Eine Armut, die es als solche gar nicht gibt, steigt. Sie wird ein Leben lang (nach)wirken: Kinderarmut in Deutschland. Und eine Realität zwischen Kleinkrämerei und struktureller Hilflosigkeit

Die Zahlen sind alarmierend: Mehr als 1,66 Millionen Kinder waren im vergangenen Jahr in Deutschland von Hartz IV abhängig. Während im Osten die Armutsquote auf hohem Niveau nahezu stagniert, nimmt sie Westdeutschland weiter zu – trotz starker Konjunktur und geringer Arbeitslosigkeit. So der DGB über eine neue Studie zum Thema Kinderarmut. 14 Prozent aller Kinder in Westdeutschland leben in Hartz IV-Haushalten, Tendenz steigend. In Ostdeutschland waren 2015 sogar 22,4 Prozent der Kinder von Hartz IV abhängig. Damit stieg die Zahl der bedürftigen Familien mit Kindern gegenüber dem Vorjahr weiter an. Der DGB konstatiert: »… durch den demografischen Wandels nimmt die Zahl der Kinder in Deutschland weiter ab – dennoch leben mehr Kinder in Armut.« Die regionale Verteilung ist sehr unterschiedlich – und sie polarisiert sich weiter: »Die Kinderarmut ist dabei regional sehr unterschiedlich verteilt. Besonders betroffen sind Ostdeutschland und die Stadtstaaten. Doch auch Teile von Nordrhein-Westfalen und das Saarland kämpfen mit hohen Armutsquoten Den traurigen Rekord halten Berlin und Bremen. Hier ist knapp ein Drittel der Kinder auf Hartz IV angewiesen. In Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg blieb die Kinderarmut auf relativ niedrigem Niveau dagegen nahezu unverändert.«

Man kann an dieser Stelle auch Paul M. Schröder zitieren, der unermüdlich seinen Weg geht inmitten der vielen offiziellen Statistiken. Er hat sich die Zahlen ebenfalls angeschaut und fasst diese in seiner Veröffentlichung Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften: unter 15 Jahre, unter 25 Jahre und insgesamt in 2015 so zusammen:

»Im Jahr 2015 lebten in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich 6,084 Millionen Menschen in sogenannten SGB II-Bedarfsgemeinschaften (Hartz IV), 13.819 (0,2 Prozent) weniger als im Jahr zuvor. Von diesen 6,084 Millionen Personen in SGB II-Bedarfsgemeinschaften waren 2,419 Millionen unter 25 Jahre alt. Dies waren 19.350 (0,8 Prozent) mehr als ein Jahr zuvor. Rückblickend betrachtet heißt dies: Der jahresdurchschnittliche Bestand junger Menschen in SGB II-Bedarfsgemeinschaften ist 2015 erstmals seit 2006 (dem zweiten „Hartz IV-Jahr“) im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr gestiegen. Von den jahresdurchschnittlich 2,419 Millionen jungen Menschen im Alter von unter 25 Jahren in SGB II-Bedarfsgemeinschaften waren 1,660 Millionen unter 15 Jahre (Kinder) und 759.000 15 bis unter 25 Jahre alt. Die jahresdurchschnittliche Zahl der Kinder (unter 15 Jahre) in SGB II-Bedarfsgemeinschaften stieg 2015 im dritten Jahr in Folge – mit von Jahr zu Jahr steigenden Veränderungsraten. In 2015 lebten im Vergleich zum Vorjahr 22.598 (1,4 Prozent) mehr Kinder in Familien, die auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den SGB II angewiesen waren.«

Nun ist die Anzahl der Kinder, die in „Hartz IV-Haushalten“ leben (müssen), nur ein Teil der Kinder, die von (Einkommens)Armut betroffen sind. Der DGB hat in seiner neuen Studie, aus der die Abbildung entnommen wurde, richtigerweise auch die Werte ausgewiesen, wenn man die üblichen Schwellenwerte aus der amtlichen Sozialberichterstattung heranzieht, nach denen wir von Armutsgefährdung sprechen müssen (vgl. zu den Daten www.amtliche-sozialberichterstattung.de). Das ist keineswegs ein Nebenaspekt, wie man an diesem Beispiel erläutern kann: In Deutschland gibt es das Instrument des Kinderzuschlags, den Eltern bekommen können, um zu vermeiden, dass sie ansonsten durch die Existenz des Kindes bzw. der Kinder zu Hartz IV-Empfänger werden würden. Man vermeidet also temporär den offiziellen Status Grundsicherungsempfänger, insofern tauchen die Kinder auch nicht in den offiziellen Hartz IV-Zahlen auf, trotzdem sind diese Kinder knapp oberhalb der gegebenen Hartz IV-Sätze von Einkommensarmut betroffen, wenn man das nach den etablierten Standards der Armutsforschung bemessen würde.

Hinzu kommt: Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll. Man kommt gar nicht darum herum, sich mit der gesamten Familie, in der SGB II-Begriffswelt als „Bedarfsgemeinschaften“ bezeichnet, zu beschäftigen. Vgl. dazu bereits den Blog-Beitrag Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.10.2014.

Diese unaufhebbare Erkenntnis wird auch sichtbar bei den Forderungen, die seitens des DGB gestellt werden und von denen hier nur drei herausgestellt werden sollen:

  • Aktionsplan „Zukunft für Kinder“: Bereits im September 2015 stellte der DGB gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) den Aktionsplan „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“ vor. Mit einem familienorientiertem Fallmanagement soll die Kinder- und Familienarmut bekämpft werden.
  • Höhere Hartz IV-Regelsätze – auch für Kinder. Die derzeitigen Regelsätze sind steuerpolitisch motiviert klein gerechnet und ermöglichen keine angemessene soziale Teilhabe von Kindern.
  • Familienlastenausgleich umgestalten. Kinderarmut lässt sich auch durch eine Umgestaltung des Familienlastenausgleichs bekämpfen. Bisher werden Besserverdienende über die steuerlichen Kinderfreibeträge deutlich stärker entlastet werden als das Gros der Haushalte, das auf Kindergeld angewiesen ist.

Nun wird der eine oder andere möglicherweise einwerfen, dass doch schon versucht wird, speziell was für die Kinder aus einkommensarmen Verhältnissen zu tun, beispielsweise mit dem „Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) den Kindern direkt nützliche Leistungen zu finanzieren, mit denen die Situation der Kinder konkret verbessert werden kann.

Dazu passt dann diese Pressemitteilung: Fünf Jahre Bildungs- und Teilhabepaket: Paritätischer und Deutscher Kinderschutzbund ziehen kritisch Bilanz:

»Das Bildungs- und Teilhabepaket sei fünf Jahre nach seiner Einführung als gescheitert anzusehen, kritisieren der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund Bundesverband. Die Leistungen seien in ihrer Höhe unzureichend und in der bestehenden Form nicht geeignet, Bildung und Teilhabe für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu ermöglichen,« so die ernüchternde Bilanz der Verbände.

Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, wird mit diesen Worten zitiert:

»Das Bildungs- und Teilhabepaket stigmatisiert Kinder, weil es sie immer wieder dazu zwingt, sich in Schule und Freizeit als arm zu outen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Leistungen in ihrer Höhe bereits bei der Einführung nicht ausreichend waren und seitdem nie erhöht wurden“, so Hilgers weiter. Das werde insbesondere am Beispiel des Schulbedarfes deutlich: „Eine Schulerstausstattung, die wir auf der Grundlage von Informationsblättern von Schulen zusammengestellt haben, kostet über 200 Euro. Das ist mehr als doppelt so viel als vom Bildungs- und Teilhabepaket vorgesehen.«

Diese ernüchternden Befunde können nicht wirklich überraschen. Das hängt eben auch zusammen mit der Entstehungsgeschichte und den Konstruktionsmerkmalen des BuT:

Das „Bildungs- und Teilhabepaket“ (BuT) als eine Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen nach dem SGB II wird hier insgesamt bewertet als ein grundsätzlich falscher Ansatz einer Bedarfsdeckung hinsichtlich der vom BVerfG vorgegebenen besonderen Berücksichtigung kind- und jugendbezogener Bedarfe. Dies vor allem aus zwei fundamentalen Erwägungen heraus:

1.) Die damalige Bundesregierung hat die vom Bundesverfassungsgericht eindringlich geforderte Berücksichtigung der Bildungsbedarfe der Kinder in Reaktion auf das Urteil in einen eigenen Strang, aus dem dann das BuT entstanden ist, verlagert. Das BMAS hat damals so argumentiert: „Eine gezielte Förderung hilfebedürftiger Kinder kann nur funktionieren, wenn die Unterstützung auf diejenigen Kinder konzentriert wird, die sie wirklich brauchen. Und: Es muss sichergestellt sein, dass die Leistungen auch tatsächlich zu den Kindern kommen. Das Bildungspaket setzt daher auf Sach- und Dienstleistungen … Denn Geldleistungen würden bedeuten, die statistisch zur Verfügung stehen- de Summe nach dem Gießkannenprinzip an alle Kinder zu verteilen. Auch die vielen Kinder, die zum Beispiel gar keine Nachhilfe benötigen, würden den geringen Durchschnittsbetrag dafür erhalten.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bildungspaket und Regelsätze. Alle Informationen zur Neuregelung des SGB II, 30.01.2011).

Es wurde damals darauf hingewiesen, dass mit dem Setzen auf Sach- und Dienstleistungen und der Nicht-Abbildung in den Geldleistungen ein „Paradigmenwechsel“ vorgenommen wurde – aber das ist an sich nicht zutreffend, denn die Dreizügigkeit von Geld-, Sach- und Dienstleistungen war schon im alten Sozialhilferecht nach dem BSHG ein Wesenselement auf der Leistungsseite und wir kennen dies auch im neuen Grundsicherungsrecht. Die Nutzung des Instruments Sachleistungen war im alten Sozialhilferecht sogar erheblich intensiver und aufgrund der stärkeren Einzelfallorientierung auch fallspezifischer.

Der eigentliche „Paradigmenwechsel“, für den das BuT steht, kann man so zuspitzen: Dem ganzen Ansatz liegt vor allem ein generelles Misstrauen gegen die Eltern der betroffenen Kinder in der Grundsicherung zugrunde. Er basiert auf der Annahme, dass die Eltern zusätzliches Geld im Regelsatz der Kinder zweckentfremden beispielsweise für den Konsum von Alkohol oder Tabak oder der Anschaffung eines neuen Flachbildschirms. Dergestalt in Kollektivhaft genommen wurde allen Eltern die Kompetenz für und der Anspruch auf eine autonome Mittelverwendung entzogen.

Hauptpunkt der Argumentation war, dass die Leistungen auch sicher den Kindern, die sie brauchen, zugute kommen sollen und nicht von den Eltern zweckentfremdet werden können. Insgesamt wird den Eltern im Grundsicherungsbereich eine erhebliche Skepsis entgegengebracht, die materiellen Mittel insgesamt ausgewogen einzusetzen und im Sinne ihrer Kinder zu handeln. Diese Argumentation hat nicht nur in weiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch bei vielen Praktikern vor Ort große Zustimmung erfahren, gerade auch angesichts des in der Realität erlebten Zustandes vieler Familien, die teilweise schon seit sehr vielen Jahren ununterbrochen im Grundsicherungsbezug sind. Und darüber hinaus hat sich generell im gesellschaftlichen Diskurs das Klima gegenüber abweichenden Verhalten enorm abgekühlt und die Erwartungen hinsichtlich des „richtigen“ Verhaltens bzw. die Ablehnung von nicht-eigenaktiven Verhaltens hat deutlich zugenommen.

Aber auch wenn man das einmal als richtig unterstellen würde – gerade beim „Bildungspaket“ zeigt sich, dass wir immer ein „Gefangener der Familie“ bleiben (im positiven wie im negativen Sinne). Denn auch wenn nun Mittel z.B. für ein Sportverein oder gar für eine Musikschule zur Verfügung stehen und sogar unter der Annahme, sie würden ausreichend dimensioniert sein, stellt sich doch die Frage, was eigentlich passiert, wenn nichts passiert, denn die Teilnahme an einem Sportverein setzt bei Kindern voraus, dass die Eltern das Kind hinbringen und abholen. Und wenn sie das aus welchen Gründen eben nicht machen? Wenn sie sich bereits den minimalen Anforderungen des Lebens entzogen haben? Dann wird die Nicht-Inanspruchnahme der dem Kind eigentlich zustehenden Leistung einfach akzeptiert, weil es sich nicht ändern lässt? Oder wird man dann irgendwann eine Debatte bekommen, die Eltern mit dem Jugendamt zu konfrontieren, weil sie ja offensichtlich ihre elterlichen Pflichten vernachlässigen?

2.) Der zweite grundsätzliche Einwand lässt sich ableiten aus einem kritischen Blick auf das Zusammenspiel von zu niedrig dimensionierten Beträgen für die einzelnen, durchaus sehr unterschiedlichen Leistungen aus dem BuT und den im Sozialleistungsbereich unerhört hohen Bürokratiekosten, die mit der Umsetzung des BuT verbunden sind. Bereits im Vorfeld der Konzeptualisierung des BuT wurde auf einen wahrscheinlichen Verwaltungskostenanteil in Höhe von 15% hingewiesen, der sich in der Realität aber über die 20%-Grenze geschoben hat – man befindet sich damit in trauter Gemeinschaft mit privaten Versicherungen, die sich in ähnlichen Größenordnungen bewegen (allerdings vor allem aufgrund der hohen Abschlusskosten, also der Provisionen für die Versicherungsvertreter und der hohen Margen der Versicherungsunternehmen). Man vergleiche diese Werte einmal mit den vielgescholtenen Krankenkassen (im Durchschnitt etwa 6%) oder der Gesetzlichen Rentenversicherung, die im Schnitt mit 5% auskommt.*

Die aktuellen Werte stellen sich so dar: Die Gesamtausgaben für das BuT lagen vor fünf Jahren noch bei 720 Mio. Euro, davon entfielen mit 182 Mio. Euro mehr als 25% auf Verwaltungskosten – allein das ist ein Beispiel für den doppelten Irrsinn, einmal angesichts des an sich unverschämt hohen Bürokratiekostenanteils und dann auch noch vor dem Hintergrund völlig kleingeschredderter Leistungen. Im Jahr 2014 wurden zudem nur noch 531 Mio. Euro seitens des Bundes verausgabt.

Auch das ist bezeichnend: »Während der Amtszeit von der Leyens habe das Arbeitsministerium wenigstens noch jährlich Zahlen darüber veröffentlicht, wie viele Kinder vom BuT erreicht wurden. Seitdem jedoch die große Koalition aus CDU, CSU und SPD reagiere, würde die Öffentlichkeit hierüber nicht mehr informiert. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) legten nicht mal mehr überprüfbare Zahlen vor, sagte Schneider. Statt dessen tauche die Regierung ab und verweise auf die Umsetzungspflicht der Kommunen und Länder«, so Simon Zeise in seinem Artikel Aufwachsen in Armut.

Es sollte darauf hingewiesen werden, dass das Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 selbst entscheidende Hinweise gegeben hat, wie eine eigentlich „richtige“ Lösung aussehen könnte bzw. müsste. Es muss besonders hervorgehoben werden, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ganz offensichtlich von dem „Normalfall“ einer Abbildung des Bedarfs der Kinder im Sozialgeld für diese ausgegangen ist, solange es keine flächendeckende institutionelle Regelung der Bedarfsdeckung mit einer entsprechend erforderlichen ländergesetzlichen Absicherung gibt – und dieser Hinweis ist auch vor dem Hintergrund der Verhinderung einer „Legendenbildung“ zu verstehen, dass die politisch Verantwortlichen in Berlin behaupten, sie hätten aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gar keine andere Wahl gehabt als den Weg über ein separates „Bildungspaket“ für die Kinder im Grundsicherungsbezug zu gehen. Dies belegt der folgende Passus aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in aller Deutlichkeit:

„Vor allem ist ein altersspezifischer Bedarf für Kinder einzustellen, welche die Schule besuchen. Wie bereits ausgeführt macht die Zuständigkeit der Länder für das Schul- und Bildungswesen die fürsorgerechtliche Berücksichtigung dieses Bedarfs nicht entbehrlich. Die Zuständigkeit der Länder betrifft überdies den personellen und sachlichen Aufwand für die Institution Schule und nicht den individuellen Bedarf eines hilfebedürftigen Schülers. Der Bundesgesetzgeber könnte erst dann von der Gewährung entsprechender Leistungen absehen, wenn sie durch landesrechtliche Ansprüche substituiert und hilfebedürftigen Kindern gewährt würden. Dann könnte eine einrichtungsbezogene Gewährung von Leistungen durch die Länder, zum Beispiel durch Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lernmitteln oder durch ein kostenloses Angebot von Nachhilfeunterricht, durchaus ein sinnvolles Konzept jugendnaher Hilfeleistung darstellen, das gewährleistet, dass der tatsächliche Bedarf gedeckt wird. Solange und soweit dies jedoch nicht der Fall ist, hat der Bundesgesetzgeber, der mit dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ein Leistungssystem schaffen wollte, welches das Existenzminimum vollständig gewährleistet, dafür Sorge zu tragen, dass mit dem Sozialgeld dieser zusätzliche Bedarf eines Schulkindes hinreichend abgedeckt ist.“  (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 197).

Aus diesem Passus des Urteils wird deutlich erkennbar, dass die Verfassungsrichter differenzieren zwischen einer eigentlich zielführenden flächendeckenden Regelung den Schulbedarf betreffend (mit einer länderrechtlichen Absicherung) und einer gleichsam ersatzweise vorzunehmenden individuellen Umsetzung über die Geldleistung Sozialgeld, wenn denn die Voraussetzungen einer entsprechenden institutionellen Umsetzung (noch) nicht gewährleistet werden können. Die Grundsatzentscheidung der Bundesregierung hingegen führte in eine andere Richtung: Eine individuelle Gewährung von begrenzten Sachleistungen (auf Antrag) statt einer Geldleistung.

Gelandet sind wir in hinsichtlich des „Bildungs- und Teilhabepakets“ in einer Welt der kleinkrämerischen Zuweisung von überaus überschaubaren Geldmitteln für Sportvereine und andere bezuschussungsfähigen Aktivitäten.

Wenn man wirklich etwas substanziell verbessern will, dann müsste man den Spagat schaffen zwischen einer „Ent-Individualisierung“ der Leistungsinanspruchnahme (hinsichtlich der Voraussetzungen, der Beantragung, der Bewilligung und individuellen Abwicklung, denn das sind die zentralen Treiber auf der Seite der Bürokratiekosten)  und einer strukturellen Verankerung in den Regel-Institutionen, die fast alle Kinder und Jugendlichen heute erreichen, also Kitas und Schulen.

Entscheidend ist angesichts der individuellen Bedarfe, dass eine institutionelle Verankerung in Regel-Institutionen erfolgen muss, um möglichst alle Kinder und Jugendlichen erreichen zu können.
Allerdings sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Es würde bei dieser Lösung immer auch einige Familien geben, deren Kinder man nicht erreicht, vor allem vor dem Schulalter. Dafür müsste es dann Sonderregelungen geben, die nicht trivial sind, wenn man an dem indiviudellen Rechtsanspruch, so wie er heute normiert ist, festhält. Außer man würde eine typisierende Betrachtung zulassen, die allerdings im Kita-Bereich zumindest derzeit noch mit einigen Fragezeichen zu versehen wäre.

Das hört sich für viele nicht wirklich nach einer Annäherung an den großen Wurf an, ganz im Gegenteil. So ist es leider auch. Insofern sei an dieser Stelle und im April 2016 auf diesen Beitrag aus dem März des Jahres 2015 verwiesen: Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1. Neuigkeiten können – leider – an dieser Stelle nicht verkündet werden.

*) Im Zweiten Zwischenbericht zur Evaluation des BuT aus dem Juli 2015 findet sich der folgenden Passus: „Die Umsetzung der Bildungs- und Teilhabeleistungen verursacht Erfüllungsaufwand in Form von Zeit- und Kostenaufwänden … Machen die Leistungsberechtigten ihre Ansprüche in dem in PASS ermittelten Umfang geltend, setzen sie jährlich rund 2,8 Mill. Stunden für die Antragstellung (inkl. Wege- und Wartezeiten) sowie Sachkosten (z. B. Fahrt- und Portokosten) in Höhe von rund 12,2 Mill. Euro ein. Für die Leistungsstellen entsteht ein jährlicher Aufwand von rund 136 Mill. Euro (davon rund 97,5 Mill. Euro Personalkosten und rund 38,5 Mill. Euro Sachkosten). Den Leistungsanbietern entsteht ein jährlicher Aufwand von rund 43,8 Mill. Euro (mit rund 41,5 Mill. Euro ganz überwiegend Personalaufwand). Bei Lernförderung und Mittagsverpflegung (soweit sie von Caterern übernommen wird) unterstützen Schul- und Kitaverwaltungen die anderen Akteure bei der Leistungserbringung, was einen Kostenaufwand von rund 2,7 Mill. Euro verursacht. Allen vier Akteursgruppen verursacht die Mittagsverpflegung in der Summe den größten Aufwand. Dagegen ist der einzelne Antrag auf Lernförderung für alle Beteiligten mit Abstand am aufwändigsten.“ (S. 33). Vgl. BMAS: Zweiter Zwischenbericht Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Berlin, Juni 2015.

Abbildung: DGB: Steigende Armut trotz guter Wirtschaftslage – Problem Kinderarmut ungelöst (= arbeitsmarktaktuell Nr. 3/2016), Berlin 

Programmitis als Krankheitsbild in der Arbeitsmarktpolitik: Wenn das „Wir tun was“ für die Langzeitarbeitslosen verloren geht im hyperkomplexen Raum der Sonderprogramme, die in der Realität scheitern müssen

Die politisch Verantwortlichen lassen sich seit geraumer Zeit feiern bei der Verkündigung der monatlichen Arbeitslosenzahlen in Nürnberg. Noch nie seit der Wiedervereinigung sei die Zahl „der“ Arbeitslosen so niedrig gewesen. Für den Februar 2016 teilt uns die Bundesagentur für Arbeit mit: 2.911.000. Das sind über 100.000 weniger als im gleichen Monat des Vorjahres. Diese Erfolgsmeldung lässt man sich auch nicht eintrüben durch die ebenfalls seitens der BA in ihrem Datenwerk ausgewiesene Zahl der Unterbeschäftigten: 3.707.000. Das ist nun schon eine andere Hausnummer (allerdings ist die im Vergleich zum Vorjahr sogar noch stärker zurückgegangen, nämlich um 180.000 Menschen). Zugleich wird deutlich, man muss genau hinschauen, was sich denn hinter „den“ Arbeitslosen verbirgt. Offensichtlich sind die 2,9 Mio. Menschen lediglich eine untere Untergrenze, von Erwerbslosigkeit sind weitaus mehr Menschen betroffen. Das wird seit Jahren immer wieder auch kritisch begleitet, soll in diesem Beitrag aber gar nicht weiter verfolgt werden. Auch nicht die Tatsache, dass aufgrund der auch medialen Fixierung auf die Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen (2,9 Mio.) bei nicht wenigen Beobachtern eine ganz andere Zahl auf Schwierigkeiten stößt, die sich in einer deutlich höheren Umlaufbahn bewegt: Für das Hartz IV-System (SGB II) werden 6.045.000 „Leistungsbezieher“ gemeldet, was ja nun wirklich eine andere Größenordnung ist. Auch wenn man berücksichtigt, dass darunter auch 1,7 Mio. Kinder unter 14 Jahren sind, die in den „Bedarfsgemeinschaften“ der Hartz IV-Empfänger leben, bleiben ausweislich der amtlichen Daten 4,3 Mio. „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Offensichtlich taucht nur ein (kleiner) Teil von ihnen in der offiziellen Zahl „der“ Arbeitslosen aus. 

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Richter als Sozialpolitiker. Von der Menschenwürdigkeit eines geschrumpften Existenzminimums und dem Elternunterhalt in der Sozialhilfe

Es sollte unstrittig sein, dass Sozialpolitik in Deutschland in einem nicht geringen Umfang hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung Richterrecht ist. Denn die Sozial- und Verwaltungsgerichte fällen eine Vielzahl an Urteilen, die für die Betroffenen wie auch für die Institutionen des Sozialstaats von großer Bedeutung und oftmals mit dem Bild des Daumen rauf oder eben runter gut zu beschreiben sind.

Zwei neue Entscheidungen höchster Gerichte in unserem Land mögen das verdeutlichen. Zum einen geht es um die im wahrsten Sinne existenzielle Frage, ob das Schrumpfen des Existenzminimums und damit ein Teil-Existenzminimum (noch) zulässig ist – eine Frage, die ja auch bei einem der großen Konflikte innerhalb der Grundsicherung eine zentrale Rolle spielt und in der vor uns liegenden Zeit auch vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden sein wird, also bei den Sanktionen im SGB II-System. Und die andere neue Entscheidung betrifft die angesichts der rein quantitativen Entwicklung absehbar an Bedeutung gewinnenden Frage nach dem Elternunterhalt im Rahmen der Hilfe zur Pflege, die nach SGB XII und damit aus Mitteln der kommunal zu finanzierenden Sozialhilfe gewährt werden kann bzw. muss. Beiden Fällen gemein ist, dass man konkreten Menschen etwas weg nehmen will, wogegen die sich zur Wehr gesetzt haben. Mit unterschiedlichem Ausgang. Zugleich ist das alles ein kleines Lehrstück, mit welchen konkreten Lebenslagen sich Sozialpolitik beschäftigen muss und wie stark – wenn auch gerne unter den Teppich gekehrt – die normative Dimension höchstrichterlicher Entscheidungen daherkommt.

Die erste hier zu besprechende Entscheidung erreicht uns aus dem Bundessozialgericht (BSG). Das hat die Pressemitteilung zu der Entscheidung (Az.: B 14 AS 20/15 R) überschrieben mit Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar! Mit einem Ausrufezeichen ist die Überschrift versehen, was in einer Gerichtsmitteilung einem wahren Gefühlsausbruch nahekommt. Es geht hier offensichtlich um ein wichtiges Thema, folgt man solchen Überschriften: Jobcenter dürften Hartz IV jahrelang kürzen.

Hartz IV? Ist das nicht das von Amts wegen gewährte Existenzminimum? Wie und warum kann man das jahrelang kürzen? Einen ersten Hinweis bringt zumindest der Hinweis unter dieser Überschrift: 400 Euro Hartz IV, 120 Euro Abzug – das ist rechtens: »Wer bei Hartz IV betrügt, muss mit hohen Strafen leben. Einem Mann wurde drei Jahre lang das Geld vom Staat um 30 Prozent gekürzt. Das Bundessozialgericht entschied nun: Das ist rechtens.« In diesem Artikel finden wir auch eine verständliche Zusammenfassung des Sachverhalts. der zu dem Verfahren vor dem BSG geführt hat:

»Geklagt hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Osnabrück. Der 1961 geborene Mann steht seit 2005 im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Im Jahr 2007 hatte er allerdings Einkünfte verschwiegen, so dass er eigentlich kein Hartz IV hätte beanspruchen dürfen. Das Amtsgericht Osnabrück verurteilte den Mann deshalb rechtskräftig wegen Betruges. Das Jobcenter forderte die überzahlte Hartz-IV-Leistung zurück, insgesamt 8.352 Euro. Da der Arbeitslose über keine Mittel verfügte, sollte er drei Jahre lang den Betrag abstottern. Jeden Monat wurde ihm sein Arbeitslosengeld II um 30 Prozent gekürzt. Von monatlich 404 Euro Hartz IV sollte er 121,20 Euro abzahlen.«

Hier taucht sie auf, die zum einen konkrete Frage des vorliegenden Falls, zum anderen aber weit darüber hinausreichend, denn das Begehren des Klägers, also des Arbeitslosen, ist durchaus relevant für andere Fallkonstellationen im Grundsicherungssystem, vor allem bei den Sanktionen.
»Der Arbeitslose hielt das für rechtswidrig. Er habe zwar in der Vergangenheit betrogen, trotzdem stehe ihm ein menschenwürdiges Existenzminimum zu.«

Und was sagt das BSG dazu?

»Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist.«

Man kann es auch so zusammenfassen:

»Das Bundessozialgericht indes hält die gesetzlichen Bestimmungen, wonach das Jobcenter im Falle eines Erstattungsanspruchs das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent kürzen darf, mit dem Grundgesetz für vereinbar. Die Behörde habe einen Erstattungsanspruch, und es liege in der Eigenverantwortung des Hartz-IV-Beziehers, die Kürzung zu vermeiden.«

An dieser Stelle sind wir an dem entscheidenden Punkt angelangt: Wenn der normale Hartz IV-Satz der Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums dient, wie kann man dann eine über Jahre vollzogene Kürzung ebendieses Existenzminimums rechtfertigen? Dazu das BSG:

»Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen … mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.«

Anders ausgedrückt: Der Arbeitslose könne in besonderen Bedarfslagen beim Jobcenter einen Zuschuss beantragen., also ein Darlehen, das er oder sie natürlich zurückzahlen muss.

Es geht hier nicht um eine Akzeptanz oder gar Rechtfertigung des in diesem konkreten Fall vorliegenden Betrugs seitens des Leistungsempfängers. Sondern um die Folgen hinsichtlich des Existenzminimums in Form einer über lange Zeit laufenden Absenkung auf ein Sub-Existenzminimums, denn auch der Verweis des Gerichts auf die Darlehens-Inanspruchnahme führt ja im Ergebnis dazu, dass man diese Beträge auch zurückzahlen muss, was dann den Abzug auf Dauer stellen würde.

Der über den Einzelfall hinausreichende Aspekt ist darin zu sehen, dass diese Entscheidung auch ausstrahlen wird auf das generelle Thema, inwieweit Sanktionen und die daraus abgeleitete Kürzung des Hartz IV-Satzes rechtmäßig sind. Damit beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht und das wird in den nächsten Monaten dazu aufgrund der Vorlage durch ein Sozialgericht eine Grundsatzentscheidung treffen müssen (vgl. dazu den Beitrag Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden vom 27. Mai 2015)

Im Hartz IV-System geht es um existenzielle Beträge. Um Geld für so etwas geht es auch im zweiten Fallbeispiel, das aus der Welt der Pflege und hierbei vor allem aus den Kelleretagen der Pflegefinanzierung stammt. Rabatt nur im Ausnahmefall, so hat Christian Rath seinen Artikel dazu überschrieben. Und er liefert uns gleich eine Beschreibung des Sachverhalts, der dem Verfahren zugrunde lag:

»Das Verfahren hatte ein heute 74-jähriger Mann aus Berlin ausgelöst, der seit 2010 in seiner Wohnung von einem Pflegedienst betreut wird. Rente und Pflegeversicherung reichten nich, um die erhaltene Pflege zu finanzieren. Die restlichen Kosten übernahm das Sozialamt, das versuchte, sich das Geld vom Sohn des alten Mannes zurückzuholen. Dieser zahlte aber nicht, weil er sich nicht leistungsfähig genug fühlte. Der Sohn, ein 44-jähriger Softwareentwickler, lebt inzwischen in Bayern. Mit seiner Freundin, einer Physiotherapeutin, hat er eine siebenjährige nichteheliche Tochter. Der Programmierer verdient rund 3.300 Euro monatlich. Nach Abzug von Selbstbehalt, beruflichen Aufwendungen, Altersvorsorge und Unterhalt für die Tochter verurteilte ihn das Oberlandesgericht Nürnberg zur Zahlung von 270 Euro monatlich an die Berliner Sozialbehörde.«

Dagegen ist der Betroffene zu Felde gezogen. Er beklagt eine Ungleichbehandlung von Ehegatten und nichtehelichen Paaren.

»Da er nicht verheiratet ist, war bei ihm ein Selbstbehalt von heute nur 1.800 Euro pro Monat berücksichtigt worden. Zusammen mit einer Ehefrau hätte er jedoch einen Familienselbstbehalt von 3.240 Euro geltend machen können – und hätte dem Sozialamt nichts zahlen müssen. Sein Anwalt Thomas Plehwe berief sich auf den Schutz der Familie im Grundgesetz, der auch für nichteheliche Familien gelte.«

Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass der Bundesgerichtshof (BGH) der Trennung zwischen ehelich und eben nicht-ehelich folgt und dementsprechend urteilt, dass der nicht-ehelich gebundene Mensch halt Pech hat, denn er hätte sich ja ehelich binden können. In der Pressemitteilung des BGH scheint das auch so zu sein:

»Zwar kann sich der Unterhaltspflichtige, auch wenn er mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebt und für den gemeinsamen Unterhalt aufkommt, nicht auf einen Familienselbstbehalt berufen.«

Also grundsätzlich gilt: Den Familienselbstbehalt gebe es nur für Ehegatten, weil auch nur diese rechtlich füreinander einstehen müssen, so der Vorsitzende Richter Hans-Joachim Dose. Wenn aber ein „zwar“ auftaucht, dann muss es auch noch etwas anderes geben. So auch in diesem Fall, denn im nächsten Satz erfahren wir:

»Eine eventuelle Unterhaltspflicht ist allerdings als sonstige Verpflichtung im Sinne von § 1603 Abs. 1 BGB vorrangig zu berücksichtigen.«

Anders formuliert: »Im konkreten Fall könne der Softwareentwickler aber immerhin einen Unterhaltsanspruch seiner Partnerin geltend machen, so der BGH. Die Mutter verzichte ja teilweise auf eigene Berufstätigkeit, um das gemeinsame Kind zu betreuen, wenn es aus der Schule kommt«, so Christian Rath in seinem Artikel.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte einwerfen, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt normalerweise nur bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes gilt.
Normalerweise. Hier die Argumentation des BGH:

»Ist das gemeinsame Kind, wie hier, älter als drei Jahre, steht dem betreuenden Elternteil nach § 1615 l Abs. 2 Satz 4 BGB dann weiterhin ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt zu, wenn dies der Billigkeit entspricht. Dabei sind kind- und elternbezogene Gründe zu berücksichtigen. Da hier keine kindbezogenen Verlängerungsgründe festgestellt sind, kamen lediglich elternbezogene Gründe in Betracht. Solche können bei zusammenlebenden Eltern auch darin liegen, dass ein Elternteil das gemeinsame Kind im Einvernehmen mit dem anderen Elternteil persönlich betreut und deshalb voll oder teilweise an einer Erwerbstätigkeit gehindert ist.«

Diese Gestaltung des familiären Zusammenlebens kann, so der BGH, auch dem Sozialamt als Leistungsminderung entgegengehalten werden. Die vom BGH aufgezeigte und von den Vorinstanzen übersehene Lösung dürfte zwar seine Zahlungspflicht gegenüber dem Sozialamt nicht beseitigen, aber doch reduzieren, so die zutreffende Zusammenfassung von Christian Rath.

Man könnte jetzt natürlich die Folge-Frage aufwerfen, was das eigentlich bedeutet im Kontext der unterschiedlichen Pflichten und Rechte, die mit dem Status „ehelich“ oder eben „nicht-ehelich“ verbunden sind. Das ist ja auch ein grundsätzliches Thema beispielsweise im Familienrecht.

Ganz offensichtlich wird mit diesem Urteil seitens des BGH eine bisherige Trennlinie niedergerissen und eine faktische Gleichstellung statuiert. An diesem Beispiel kann man die mittel- und langfristig durchaus wirksame Gestaltungskraft richterlicher Entscheidungen erkennen, die zum einen der wahrgenommenen Lebenswirklichkeit in Verbindung mit dem Schutz von Wahlfreiheit entspricht, zum anderen aber auch systematische Fragen an die Sinnhaftigkeit der asymmetrisch ausgestalteten Rechte und Pflichten zwischen Ehe und nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft aufwirft und zuspitzen wird.