Hartz IV und darüber hinaus: Kinder und Armut. Und wieder der Streit um die richtigen Zahlen. Hinter denen Schicksale stehen

Das war dann wieder so eine Nachricht, die in Zeiten des anlaufenden Wahlkampfs zum einen nicht gerne gehört wird, zum anderen aufgrund der Verdichtung in die eine große Zahl erwartbar auf großes Interesses stößt, kann man doch scheinbar an einer Größe ein komplexes und vielgestaltiges gesellschaftliches Problem, das zudem noch mit Skandalisierungspotenzial ausgestattet ist, auf den Punkt bringen: »Die Zahl der von Armut bedrohten Kinder steigt weiter. Im Dezember 2015 waren noch rund 1,54 Millionen von Hartz IV abhängig. Die Zahl stieg bis Dezember 2016 auf rund 1,6 Millionen«, so dieser Artikel: Immer mehr Kinder sind von Hartz IV abhängig. Außerdem erfahren wir dort: »Die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die länger als vier Jahre von Hartz IV abhängig sind, hat sich von Dezember 2013 bis 2016 von 490.000 auf 522.000 erhöht.«

Aber allein schon auf der Ebene der nackten Zahlen muss man sofort die in diesen Bereichen naheliegende Frage stellen: Stimmt das so? Offensichtlich lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Wie viele Kinder leben von Hartz IV – 1,6 oder doch 2 Millionen?, so ist ein entsprechender Bericht des Portals O-Ton Arbeitsmarkt überschrieben. Das wäre natürlich ein nicht unerheblicher Unterschied, immerhin einige hunderttausend Kinder mehr.

Um es gleich voran zustellen – die Zahl 1,6 Millionen Kinder im Hartz IV-Bezug ist als solche nicht falsch, man kann sie den Daten der Bundesagentur für Arbeit entnehmen. Aber:

Obwohl in der Presse derzeit von rund 1,6 Millionen Kindern im Hartz-IV-Bezug gesprochen wird, ist diese Zahl gleich doppelt irreführend. Denn sie bezieht sich erstens nur auf unter 15-jährige Kinder, die zweitens einen eigenen Hartz-IV-Anspruch besitzen. Somit erfasst sie längst nicht alle Kinder, die von Hartz-IV-Leistungen abhängig sind. Aufschlussreicher wäre, über die knapp 2 Millionen Kinder unter 18 Jahren zu sprechen, die in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben. Hierbei würden nicht nur alle minderjährigen Leistungsempfänger berücksichtigt. Dazu kämen außerdem auch die Kinder, die laut Bundesagentur für Arbeit (BA) „ihren individuellen Bedarf durch eigenes Einkommen decken“ können sowie die „vom Leistungsanspruch ausgeschlossenen Personen“, so der Bericht auf O-Ton Arbeitsmarkt.

In Zahlen ausgedrückt: Weitere knapp 250.000 Kinder zwischen 15 und 18 Jahren sowie rund 115.000 Kinder ohne eigenen Leistungsanspruch leben in Hartz-IV-Haushalten.

Wir haben es hier – nur auf den ersten Blick ausschließlich statistischen – Problematik zu tun: »So wird die irreführend niedrige Zahl der Kinder im Hartz-IV-Bezug gerne in einem Atemzug mit der irreführend niedrigen Hartz-IV-Hilfequote genannt. Diese Hilfequote veröffentlicht die BA parallel zur Statistik der leistungsberechtigten Kinder. Aus ihr geht hervor, wie groß der Anteil von unter 18-jährigen Hartz-IV-Empfängern an der Gesamtbevölkerung ist. Laut Hartz-IV-Hilfequote für Kinder erhielten im Dezember 2016 rund 14 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren in Deutschland Hartz-IV-Leistungen.«

Anders ausgedrückt: Hinsichtlich der Zahl der „armen Kinder“ (wenn man denn die an dem Merkmal Hartz IV-Bezug bemisst) werden die Kinder unter 15 Jahren genannt, bei der parallel von der BA veröffentlichten Hilfequote aber verwendet man die Zahl der unter 18 Jahre alten Kinder.
Und bei der Hilfequote muss man dann noch wissen: Seit einer statistischen Änderung im Jahr 2016 werden bei der Errechnung der Hilfequote nur die Kinder berücksichtigt, die „individuell betrachtet“ leistungsberechtigt sind. Mit einem die Zahlen senkenden Effekt, vgl. dazu bereits aus dem Juli 2016 den Beitrag Statistikänderung lässt rund 130.000 Hartz-IV-Kinder verschwinden. Für den in der aktuellen Berichterstattung relevanten Zeitpunkt Ende 2016 können 115.000 Kinder unter 18 Jahren ohne eigenen Leistungsanspruch ermittelt werden, die aber durch ihren Haushaltskontext sehr wohl von Hartz IV-Leistungen abhängig sind, aber nicht mitgezählt werden.

Nun könnte man an dieser Stelle zu Recht die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Zahl der Kinder im Hartz IV-Bezug die richtige Größe für die Abbildung von „Kinderarmut“ ist (die Anführungszeichen sollen ausdrücken, dass es „Kinderarmut“ als solche gar nicht gibt, handelt es sich doch immer um eine abgeleitete Einkommensarmut der Familie, in der die Kinder leben). Was ist beispielsweise mit den über 260.000 Kindern, die in Familien leben, die nur deshalb nicht in der Hartz IV-Statistik auftauchen, weil ihre Eltern oder der alleinerziehende Elternteil den Kinderzuschlag bekommen, der dazu dient, das Haushaltseinkommen gerade so aufzustocken, dass eine Bedürftigkeit der Eltern vermeiden wird? Diese Kinder und ihre Familien leben genau an der Hartz IV-Grenze – sind sie deswegen wirklich nicht (mehr) arm? Oder die vielen Familien, deren Eltern im Niedriglohnsektor unterwegs sind und zwar keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben, die aber sehr wohl vorne und hinten mit Einkommensarmut konfrontiert sind in ihrem Alltag? Müsste man die nicht auch berücksichtigen?

Genau das wird bekanntlich versucht mit der Armutsgefährdungsquote. Denn die bildet ab, wie viele Menschen mit einem Einkommen über die Runden kommen müssen, das unter 60 Prozent des Medianeinkommens liegt. Es handelt sich um eine Seite Jahrzehnten verwendete international vereinbarte offizielle Definition von (Einkommens)Armut bzw. Armutsgefährdung. Die Zahlen dazu werden regelmäßig veröffentlicht auf der Seite www.amtliche-sozialberichterstattung.de. Zu der immer wieder gerade in den Medien vorgetragenen Kritik an dieser Art und Weise der „Armutsmessung“ vgl. ausführlicher den Blog-Beitrag Die ritualisierte (Nicht-)Debatte über Armut und Armutsgefährdung, weitere Armutsberichte und ein wissenschaftlicher Ordnungsruf vom 20. März 2017.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband verwendet für seinen jährlich publizierten Armutsbericht genau diese Zahlen aus der amtlichen Statistik – und die Abbildung mit dem Verlauf unterschiedlicher Quoten, die dem Armutsbericht 2017 entnommen ist – verdeutlicht, dass da was auseinanderläuft hinsichtlich der allgemeinen, sich also auf alle beziehenden Quoten. Die Armutsgefährdungsquote steigt weiter an, während beispielsweise die Arbeitslosenquote deutlich nach unten geht. Offensichtlich werden wir Zeugen einer zumindest teilweisen Entkoppelung dergestalt, dass man nicht mehr einfach sagen kann, je weniger Arbeitslosigkeit, desto geringer die Einkommensarmut insgesamt, was zum einen damit zu tun haben kann, dass zwar mehr eine Arbeit und Einkommen haben als vorher, aber die Zahl der Einkommensarmen in Haushalten zugleich wächst, die nicht (mehr oder noch nicht) in den Erwerbsarbeitsprozess integriert sind (Beispiele wären Rentner oder Flüchtlinge) und/oder diejenigen, die Erwerbsarbeit gefunden haben, bekommen zwar mehr Geld als vorher im reinen Transferleistungsbezug, aber weil sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen, reichen die erzielten Einkommen nicht aus, um sie aus den unteren 40 Prozent der Einkommensverteilung herauszuholen, so dass sie in der Armutsgefährdungsquote auftauchen.
Nun sagt ein allgemeiner Durchschnittswert über alle Personen manchmal weniger aus, als man denkt, vor allem, wenn die Streuung zwischen einzelnen Personengruppen stark ausgeprägt ist. So ist das auch bei der Armutsrisikoquote. Einige Gruppen sind kaum oder unterdurchschnittlich betroffen, andere hingegen sehr stark. Dazu kann man dem Armutsbericht 2017 des Paritätischen entnehmen:

» … ist die Armutsquote bei allen bekannten Risikogruppen in 2015 ein weiteres Jahr in Folge angestiegen. Dies waren:
– Alleinerziehende mit einer Quote von 43,8 Prozent,
– Familien mit drei und mehr Kindern (25,2 %),
– Erwerbslose (59 %),
– Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 %)
– sowie Ausländer (33,7 %)
– oder Menschen mit Migrationshintergrund generell (27,7 %).«

Bezogen auf die hier besonders interessierenden Kinder lag deren Armutsrisikoquote 2015 mit 19,4 Prozent deutlich über der allgemeinen Quote von 15,7 Prozent. Noch deutlich höher ist die Quote der 18 bis 25-Jährigen, sie lag bei 25,5 Prozent (vgl. speziell auch zu dieser in der öffentlichen Diskussion in der Regel völlig unterbelichteten Gruppe den Beitrag „Den Blick schärfen! Armut von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ von Marion von zur Gathen und Jana Liebert im Armutsbericht 2017 des Paritätischen (S. 30 ff.).

Und parallel zur Berichterstattung über die wieder ansteigende Zahl der Kinder im Hartz IV-Bezug hat sich das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu Wort gemeldet: Wird die Kinderarmut weiter stiegen?, so die Fragestellung des Beitrags.

Dazu hat das WSI diese Studie publiziert: Eric Seils und Jutta Höhne (2017): Wird die Kinderarmut weiter steigen? WSI Policy Brief Nr. 10, Düsseldorf, Mai 2017.

Es handelt sich dabei um eine Fortschreibung dessen, was die Wissenschaftler bereits vor kurzem mit Daten bis einschließlich 2015 im  WSI-Kinderarmutsbericht als Teil des WSI-Verteilungsmonitors publiziert hatten. Dazu bereits dieser Blog-Beitrag vom 18. April 2017: Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt. Die Wissenschaftler des WSI kommen mit Blick auf die Entwicklung der Kinderarmut bis einschließlich 2015 zu dem Ergebnis, »dass die Kinderarmut in den Jahren der Flüchtlingskrise insgesamt etwas angestiegen ist. Das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist jedoch in diesem Zeitraum leicht gesunken. Im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen, die zwar einen Migrationshintergrund haben, aber in Deutschland geboren wurden, ist keine nennenswerte Veränderung des Armutsrisikos festzustellen. Allein in der relativ kleinen Gruppe der Minderjährigen, die selbst in die Bundesrepublik eingewandert sind, hat sich die Armut zwischen 2011 und 2015 von 35,7 auf 48,9 Prozent rasant ausgebreitet. Dies legt nahe, dass der gesamte Zuwachs der Kinderarmut auf das hohe Armutsrisiko der in den letzten fünf Jahren eingewanderten Personen unter 18 Jahren zurückzuführen ist.«

In der neuen Studie wird versucht, die Entwicklung im vergangenen Jahr abzuschätzen – und erkennbar ist ein weiterer starker Anstieg der Kinderarmut in der Subgruppe der Kinder, die nach Deutschland eingewandert sind (vgl. dazu auch die Abbildung).
Bereits 2015 war die vom Mikrozensus erfasste Kinderarmut um 77.000 Personen angestiegen. Aber gerade in der zweiten Jahreshälfte 2015 gab es eine starke Zuwanderung geflüchteter Menschen, von denen gut 278.000 unter 18 Jahre alt waren. Um ein möglichst aktuelles Bild der Auswirkungen zu bekommen, haben die Forscher eine Vorausberechnung im Sinne einer Überschlagsrechnung für das Jahr 2016 gemacht.

Zu den Ergebnissen schreiben die WSI-Wissenschaftler:

»Im Jahre 2015 lebten in der Bundesrepublik 2.547.000 Kinder und Jugendliche unter der Armutsgrenze. Den Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der armen einheimischen Kinder um gut 72.000 Personen verringern. Gleichzeitig wächst die Zahl der Armen durch die rund 154.000 Einwandererkinder, die nun durch den Mikrozensus erfasst werden, weiter an. Per Saldo steigt die Kinderarmut also 2016 gegenüber dem Vorjahr um rund 82.000 Personen auf 2.629.000 an. Bei einer geschätzten Bevölkerung unter 18 Jahren in Privathaushalten in der Hauptwohnung von 13.026.000 Personen ergibt sich somit eine Kinderarmutsquote von 20,2 Prozent für 2016 und damit ein erneuter Anstieg der Kinderarmut um 0,5 Prozentpunkte. Qualitativ interpretiert wird es also zu einem weiteren Anstieg der Kinderarmut kommen, welcher jedoch durch den Rückgang des Armutsrisikos unter den einheimischen Kindern gedämpft wird.

Die Zahl der armen Kinder, die selbst in die Bundesrepublik eingewandert sind, wird in den Daten für 2016 im Vergleich zum Vorjahr um ca. 110.000 auf 413.000 Personen ansteigen. Das entspricht einem Anstieg der Armutsrisikoquote von 48,9 auf 58,7 Prozent. Dieser drastische Anstieg ist darauf zurückzuführen, dass sich die relativ kleine Gruppe von Minderjährigen mit eigener Migrationserfahrung durch die Einwanderung des Jahres 2015 beträchtlich vergrößert hat. Dadurch verändert sich auch die Struktur der Kinderarmut: So steigt der Anteil der Kinder mit eigener Migrationserfahrung an allen armen Kindern von 11,9 auf 15,7 Prozent an.«

Dieser differenzierte Blick auf unterschiedliche Entwicklungsdynamiken ist wichtig und hilfreich. Man sollte bei all dieser notwendigen Zahlenakrobatik allerdings niemals vergessen, dass hinter jeder einzelnen Zahl eine Vielzahl an individuellen Schicksalen steht, die oftmals ob bewusst oder unbewusst bei einer Fokussierung „nur“ auf die Statistik verdrängt werden bzw. untergehen.

Da die Hauptaussage der neuen WSI-Studie darin besteht, auf den die Armutsquote nach oben treibenden Effekt der Zuwanderung von Kindern unter 18 Jahren nach Deutschland im Gefolge der Fluchtbewegungen hinzuweisen, soll der Beitrag hier abgerundet werden mit einem Blick darauf, wozu die konkreten Armutslagen für die Betroffenen führen können – vor allem am Übergang zwischen dem Status „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, der sich in der Obhut der Jugendhilfe befindet und dem Herausfallen aus diesem System mit Erreichen der 18-Jahres-Grenze.

»Um an etwas Geld zu kommen, sehen viele junge männliche Geflüchtete in Deutschland nur den Weg der Prostitution«, berichtet Anna Kristina Bückmann in ihrem Artikel 20 bis 30 Euro für Sex. Vor allem in Berlin, Frankfurt und Hamburg sind Fälle von jungen männlichen Flüchtlingen bekannt, die Sex für Geld bieten.

»Verlegen steht Farid vor einem kleinen Toilettenhäuschen am Eingang des Berliner Tiergartens. Immer wieder gehen junge Männer ein und aus. Sie sehen müde aus, wirken abgekämpft. Hin und wieder kommen ältere Männer dazu. Farid hingegen wirkt angespannt … Der nach eigenen Angaben 21 Jahre alte Afghane verdient sein Geld im Tiergarten nahe der Siegessäule mit Prostitution. Anschaffen zu gehen sei für ihn die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, erzählt er später … 20 bis 30 Euro bekomme er für Sex, sagt Farid. Von dem Geld kaufe er sich Heroin. „Ich brauche das für meinen Kopf.“ Diesen Satz wiederholt er immer wieder. Seine Klientel? „Das sind fast alles ältere Männer, die herkommen.“«

Natürlich wird der eine oder andere die Stirn runzeln und zu argumentieren versuchen, dass das eben ein krasses Außenseiter-Beispiel sei und dann auch noch Flüchtlinge betreffe. Aber es ist wichtig, auch auf diese zumeist verborgenen Seiten der Armutsproblematik zu schauen.

Abschließend und wieder mit Blick auf die Kinder und zwar unabhängig davon, ob sie hier geboren oder eingewandert sind, sei an das erinnert, was die zahlreichen Studien zu den Folgen der „Kinderarmut“ seit Jahren immer wieder ans Tageslicht befördern. Beispiel:

»Je länger Kinder in Armut leben, desto negativer sind die Folgen. Verglichen mit Gleichaltrigen aus Familien mit gesichertem Einkommen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert, materiell unterversorgt und gesundheitlich beeinträchtigt. Sie haben oft kein eigenes Zimmer und damit keinen Rückzugsort, ernähren sich ungesünder, Monatstickets für den Nahverkehr sind kaum finanzierbar und außerschulische Bildung, Hobbies oder Urlaub ein Luxus. Außerdem haben arme Kinder einen weitaus beschwerlicheren Bildungsweg vor sich.«

So die im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie von Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig (2016): Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016. Aber auch das bleibt immer noch irgendwie losgelöst vom individuellen Schicksal. Bei aller Notwendigkeit einer Aggregation der Zahlen und der Erkenntnisse über Folgen im Kollektiv der Betroffenen sollte und darf man nie aus den Augen verlieren – es geht um ganz viele Einzelschicksale und damit um viele kleine Leben, denen man schon am Anfang eine Menge Gewichte an die Beine hängt.

Jobcenter: Die Notschlachtung eines Sparschweins für das Auffüllen eines anderen? Wieder ein skandalöser Rekord bei den Umschichtungen von Fördermitteln hin zu den Verwaltungsausgaben

Die Überschrift des Artikels muss man tatsächlich wörtlich nehmen: Jobcenter verheizen Fördergeld für Arbeitslose. »Viel Geld für eigenes Personal statt für die Arbeitslosen: Dass die Jobcenter in den Fördertopf greifen, hat fast schon Tradition. Im vergangenen Jahr waren es 764 Millionen Euro mehr als geplant.«

Und weiter kann man dem Bericht entnehmen: Die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland haben im vergangenen Jahr 5,1 Milliarden Euro an Bundesmitteln für ihre Personal- und Verwaltungskosten ausgegeben. Das waren 764 Millionen Euro mehr, als dafür im Bundeshaushalt eigentlich vorgesehen waren. Der zusätzliche Bedarf wurde von den Jobcentern dadurch gedeckt, dass sie weniger Geld für die Förderung von Langzeitarbeitslosen ausgaben als im Bundeshaushalt vorgesehen. Nun wird sich der eine oder andere Frage, wie das sein kann, dass die Jobcenter, um ihre Verwaltungsausgaben zu decken, einfach so in einen ganz anderen Topf greifen und dort Gelder entnehmen können, die doch für ein ganz anderes Anliegen bestimmt sind. „Gegenseitige Deckungsfähigkeit“ nennt man haushaltsrechtlich das, was so ein Vorgehen ermöglicht. Weniger geschwollen könnte man das auch als Fördergeldklau bezeichnen.

Seit Jahren nutzen die Jobcenter stetig steigende Summen der Eingliederungsmittel, mit denen eigentlich arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für Menschen im Hartz IV-System finanziert werden sollen, um ihre Verwaltungskosten zu decken. Und Jahr für Jahr – die Abbildung am Anfang des Beitrags verdeutlicht die Größenordnung der Geldbeträge, um die es hier geht – muss erneut ein jeweils historischer Höchststand bei den Umschichtungen vermeldet werden.

Der neue Wert von 764 Mio. Euro geht zurück auf eine Schriftliche Frage der grünen Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer an die Bundesregierung und die Antwort des BMAS. Darin wird ausgeführt, dass den Jobcentern zur Finanzierung ihres Personals, der Büromieten und der Heizung, also den Verwaltungskosten, für das vergangene Jahr 4,366 Mrd. Euro im Haushalt zur Verfügung gestellt wurden. Die Hartz IV-Verwalter haben aber tatsächlich 5,313 Mrd. Euro dafür ausgegeben. Offensichtlich war der Finanzbedarf der Jobcenter deutlich – nämlich um 764 Mio. Euro – höher als das, was man für sie im Haushalt angesetzt hat. Nun könnte der unbedarfte Beobachter auf die naheliegende Idee kommen, dass man – wenn man sich verschätzt hat bei der Planung – die fehlenden Mittel eben zusätzlich zur Verfügung stellen muss. Nicht aber in diesem Fall, das Bundesarbeitsministerium schreibt in der Antwort lapidar: „Die Mehrausgaben wurden aus dem Titel „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ (Eingliederungstitel) gedeckt.

Also schauen wir uns einmal an, was denn dafür zur Verfügung stand und was tatsächlich verausgabt wurde: Im Eingliederungstitel wurden 2016 einschließlich von nicht verausgabten Mitteln in Höhe von 350 Mio. Euro aus dem Vorjahr 4,496 Mrd. Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ausgewiesen. Tatsächlich ausgegeben aber wurden im vergangenen Jahr nur 3,368 Mrd. Euro. Aus der offensichtlichen Differenz zwischen Soll und Ist hat man nun wie beschrieben 764 Mio. Euro in den Verwaltungskostentopf umgepflanzt und es bleiben dann immer noch 363 Mio. Euro nicht verausgabte Mittel übrig, die nun in das nächste Haushaltsjahr, also das laufende Jahr 2017, übertragen werden.

Zur Einordnung dieser Zahlen muss man wissen, dass die Mittel für Eingliederungsleistungen im Hartz IV-System im Jahr 2010 bei 6,4 Mrd. Euro lagen und dann bis zum Jahr 2013 auf 3,3 Mrd. Euro gleichsam halbiert worden sind – die umfangreichste Kürzung in der Geschichte der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Und wir reden hier „nur“ über die zur Verfügung gestellten Mittel, noch gar nicht über die Frage, was man denn überhaupt mit dem Geld machen kann und vor allem, was man tatsächlich fördert. Wenn man diesen Aspekt berücksichtigt, müsste man der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass parallel das Förderrecht im SGB II in mehreren gesetzgeberischen Schritten deutlich restriktiver ausgestaltet wurde, vor allem im Bereich der für einen nicht kleinen Teil der Hartz IV-Empfänger so wichtigen öffentlich geförderten Beschäftigung, von länger laufenden und mit einem Berufsabschluss versehenen Qualifizierungsmaßnahmen ganz zu schweigen. das hat dazu geführt, dass nicht nur deutlich weniger Mittel zur Verfügung stehen, sondern auch das, was dann noch gemacht wird (werden kann), oftmals mehr als fragwürdige Maßnahmen sind, die dem Muster „quick and dirty“ folgen.

Man könnte an dieser Stelle dieses Fazit zu Protokoll geben:

»Der eigentliche Skandal ist der beklagenswerte Tatbestand einer mittlerweile doppelt skelettösen Unterfinanzierung – sowohl des Budgets für arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen wie auch der Jobcenter an sich. Und das in Zeiten, in denen viele Jobcenter bereits „Land unter“ gemeldet haben bevor die nächste große – wie nennt man das heute? – „Herausforderung“ auf sie zukommt, also die Betreuung und Versorgung mehrere hunderttausend Flüchtlinge.«

Das stammt übrigens aus einem Blog-Beitrag vom 30. Januar 2016: Skelettöse Umverteilung: Aus dem Topf der völlig unterfinanzierten Eingliederungsmittel die auch unterfinanzierten Verwaltungskosten der Jobcenter mitfinanzieren.

Nun könnte mit Blick auf die hier interessierenden Umschichtungen der eine oder andere einwenden, dass die Mittel, die man aus dem Eingliederungstopf für die Arbeitslosen entnommen hat, ja nicht nur der Büromiete der Jobcenter zugute kommt, sondern dass damit auch – so die verteidigende Argumentation vieler Jobcenter – Personal finanziert wird, mit dem man eine bessere Betreuung der Hartz IV-Empfänger organisieren könne, was deren Perspektiven erhöhen würde.

Da muss man dann auch mal genauer hinschauen – und kommt zu so einem Befund: Jobcenter: Umschichten für eine bessere Betreuung? Klingt plausibel, stimmt aber nicht. Jobcenter begründen die enormen Umschichtungen mit höheren Personalkosten für eine intensivere Betreuung der Kunden. Doch die Argumentation hält einer Überprüfung nicht stand.

Wenn die Begründung „Die Betroffenen profitieren von mehr Geld im Verwaltungsetat, denn so finanziere man mehr Personal und damit eine intensivere und bessere persönliche Betreuung“ stimmt, dann muss sich das auf der Ebene der Jobcenter messen lassen, denn wie viele Mittel aus dem Eingliederungstopf umgeschichtet werden, schwankt zwischen den Jobcentern erheblich. Mehr als die Hälfte der Jobcenter haben in der Vergangenheit 10 bis unter 30 Prozent der Eingliederungsmittel umgeschichtet – das geht rauf bis zu 68 Prozent in einzelnen Einrichtungen.

Man kann sich der Prüfaufgabe, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Ausmaß der Umschichtungen und dem für die Betreuung zur Verfügung stehenden Personals nähern, in dem man einen Blick wirft auf die Betreuungsschlüssel der Jobcenter.

»Gut ist die Betreuungsrelation, wenn sie den Zielvorgaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) nach § 44c SGB II entspricht oder darunter liegt. Für Jugendliche unter 25 Jahren ist ein Verhältnis von einem Betreuer zu 75 Personen vorgesehen, bei Über-25-Jährigen soll ein Betreuer für maximal 150 Personen zuständig sein.«

Wenn starke Umschichtungen also tatsächlich zu einer intensiveren Betreuung führen, sollten Jobcenter mit hohen Umschichtungsanteilen Betreuungsschlüssel erreichen, die den Vorgaben der BA entsprechen oder diese übertreffen – oder sich das Verhältnis von Betreuer zu Betreutem dort zumindest verbessert haben. Leuchtet ein. Und wie ist das Ergebnis? Mehr als ernüchternd:

Eine Verbindung zwischen den Umschichtungen und den Betreuungsschlüsseln gibt es nicht. Weder haben die Jobcenter mit besonders hohen Umschichtungen besonders gute, noch die Jobcenter mit geringen Umschichtungsanteilen besonders schlechte Betreuungsrelationen.

Für alle Jobcenter (allerdings nur die Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen, denn der Betreuungsschlüssel für die 104 zugelassenen kommunalen Träger liegen nicht vor, was ein eigenes Problem ist, denn die rein kommunalen Jobcenter sind datentechnisch in vielerlei Hinsicht eine black box), gilt, was sich sowohl bei den stärksten und geringsten Umschichtern als auch den Jobcentern mit den besten und schlechtesten Betreuungsquoten beobachten lässt: Es gibt keinen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Umleitung von Fördermitteln für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in den Verwaltungsetat und einer intensiveren Betreuung der Menschen im Hartz-IV-System.

Der Grund für die Umschichtungen scheint wohl tatsächlich ein anderer zu sein, den nur wenige Verantwortliche in den Jobcentern aussprechen. Einer von ihnen ist Bodo Vermaßen, stellvertretender Geschäftsführer des Jobcenters Mönchengladbach: „Die vom Bund zugestandenen Mittel für den Verwaltungsaufwand reichen einfach nicht mehr aus“, so wird er in dem Artikel Jobcenter wehrt sich gegen Vorwürfe zitiert. Das Verwaltungsbudget sei seit Jahren nicht an die Entwicklung der Kosten angepasst worden. Der Bund wisse, dass die Jobcenter deshalb zur Umschichtung von Fördermitteln gezwungen seien.

So was nennt man Vorsatz. Auf Kosten der Hartz IV-Empfänger, die am Ende Opfer einer doppelten Kürzung der Eingliederungsmittel werden.



Nachtrag am 01.03.2017: Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarkforschung und Jugendberufshilfe hat eigene Berechnungen die Umschichtungen von den Eingliederungsmitteln zu den Verwaltungsausgaben betreffend vorgelegt und mir zugeleitet. Ich habe seine Ergebnisse in Ergänzung zu der am Anfang dieses Beitrags platzierten Abbildung grafisch aufgearbeitet. 
Zu den Datengrundlagen bei Schröder vgl. auch diese Veröffentlichung des BIAJ vom 6. Februar 2017: Hartz IV: „SGB II-Gesamtverwaltungskosten“ stiegen 2016 auf über 6 Milliarden Euro.
Schröder weist darauf hin, dass es bisher an einer differenzierten, transparenten Darstellung der Gesamtverwaltungskosten (VKFV), analog zu den Ausgaben für Eingliederungsleistungen, mangelt. Aber auch die Umschichtungszahlen, die Schröder berechnet hat, verdeutlichen den massiven Griff in die Kassen zur Gegenfinanzierung der über zu niedrig angesetzte Haushaltsmittel nicht ausreichend gedeckten Verwaltungskosten der Jobcenter.

Bringt der Storch doch die Kinder? Über die eben nicht trivialen Unterschiede zwischen Korrelation und Kausalität

Da hat der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, nur ein paar – teilweise nebulöse – Andeutungen darüber gemacht, was er mit Blick auf die „Agenda 2010“ an der einen oder anderen Stelle verändern würde, schon wird das als große Sau durchs mediale Dorf getrieben: Schulz verabschiede sich von der Agenda 2010 des rot-grünen Bundeskanzlers a.D. Gerhard Schröder. Schulz und seine Sozialdemokraten bekommen sofort zu spüren, was Gegenfeuer bedeutet, aus allen Rohren wird geschossen, als hätte der Kandidat irgendeine Reliquie aus der Kirche gestohlen und geschändet. Dabei sind seine konkreten Vorschläge mehr als überschaubar und eines gewiss nicht – eine Infragestellung der Agenda 2010 als solche (vgl. dazu meine Beiträge zum einen zum Thema Verlängerung des Arbeitslosengeld I-Bezugs: Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017 sowie zum Thema Abschaffung der Möglichkeit, sachgrundlos zu befristen den Beitrag Die befristeten Arbeitsverträge zwischen Schreckensszenario, systemischer Notwendigkeit und Instrumentalisierung im Kontext einer verunsicherten Gesellschaft vom 23. Februar 2017). Die von den Metallarbeitgebern mit Millionenbeträgen gepamperte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) greift sofort in die Portokasse und schaltet eine ganzseitige Anzeige in der FAZ und in der Süddeutschen Zeitung.

Die Hauptbotschaft lautet: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland – aber seien wir schon an dieser Stelle genau: die offizielle Arbeitslosigkeit, die tatsächliche ist weitaus höher als das, was uns monatlich als Zahl der Arbeitslosen und Arbeitslosenquote präsentiert wird, vgl. dazu auch beispielsweise diesen Beitrag vom 7. Februar 2017 – ist in den vergangenen Jahren wegen der Agenda 2010 mit dem Hartz IV-System als Kernbereich zurückgegangen.

Und die Lobbyisten erhalten wieder einmal Schützenhilfe aus dem Lager der Wirtschaftswissenschaftler, beispielsweise in Gestalt von Isabel Schnabel, an der Universität Bonn Professorin für Financial Economics und zugleich Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, umgangssprachlich auch als „fünf Wirtschaftsweise“ bekannt. Die hat den nebenstehenden Tweet abgesetzt mit der klaren Botschaft, dass eine Abkehr von den Reformen, die mit der Agenda 2010 verbunden werden, ein „riesiger Fehler“ wäre, denn man kann ja dem Chart entnehmen, dass die Arbeitslosigkeit (rechte Skala, gemessen an der offiziellen Arbeitslosenquote, während auf der gestauchten linken Skala die absolute Zahl der Erwerbstätigen abgetragen ist) nach 2005 deutlich zurückgegangen sei.

Der Eindruck soll hängen bleiben und das tut er sicher auch bei vielen – es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Hartz-Reformen und den so ausgewiesenen Rückgang der offiziellen Arbeitslosenquote. Aber etwas, was man am Anfang seines Studiums lernen sollte, darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Es gibt einen nicht trivialen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität.

Anders ausgedrückt: Wenn man die Zahl der Störche mit den Geburtenraten in den Stadt- und Landkreisen der Bundesrepublik Deutschland korreliert, dann wird man einen solchen statistischen Zusammenhang finden: je höher der Anteil der Störche, desto höher die Geburtenrate. Dieses plakative Beispiel für eine offensichtliche Scheinkorrelation ist immer wieder publiziert worden, vgl. nur als ein Beispiel die 2001 publizierte Arbeit von Robert Matthews, Der Storch bringt die Babys zur Welt, in der er zeigen kann, dass es eine statistisch hoch signifikante Korrelation gibt zwischen den Anzahl der Störche und der Geburtenrate in europäischen Ländern.
Nun wird die große Mehrheit der Leser natürlich wissen, dass es sich bei dieser offensichtlichen statistischen Korrelation eben nicht um eine kausale Beziehung handelt. Zugleich handelt es sich aber auch nicht um eine ganz triviale Scheinkorrelation, den rechnerischen – aber eben nicht kausalen – Zusammenhang könnte man durch intervenierende Kontextvariablen zumindest teilweise erklären.

Und – so meine Kritik – auch die Wirtschaftsweise suggeriert eine (scheinbare) Kausalität auf der Grundlage einer erst einmal offensichtlich erkennbaren Korrelation zweier unterschiedlich dimensionierter Werte auf der Zeitachse.

Aber was, wenn das eine nichts oder nur wenig mit dem anderen zu tun hat? Anders formuliert: Wäre es nicht auch denkbar, dass der erkennbare Anstieg der Beschäftigung (übrigens gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen) sowie die Abnahme der Quote der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit aus anderen Quellen gespeist wird als aus der Agenda 2010? Dass es dazu auch oder ähnlich gekommen wäre, wenn man nicht Hartz IV eingeführt hätte?

Die Abbildung suggeriert nämlich auch für den einen oder anderen, dass die Arbeitslosen, die ja laut Quote weniger geworden sind, in den anderen Aggregatzustand gewechselt sind, also (wieder) zu Erwerbstätigen geworden sind. Das kann man aber dieser Statistik gar nicht entnehmen. Möglicherweise sind die aus der Arbeitslosigkeit in die Nicht-Beschäftigung abgegangen, beispielsweise in den Rentenbezug. Oder die Quote, in deren Nenner ja die Beschäftigten stehen, ist auch deshalb so stark gestiegen, weil die Zahl der Beschäftigten stark gestiegen ist, was aber nicht unbedingt etwas mit der Agenda 2010 zu tun haben muss, sondern auf andere Ursachen zurückgeführt werden könnte.

Man könnte – um nur auf zwei Punkte der eben hoch kontroversen Debatte über den (Nicht-)Einfluss der Agenda 2010 einzugehen – zum einen die Frage stellen, was denn die Einführung des Hartz IV-Systems und die Daumenschrauben, die man damit einem Teil der Arbeitslosen angelegt hat, mit dem Beschäftigungswachstum in der Industrie zu tun haben soll? Die Arbeitnehmer in der Automobilindustrie, dem Maschinenbau oder der Chemie bewegen sich auch lohnmäßig in ganz anderen Regionen. Spielt da möglicherweise die seit den 1990er Jahren erkennbare Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften bei den Tarifabschlüssen oder außenwirtschaftlich relevante Faktoren wie die Einführung des Euro eine viel größere Rolle und die Agenda 2010 gar keine?

Und als zweites Beispiel sei an dieser Stelle auf die demografische „Entlastung“ der Arbeitsangebotsseite hingewiesen. Bereits seit vielen Jahren verlieren wir beim Arbeitsangebot, dem Erwerbspersonenpotenzial, jedes Jahr erheblich mehr Menschen, die aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als jüngere nachkommen. Man sieht in der Abbildung, dass sich diese Entwicklung in den vergangenen Jahren auf jährlich über 300.000 Erwerbspersonen ausgeweitet hat – und ein Ende ist definitiv nicht abzusehen, ganz im Gegenteil, denn der Abgang der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben kommt erst noch in den vor uns liegenden Jahren. Dass trotzdem die Zahl der Beschäftigten noch gestiegen und nicht geschrumpft ist, liegt an den kompensierenden Effekten der „Verhaltenskomponente“ (also der Zunahme der Erwerbsbeteiligung der Frauen, vor allem der Mütter mit kleinen Kindern und das spätere Ausscheiden der älteren Arbeitnehmer) sowie dem „Migrationseffekt“, also der Zuwanderung von – potenziellen bzw. tatsächlichen – Arbeitskräften nach Deutschland.

Aber die Wirkkraft der Demografie der letzten Jahrzehnte auf dem Arbeitsmarkt ist enorm – so hat das IAB erst vor kurzem rechnerisch einen Ausblick gegeben auf die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060. Eine rein quantitative Stabilisierung des Arbeitsangebots würde eine jährliche Nettozuwanderung von 500.000 Personen voraussetzen und dann wäre nur ein rechnerischer Ausgleich erwartbar – vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Das Arbeitsangebot wird kleiner werden – auch wenn mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen (sollten). Also wahrscheinlich, nach einer neuen Studie des IAB vom 17. Februar 2017.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Gegenbehauptung aufzustellen, dass die „Hartz-Reformen“ überhaupt keinen Effekt hatten. Darüber kann man streiten. Aber es ist schlichtweg a) entweder Ignoranz oder schlimmer noch b) bewusste Manipulation, wenn man behauptet, dass der arbeitslosigkeitsreduzierende Effekt der Agenda 2010 im Sinne einer kausalen Beziehung belegt sei. Genau davon kann man bei Sichtung der vorliegenden Forschungsevidenz definitiv nicht ausgehen. Es gibt nun wirklich nicht wenige Arbeitsmarktforscher, die eine solche Kausalität in Abrede stellen.

Auf der anderen Seite kann man an den Debatten diese Tage erahnen, was der SPD blühen würde, wenn sie die Agenda wirklich substanziell in Frage stellen würde, also nicht nur einige kleinere Modifikationen am Regelwerk vorzunehmen gedenkt, die bereits für so ein Sperrfeuer sorgen. Also wenn sie das Hartz IV-System einer grundlegenden Revision unterziehen würde. Was natürlich nicht dagegen sprechen würde, so etwas in Erwägung zu ziehen.

Abbildung 1: INSM-Anzeige Zeit für Realismus, Martin Schulz
Abbildung 2: Tweet von Isabel Schnabel vom 22.02.2017

Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen

Die Vereinten Nationen haben den heutigen 20. Februar zum „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“ ausgerufen. Das diesjährige Motto lautet: „Preventing conflict and sustaining peace through decent work”. Anständige Arbeit also, um Konflikte zu vermeiden und den Frieden zu sichern. Absolut richtig und sicher angesichts der Bedeutung der Erwerbsarbeit für Einkommen und soziale Sicherung nur zu unterstreichen. Bleibt man auf dieser Meta-Ebene, werden das viele unterschreiben und unterstützen können. Anders sieht es schon aus, wenn man genauer nachfragt, was man denn unter „Gerechtigkeit“ konkret zu verstehen hat. Ein ganz eigenes Thema, an dem sich nicht nur große Philosophen die Zähne ausgebissen haben. Aber man kann es ja auch ganz handfest untersuchen, wenn man parallel zum Welttag aus der anlaufenden deutschen Wahlkampfmaschinerie ein praktisches Beispiel geliefert bekommt, wie mit (scheinbaren?) Gerechtigkeitsargumenten sozialpolitisches Regelwerk im Sinne einer notwendigen Veränderung adressiert wird. Und der Hinweis auf den anlaufenden Wahlkampf verweist zugleich auf die Vorsichtsregel, dass es möglicherweise gar nicht so sehr um die konkreten Inhalte geht, sondern den Gesetzen der politischen Psychologie folgend um die Adressierung bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen bei den (potenziellen) Wählern. Schauen wir also genauer hin. 

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Diesseits und jenseits der schwarzen Pädagogik: Eine Studie zu den Wirkungen von Sanktionen auf junge Hartz IV-Empfänger – und ihre „Nebenwirkungen“

Oftmals kann man schon an den Überschriften von Artikeln erkennen, dass wir es mit einem höchst kontroversen Thema zu tun haben: Kürzung von Hartz IV führt Bezieher schneller in den Job, behauptet der eine. Strafen wirken, so apodiktisch hat Sven Astheimer seinen Kommentar zu der Angelegenheit betitelt. Und dann kommt so ein Beitrag dazu: Forscher empfehlen Reform der Hartz-IV-Sanktionen. Und alle berichten über ein und dieselbe Sache: Eine neue Studie aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Gerard J. van den Berg, Arne Uhlendorff und Joachim Wolff haben sich mit den Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher beschäftigt und bilanzieren bereits in der Überschrift: Schnellere Arbeitsaufnahme, aber auch Nebenwirkungen. Die Studie untersucht die Wirkungen erster und wiederholter Sanktionen auf unter- 25-jährige Männer in Westdeutschland.

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