Zulassung zum Medizinstudium: Das Bundesverfassungsgericht und die Windmühlen einer gerechteren Selektion im Verteilungskampf inmitten von wenig Angebot und viel Nachfrage

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat wieder einmal gesprochen und erneut und in diesem Fall ganz besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Wie üblich um 10 Uhr des Verkündigungstages ist der Hammer des obersten Gerichts gefallen: Bundes- und landesgesetzliche Vorschriften über die Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar, so ist die das Urteil zusammenfassende Pressemitteilung überschrieben. Zum einen haben tausende mehr oder mittlerweile nicht mehr ganz so junge Menschen (und/oder ihre Eltern) sehnlich darauf gewartet, dass die ganz hohe Hürde eines extremen Numerus clausus (NC), der als als überaus enges Nadelöhr beim Begehr, einen Platz in dem stark nachgefragten und mit enormer Reputation (wie auch auch sehr guten Einkommensperspektiven) versehenen Ärzte-Studium zu bekommen, wirkt, endlich fällt. Zum anderen haben viele die Hoffnung, dass in Zukunft weniger die 1,0 auf einem Abiturzeugnis, sondern die Eignung für den Beruf des Mediziners im Mittelpunkt stehen wird. Alles durchaus begründbare und nachvollziehbare Hoffnungen – die aber durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wenn, dann nur embryonal erfüllt werden (können).

Das geht schon aus der Formulierung in der Überschrift der Pressemitteilung des BVerfG hervor – „teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar“, steht da. Wenn man dann genauer hinschaut, wird man erkennen, dass das Gericht den NC gerade nicht verworfen, sondern grundsätzlich bestätigt hat – die Auswahl nach der Abiturbestenquote soll nur aus verfassungsrechtlich gebotenen Gründen stärker eingehegt und durch mindestens ein alternatives Auswahlverfahren ergänzt, aber eben nicht ersetzt werden.

Die derzeitige Verteilungsformel bei der Zulassung zum Medizinstudium ist in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags dargestellt, die einem Artikel hier in diesem Blog entnommen ist, der vor der Entscheidung des BVerfG das Thema umfassend aufgearbeitet hat: Das letztendlich unauflösbare Dilemma der Mangelverwaltung. Angebot und Nachfrage nach Studienplätzen in der Humanmedizin (06.10.2017).

Was hat nun das BVerfG genau entschieden? An den Anfang gestellt sei hier der Hinweis, dass das Verfassungsgericht grundsätzlich die Abiturbestenquote als Zugangskriterium bestätigt hat (und damit die eigenen Rechtsprechung der Vergangenheit: »Das Abstellen auf die Durchschnittsnote der Hochschulzugangsberechtigung für einen Anteil von 20 % der in den Hauptquoten zu vergebenden Studienplätze (Abiturbestenquote) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insoweit knüpft der Gesetzgeber an eine Beurteilung der Leistungen der Studienbewerber an, die von der Schule am Ende einer allgemeinbildenden Ausbildung vorgenommen wurde. An der Sachgerechtigkeit der Abiturnote als Eignungskriterium auch für die Vergabe von Studienplätzen der Humanmedizin bestehen auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse keine verfassungsrechtlichen Bedenken.«

Eine Unvereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG sieht das Gericht in den folgenden Punkten, die der Gesetzgeber bis Ende 2019 neue regeln muss:

(1) Dem Ersten Senat besonders „angetan“ hat es die Ortspräferenz bei der Angabe der (maximal) sechs Hochschulen, an denen man sich bewerben möchte. Die Unvereinbarkeit der bestehenden gesetzlichen Regelungen mit der Verfassung wird vom Gericht in den Fällen gesehen, wo diese »die Angabe von Ortswünschen in der Abiturbestenquote beschränken und diese bei der Vergabe vorrangig vor der Abiturnote berücksichtigen, soweit sie die Hochschulen im eigenen Auswahlverfahren zur unbegrenzten Berücksichtigung eines von ihnen zu bestimmenden Grades der Ortspräferenz berechtigen.« Dahinter steht die Kritik der Verfassungsrichter, »das Kriterium der Abiturdurchschnittsnote wird als Maßstab für die Eignung durch den Rang des Ortswunsches überlagert und entwertet.« An anderer Stelle findet man die Feststellung: »Beim Grad der Ortspräferenz handelt es sich um ein Kriterium, das nicht an die Eignung für Studium und Beruf anknüpft und dessen Verwendung sich erheblich chancenverringernd auswirken kann.«

Angesichts der wirklich restriktiven Bedeutung der Angabe der Ortspräferenz fast schon putzig ist die Begründung, warum das nun gerade auf sechs Hochschulen begrenzt ist. Dazu kann man diesem Artikel die folgenden Erläuterungen entnehmen: »Bei der Stiftung für Hochschulzulassung (SfH) müssen derzeit alle Bewerber angeben, an welchen Orten sie am liebsten studieren würden, die Ortspräferenz ist auf sechs Städte begrenzt. Der Kritikpunkt der Richter: Wer mit seinen Ortsangaben Pech hat, kann leer ausgehen, obwohl er eigentlich alle Bedingungen erfüllt. Das sei mit der Forderung des Grundgesetzes nach gleicher Teilhabe nicht vereinbar. Der Ortswunsch dürfe nicht als primäres Kriterium herangezogen werden. Zudem sei die Begrenzung auf sechs Städte willkürlich. Die Festlegung auf sechs Plätze ist laut SfH zustande gekommen, weil das System für die Vergabe so programmiert worden war. Eine Änderung sei nicht mehr möglich, weil die Software zu alt sei.«

(2) Eine weitere Unvereinbarkeit wird vom BVerfG dann identifiziert, wenn die gesetzlichen Regelungen »im Auswahlverfahren der Hochschulen auf einen Ausgleichsmechanismus zur Herstellung einer hinreichenden Vergleichbarkeit der Abiturnoten über die Landesgrenzen hinweg verzichten.« Hier geht es nicht um die Studienplatzvergabe in der Abiturbestenquote, die wie bereits dargestellt für die 20 Prozent abgesegnet wurde, sondern um den Rückgriff auf die Abiturdurchschnittsnote sowohl »für das Vorauswahlverfahren als auch für das Auswahlverfahren selbst.« Das Gericht stört sich hier daran, dass der Gesetzgeber »auf Mechanismen, die die nicht in dem erforderlichen Maße gegebene länderübergreifende Vergleichbarkeit der Abiturdurchschnittsnoten ausgleichen«, verzichtet. Man muss das so lesen, wie es gemeint ist – das BVerfG anerkennt ein Problem unseres föderalen Bildungssystems, dass jeder kennt: »Das Außerachtlassen dieser Unterschiede führt zu einer gewichtigen Ungleichbehandlung. Es nimmt in Kauf, dass eine große Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern abhängig davon, in welchem Land sie ihre allgemeine Hochschulreife erworben haben, erhebliche Nachteile erleiden.« Es macht eben einen teilweise gewichtigen Unterschied, in welchem Bundesland man zur Schule gegangen ist und eine 1,0 in Berlin oder Bremen ist eben eine andere als eine, die in Rheinland-Pfalz oder Bayern erworben wurde bzw. dort nicht erworben werden konnte, auch wenn der Schüler in einem anderen Land eine solche bekommen hätte.

(3) Eine weitere Unvereinbarkeit statuiert das BVerfG bei den gesetzlichen Regelungen, »soweit sie gegenüber den Hochschulen neben der Abiturnote nicht die verpflichtende Anwendung mindestens eines ergänzenden, nicht schulnotenbasierten Auswahlkriteriums zur Bestimmung der Eignung sicherstellen.« Dieser Punkt berührt die angesprochene Hoffnung vieler, dass es auch andere Kriterien als die Abschlussnote geben muss, wenn es um den Zugang zum Medizinstudium geht. Man sollte sich aber genau anschauen, was das Gericht dem Gesetzgeber an Aufgaben mit auf den Weg gegeben hat:

»Der Gesetzgeber muss zudem sicherstellen, dass die Hochschulen, sofern sie von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, eigene Eignungsprüfungsverfahren durchzuführen oder Berufsausbildungen oder -tätigkeiten zu berücksichtigen, dies in standardisierter und strukturierter Weise tun. Er muss dabei auch festlegen, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft wird.«

Das hört sich absolut nachvollziehbar und unterstützenswert an – nur wird der Praktiker an dieser Stelle zynisch einwerfen: Viel Spaß bei dem Versuch, Auswahlverfahren an den Hochschulen „standardisiert und strukturiert“ zu konzipieren (was man für sich genommen noch hinbekommen könnte mit allen neuen Fragwürdigkeiten, die solche Verfahren eröffnen) und vor allem bei der Umsetzung der Vorgabe, dass in Auswahlgesprächen „nur die Eignung“ geprüft wird. Das unterschätzt nicht nur das Dilemma der niemals zu vermeidenden subjektiven „Verunreinigungen“ von Auswahlgesprächen, sondern vor allem die Bezugnahme auf die „Eignung“ ist extrem voraussetzungsvoll. Wann ist denn ein 18-jähriger Bewerber für ein Medizinstudium geeignet und muss jemand, der schon eine Ausbildung im Pflegebereich absolviert hat, nicht ganz anders bewertet werden hinsichtlich der Eignung? Fragen über Fragen, die uns noch beschäftigen werden.

(4) Und eine weitere Unvereinbarkeit sieht das BVerfG in den gegebenen rechtlichen Regelungen, »soweit sie die Wartedauer in der Wartezeitquote nicht zeitlich begrenzen.« Wie man der Abbildung entnehmen kann, ist die Wartezeit mittlerweile auf 15 Semester, also mehr als sieben Jahre angestiegen und würde sich ceteris paribus weiter erhöhen. 20 Prozent der Studienplätze werden über Wartezeit vergeben. Dazu das Gericht grundsätzlich: »Die Bildung einer solchen Wartezeitquote ist verfassungsrechtlich nicht unzulässig.« Aber: 1. Der Anteil von 20 Prozent ist die Obergrenze. Und bei 2. wird man dann mit dem eigentlichen Dilemma aller Rationierungen konfrontiert, wenn die Verfassungsrichter schreiben:

»Als verfassungswidrig erweist es sich, dass der Gesetzgeber die Wartezeit in ihrer Dauer nicht angemessen begrenzt hat. Denn ein zu langes Warten beeinträchtigt erheblich die Erfolgschancen im Studium und damit die Möglichkeit zur Verwirklichung der Berufswahl. Sieht der Gesetzgeber demnach zu einem kleineren Teil auch eine Studierendenauswahl nach Wartezeit vor, ist er von Verfassungs wegen gehalten, die Wartedauer auf ein mit Blick auf ihre negativen Folgen noch angemessenes Maß zu begrenzen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Wartedauer dazu führen mag, dass viele Bewerber am Ende keinen Studienplatz über die Wartezeitquote erhalten können.«

Anders formuliert: Zum einen fordert das Gericht eine kürzere Wartezeit als sieben oder mehr Jahren – durchaus nachvollziehbar. Auf der anderen Seite begrenzt es die maximale Quote der darüber zu verteilenden Studienplätze auf 20 Prozent. Eine schöne Aufgabe für angewandte Mathematik: Wenn die Leute kürzer warten dürfen, aber aufgrund der begrenzten Zahl an Studienplätze weiterhin viel zu wenig Studienplätze zur Verfügung stehen, dann passiert was? Das, was das Gericht andeutet: Man wartet formal kürzer und kommt doch nicht zum Zuge, weil man nicht mehr verteilen kann als an Plätzen da ist.

Damit wären wir auch schon beim Fazit und dem Blick auf das, was eigentlich notwendig wäre über eine „Optimierung“ des Verteilungsschlüssels hinaus:

Das eigentliche Grundproblem ist ein klassisches Angebots-Nachfrage-Dilemma: 1990 gab es allein in den alten Bundesländern 12.000 Studienplätze für Humanmedizin. Diese wurden seitdem kontinuierlich reduziert. Statt 16.000 Plätze, die sich nach der Wiedervereinigung aufgrund der acht hinzugekommenen Fakultäten in Ostdeutschland hätten ergeben müssen, sind es aktuell nur noch rund 10.000 in Deutschland insgesamt. Das hat dazu geführt, dass sich immer mehr Bewerber um immer weniger Plätze bemühen müssen. Die Quote der Bewerber auf die verfügbaren Studienplätze liegt bei 5 zu 1.

Schon unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung in den Jahren seit der Wiedervereinigung stehen zu wenig Studienplätze für Humanmedizin zur Verfügung. Und wenn man dann weitere Faktoren berücksichtigt, so die – auch andere Berufe – treffende Ersatzproblematik der in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheidenden Ärzte aus der Baby Boomer-Generation sowie die Tatsache, dass es in den vergangenen Jahren eine „Feminisierung“ des Arztberufs gab, was auch Auswirkungen hat auf das verfügbare Arbeitsvolumen der Ärzte nach dem Studium (so dass eine gleiche oder sogar größere Kopfzahl an Ärzten weniger Arbeitsvolumen bedeuten kann als früher) und Aspekte wie ein höherer Ärztebedarf aufgrund anderer Arbeitszeitvorschriften in den Krankenhäusern sowie generell eine steigende Inanspruchnahme aufgrund der demografischen Entwicklung – wenn man all das zusammenzählt, dann wird klar, dass wir mit einer generellen und zugleich politisch zu verantwortenden Mangelsituation auf der Angebotsseite konfrontiert sind, so dass jeder Lösungsansatz auf eine gezielte Adressierung dieses Angebotsmangels nicht verzichten kann und darf. Aber selbst wenn man das tut, wird man nicht umhin kommen, die Selektion der Medizinstudierenden angesichts einer Vielzahl an Bewerbern zu regeln.

Selbst in Ländern, in denen die Zulassung nicht über die Abiturnoten gesteuert wird, gibt es teilweise hammerharte Selektionsverfahren, die wie in Frankreich zwar allen am Anfang eine Möglichkeit eröffnen, dann aber in den beiden ersten Jahren zwei enorm schwierige Prüfungen platziert haben, die dazu führen, dass die meisten, die angefangen haben, nach zwei Jahren wieder aus dem System gekickt werden – vgl. zu Frankreich sowie zu den Auswahlverfahren in Österreich, Großbritannien und Rumänien (derzeit ein Geheimtipp unter der Eltern, die ihren Kindern ein Medizinstudium im Ausland kaufen) diesen Artikel.

Nun hat der Gesetzgeber bis Ende 2019 Zeit, neue Verfahren zu vereinbaren,um die Vorgaben des BVerfG umsetzen, aber nichts an dem Grundcharakter ändern werden – es geht um die Verteilung von sehr vielen Bewerbern auf wenige Studienplätze. Und auch das vom Gericht angesprochene Gerechtigkeitsproblem wird man beispielsweise durch die Standardisierung von Testverfahren auf der einen Seite einhegen können, zugleich eröffnet man neue Ungerechtigkeiten, denn man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass alle Schulabsolventen mit den gleichen Chancen in das Verfahren reingehen können oder dass die Eltern, die es sich leisten können, nicht die Chancenpositionierung der eigenen Kinder durch massive Investitionen steigern werden.

Neben der seit langem auch hier angemahnten Diskussion über eine Anpassung der Zahl der Studienplätze nach oben stellt sich eine weitere, unter inhaltlichen Gesichtspunkten noch weitaus bedeutsamere Aufgabe, über die wieder einmal kaum bis gar nicht systematisch diskutiert wird:
Es geht um die Frage, wie denn die Mediziner in Zukunft eingebettet werden in das Gesamtsystem der Gesundheitsberufe, denn allen müsste doch klar sein, dass die Zeiten einer pyramidalen, arztzentrierten Versorgung vorbei sind und es mit Blick auf die vor uns liegenden Versorgungsaufgaben um die Verbindung mit den Potenzen und Kapazitäten anderer Gesundheitsberufe, die ebenfalls einer Weiterentwicklung und in vielen Fällen einer Aufwertung bedürfen, gehen wird bzw. gehen muss. Eine Reform des Medizinstudiums kann sich neben der quantitativen Frage, die nun endlich im Sinne einer Ausweitung der Kapazitäten beantwortet werden sollte, nicht der Aufgabe entziehen, die Weiterentwicklung nicht im eigenen Saft zu veranstalten oder entlang der eigenen Strukturen, die sich  in der Vergangenheit herausgebildet haben, sondern die Frage nach den Inhalten offensiv zu beantworten mit Blick auf aufzuwertende andere Gesundheitsberufe, die wir dringend brauchen.

Was hier gemeint ist, habe ich in meinem letzten Beitrag zu diesem Thema so formuliert: »Eigentlich dürfte man nicht nur die quantitativen Kapazitäten an den Hochschulen erhöhen, also mehr von dem, was wir haben (auch wenn man das im bestehenden System gut begründen kann), sondern notwendig wäre ein qualitativer Sprung nach vorne, also ein Systemwechsel. Konkret bedeutet das beispielsweise ein Medical School-Modell, bei dem nicht nur angehende Mediziner ausgebildet werden, sondern diese gemeinsam mit den anderen Gesundheitsberufen, mit denen sie im Team zusammenarbeiten werden bzw. die in Zukunft immer mehr Aufgaben eigenverantwortlich werden übernehmen müssen, die heute noch als ärztliche Tätigkeiten reklamiert werden. Gemeinsam, wenigstens streckenweise, mit den Pflegekräften, mit den Physiotherapeuten, mit den psychologischen Psychotherapeuten, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur, wenn die angehenden Ärzte von Anfang an damit konfrontiert werden, dass es auch andere Disziplinen und Berufe gibt, die ihren Stellenwert und Bedeutung und Nützlichkeit im Gesundheitswesen haben, wird sich substanziell etwas im System verändern können.«

Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft

Man muss schon sagen – was für ein Impact. Da gibt der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, der BILD-Zeitung ein Interview und hält in Bielefeld auf dem Arbeitnehmerkongress seiner Partei eine Rede unter der Überschrift „Arbeit in Deutschland“.  Und eigentlich hat er nicht wirklich viel inhaltlich gesagt, sondern die ganz großen Linien gezeichnet. Dennoch bricht in der Folge eine intensive Debatte aus, als ob er ein Zehn-Punkte-Programm der Verstaatlichung der deutschen Bankenlandschaft präsentiert hätte. Hat er aber nicht und auch seine Ausführungen zu den beiden Themen, die seit Anfang der Woche im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, also die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I (vgl. hierzu bereits den Beitrag Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017) sowie die Eindämmung der befristeten Beschäftigung, sind mehr als nebulös und wenn, dann erst einmal nur emotional fassbar, was ja auch ihre Funktion ist.

Schaut man beispielsweise in die Bielefelder Rede von Martin Schulz, dann wird man zum Thema befristete Arbeitsverträge das hier finden:

»Wir wollen Sicherheit und Verlässlichkeit für die Beschäftigten!
Deshalb müssen wir auch an die Befristung vieler Arbeitsverhältnisse ran.
Vor allem jungen Menschen wird zu viel zugemutet: Sie sollen eine ordentliche Ausbildung machen, sich im Job weiterbilden, sie sollen eine Familie gründen und wollen sich manchmal auch noch um ihre Eltern kümmern, sie sollen für Wohneigentum sorgen, und im Idealfall sollen sie sich auch noch ehrenamtlich engagieren.
Das alles geht nicht, wenn die eigene Zukunft auf wackligen Beinen steht! Das kann nicht unser Angebot für die Jugend sein!
Und darum werden wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen!«

Punkt. Das war’s zu dem Thema. Bevor wir uns mit dem Vorschlag nach Abschaffung der sachgrundlosen Befristung genauer auseinandersetzen, muss wieder einmal ein Zahlendurcheinander geklärt werden. Denn ein Teil der Debatte kreist um den Vorwurf, Schulz hätte mit falschen Zahlen hantiert. In einem Interview mit der „Bild“-Zeitung hat der SPD-Kanzlerkandidat den Anteil der jungen Menschen in Deutschland, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, mit rund 40 Prozent angegeben. Das nun hat die Arbeitgeber auf den Plan gerufen, die das kritisiert haben. In der Altersgruppe zwischen 25 und 35 seien tatsächlich rund zwölf Prozent der Beschäftigten befristet angestellt, argumentiert der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Was stimmt nun? Beide liegen falsch, wie die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht. Für 2015 berichtet das Statistische Bundesamt auf der Grundlage der Arbeitskräfteerhebung für alle abhängig Beschäftigten ab 25 Jahre von einem Anteil der befristet Beschäftigten von 8,4 Prozent, in der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre seien es hingegen 17,9 Prozent gewesen.

Aber Schulz hat die von ihm genannten 40 Prozent nicht aus der Luft gegriffen, sondern ist schlecht vorbereitet worden, denn dieser Anteilswert taucht an anderer Stelle durchaus auf. Nur nicht als Anteil an den Arbeitsverträgen, sondern als Anteilswert bei den Neueinstellungen. Was etwas anderes ist als der Bestand an Arbeitsverträgen.

Darüber berichtet beispielsweise Thomas Öchsner in seinem Artikel Anteil befristeter Jobs geht bereits weiter zurück. Er operiert allerdings mit einer anderen Datenquelle als die Bundesstatistiker, nämlich mit dem IAB-Betriebspanel. Das IAB der Bundesagentur für Arbeit befragt Jahr für Jahr 16.000 Betriebe und rechnet die Angaben hoch:

»Daraus ergibt sich, dass der Anteil der befristeten Stellen seit 2011/12 leicht rückläufig ist. Damals waren ohne Auszubildende 8,4 Prozent der Arbeitsverträge befristet. 2015 waren nur mehr 8,0 Prozent der Verträge zeitlich begrenzt.
Etwas besser sieht es auch bei den Neueinstellungen aus. 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, musste sich fast jeder Zweite (47 Prozent), der einen neuen Job ergatterte, mit einem Vertrag auf Zeit begnügen. 2015 traf dies noch auf 42 Prozent der Neueingestellten zu.«

Der IAB-Wissenschaftler Christian Hohendanner wird von Öchsner dahingehend zitiert, dass man noch nicht von einer Trendumkehr sprechen könne, aber zu erkennen sei, dass es „keinen weiteren Anstieg mehr gab“. Was sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Arbeitsmarktlage aber verbessert habe: »2015 wurden nach Angaben des IAB bereits 40 Prozent der befristet Eingestellten unbefristet übernommen. 2009 konnten sich nur 30 Prozent darüber freuen.«

Nun muss man bei den Befristungen unterscheiden – und Martin Schulz macht das ja auch, denn er stellt eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen in den Raum, nicht der Befristungen an sich. Die Befristungen mit Sachgrund will er nicht antasten. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn hier kann der Arbeitgeber, selbst wenn er wollte, nicht anders. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen eine Kindertageseinrichtung, in der eine dort unbefristet beschäftigte Erzieherin in die Elternzeit geht, aber wiederkommen will und wird, beispielsweise nach zwei Jahren. Die Ersatzkraft für diese Mitarbeiterin kann vom Träger der Kita nur einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen für die Abdeckung dieses Zeitraums, außer der hat an anderer Stelle einen sicheren Arbeitskräftebedarf genau nach Rückkehr der unbefristet Beschäftigten.

Bei den sachgrundlosen Befristungen verhält es sich anders. Hier lohnt der Blick auf die Motive der Arbeitgeber, einen neuen Mitarbeiter befristet einzustellen. Diese Befristungsform hat an Beliebtheit gewonnen und ein wichtiges Motiv in der Privatwirtschaft ist sicher der Aspekt einer dadurch realisierbaren „verlängerten Probezeit“. Man kann den Arbeitnehmer schlichtweg deutlich länger als bei der ansonsten zulässigen Probezeit im Ungewissen lassen, ob man ihn oder sie übernimmt. Die Betroffenen werden natürlich in den maximal zwei Jahren in der Hoffnung auf eine Entfristung ihrer Stelle alles geben.

Es kann natürlich auch andere Gründe für die sachgrundlose Befristung geben, beispielsweise die Tatsache, dass nur eine bestimmte Summe Geld für eine bestimmte Zeit zur Verfügung steht und man keine Sicherheit hat, nach Ablauf dieser Zeit die betroffenen Arbeitnehmer weiterbeschäftigen zu können. Nun wird der eine oder andere einwenden, dann könne man den Betroffenen eben betriebsbedingt kündigen, das aber schafft zum einen mögliche Konflikte, zum anderen gibt es mit dem öffentlichen Dienst einen Bereich, wo es oftmals fast unmöglich ist, sich von den Arbeitnehmern wieder zu trennen, wenn sie denn unbefristet beschäftigt sind, weil immer darauf hingewiesen wird, dass es beispielsweise in einer großen Behörde genügend Ersatzarbeitsplätze geben würde, so dass eine Kündigung scheitert.

Das kann man auch den Zahlen entnehmen – der größte Befrister in diesem Land ist der öffentliche Dienst und ganz besonders schlimm ist es in der Wissenschaft. Genauer unter die Lupe genommen haben das Christian Hohendanner et al. (2016): Befristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst: Öffentliche Arbeitgeber befristen häufiger und kündigen seltener als private, IAB-Kurzbericht Nr. 5/2016, Nürnberg. Die Wissenschaftler berichten darin:

»Etwa 60 Prozent der Einstellungen im öffentlichen Dienst (ohne Wissenschaft) erfolgten laut IAB-Betriebspanel im ersten Halbjahr 2014 befristet. In der Privatwirtschaft waren es 40 Prozent, in der Wissenschaft 87 Prozent.
Die Übernahmequote befristet Beschäftigter fiel im öffentlichen Dienst (ohne Wissenschaft) im ersten Halbjahr 2014 mit 32 Prozent um 10 Prozentpunkte niedriger aus als im privaten Sektor. In der Wissenschaft lag die Übernahmequote bei 9 Prozent.«

Hohendanner et al. arbeiten in ihrer Studie auch den zentralen Unterschied heraus zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft bei den Motivlagen für Befristungen: »Als wichtigste Befristungsmotive nannten öffentliche Arbeitgeber Vertretungen und fehlende Planstellen. Für die Privatwirtschaft ist die Erprobung neuer Mitarbeiter der wichtigste Befristungsgrund.« Und: Öffentliche Arbeitgeber nutzen befristete Arbeitsverträge als zentrales Instrument der Personalanpassung. Letztendlich werden wir hier Zeugen einer massiven Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen innerhalb des öffentlichen Dienstes. Auf der einen Seite haben wir hier die sichersten und – nicht nur bei Beamten – mit Unkündbarkeit ausgestattete Arbeitsplätze, auf der anderen Seite reagiert das System darauf spiegelbildlich mit der Schaffung einer hochgradig flexibilisierten Schicht an Beschäftigten, wo im starken Maße mit Befristungen gearbeitet wird (und aus Systemsicht gearbeitet werden muss) und in denen der Unsicherheitsfaktor kombiniert wird mit ausgeprägter Perspektivlosigkeit, was Anschlussoptionen angeht.

Die besonders ausgeprägte Befristungslandschaft in der Wissenschaft spiegelt sich auch wieder in dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017. Statistische Daten und Forschungsbefunde
zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland. Susanne Klein hat ihren Artikel dazu überschrieben mit Risiko inbegriffen: »Viele Mitarbeiter an deutschen Hochschulen sind prekär beschäftigt: befristete Teilzeitstellen, geringer Verdienst bei unbezahlten Überstunden. Hinzu kommt: Aus dem akademischen Flaschenhals ist ein Nadelöhr geworden.«  In der universitären Forschung und Lehre arbeiten 145.000 befristet Beschäftigte – 76 Prozent mehr als im Jahr 2000. Ohne sie müssten etliche Hochschulen den Betrieb so gut wie einstellen. Neben den teilweise skandalös frustrierenden Arbeitsbedingungen kommt ein großes Karriereproblem hinzu: Die Professorenstellen, die ambitionierte Wissenschaftler irgendwann bekleiden wollen, haben seit dem Jahr 2000 nur um 21 Prozent zugenommen. »Die Zahlen klaffen so weit auseinander wie noch nie, aus dem „akademischen Flaschenhals“ ist ein Nadelöhr geworden«, so Klein. Sie weist darauf hin, dass das Problem ein strukturelles ist. Beispiel: Die Universitäten Sachsens müssen mindestens jeden zweiten Nachwuchswissenschaftler aus befristeten Drittmitteln finanzieren. Es ist offensichtlich aber auch ein sehr deutsches Problem: 93 Prozent der Wissenschaftsmitarbeiter sind in Deutschland befristet angestellt. Dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013 konnte man entnehmen, dass es in Frankreich und England weniger als 30, in den USA sogar nur 14 Prozent sind. Es geht also auch anders.

Apropos Nachwuchsbericht 2013 – der hatte doch den Anstoß gegeben, endlich Verbesserungen herbeizuführen: »Mehr und mehr befristete Arbeitsverhältnisse mit zunehmend kürzeren Laufzeiten: Diese Diagnose aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs hatte vor vier Jahren den Weg für eine Reform freigemacht. In der Großen Koalition war man sich darüber einig, dass das „Befristungsunwesen“ ein Ende haben müsse«, so Amory Burchard unter der Überschrift Statt Dauerstelle Aus nach zwei Jahren. »Mit dem neuen, im März 2016 in Kraft getretenen Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss die Laufzeit von Arbeitsverträgen der angestrebten Qualifizierung „angemessen“ sein. Und die Befristung von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Drittmittelprojekten soll sich am bewilligten Projektzeitraum orientieren. Doch ein Jahr später scheint sich die Lage der Nachwuchswissenschaftler kaum verbessert zu haben.«

„Die Universitäten und Forschungsinstitute mogeln, jedes Schlupfloch wird genutzt“, sagt zumindest Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Leiter des Hochschulbereichs der GEW. Wie schon 2015 bei der Vorbereitung der Gesetzesreform befürchtet, werde „alles Mögliche als Qualifizierung deklamiert und erneut für Kurzzeitbefristungen genutzt“.

Wechselt man jetzt wieder auf die generelle Ebene der Befristungen, dann wird deutlich, dass das für die Betroffenen natürlich problematische Auswirkungen haben kann und hat (vor allem, wenn sich diese Befristungen nicht als ein Durchgangsstadium mit einer relativ sicheren Entfristungsperspektive am Ende einer nicht zu langen Wegstrecke darstellt.

Mit den (möglichen) Folgen für die Betroffenen, hier vor allem den überdurchschnittlich oft befristeten jüngeren Arbeitnehmern hat sich das WSI in einer Studie beschäftigt:

Eric Seils: Jugend & Befristete Beschäftigung. Eine Auswertung auf Basis aktueller Daten des Mikrozensus. WSI-Policy-Brief Nr. 8, Dezember 2016

Fast jeder fünfte abhängig Beschäftigte unter 35 Jahren hat nur einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als 60 Prozent aller befristet Beschäftigten in Deutschland sind jünger als 35. Die Studie zeigt: »Befristet Beschäftigte haben deutlich niedrigere Nettoeinkommen als gleich alte Arbeitnehmer mit unbegrenztem Vertrag. Dementsprechend sind sie trotz Arbeit doppelt so häufig von Armut bedroht. Junge Beschäftigte in befristeten Arbeitsverhältnissen sind zudem seltener verheiratet und haben deutlich weniger Kinder als unbefristet Beschäftigte.« „Häufige Stellenwechsel, zum Teil verbunden mit Ortswechseln, erschweren die Bildung stabiler Partnerschaften. Und Kinder kosten Geld, daher dürften viele Paare die Realisierung ihres Kinderwunsches aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit verschieben“, wird der Studienautor Eric Seils zitiert.

Interessant ist ein Blick auf die Qualifikationsprofile junger befristet Beschäftigter: Personen ohne Berufsausbildung und Universitätsabsolventen sind gleichermaßen häufiger befristet beschäftigt sind als Absolventen einer dualen Berufsausbildung oder mit Fachhochschulabschluss. Allerdings führen die Berufswege beider Gruppen später oft in unterschiedliche Richtungen: Uni-Absolventen wechseln im Zeitverlauf häufiger in feste Anstellungen, für gering Qualifizierte stellt der befristete Job oft eine Sackgasse dar. Mit  Zusammenhänge zwischen Beruf und befristeter Beschäftigung beschäftigt sich eine neue Arbeit von Stefan Stuth.

2013 kam eine Studie auf der Basis von SOEP-Daten zu diesem Befund: »Für einen großen Teil der jungen Erwerbstätigen öffnen sich nach einer gewissen Wartezeit die Türen zur normalen Arbeitswelt … durchaus. Obwohl die reformbedingte Heterogenisierung der Erwerbsformen ihre Schatten vor allem auf junge Erwerbstätige wirft, schafft früher oder später ein großer Teil der Arbeitsmarkteinsteiger/innen trotzdem den Sprung in Erwerbssicherheit.« (Marie-Christine Fregin (2013): Generation Ungewiss – Berufseinsteiger auf dem Weg ins Abseits? Empirische Vergleiche zur Chancenentwicklung von befristet beschäftigten Arbeitsmarkteinsteiger/innen. SOEPpapers 581-2013, Berlin, S. 111)

Eigentlich, so könnte man meinen, würde dieser Hintergrund doch insgesamt für die Forderung von Martin Schulz sprechen, die sachgrundlose Befristung als Instrument abzuschaffen. Diese Forderung ist nicht neu, in der auslaufenden Legislaturperiode wurde das seitens der Oppositionsparteien auch immer in den politischen Raum eingebracht.

So gab es beispielsweise eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 17. März 2014. Auslöser dafür war ein Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke zur sogenannten ’sachgrundlosen Befristung‘ (vgl. hierzu BT-Drs. 18/7 vom 23.10.2013). Der Gesetzentwurf beinhaltet die Forderung,  im Teilzeit- und Befristungsgesetz die Möglichkeiten zur Befristung ohne Sachgrund abzuschaffen. Zur Stellungnahme aufgefordert war auch das IAB der Bundesagentur für Arbeit. Die dort präsentierten Daten – das IAB bezieht sich dabei auf die Angaben aus dem bereits erwähnten IAB-Betriebspanel – sind interessant: »Die Anzahl sachgrundloser Befristungen hat sich zwischen den Jahren 2001 und 2013 von etwa 550.000 auf 1,3 Millionen erhöht … Damit hat sich der Anteil sachgrundloser Befristungen an allen im IAB-Betriebspanel erfassten Befristungen von 32 auf 48 Prozent erhöht.« Zugleich wird aber deutlich, dass man unterscheiden muss zwischen den sachgrundlosen Befristungen und denen mit (irgendeinem zulässigen) Sachgrund – besonders relevant für die diskutierten hohen Befristungsanteile im öffentlichen Dienst, denn hier wird deutlich, dass die im Zentrum der Forderung von Schulz stehenden sachgrundlosen Befristungen dort eher unterdurchschnittlich vertreten sind: Sachgrundlose Befristungen »werden verstärkt im Groß- und Einzelhandel oder im Verarbeitenden Gewerbe genutzt, während sie … in den öffentlichen und sozialen Dienstleistungen … eine untergeordnete Rolle spielen. Tendenziell zeigt sich, dass sachgrundlose Befristungen in Branchen mit einem hohen Befristungsanteil eher unterproportional genutzt werden.« Anders formuliert: Eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen von Arbeitsverträgen würde an dem besonders befristungsintensiven öffentlichen Dienst ziemlich vorbeigehen.

Hinzu kommt, so das IAB: Multivariate Analysen »liefern deutliche Hinweise auf die Brückenfunktion sachgrundloser Befristungen: Je höher der Anteil sachgrundloser Befristungen an den in den Betrieben eingesetzten befristeten Beschäftigungsverhältnissen, umso höher fällt die Anzahl der innerbetrieblichen Übernahmen in unbefristete Beschäftigung aus.« Was letztendlich mit dem in der Privatwirtschaft verbreiteten Motiv einer verlängerten Probezeit zusammenhängt.
Nun könnte man an dieser Stelle einwerfen, dass das aus der betriebswirtschaftlichen Logik der Unternehmen zwar nachvollziehbar ist, der Gesetzgeber aber nicht die Aufgabe hat, den Betriebe verlängerte Probezeiten zu ermöglichen, wenn es andere und kürzere als Normalfall gesetzlich vorgeschrieben gibt. Und man könnte erwarten: Im Idealfall würde eine Abschaffung sachgrundloser Befristungen zu einer deutlichen Erhöhung unbefristeter Einstellungen führen. Aber bei dem Versuch, diese an sich naheliegende These zu belegen, kommt die IAB-Stellungnahme zu einem anderen Befund.

Das arbeitsmarktpolitische Fazit des IAB liest sich so:

»Aus Sicht des IAB ist fraglich, ob die Abschaffung sachgrundloser Befristungen ein adäquates Instrument zur Herstellung von mehr Beschäftigungssicherheit ist. Zum einen verfügen Betriebe über alternative Möglichkeiten der Flexibilisierung: Sie könnten verstärkt auf Befristungen mit Sachgrund und alternative Beschäftigungsformen wie Leiharbeit oder freie Mitarbeit ausweichen. Zum anderen bestünde bei einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristung das Risiko, dass sich Arbeitgeber bei Einstellungen zurückhalten und ihr Flexibilitätsspielraum eingeschränkt wird.

Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass ein Wegfall sachgrundloser Befristungen zu einer deutlichen Zunahme unbefristeter Einstellungen führt. Schließlich liefern empirische Analysen Hinweise dafür, dass insbesondere sachgrundlose Befristungen häufig als verlängerte Probezeit genutzt werden und als Sprungbrett in unbefristete Beschäftigung fungieren.« (Christian Hohendanner (2014): Befristete Beschäftigung. Mögliche Auswirkungen der Abschaffung sachgrundloser Befristungen. IAB-Stellungnahme, 01/2014, Nürnberg 2014, S. 4)

Man muss diese Schlussfolgerung nicht teilen, aber sie ist sicher das Ergebnis eines Abwägungsprozesses hinsichtlich der Vor- und Nachteile einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und der Abschätzung der Verhaltensweisen der Arbeitsmarktakteure, vor allem der Arbeitgeber.

Aber vielleicht ist die Forderung nach einer Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen, wie sie nun auch von Martin Schulz in den politischen Diskursraum geworfen wird, als Chiffre zu verstehen, als Adressierung einer emotionalen Schicht jenseits abstrakter arbeitsmarktlicher Befunde, deren Resonanzboden durch eine verunsicherte Gesellschaft aufgrund vermeintlicher, vermuteter und auch tagtäglich erlebter Abstiege und Ausschlüsse strukturiert ist. Wenn, dann wäre das in einer risikoaversen Gesellschaft wie in Deutschland gut gewählt. Denn die Sicherheitsbedürfnisse werden zumindest für die Betroffenen durch Befristungen – selbst wenn sie am Ende der erwerbsbiografischen Kette nur ein Durchgangsstadium darstellen – massiv verletzt und wer wünscht sich nicht ein stabiles Beschäftigungsverhältnis? Wobei unbefristet faktisch nun gerade nicht lebenslange Beschäftigungsgarantie bedeutet (wenn wir von Teilen des öffentlichen Dienstes absehen), wie die vielen Arbeitnehmer wissen, denen aus welchen Gründen auch immer gekündigt wird.

Insofern hat Martin Schulz sicher aus politpsychologischen Gründen einen Nerv bei vielen getroffen. Aber wie weit Theorie und Praxis dann in der wirklichen Wirklichkeit auseinanderliegen (können), verdeutlicht ein Blick auf das Haus der Ministerin, die bei der Schulz-Rede in Bielefeld auch anwesend war – gemeint ist Manuela Schwesig (SPD). Die hat mal vor einiger Zeit mit Blick auf die (möglichen) Auswirkungen der Befristungen gesagt: „Befristete Jobs wirken wie die Anti-Baby-Pille.“ Und dann berichtet  Johanna Roth in ihrem Artikel Zeitverträge als Anti-Babypille  aus dem Bundesfamilienministerium das hier:

»Die Anzeige klingt, als brauche Manuela Schwesig (SPD) einen ganzen Schwung neuer MitarbeiterInnen: Das Familienministerium sucht derzeit Sozial- und WirtschaftswissenschaftlerInnen „für verschiedene Bereiche des Hauses“, darunter für Familie, Gleichstellung, Kinder, Jugend.
Gefragt sind gute Noten, Fremdsprachenkenntnisse und die Bereitschaft zu Dienstreisen. Eines sollten die BewerberInnen aber besser nicht haben: Kinderwunsch. Denn die ausgeschriebenen Stellen sind auf zwei Jahre befristet …  Im Familienministerium ist der Anteil der befristet Beschäftigten zwischen 2004 und 2013 rasant gestiegen: von 1,2 auf 18,6 Prozent … Damit gehört das Familienministerium zu den Spitzenreitern unter den befristenden Bundesministerien.«

Übrigens weist der Artikel auch auf eine Folge der sachgrundlosen Befristungen hin, die häufig vergessen wird: »Eine zeitliche Befristung von bis zu zwei Jahren ist gesetzlich gestattet, ohne dass dafür ein sachlicher Grund angegeben werden muss. Das ist aber nur zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber in den vergangenen drei Jahren kein Arbeitsverhältnis bestanden hat. In diesem Fall bedeutet das: Werden die Verträge nicht entfristet, sind die WissenschaftlerInnen für die nächsten drei darauf folgenden Jahre für den Dienst bei Bundesbehörden gesperrt und müssen sich ein anderes Arbeitsfeld suchen.«
Man könnte natürlich auf die Idee kommen, dass die Schulz-Forderung nun sofort aufgegriffen und dort mit Leben gefüllt wird, wo man personalpolitische Verantwortung hat. Wie werden sehen, dass das nicht passieren wird, nicht nur, aber eben auch aus systemischen Gründen des öffentlichen Dienstrechts.

Offenbar ist es wieder einmal nicht so einfach, die Sonntagsreden mit dem tagtäglichen Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht so gemeint, sondern wie angedeutet ein Sprung in das Planschbecken einer verunsicherten Gesellschaft, die dringend und verständlicherweise auf Symbole wartet, dass man was ändern könnte.

Akademiker sind keine Schweine. Aber sind sie gefangen im Schweinezyklus? Und dann noch Ingenieure und Naturwissenschaftler, die Aushängeschilder eines (angeblichen) Fachkräftemangels?

Wenigstens einige Gewissheiten muss es doch geben. Beispielsweise einen Fachkräftemangel bei den Ingenieuren, die so wichtig sind für die deutsche Volkswirtschaft. Jedenfalls behaupten das viele Unternehmen und vor allem die Wirtschaftsfunktionäre. Und das darf dann nicht fehlen in den Sonntagsreden der Politiker, garniert mit der Aufforderung an junge Menschen, doch bitte ein Studium in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurs- und Naturwissenschaften sowie Technik) aufzunehmen – die Aussichten seien himmlisch. Und begleitend legt man zahlreiche Förder- und sonstige Programme auf, Hauptsache, es geht irgendwie um MINT, denn man muss ihn ja bekämpfen, den Fachkräftemangel. Nun gab es schon immer kritische Zeitgenossen, deren differenzierte Vertreter zwar nicht grundsätzlich die Problematik eines möglichen Fachkräftemangels bestreiten, aber darauf hinweisen, dass man da schon genauer hinschauen muss und gerade bei den prominenten Vertretern des angeblichen Mangels – also eben den Ingenieuren – die Lage sehr unterschiedlich ist, was auch damit zusammenhängen kann, dass Arbeitgeber bereits von einem Fachkräftemangel sprechen, wenn auf eine offene Stelle nur noch einige wenige Bewerbungen eingehen, statt wie früher waschkörbeweise. Aus ihrer betriebswirtschaftlichen Sicht ist das verständlich, aber die Bewerber werden das sicherlich anders bewerten.
Und wenn wir schon bei Gewissheiten sind – angehende Ökonomen sollten im ersten Semester bei der Behandlung der Preisbildungsprozesse auf Märkten einen wichtigen Begriff lernen: Schweinezyklus. Aber was hat der Schweinezyklus mit den Akademikern, in diesem Fall vor allem den aus den so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden MINT-Akademikern zu tun? 

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