Keiner hatte die Absicht, Alleinerziehende und ihre Kinder im Hartz IV-System schlechter zu stellen? Aber nun zieht man die Reißleine. Eine Neuregelung bleibt notwendig und wäre – eigentlich – einfach

Das war eine ereignisreiche Woche. Am Montag, dem 30. Mai 2016, fand im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein 9. SGB II-Änderungsgesetz (BT-Drucksache 18/8041). Die Stellungnahmen der Sachverständigen und Verbände sind in der Ausschussdrucksache 18(11)649 vom 27. Mai 2016 dokumentiert. Ursprünglich als Entwurf für ein „Rechtsvereinfachungsgesetz“ für den Hartz IV-Bereich gestartet ist daraus in vielerlei Hinsicht ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden (dazu bereits der Beitrag Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016 sowie Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin vom 15. Februar 2016. Der Bericht über die Anhörung am 30.05.2016 auf der Seite des Deutschen Bundestages war dann auch entsprechend überschrieben: Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter. Bei der Kritik am Gesetzentwurf wurde immer wieder von unterschiedlichen Sachverständigen und Verbänden auf die vorgesehene Regelung einer tageweisen Kürzung des Sozialgeldes für das Kind beim alleinerziehenden Elternteil, wenn sich das Kind beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält, hingewiesen.

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Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System

Vor einem Jahr, am 27. Mai 2015, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.  In dem Beitrag ging es um eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen. Die hohen Richter in Karlsruhe haben sich einige Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu verkünden, die sicher enttäuscht aufgenommen wurde bei vielen, die gehofft haben, mit Hilfe einer in Karlsruhe testierten Verfassungswidrigkeit die Sanktionen im SGB II-System zu kippen: Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen, so kurz und bündig ist die Pressemitteilung des BVerfG vom 2. Juni 2016 überschrieben.

Die 3. Kammer des BVerfG hat einen Beschluss zur Vorlage des Sozialgerichts Gotha gefasst, dessen Kernaussage so zusammengefasst wird:

»Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betrifft die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Das Vorlagegericht war der Auffassung, dass die Sanktionsregelung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 GG sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar sei. Der Vorlagebeschluss entspricht jedoch nur teilweise den Begründungsanforderungen. Er wirft zwar durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Doch setzt er sich nicht hinreichend damit auseinander, ob diese auch entscheidungserheblich sind, da unklar ist, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen genügen. Wären die angegriffenen Bescheide bereits aufgrund fehlerhafter Rechtsfolgenbelehrungen rechtswidrig, käme es auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Wie immer bei diesen Wort für Wort durchkomponierten Sätzen muss man bei der Bewertung des Ergebnisses auf zentrale Aussagen achten: Die vielleicht wichtigste Botschaft an die, die sich Unterstützung aus Karlsruhe bei ihrem Kampf gegen die Sanktionen an sich erhofft haben, lautet: Das BVerfG erkennt „durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ in dem Vorlageschluss der Sozialrichter aus Gotha. Das lässt Spielraum für die Vorstellung einer späteren Doch-noch-Klärung dieser Fragen vor dem Verfassungsgericht.

Die Verweigerung der Annahme der Vorlage basiert primär auf einer verfahrenstechnischen Argumentation: Das BVerfG beklagt:

»Es fehlt … an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Jobcenter vor Erlass der Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II den gesetzlichen Anforderungen entsprechend über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung belehrt wurde, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Aus dieser Hauptargumentation des BVerfG für eine Nicht-Beschäftigung mit der grundlegenden Frage einer Verfassungswidrigkeit von Sanktionen könnte man ableiten, dass damit zwar diese Vorlage hinfällig geworden ist, nicht aber grundsätzlich die Möglichkeit einer „korrekten“ Vorlage. Also wenn das Sozialgericht Gotha in einem nächsten Fall den nun beklagten Mangel berücksichtigen würde und eine rechtsfehlerfreie Rechtsfolgenbelehrung stattgefunden hat, dann könnte es diesen Fall also nach Karlsruhe weiterleiten. Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit des Beschlusses.

Aber auf hoher See und vor Gericht ist man bekanntlich in Gottes Hand. Man kann durchaus auch die Hypothese vertreten, dass das BVerfG eine formalistisch daherkommende Begründung gesucht und gefunden hat, um den Kelch einer Befassung mit diesem Thema an sich vorüber ziehen zu lassen. Weil es eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen „gewichtigen verfassungsrechtlichen Fragen“ scheut und diese wenn irgendwie möglich vermeiden möchte.

Dafür hätten die Richter auch handfeste Gründe, denn eine mögliche Verfassungswidrigkeit von Sanktionen, also einer Kürzung des Existenzminimums, würde die gesamte Statik des bestehenden Grundsicherungssystems mit seiner Philosophie des Forderns und Förderns zerstören. Hartz IV würde seinen Charakter eines gerade „nicht-bedingungslosen Grundeinkommens“ (auf niedrigem Niveau) verlieren.

Und möglicherweise ist das, was die Verfassungsrichter in ihrem Beschluss „gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ nennen, der Aspekt, der dazu führt, dass man sich lieber nicht genauer damit beschäftigen möchte, weil es im Ergebnis zu einer Infragestellung des bestehenden SGB II-Systems führen würde, wenn man eine Verfassungswidrigkeit und damit eine Nicht-mehr-Anwendbarkeit des Instruments der Sanktionen statuieren würde.

Diese These ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Eine Parallele kann man durchaus erkennen in dem abweisenden Verhalten des BVerfG, sich mit den Missständen in der Pflege zu beschäftigen. Auch bei dieser Frage wurde eine Auseinandersetzung mit formalen Argumenten der Nicht-Zuständigkeit vermieden. Vgl. dazu die Blog-Beiträge Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab vom 10. Januar 2016 sowie Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vom 19. Februar 2016.

Es bleibt also spannend. Auf alle Fälle ist wieder einmal Zeit „gewonnen“. Denn eine neue Vorlage wird dauern und dann wird auch wieder eine Menge Wasser den Rhein runter fließen, bevor das BVerfG eine Entscheidung treffen wird.

Es gibt natürlich auch noch andere hohe Gerichte und das Bundessozialgericht wird noch im Juni in mehreren Verfahren Entscheidungen treffen, wo es um Sanktionen, unter anderem auch um Vollsanktionierung geht. Demnächst also hier wieder zu diesem Thema.

Ein Teil der armen Kinder im Blitzlicht der Medienberichterstattung, erneut die Abwertung von Geldleistungen und jenseits der Sonntagsreden sogar weitere Kürzungen ganz unten ante portas

In Bayern sind besonders wenige, in Bremen und Berlin besonders viele Kinder von Hartz IV abhängig. Schlechte Nachrichten zum Kindertag am 1. Juni, die man beispielsweise dieser Meldung entnehmen kann: Mehr Kinder müssen von Hartz IV leben: Insgesamt ist die Zahl der unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, im vergangenen Jahr gestiegen.
Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das geht aus einer Daten-Auswertung der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann von der Fraktion DIE LINKE anlässlich des internationalen Kindertags am 1. Juni hervor.

Im vergangenen Jahr waren im Schnitt 1,54 Millionen unter 15-Jährige betroffen. Das waren gut 30.000 Kinder und Jugendliche mehr als im Vorjahr. Die Angaben stammen von der Bundesagentur für Arbeit.
In Bremen und Berlin ist mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen abhängig (Ende 2015). In Sachsen-Anhalt sind es 21,8 Prozent, in Hamburg 20,4 Prozent. Prozentual am wenigsten Betroffene gibt es in Bayern mit 6,5 Prozent. Insgesamt sind in Ostdeutschland 20,3 Prozent der unter 15-Jährigen Hartz-IV-abhängig, in Westdeutschland 13,0 Prozent.

Man muss allerdings zum einen berücksichtigen, dass hier und den vielen anderen Berichten „nur“ von den Kindern unter 15 Jahre die Rede ist, die in einem Haushalt leben, der auf Hartz IV-Leistungen angewiesen ist. Darüber hinaus gibt es viele Kinder, die von elterlicher Einkommensarmut betroffen sind, aber in den Zahlen gar nicht abgebildet werden, weil die Familien knapp oberhalb der Hartz IV-Schwelle mit jedem Euro und Cent rechnen müssen. Zur Größenordnung: Fast drei Millionen Kinder leben am Rande des Existenzminimums, also in Familien, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht.

Außerdem wäre zu berücksichtigen, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht geben kann, es handelt sich immer um eine abgeleitete Einkommensarmut der Eltern (vgl. dazu auch den Beitrag Eine Armut, die es als solche gar nicht gibt, steigt. Sie wird ein Leben lang (nach)wirken: Kinderarmut in Deutschland. Und eine Realität zwischen Kleinkrämerei und struktureller Hilflosigkeit vom 8. April 2016).

Hinzu kommt – hinter den nackten Zahlen verbergen sich ganz unterschiedliche Schicksale und Lebenswege. Was aber sicher ist: Die materielle Ausstattung der Haushalte im Hartz IV-Bezug ist (aus haushaltspolitischen Gründen) derart eng gestrickt worden, dass viele, für „normale“ Familien selbstverständliche und gar nicht hinterfragte Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben verbaut sind. Diese an sich schon prekäre und belastende Situation verbindet sich dann nicht selten mit den Versuchen vieler Betroffener, den eigenen Status zu verbergen, oftmals spielen dabei Schamgefühle eine Rolle.

Darauf weist Ulrike Heidenreich in ihrem Artikel Bei Kindern macht Armut viel kaputt hin:

»Schön wäre es ja schon, im Fußballverein zu spielen. Der Einstieg ins Training würde dem Kind auch mit einem Zehn-Euro-Gutschein leichter gemacht. Zehn Euro pro Monat und Kind stehen Familien zu, die sich zum Beispiel Musikstunden oder eine Mitgliedschaft im Verein nicht leisten können – so sieht es das staatliche Bildungs- und Teilhabepaket vor. Auf dem Spielfeld aber wäre es mit der Chancengleichheit schnell vorbei. Denn was nützen zehn Euro im Monat, wenn das Kind auch noch ein Trikot, Stutzen und Fußballschuhe braucht?
Dann mal besser nicht anmelden. Das Kind bleibt zu Hause, das ist gratis. Der Verein oder die Freunde bekommen von all diesen Gedankenspielen nichts mit.
Armut ist peinlich. Armut ist oft unsichtbar. Sie geschieht im Geheimen. Betroffene Familien verstecken sie verschämt.«

Bedürftige Kinder aus diesen Familien werden systematisch benachteiligt, haben schlechtere Chancen in der Schule, überhaupt im Leben, so Ulrike Heidenreich. Und man bekommt sie auch zu Gesicht, wenn man beispielsweise Tafeln besucht:

»Laut Bundesverband Deutsche Tafel sind 24 Prozent der Bedürftigen dort Jugendliche unter 18 Jahren. Das sind etwa 350 000 junge Menschen.«

Parallel zur Veröffentlichung und Diskussion der Zahlen gab es einen „Aufruf gegen Kinderarmut“ von 30 Organisationen und 20 Einzelpersonen: Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist!, so ist der überschrieben. Auch darüber wurde berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bündnis fordert Grundsicherung oder in diesem Beitrag:  Für jedes Kind gleich viel. Wohlfahrtsverbände rufen zur Bekämpfung von Kinderarmut auf.

Es sei zutiefst ungerecht, dass Eltern mit höheren Einkommen für ihre Kinder mehr Unterstützung erhalten als Eltern mit mittleren oder niedrigen Einkommen, heißt es in dem Aufruf:

»Es ist ungerecht, wenn Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen für ihre Kinder mit ihrem Kindersteuerfreibetrag eine höhere Unterstützung erhalten, als Bezieherinnen und Bezieher normaler und niedriger Einkommen. Auf Grundsicherungsleistungen wie Hartz IV Angewiesene erhalten faktisch gar kein Kindergeld, denn es wird mit den Regelleistungen verrechnet. Auch der bürokratische Kindergeldzuschlag erreicht sehr viele Familien mit Kindern nicht.«

Die Initiatoren des Aufrufs kritisieren, dass Gutverdiener durch Steuerentlastungen bis zu 277 Euro im Monat erhalten, während Normalverdiener 190 Euro und Hartz-IV-Empfänger gar kein Kindergeld bekommen, da die Leistung verrechnet wird.

»Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland bezifferte die Summe, die einem Kind je nach Alter zukommen müsse, auf 250 bis 300 Euro im Monat. Das sind rund 50 Euro mehr als die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Die Regelungen unter anderem im Bildungs- und Teilhabepaket seien „viel zu kompliziert“ und erreichten bedürftige Familien häufig nicht.«

Und auch hier wieder der Hinweis auf die besondere Belastungssituation bei den Alleinerziehenden. So berichtet Gareth Joswig:

»Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter beziehen 39 Prozent der alleinstehenden Eltern Hartz IV, und die Hälfte aller Kinder mit Jobcenter-Leistungen leben bei Single-Eltern. Auch der Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sagt für Alleinerziehende ein Armutsrisiko von 42 Prozent voraus: „Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt.“«

Alleinerziehende und Hartz IV-Bezug – war da nicht was? Genau, eine von der Bundesregierung auf die Schiene gesetzte Kürzung der bestehenden, von vielen heute schon als zu niedrig dimensionierten Leistungen: Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter der sozialdemokratischen Ministerin Andrea Nahles will genau das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für ein 9. SGB II-Änderungsgesetz erreichen: Den Alleinerziehenden tageweise das Sozialgeld kürzen. Für die Tage, an denen sich das Kind beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält, auch wenn der Ex-Partner selbst gar nicht im Hartz IV-Bezug ist.

Dazu aus dem Bericht der Linksfraktion über die öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat:

»Das ist eine „deutliche Verschlechterung“ gegenüber der aktuellen Praxis – urteilten u.a. die Sachverständigen Jäger und Sell. Beide Sachverständigen betonten, dass in der empirisch häufigsten Konstellation – Mutter leistungsberechtigt, der Ex-Partner aber nicht – eine Kürzung bei der Mutter derzeit nicht stattfindet. Dies bestätigte indirekt die Bundesagentur für Arbeit, denn: der Sachverhalt „temporäre Bedarfsgemeinschaft“ werde von Amts wegen gar nicht geprüft, sondern erst auf Initiative eines Elternteils betrachtet. Zukünftig soll – nach dem publik gewordenen Willen der Regierung, die aber formell noch kein Bestandteil des Gesetzes ist – grundsätzlich jeder Tag beim untergangsberechtigten Ex-Partner zu Kürzungen bei dem anderen Elternteil führen. Mehrere Sachverständige sprechen sich mit Nachdruck gegen Kürzungen bei der – zumeist – Mutter aus und fordern einen Umgangsmehrbedarf für den Partner. Eine einfache Lösung, die auch der Bundesrat befürwortet. Die Regierungsfraktionen müssen diese Lösung nur umsetzen wollen.«

Dazu wurde von zahlreichen Verbänden und Organisationen am 30.05.2016 dieser Aufruf veröffentlicht: „Kann ich mir Umgang mit dem Vater leisten?“. Verbände fordern Umgangspauschale für Kinder statt Leistungskürzungen bei Alleinerziehenden. Die sozialpolitische Sauerei, zugleich aber auch die bewusste Schaffung von Mehrarbeit in den Jobcentern kann man diesen Ausführungen aus dem Ausruf entnehmen:

»Der Bedarf von Kindern kann realistisch nicht tageweise berechnet werden. Zum einen fallen doppelte Kosten zum Beispiel für Kleidung und Ausstattung an und zum anderen werden laufende Kosten wie zum Beispiel für Versicherungen, Vereinsbeiträge oder das Handy im Haushalt der Alleinerziehenden auch bei tageweisen Abwesenheiten des Kindes nicht eingespart.

Beispiel: Für ein Kind im Alter von sechs bis 14 Jahren sieht das Sozialrecht neun Euro pro Tag vor. Wird das Sozialgeld für zwei Wochenenden bzw. fünf Tage im Monat gestrichen, muss die Alleinerziehende eine Kürzung von über 45 Euro verkraften.

Die von diesem Verfahren erhoffte Verwaltungsvereinfachung ist eine Illusion und verursacht (neue) Konflikte über Umgangszeiten in den Familien. Die Anzahl der Umgangstage kann monatlich wechseln und muss dann jeweils pro Monat neu berechnet werden. Eine Vereinfachung ist hier nicht erkennbar. Ein finanzieller Anreiz für die Reduzierung von Umgangstagen konterkariert darüber hinaus die von der Familienpolitik angestrebte Förderung partnerschaftlicher Elternschaft. Außerdem stellt sie einen Systembruch zum Familienrecht dar, wonach der Kindesunterhalt nicht einfach gekürzt wird, wenn das Kind sich beim Umgangsberechtigten aufhält.«

Es kann nicht wirklich sein, dass ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium eine solche Verschärfung und Leistungskürzung auf den Weg bringt. Und wenn doch, dann sehen wir hier ein (vorläufigen?) Tiefpunkt einer Politik erreicht, die sich ansonsten der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden fühlt. Also semantisch.

Es gibt finanzielle Hilfe für Kinder. Nur kommt diese nicht dort an, wo sie am nötigsten ist, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Verirrt im Förderdschungel. Auch er geht auf den Aufruf gegen Kinderarmut ein und spricht von einem „Kuddelmuddel von Fördersystemen“. Er zitiert auch die Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD):

„Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird“, ließ sie noch am Dienstag wissen. Will sagen: Mehr Geld hilft da nicht. Kinderarmut sei schließlich „vor allem Familienarmut“. Und der Schlüssel für den Kampf dagegen sei es eben, „einen oder am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“. So ließe sich der Teufelskreis von Erwerbslosigkeit und damit einhergehender Armut am besten durchbrechen. Und das hätte den Vorteil, dass es den Haushalt nicht zusätzlich belasten würde. Aber das sagte die Ministerin natürlich nicht.

Da ist es wieder, das alte Argument, das „Transferleistungen“, also Geld, nicht helfen würden. Angesichts der Beträge, mit denen die Menschen (nicht nur) im Hartz IV-System über die Runden kommen müssen, ist das – vorsichtig formuliert – eine mehr als wagemutige Ansage. Dann wird auch immer wieder gerne auf das Lösungsversprechen Erwerbsarbeit verwiesen, obgleich doch gerade die Bundesarbeitsministerin wissen sollte, was es finanziell für Millionen Arbeitnehmer bedeutet, wenn sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen und trotz Arbeit nicht über die Runden kommen bzw. keinen einzigen Sprung nach links oder rechts machen können.

Und das vor dem Hintergrund, dass man nach Jahren der intensiven Diskussion und der wissenschaftlichen Beiträge weiß, dass zum einen die Geldbeträge gerade im Hartz IV-System und vor allem für die Kinder definitiv zu niedrig angesetzt sind, also erhöht werden müssen – und das gleichzeitig für eine Verhinderung bzw. zumindest Abmilderung der oftmals zerstörerischen Armutsfolgen bei den Kindern erhebliche Investitionen in Kitas, Schulen und andere infrastrukturelle Angebote notwendig wären – kann die strategische Schlussfolgerung nur lauten: Nicht ein Entweder-Oder, sondern das eine tun und das andere nicht lassen.