„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“. Das SGB II nicht nur als ein Aktenmonster für die Menschen vor und hinter den Schreibtischen in den Jobcentern, sondern auch für die Sozialgerichte, wo es sich zugleich als Mega-ABM entfalten konnte

Das SGB II, also die rechtliche Grundlage des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende, ist ein kompliziertes Ding. Letztendlich kann man das darauf zurückführen, dass es sich bei dem, was man umgangssprachlich als „Hartz IV“ tituliert, um ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen handelt. Was damit ausgerückt werden soll: Völlig unabhängig von der Frage, ob man ein Befürworter oder Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, muss man einen Tatbestand zur Kenntnis nehmen: Hätten wir ein solches, dann wäre die administrative Abwicklung einfach, weil man gerade nicht das tun müsste, was man in der Sozialhilfe- und Hartz IV-Welt aufgrund der dort vorherrschenden Konditionalität der Leistungen und ihrer Abhängigkeit von zugangsverengenden Inanspruchnahmevoraussetzungen tagtäglich machen muss: Prüfen, anrechnen, bewilligen und zurückfordern, kontrollieren und bescheiden, sanktionsbewährt fordern und nach Haushaltslage und eingebettet in rechtliche Restriktionen fördern, nach Ermessen handeln und sich in Widersprüche und Klagen verstricken, denn gleichzeitig soll ja auch das „soziokulturelle Existenzminimum“ gewährleistet werden.

Man wird so weit gehen können zu behaupten: Das SGB II muss an sich selbst verzweifeln, weil in dieses Gesetzeswerk von außen ein nicht auflösbares Dilemma implementiert worden ist, was dazu führen muss, dass das Hartz IV-System beständig hin und her pendelt zwischen den Polen einer weitreichenden Pauschalierung der Leistungen (die nicht nur zu Effizienzgewinnen auf der Verwaltungsseite, sondern auch zu deutlich höheren Freiheitsgraden bei den betroffenen Menschen führen könnte) und der Einzelfallgerechtigkeit, die sich gerade durch ihre oftmals gut begründete Abweichung von der pauschalierten Durchschnittswelt auszeichnet. Da sind Konflikte vorprogrammiert, die eben oftmals existenzieller Natur sind und entsprechend mit voller Härte bzw. Verzweiflung geführt werden. Und schon sind wir bei den Widersprüchen und den Klagen gegen Entscheidungen innerhalb des Hartz IV-Systems angekommen.

Bilder aus – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Aktenstapeln absaufenden Sozialgerichten angesichts der Vielzahl an Klagen gegen Entscheidungen im Grundsicherungssystem haben die vergangenen Jahre geprägt. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der Verfahren und immer wieder wurde auch darüber berichtet, wie viele dieser Verfahren zugunsten der Kläger ausgegangen sind. Und gerne wurde zur Illustration der „Klagewellen“ und der unglaublichen Quantität der Rechtsstreitigkeiten aus der „Hartz IV-Hauptsatdt“ des Landes berichtet, also aus Berlin. Einer Stadt, die angeblich arm, aber auch sexy sei. In der auf alle Fälle viele Menschen (im Dezember 2014 waren es fast 154.000 Berliner) am Tropf der staatlichen Fürsorge hängen (müssen), in der fast jedes dritte Kind in einem „Hartz IV-Haushalt“ aufwächst. Nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie sich das nunmehr abgeschlossene Jahr aus Sicht des Berliner Sozialgerichts dargestellt hat.

Da trifft es sich gut, dass das Berliner Sozialgericht eine solche Bilanzierung für das Jahr 2014 auf einer Jahrespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert hat. Die dort präsentierte Jahresbilanz 2014 wurde von einigen Medien aufgegriffen – da ist die Rede von Raus aus dem tiefen Tal der Hartz-Reformen, dem Aktenmonster Hartz IV oder ganz handfest formuliert: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage. Und wer lieber das Original bevorzugt, dem sei die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz am 14.01.2015 empfohlen. Bei ihr finden wir einige wichtige Hinweise:

»Kein Ereignis … hat die Sozialgerichtsbarkeit so einschneidend verändert wie das Inkrafttreten des SGB II vor 10 Jahren … Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und eine Zeit nach Hartz IV.« Bis 2005 habe die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer eigentlichen Bedeutung für Millionen Menschen ein „Nischendasein“ gefristet, auch in der juristischen Ausbildung, was sich mit Hartz IV fundamental geändert habe, so Schudoma. »Heute stellen die Sozialgerichte die größte Fachgerichtsbarkeit.« Was deutet sich hier an? Eine „Erfolgsstory“ aus Sicht der deutschen Sozialgerichtsbarkeit?

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“, so wird die Sozialgerichtspräsidentin in dem Artikel Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage von Thomas Loy zitiert. Mit Blick auf die in diesen Tagen überall als Auslöser für Berichterstattung beobachtbaren zehn Jahre Hartz IV: »Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet – statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren.« Noch mal: Wir reden hier nur über Arm-aber-sexy-Berlin. Und was des einen Leid, ist des anderen Freud, zumindest, wenn man diese Kategorie anlegt an das Sozialgericht als „Unternehmen“. Denn das hat „profitiert“. Schudoma macht das deutlich in einer zahlenmäßigen Verdichtung von zehn Jahre Hartz IV:

215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel.

Man kann es auch so ausdrücken:

»Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. „Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das“, sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 „nicht-richterliche“ Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her.« (Thomas Loy: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage).

Aber es gibt auch positive Nachrichten, die man schon in der Abbildung mit den Grafiken erkennen kann: Der Gipfel scheint überschritten worden zu sein, die Zahl der Klageverfahren ist rückläufig, wenn auch nur sehr langsam und von einem extremen Hoch. Zu der Entwicklung führt die Gerichtspräsidentin aus:

»Im ersten Jahr verzeichnete das Sozialgericht Berlin bereits 5.000 Hartz IV-Fälle. Im zweiten Jahr Hartz IV verdoppelte sich die Zahl der eingehenden Verfahren auf 10.000. Immer mehr Klagen in grünen Aktendeckeln türmten sich in den Geschäftsstellen. Grün – die Farbe von Hartz IV, entsprechend der bundesweit geltenden Aktenordnung. Bald überstürzten sich die Ereignisse … Schneller als erwartet war unser Vorrat an grünen Aktendeckeln erschöpft. Die Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Wir improvisierten: Statt grünen Aktendeckeln nahmen wir weiße, auf die wir grüne Punkte klebten. Die Hauptregistratur konnte weiter arbeiten. Meine Damen und Herren, 2010 erreichten uns dann über 30.000 SGB II-Fälle – in nur fünf Jahren hatten sich die Hartz IV-Eingangszahlen versechsfacht.«

Seit dem Höchststand im Jahr 2010 ist die reine Zahl an Klageverfahren rückläufig. Dazu Schudoma: »Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2.000 neue Hartz IV-Verfahren … Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.« Und das hängt eben auch und vor allem mit den bereits angesprochenen strukturellen Problemen innerhalb des Hartz IV-Systems zusammen. Auch hier sei Sabine Schudoma wieder zitiert:

»Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.«

Man sollte sich also von dem erkennbaren Rückgang nicht blenden lassen. Oder anders formuliert: »Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme, würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8 Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden«, so Johannes Supe in ihrem Beitrag Aktenmonster Hartz IV.

Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, bekommt in diesem Beitrag das vorletzte Wort zu zehn Jahre Hartz IV:

»Auch überall im Gebäude hat Hartz IV seine Spuren hinterlassen. Schutt, Staub, Baulärm sind im Haus allgegenwärtig. Bei uns fällt der Blick aus dem Fenster zum Hof auf eine Baustelle: Geschaffen wird dort eine neue Aktenhalle mit Platz für noch einmal 2 km Akten. Wo früher die Gerichtskantine lag, sitzen heute Hartz IV-Richter. Überall wurden Zwischenwände gezogen, um Platz für neue Büros zu schaffen.«

Und da sage noch mal jemand: Hartz IV habe keine Arbeitsplätze geschaffen. Das wenigstens ist widerlegt. Und man  kann sogar noch weitergehen und postulieren, es wurde auch ein neues Berufsbild geschaffen: Der „Hartz IV-Richter“.

„Mütterrente“: Wenn die scheinbaren Spendierhosen in der Realität zu heiß gewaschen werden, dann laufen sie ein

In den vergangenen Monaten ist heftig diskutiert und gestritten worden über das so genannte „Rentenpaket“ der Bundesregierung. Das besteht aus vier Bausteinen: Der „Rente mit 63“, der „Mütterrente“, Veränderungen bei der Erwerbsminderungsrente sowie ein höheres Reha-Budget. In der öffentlichen Diskussion gab es eine Schieflache dergestalt, dass fast ausschließlich über die „Rente mit 63“ gestritten wurde und dann noch über allgemeine Finanzierungsfragen, also die Finanzierung der Maßnahmen im Wesentlichen über die Beitragszahler und die Rentner selbst durch eine systembedingte Absenkung der anstehenden Rentenerhöhungen.

Eher selten waren Beiträge, die sich mit der so genannten „Mütterrente“ beschäftigen (ganz korrekt müsste man hier von einer Rente für Erziehungsleistungen sprechen, die ggfs. auch von Männern in Anspruch genommen werden kann, was aber den Ausnahmefall darstellt). Schon bei einem groben Blick auf die damit verbundenen finanziellen Auswirkungen irritiert die relative Nicht-Thematisierung der „Mütterrente“ im Kontext der zahlreichen Vorwürfe der finanziellen Überlastung der Rentenkasse, denn während sich die zusätzlichen Ausgaben für die heftig umstrittene „Rente mit 63“ auf „langfristig“ 3 Mrd. Euro im Jahr belaufen sollen, werden für die „Mütterrente“ seitens der Bundesregierung jährliche Kosten »von derzeit rund 6,7 Milliarden Euro« in Ansatz gebracht. Nicht nur das ist diskussionsbedürftig, auch die formale Begründung und die Realität der Umsetzung wirft zahlreiche Fragen auf, die im folgenden Beitrag aufgeschnürt werden sollen. Bevor wir hinabsteigen in die (Un-)Tiefen des Rentenrechts gleich eine prophylaktische Entschuldigung bzw. ein Warnhinweis: Der Verfasser kann nichts für die zu skizzierende Hyperkomplexität und die sich daraus ergebenden Frustrationseffekte bei dem einen oder der anderen. Dafür ist nicht der Überbringer der (schlechten) Nachrichten verantwortlich, sondern wenn schon, dann das „System“.

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Gutes Hartz IV, schlechtes Hartz IV? Die Diskussion ist mal wieder im Entweder-Oder-Modus. Dabei gibt es eine Menge zu tun

Wenn man sich nur ein wenig mit dem beschäftigt, was im Grundsicherungssystem, umgangssprachlich auch als „Hartz IV“ bezeichnet, passiert und sich die Entwicklungen in diesem Bereich anschaut angesichts der Tatsache, dass jeder zehnte Haushalt in Deutschland SGB II-Leistungen bezieht, dann wird man wieder einmal kopfschüttelnd folgende  Kommentierungen zur Kenntnis nehmen (müssen): »Zehn Jahre nach dem Start von Hartz IV sind viele Kritiker verstummt. Entkräftet ist der Vorwurf, alles sei eine reine Sparmaßnahme. Ganz gelöst ist das Langzeitarbeitslosen-Problem aber leider bis heute nicht.« So hat es Heike Göbel in ihrem Beitrag Gute Hartz-Bilanz formuliert. Dazu auch meine Anmerkungen unter Einer geht noch … einer muss noch sein. Ein Kommentar zur Dauerbaustelle Hartz IV bzw. zu ihrer journalistischen Verwurstung.

Gleichsam als Gegenpol zu diesen rührig daherkommenden Einbettungsversuchen der „Hartz-Reformen“ in die „Erfolgsgeschichte“ vom deutschen „Jobwunder“ stehen Positionierungen wie die des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge: Wer arm ist, muss mit Misstrauen rechnen. Seine Bilanz ist vernichtend: »Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als „unproduktiv“ und „unnütz“ gilt.« An anderer Stelle wird Butterwegge noch deutlicher: »Fragt man nach den immateriellen Schäden, seelischen Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewusstsein, die besonders Hartz IV unter den Betroffenen hervorgerufen bzw. hinterlassen hat, braucht das Gesetzespaket womöglich selbst einen Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen«, schreibt er in einem Beitrag mit der Überschrift Hartz IV braucht den Vergleich mit den beiden Weltkriegen nicht zu scheuen für die Online-Ausgabe des Focus. Er spricht von einem totalitären Arbeitsmarkt- und Armutsregime: »Totalitär ist das Hartz-IV-System insofern, als es sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringt und die Betroffenen nicht mehr loslässt, ihren Alltag völlig beherrscht und sie zwingt, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten.« Und nun meldet sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Wort: DGB geißelt fünf Kernfehler von Hartz IV oder Beschönigt, verschleiert, verfehlt, so lauten die Schlagzeilen in der Berichterstattung der Presse über das, was der DGB in einem Positionspapier zu Protokoll gegeben hat.

Der DGB stellt seine Überlegungen unter die Überschrift: Zehn Jahre Hartz IV: Ziele verfehlt, großer Reformbedarf. Sie basieren auf einem Papier, das Wilhelm Adamy, der Arbeitsmarktexperte des DGB, verfasst hat: DGB-Analyse. Zehn Jahre Hartz IV: Ein Grund zum Feiern?
„Die Ziele dieses Umbaus von Sozialstaat und Arbeitsförderung waren hoch gesteckt. Insbesondere sollte eine ganzheitliche Betreuung und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen eröffnet und eine Leistung ‚aus einer Hand‘ sichergestellt werden“, heißt es in der DGB-Analyse zu zehn Jahren Hartz IV. Allerdings seien die entsprechenden Maßnahmen zum Teil schlecht umgesetzt worden oder „beschönigten oder verschleierten die tatsächlichen Absichten“.
„Hartz IV wurde nicht nur schlecht gemacht, sondern hat zentrale Eckpfeiler und die Grundarchitektur des bundesdeutschen Sozialsystems massiv verschoben“, so ein Fazit der DGB-Analyse.

Interessant ist natürlich, welche Reformvorschläge vom DGB gemacht werden. Hierzu findet man die folgenden Punkte:

Das Hartz-IV-System muss entlastet und die vorgelagerten Sicherungssysteme (insbesondere die Arbeitslosenversicherung)  ausgebaut werden. So sollten befristet Beschäftigte bei Jobverlust einen besseren Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten und über ein Mindest-Arbeitslosengeld die Zahl jener reduziert werden, die nach Job-Verlust unmittelbar auf staatliche Fürsorge abrutschen. Sozialversichert Beschäftigte mit aufstockendem Hartz IV sollten gleichfalls von der Arbeitslosenversicherung betreut werden.

Die Arbeitsförderung muss ausgebaut werden. So sollte die Dominanz des „Forderns“ zugunsten des Förderns korrigiert und Rechte für die Betroffenen auf Förderung ausgebaut werden.

Existenzgefährdende Sanktionen müssen aufgehoben werden. Sozialstaatliche Zumutbarkeitsregelungen sind ebenso notwendig, die keine Sanktionen mehr bei nicht existenzsichernder Arbeit vorsehen.

Insbesondere die Mittel für Weiterbildung müssen erhöht und finanzielle Anreize für Hartz-IV-Empfänger geschaffen werden, die einen Berufsabschluss anstreben. Bisher sind sie finanziell schlechter gestellt als jene, die einen Ein-Euro-Job ausüben.

Die sozialen Integrationshilfen und das Ziel der sozialen Teilhabe müssen für jene ausgebaut werden, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Dies sollte mit einer besseren Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher Institutionen – wie den Jobcentern und den Krankenkassen – verknüpft werden.

Arbeitsförderung sollte eine „neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ unterstützen. Prekäre Beschäftigung muss zurückgedrängt und auch Langzeitarbeitslosen Mindestlöhne von 8,50 Euro gezahlt werden.

Um Armut von Erwerbstätigen mit Kindern wirksamer bekämpfen zu können, sollte ergänzend zum Mindestlohn der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld für Geringverdiener ausgebaut werden.

Wie die Situation vor Ort aussieht, kann man beispielhaft dem folgenden Artikel entnehmen, der die Lage in einer Großstadt im Ruhrgebiet beschreibt: Essen bekommt Langzeitarbeitslosigkeit nicht in den Griff. Es ist wie das Strampeln im Sack, so wird der Sozialdezernent Peter Renzel zitiert und er meint damit die Frage: Wie kriegt man insbesondere jene Menschen, die seit Jahren arbeitslos sind, wieder in Jobs? Die Zahlen sprechen für sich: Fast zwei Drittel der über 29.000 Jobcenter-Kunden in Essen gelten als langzeitarbeitslos. Und in dem Artikel wird korrekterweise auch auf die fatalen Auswirkungen der massiven Kürzungen in der Arbeitsförderung hingewiesen:

»Essen schrammt knapp am Hartz-Stillstand vorbei: Die drastische Kürzung der so genannten Eingliederungsmittel durch den Bund von 81 Millionen Euro in 2010 auf 55,3 Millionen Euro in diesem Jahr allein für Essen, minimierte die Chancen der Betroffenen massiv. Es ist zu wenig Geld da, um zu qualifizieren, zu stabilisieren oder zu aktivieren für einen Essener Arbeitsmarkt, der überdurchschnittlich hohe Anforderungen stellt … Zwar finden 3.500 bis 4.500 Jobcenter-Kunden jeden Monat einen Job. Doch 40 Prozent von ihnen kommen innerhalb eines Jahres wieder zurück, tausende verlieren ganz den Anschluss. Es ist eine erschreckende Zahl: Inzwischen weist Essen eine SGB-II-Hilfequote von 19,0 Prozent aus. Das ist landesweit der zweitschlechteste Wert. Nur Gelsenkirchen ist mit 22,5 Prozent noch ärmer dran.«

Und da in letzter Zeit immer zu lesen oder zu hören ist, die Zahl der Hartz IV-Empfängern sei rückläufig und die Langzeitarbeitslosen würden auch profitieren von der tollen Arbeitsmarktlage der letzten Jahre, hier ein paar korrigierende Fakten aus Essen: Nicht weniger, sondern über die Jahre eine zunehmende Zahl an Menschen ist auf öffentliche Leistungen aus dem Hartz IV-System angewiesen. »Startete die Grundsicherung in Essen mit 51.415 Hilfebedürftigen, stieg die Zahl der so genannten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auf knapp 62.000 in diesem Jahr. Addiert man deren Nachwuchs hinzu, leben in dieser Stadt 85.326 Menschen von Hartz IV-Leistungen. So viele wie noch nie.«

Und dann der wichtige Hinweis auf eine wichtige Gruppe, an die viele nicht denken, wenn es um Hartz IV-Empfänger geht: die arbeitenden Aufstocker:
»Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat die weiter wachsende Gruppe der Ergänzer. Allein zwischen 2007 und 2014 ist die Zahl der Essener, die arbeiten und dennoch auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, um 5.126 auf jetzt 14.620 gestiegen. Ein Großteil der Menschen kommt in der Leiharbeitsbranche unter oder hat einen Minijob, der allerdings nur geringe berufliche Perspektiven bietet. Auch für sie ist das Strampeln im Sack.«

Der Sozialdezernent Renzel bringt das zentrale Probleme im Bereich der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit auf den Punkt: Es fehlen die Arbeitsplätze für die geringer Qualifizierten. Er macht konkrete Vorschläge, was man durch gesetzgeberische Aktivitäten endlich ermöglichen sollte, denn gerade in Kommunen wie Essen liegt die Arbeit im wahrten Sinne des Wortes auf der Straße und man kann angesichts der Haushaltslage der meisten Kommunen gestrost davon ausgehen, dass der größte Teil dieser Arbeit nicht erledigt werden kann, weil man gar nicht die Mittel hat, um das vor Ort in Form eines regulären Auftrags vergeben zu können:

»Die Lösung für die Zukunft sei eine „öffentlich geförderte Beschäftigung“, meint nicht nur der Sozialdezernent: Mit den Mitteln der Grundsicherung und der Wohnungs- und Heizkosten, die sich für Essen in diesem Jahr auf fast 230 Millionen Euro summieren, müssten Teile der Löhne für Langzeitarbeitslose bezahlt werden, wenn sie bei einem privaten oder gemeinnützigen Unternehmen wie der Essener Arbeit Beschäftigungsgesellschaft (EABG) einen Job bekommen.« Vgl. zur Arbeit der EABG auch das Interview mit Ulrich Lorch, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung dieser Beschäftigungsgesellschaft.

Aber selbst hier hat man schon vorweggenommen, dass man nur das zu hören bekommt, was man seit Jahren hört: Geht nicht, kommt nicht. Was bleibt ist die Bitte um wenigstens einen Modellversuch:
Einen oder mehrere Versuche sei es aber wert, meint Renzel, der an die Verantwortlichen in Berlin appelliert: „Mindestens ein Modell in der Region Ruhrgebiet sollte der Gesetzgeber ermöglichen.“

Abschließend wieder zurück zu einer ganz grundsätzlichen – und im wahrsten Sinne des Wortes zornigen – Sicht auf Hartz IV: Der Jurist Jürgen Borchert, 65, hat im Dezember sein Amt als Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht abgegeben und ist in den (Un)Ruhestand getreten. Man kann ihn sicher als einen der streitbarsten Sozialrichter dieses Landes bezeichnen. Die Süddeutsche Zeitung hat ihn interviewt, auch zum Thema Hartz IV: „Ja, es stimmt: Ich bin zornig“, so ist der Bericht über das Interview in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung überschrieben.

„Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten“, beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen – es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten, so der ehemalige Sozialrichter.

Im Januar werden die Hartz-IV-Reformen zehn Jahre alt und die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Auch dies sei, so Borchert, kein Erfolg: „Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt – mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen.“ Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. „Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden.“ Hartz IV erwecke den Eindruck, als ob die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Versagen sei. „Man macht Opfer zu Tätern“, so Borchert.