100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«

Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht

Entweder-oder. Alles-oder-nichts. 100 Prozent ja oder 100 Prozent nein. Das ist der Algorithmus, wenn es um die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland geht. Und damit um ein Thema, das auf der einen Seite höchst elementar für die Arbeitnehmer ist, denn die meisten waren schon mal krank geschrieben – sei es wegen einer Grippe oder wegen komplizierter Erkrankungen. Und dann will man nicht wegen der Erkrankung ins materiell Bodenlose fallen müssen, sondern selbstverständlich braucht man eine Absicherung für das eigene und bei den meisten Arbeitnehmern auch das einzige Vermögen – die Einnahmen aus dem Verkauf der Arbeitskraft. Deshalb hat man in der Vergangenheit, also der Sozialstaat auf- und ausgebaut wurde, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Der Regelfall heute: 6 Wochen lang muss der Arbeitgeber die Bezüge weiterzahlen. Sollte dann die Arbeitsunfähigkeit weiter anhalten, dann rutschen die Betroffenen in den Krankengeldbezug (70 Prozent des letzten Bruttogehalts und damit schon deutlich weniger als vorher bei der Lohnfortzahlung). Die Krankenkassen wiederum müssen diese Leistung finanzieren aus ihren Beitragseinnahmen. Aber es gibt – das soll hier nicht verschwiegen werden – noch eine andere Dimension der Krankschreiben, die immer mehr oder weniger explizit mitschwingt, zuweilen auch mal die Oberhand zu gewinnen scheint: Gemeint ist der Vorwurf bis hin zur Tatsache, dass es Zeitgenossen gibt, die sich einen „blauen Montag“ machen oder auch zwei. Also Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, um nicht arbeiten zu müssen. Sicher und bei weitem nicht die Mehrheit, aber es gibt auch diese Exemplare.

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Die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen es alleine stemmen. Die Lastenverschiebung in der Sozialversicherung hin zu den Arbeitnehmern bekommt ein Update

In diesen Tagen der Fokussierung auf das Flüchtlingsthema gehen so manche Nachrichten aus der Welt der Sozialpolitik schlichtweg unter. Zugleich wird man an Dinge erinnert, die vor geraumer Zeit in diesem Blog notiert wurden. Fangen wir damit an: Am 14. Juni 2014 wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen. Daraus darf und muss man einiges in Erinnerung rufen: Bis zum Jahr 2008 gab es kassenindividuelle Beitragssätze, teilweise mit einer erheblichen Varianz zwischen den einzelnen Krankenkassen. Dann wurde von der damaligen Großen Koalition das System grundlegend verändert – 2009 wurde der „Gesundheitsfonds“ eingeführt, gewissermaßen der „dritte Weg“ im damaligen Lager-Streit zwischen einer „Bürgerversicherung“ und der „Gesundheitsprämie“. Für alle Versicherten wurde ein bundeseinheitlicher Beitragssatz eingeführt. Die Einnahmen,  die darüber generiert werden, müssen von den Kassen in einem ersten Schritt an den „Gesundheitsfonds“ abgeführt werden. Das Bundesversicherungsamt, dass den Fonds verwaltet, verteilt dann die Einnahmen in Form einer Zuweisung wieder an die einzelnen Kassen auf der Basis eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (RSA). Der bundeseinheitlicher Beitragssatz von 15,5 % verteilt sich – anders als in der früheren Welt – nicht mehr paritätisch auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern die Arbeitnehmerseite muss einen höheren Beitragssatz zahlen (8,2 % statt 7,3 % auf der Arbeitgeberseite), da die Versicherten einen besonderen Beitragsanteil in Höhe von 0,9 Prozentpunkten alleine aufzubringen haben. Gesetzliche Krankenkassen, die mit den aus dem Gesundheitsfonds zugeteilten Mitteln ihre Ausgaben nicht refinanzieren können, müssen bislang einen einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben (seit 2011 im Grunde nicht mehr nach oben begrenzt, aber mit einem Sozialausgleich, mit dem verhindert werden soll, dass der Zusatzbeitrag mehr als zwei Prozent des beitragspflichtigen Einkommens in Anspruch nimmt). So war das in der alten Welt, bevor die Große Koalition kam.

Denn die hat das System der Krankenkassenfinanzierung verändert – durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG). Das war eine wichtige Weichenstellung, denn: Der paritätisch finanzierten Beitragssatz wurde auf 14,6% gesenkt, während der Arbeitgeberanteil bei 7,3% eingefroren wurde.

Einkommensunabhängige pauschale Zusatzbeiträge werden abgeschafft, stattdessen wird der Zusatzbeitrag in Zukunft als prozentualer Anteil von den beitragspflichtigen Einnahmen erhoben. Da so der Solidarausgleich bei den Zusatzbeiträgen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert wird, ist ein steuerfinanzierter Sozialausgleich nicht mehr erforderlich und Mehrbelastungen des Bundes entfallen.

Die heute wieder aufzurufende Schlussfolgerung aus dem damaligen Beitrag lautet:

»Der sozialpolitische entscheidende, hoch problematische Punkt ist die Tatsache, dass der Zusatzbeitrag alleine von den Versicherten aufgebracht werden muss und dass der Arbeitgeber-Anteil von 7,3% auf Dauer eingefroren wird. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass alle zukünftigen Kostenanstiege in der Gesetzlichen Krankenversicherung, wenn diese dann ihren Niederschlag finden in entsprechend steigenden Beitragssätzen zur GKV, ausschließlich von den Versicherten zu tragen sind.«

Genau das können und müssen wir in diesen Tagen beobachten: GKV-Beiträge steigen um 0,2 Prozentpunkte, so eine der vielen Meldungen zum Thema. »Der durchschnittliche Beitrag für die gesetzliche Krankenversicherung steigt im kommenden Jahr voraussichtlich um 0,2 Prozentpunkte auf 15,7 Prozent.«

Und wir reden hier nicht über Peanuts, wenn wir von 0,2 Prozentpunkte Beitragssatzanstieg sprechen, denn daraus resultieren zusätzliche Einnahmen von etwas mehr als zwei Milliarden Euro. Diesen Anstieg müssen Versicherte allein tragen. Die prozentuale Belastung für Arbeitgeber bleibt davon unberührt.

Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen muss, dass das nicht für alle Versicherten bedeuten muss, dass ab dem 1. Januar des kommenden Jahres höhere Beiträge fällig werden, denn das ist eine Entscheidung der einzelnen Krankenkassen, ob sie das weiterreichen an ihre Versicherten und den Zusatzbeitrag anheben – oder den Kostenanstieg auf anderem Wege zu kompensieren versuchen.

Bereits jetzt zahlten Versicherte über zehn Milliarden mehr als Arbeitgeber, im kommenden Jahr steigt die Differenz auf 13 Milliarden Euro.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, wenn man konfrontiert wird mit solchen Botschaften: Rufe nach Rückkehr zur Parität werden lauter:

»Unisono forderten die Gesundheitspolitiker wie Hilde Mattheis (SPD), Harald Weinberg (Linke) und Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen), Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichmäßig zu belasten. Dem hat sich der Ersatzkassenverband (vdek) angeschlossen.«

Man kann es auch so ausdrücken: Ruf nach „Halbe-Halbe“ System, ein Beitrag von Peter Mücke , in dem darauf hingewiesen wird, dass die Forderung nach dem alten paritätischen System immer lauter wird. Und in diesem Artikel wird auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zitiert:

„Es ist jetzt die Zeit, in der wir über eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung nachdenken müssen“, sagt etwa SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Er geht davon aus, dass der Zusatzbeitrag im Wahljahr 2017 wegen weiterer Reformen noch stärker steigen wird.

Das nun wieder ist aufschlussreich, wenn man ein Blick wirft in den Blog-Beitrag aus dem Juni 2014. Dort kann man – garniert mit zahlreichen kritischen Hinweisen an die Lauterbach’sche Adresse – lesen:

»SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach lobte das Gesetz, „weil es der endgültige Abschied von kleinen oder großen Kopfpauschalen ist“. Denn bisher können Kassen pauschale Zusatzbeiträge in festen Eurobeträgen nehmen.«

Klasse. Gleichsam ein virtuelles Problem. Denn: Wegen der guten Finanzlage der Kassen wurden gar keine pauschalen Zusatzbeiträge mehr erhoben.

Aber genau diese Konstellation beginnt sich jetzt zu ändern. Und man darf sicher sein: Wenn erst einmal die Büchse der Zusatzbeiträge bei einigen Kassen geöffnet wird, dann wird das gesamte System nachziehen.

Florian Staeck kommentiert: »Die GKV-Mitglieder können sich bei der SPD bedanken. Im Sommer 2014 einigte sich die Koalition auf einen Deal, der so verquer ist wie der Name des Gesetzes: Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungs-Gesetz (FQWG). Darin schwor die Union dem einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag ab. Das wurde von der SPD als finale Beerdigung der Kopfpauschale gefeiert. Der Preis für die SPD: die Aufgabe der Parität zugunsten der Arbeitgeber. Der Aufschlag bei den Zusatzbeiträgen dürfte je nach Kasse stark unterschiedlich ausfallen. Manche Kasse hat den Zusatzbeitrag bislang künstlich niedrig gehalten und Rücklagen aufgezehrt. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit.«

Und die Krankenkassen stehen unter einem erheblichen Kostendruck: Die Arzneimittelpreise steigen, zusätzliche Ausgaben durch die Krankenhausreform der Bundesregierung werden fällig und im kommenden Jahr kann man durchaus plausibel von weiteren Kostensteigerungen ausgehen auch angesichts der Tatsache, dass 2017 die nächsten Bundestagswahlen anstehen (und angesichts des sich verstärkenden Drucks aus den Krankenhäusern seitens der faktisch oftmals unerträglichen Arbeitsbelastung vor allem im pflegerischen Bereich). Und natürlich darf an dieser Stelle nicht ausgeklammert werden, dass die Ausgaben im Zusammenhang mit der Integration der Flüchtlinge in das Krankenversicherungssystem ebenfalls zusätzliche Ausgaben generieren werden, die aus dem Beitrags- und ggfs. Zusatzbeitragstöpfen gedeckt werden müssen. Hinzu kommt ein weiterer, für die Versicherten unangenehmer Mechanismus: Neben der einseitigen Verlagerung der Kostenanstiege in den Zusatzbeitragsbereich hinein sind die Versicherten immer auch mit einer Politik der Teil-Leistungsverlagerung aus dem Versicherungssystem konfrontiert (man denke hier an die Zuzahlungen), was man natürlich hoch fahren kann. Aug Kosten der Versicherten.

In der gesetzlichen Krankenversicherung sehen wir damit die gleiche Entwicklungsrichtung, wie wir sie seit Anfang des Jahrtausends in der gesetzlichen Rentenversicherung beobachten müssen. Dort wurde mit der so genannten „Riester-Reform“ zum einen das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung abgesenkt, garniert mit dem Versprechen, dass es keinem schlechter gehen werde, da ja als Kompensation die staatlich hoch subventionierte „Riester-Rente“ eingeführt wird, die allerdings – aus der Perspektive des bestehenden Systems – einen „Schönheitsfehler“ aufweist: Die private Altersvorsorge muss ausschließlich von den Versicherten selbst bestritten werden und während die Absenkung des Rentenniveaus verpflichtend für alle konfiguriert wurde, gilt dies nicht für die private Altersvorsorge, die auf einer freiwilligen Basis ausgestaltet wurde, was bekanntlich dazu geführt hat, dass gerade diejenigen, die von der Absenkung des Rentenniveaus besonders hart getroffen werden, weil sie niedrige Einkommen haben, auf eine entsprechende private Zusatzvorsorge verzichten und sich im Ergebnis bei ihnen die Versorgungslücken verdoppeln.

Selbst in der Arbeitslosenversicherung, in der formal die Parität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber noch gilt, müssen wir letztendlich eine Lastenverschiebung zuungunsten der Versichertenseite feststellen. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre die „innovativ“ daherkommende Entscheidung, dass der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) beschlossen hat, Sprachkurse für Flüchtlinge schnell und flächendeckend anzubieten und diese über Beitragsmittel der Arbeitslosenversicherung zu finanzieren.  Hört sich gut an, aber wieder einmal geht es um Geld: Denn die Mittel dafür stammen aus der Interventionsreserve im Haushalt  der BA, also aus Beitragsgeldern, die man dafür zurückgelegt hat, dass bei einer Verschlechterung der Arbeitsmarktlage Leistungen an Arbeitslose gewährt werden können, ohne sofort ins Defizit zu rutschen. Nun sollen diese Versicherungsmittel für eine Aufgabe verwendet werden, die nun korrekterweise aus Steuermitteln zu finanzieren wäre.  Gleichzeitig muss man wissen, dass der früher existierende Bundeszuschuss (aus Steuermitteln) an die Bundesagentur für Arbeit zur Defizitdeckung (und damit eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung an den stabilisierenden Aufgaben der Arbeitslosenversicherung über Steuermittel) schon seit geraumer Zeit gestrichen ist, so dass bei einer krisenhaften Zuspitzung der Lage auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitslosenversicherung aus eigenen Bordmitteln die Aufgabe zu stemmen hat. Auch wenn hier formal noch Parität besteht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber – ein Effekt sind dann Leistungsverdichtungen bzw. -kürzungen, die natürlich vor allem bzw. ausschließlich die Versicherten im Falle der (Nicht-)Inanspruchnahme treffen.

Abschließend nur eine prophylaktische Anmerkung zu der an dieser Stelle immer wieder vorgetragenen Kritik, dass die Unterscheidung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in der Sozialversicherung in die Irre führt, denn am Ende muss der Arbeitnehmer die sogenannten „Lohnnebenkosten“ immer vollständig selbst zahlen, denn die Arbeitgeber kalkulieren mit den gesamten Arbeitskosten. Ökonomisch ist das richtig und das wird hier überhaupt nicht bezweifelt. Daraus resultiert auf einer anderen Baustelle die berechtigte Forderung, die bestehende Finanzierung der großen sozialen Sicherungssysteme überwiegend aus dem beitragspflichtigen (und dann auch noch durch Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen nach oben gedeckelten) Lohneinkommen zu erweitern und auf breitere Grundlagen zu stellen.

Aber der hier entscheidende Punkt ist: Je mehr Kostenanteile asymmetrisch verteilt werden zuungunsten der Arbeitnehmer und von diesen erst einmal alleine zu tragen sind, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein großer Teil der Arbeitnehmer nicht in der Lage sein wird, sich das über entsprechende Lohnsteigerungen wieder „zurückzuholen“ bzw. den Belastungsanstieg wieder zu kompensieren, man denke hier nur an die Tatsache, dass viele Arbeitnehmer gar nicht (mehr) in tarifgebundenen Bereichen arbeiten und auch die Tarifabschlüsse der Gewerkschaften können nicht immer genug herausholen für die Arbeitnehmer. Im Ergebnis sind wir dann bei vielen konfrontiert mit einer weiteren Etappe auf dem Weg der Privatisierung der sozialen Sicherung.