deren Lebensunterhalt der Staat bezahlt, verlangen, dass sie notfalls auch eine Arbeit für anfangs weniger als 8,50 € annehmen? Eine Arbeit also, die der Ausnahmeklausel im Mindestlohngesetz entspricht? Nein, lautet dem Vernehmen nach die Antwort. Denn den Plänen zufolge sollen Langzeitarbeitslose auch in diesem Fall verweigern können, dass die entscheidende Information an Betriebe weitergegeben wird.«

Ja, so sind sie, die Untiefen der Praxis, wenn man eine scheinbar einfache Regelung wie einen allgemeinen, gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn mit Ausnahmetatbeständen verunstaltet.

Die grundsätzliche Problematik der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose muss an dieser Stelle aber erneut in Erinnerung gebracht werden dürfen. Dazu bereits mein Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ vom 1. April 2014:

Wenn die GroKo im Streit über den Mindestlohn um sich kreist, dann muss jemand Opfer bringen. Wenn nimmt man da? Wie wäre es mit den Langzeitarbeitslosen? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich darüber jemand aufregt, ist überschaubar und beherrschbar. Aus der Berliner Perspektive

In diesem Beitrag habe ich zwei Hauptkritikpunkte entwickelt:

  • Zum einen ist es mehr als irritierend, dass in einem Gesetz, das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ genannt wird und in dem der Mindestlohn als ein Bestandteil enthalten ist, eine Ausnahmeregelung eingebaut wird, die aber nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das Unternehmen nicht tarifgebunden ist, denn in den anderen Unternehmen ist eine Vergütung der Langzeitarbeitslosen unterhalb der 8,50 € zumeist durch die tarifvertragliche Struktur von vornherein ausgeschlossen. Denkt man das also weiter, »dann hätte das zur Folge, dass tarifgebundenen Unternehmen, die sich also an die Regeln halten, die man doch fördern möchte, dergestalt bestraft werden, dass sie bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen diesem den gesetzlichen Mindestlohn mindestens schulden, während genau die Unternehmen, die sich außerhalb der Tarifbindung befinden, den Lohn nach unten drücken können. Ich bin gespannt, mit welcher mir sich derzeit nicht mal in Spurenelementen erschließenden Logik man das zu begründen glauben meint.« Dazu habe ich bislang nichts hören oder lesen können.
  • Zum anderen ist die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose auch systematisch falsch: »Es gibt vor allem angesichts der erheblichen Heterogenität der so genannten Langzeitarbeitslosen keine wirklich überzeugende Begründung, diese generell von der Gültigkeit eines Mindestlohnes auszuschließen. Wenn einzelne Arbeitslose teilweise oder erheblich leistungsgemindert sind, so dass ihre Produktivität eine Einstellung zu den gegebenen Mindestlohnbedingungen verhindern würde, dann muss man mit einem bekannten und erprobten und an dieser Stelle auch sinnvollen Instrumentarium gegensteuern und eine solche Einstellung ermöglichen: Hierzu gibt es das Instrument der Lohnkostenzuschüsse, mit deren Hilfe dann eine möglicherweise vorhandene lohnkostenbedingte Einstellungshürde beseitigt oder zumindest abgemildert werden kann.«