Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt

Es ist ja zu einer gewissen Unsitte geworden, dass man Studien vor ihrer allgemeinen Veröffentlichung exklusiv irgendeinem Medium zur Verfügung stellt, das sich dann hoffentlich bedankt mit einer entsprechend prominent platzierten Berichterstattung, an die man ansonsten vielleicht nicht gekommen wäre. Das kann Sinn machen, kann aber auch zuweilen zu einem Ergebnis führen, das man so nicht haben wollte. Weil Berichterstattung kann nur sehr selektiv sein, muss verkürzen und zuweilen greift man nur einen und dann noch nicht einmal den für die Studienverfasser wichtigsten Aspekt heraus, weil der gerade gut in die Landschaft passt. Diese Tage kann man dieses allgemeine Muster wieder einmal exemplarisch studieren am Beispiel einer neuen Studie des DIW Berlin zur Selbständigkeit in Deutschland. So berichtete Philip Plickert in der FAZ unter der Überschrift Selbständig – aber oft arm über eine der Zeitung vorliegende „neue, noch unveröffentlichte Studie“ des DIW. »Der Sprung in die Selbständigkeit ist mit Risiken verbunden. Und es winken noch nicht einmal immer gute Einkommen. Fast jeder fünfte Selbständige ohne Mitarbeiter verdient je Stunde weniger als das Mindestlohnniveau«, kann man da lesen. Und der DIW-Forschungsdirektor Alexander Kritiklos wird in dem Artikel zitiert mit den Worten, dass die Zahl der „Kümmerexistenzen“ höher sei als er erwartet hätte. Um das zu untermauern, werden auch Zahlen geliefert: „18 Prozent der Solo-Selbständigen in Deutschland, das sind etwa 400.000, verdienen weniger als 5 Euro netto je Stunde und haben damit weniger als den aktuellen Bruttomindestlohn“, so Kritikos. Unter den abhängig Beschäftigten lag nur jeder Zehnte unter 5 Euro Nettolohn. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung geht das DIW dann mit dieser Pressemitteilung an die Öffentlichkeit: Selbständigkeit lohnt sich doch. Schon die Überschrift deutet an, dass hier wohl „korrigierend“ auf die Berichterstattung im Vorfeld der Veröffentlichung der angesprochenen Studie reagiert werden soll.

Das kann man auch der Formulierung gleich am Anfang der Pressemitteilung entnehmen:

Der Schritt in die Selbständigkeit lohnt sich finanziell für viele, denn auch Solo-Selbständige verdienen nicht generell weniger als vergleichbare Angestellte … Alexander Kritikos, einer der Autoren der Studie und Forschungsdirektor am DIW Berlin, widerspricht damit einem weit verbreiteten Vorurteil, viele Selbständige würden ein Kümmerdasein fristen. Selbständige mit Mitarbeitern erzielen mit großer Wahrscheinlichkeit ein höheres Einkommen als Angestellte. „Aber auch Solo-Selbständige“ – so Kritikos – „stellen sich finanziell nicht selten besser als Angestellte, insbesondere wenn sie sich am oberen Ende der Einkommensverteilung befinden oder wenn sie über ein Abitur, aber keine weitere berufliche Ausbildung verfügen.“

Unabhängig von diesen medialen Manövern kann man nun auch einen direkten Blick in die zitierte Studie des DIW werfen, denn sie wurde zwischenzeitlich allen zugänglich gemacht:

Michael Fritsch, Alexander S. Kritikos und Alina Sorgner: Verdienen Selbständige tatsächlich weniger als Angestellte? In: DIW Wochenbericht Nr. 7/2015, S. 134 ff.

Zur Datenbasis der Studie eine wichtige Hintergrundinformation: Die Wissenschaftler haben die Daten des Mikrozensus 2009 ausgewertet, die den Forschern zufolge in ihrer Verteilungsstruktur im Wesentlichen auch heute so gültig seien. Was man gesondert diskutieren könnte.

Insgesamt gibt es in Deutschland 4,2 Millionen Selbständige, davon 2,3 Millionen Solo-Selbständige und 1,9 Millionen mit Angestellten. Und das die Gruppe der Selbständigen sehr heterogen ist, wird niemanden überraschen, der sich die unterschiedlichen Typen von Selbständigen vor Augen führt: Das reicht dann von kleinen Ladenbesitzern, Kiosk- und Kneipenbetreibern oder Dienstleistern über Handwerkermeister oder Angehörige der Freien Berufe bis hin zu den „klassischen“ großen Unternehmern. Entsprechend breit muss auch die Streuung der Einkommen sein. »Die relativ starke Streuung der Einkommen von Selbständigen weist darauf hin, dass unternehmerische Selbständigkeit mit hohen Einkommens- chancen, aber auch mit hohen Einkommensrisiken behaftet ist.« Diese Schlussfolgerung erscheint zwingend und ist nicht wirklich überraschend. Wir sind konfrontiert mit sehr hohen Einkünfte einer Minderheit der Selbständigen und einer kaum vorhandene „Unternehmer- rendite“ für viele andere Selbständige.

Hinsichtlich der Einkommensverteilung bei den Selbständigen (und deren Vergleich zu den abhängig Beschäftigten) kommen die DIW-Wissenschaftler zu folgenden Erkenntnissen:

»Während Selbständige am unteren Ende der Einkommensverteilung sehr geringe Einkommen in Kauf nehmen müssen, übersteigen die Werte am oberen Ende der Einkommensverteilung die Werte für die abhängig Beschäftigten bei weitem. Ein Beispiel: Rund 18 Prozent (etwa 400 000) der Solo-Selbständigen, aber auch etwa zehn Prozent (185 000) der Selbständigen mit weiteren Beschäftigten verdienten im Jahr 2009 weniger als fünf Euro netto pro Stunde. Allerdings mussten sich auch zehn Prozent aller abhängig Beschäftigten (rund 3,65 Millionen) mit weniger als fünf Euro netto pro Stunde zufrieden geben … (Nach den Nettoeinkommensdaten) ist die Streuung für Selbständige um mehr als das Dreifache höher als für abhängig Beschäftigte … So verdienen die untersten zehn Prozent der Selbständigen mit Beschäftigten (das zehnte Perzentil) pro Stunde weniger als die untersten zehn Prozent der abhängig Beschäftigten … mehr als 40 Prozent aller Solo-Selbständigen realisieren ein höheres Einkommen als abhängig Beschäftigte, allerdings nur in den höheren Einkommenskategorien … Der Median-Selbständige mit weiteren Beschäftigten verdient pro Stunde 22 Prozent mehr als ein vergleichbarer abhängig Beschäftigter. Der Median-Solo-Selbständige verdient hingegen sechs Prozent weniger.«

In ihrem Fazit kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die »Analyse verdeutlicht, dass es keinen Grund gibt, insbesondere die Solo-Selbständigkeit grundsätzlich in ein schlechtes Licht zu stellen. Im Gegenteil: Bei Solo-Selbständigen ist die Streuung der Einkommen besonders hoch, sie erwirtschaften also sowohl sehr niedrige als auch überproportional hohe Einkommen.«

Soweit einige zentrale Befunde aus der DIW-Studie. Ganz offensichtlich möchte man vermeiden – so ist die Pressemitteilung des Instituts zu lesen -, dass es eine Fokussierung auf den unteren Rand vor allem der Solo-Selbständigkeit gibt, deshalb die fast schon allergisch daherkommende Reaktion auf den dann auch noch von der FAZ aufgegriffene Begriff von den „Kümmerexistenzen“. Dies muss sicher auch im Kontext der vielen Bemühungen gesehen werden, Existenzgründungen in die Selbständigkeit hinein zu befördern.

Aber genau hier sind eben auch eine nicht wegzudiskutierende sozialpolitische Relevanz und zugleich ein weitgehend ungelöstes sozialpolitisches Problem zu verorten: Denn viele der nun mal auch tatsächlich vorhandenen Solo-Selbständigen, die schon derzeit kaum oder gar nicht über die Runden kommen, induzieren reale sozialpolitische Leistungen in der Gegenwart bzw. und vor allem mit Blick auf die Zukunft erhebliche Sicherungslücken, vor allem im Bereich der Alterssicherung.

Ein Teil der auch in der DIW-Studie beschriebenen Solo-Selbständigen mit den sehr niedrigen Einkommen findet man wieder im Grundsicherungssystem (SGB II) und hier als Aufstocker. Die Abbildung mit der Entwicklung der Zahl der selbständigen Aufstocker verdeutlicht, dass es seit einigen Jahren eine erkennbare Konstanz gibt, was die Zahl der Betroffenen angeht. Die unvollständige Existenzsicherung dieser „Kümmerexistenzen“ wird also über Steuermittel gewährleistet. Und Steuermittel werden auch bei vielen Solo-Selbständigen spätestens im Alter fällig werden, denn sie zeichnen sich aus durch oftmals nur rudimentär oder gar nicht vorhandene Altersvorsorge – woher auch, wenn sie mit den laufenden Einkommen schon gegenwärtig nicht oder gerade so über die Runden kommen. Hier wird in aller Deutlichkeit und Konsequenz ein nur historisch zu verstehendes Sicherungsdilemma erkennbar, denn die weitreichende Herausnahme „der“ Selbständigen aus der gesetzlichen Rentenversicherung war ein gleichsam ständisches Abbild der Gesellschaft in der Vergangenheit, in der man tatsächlich oftmals davon ausgehen konnte, dass der Selbständige über andere, private Formen der Altersvorsorge selbst in der Lage war, sich gegen die mit dem Alter verbundenen Einkommensrisiken abzusichern. Das ist aber bei vielen Solo-Selbständigen im unteren und mittleren Einkommensbereich heute schlichtweg eine Illusion und wird nicht funktionieren können. Im Ergebnis wird das dann dazu führen, dass die Betroffenen im Alter auf Leistungen aus der Grundsicherung für Ältere angewiesen sein werden.

Das Problem ist schon lange bekannt. Und sogar Versuche des Gegensteuerns hat es gegeben, die allerdings schnell wieder beerdigt worden sind. Man erinnere sich an dieser Stelle nur an die blutige Nase, die sich die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), geholt hat, als sie in der letzten Legislaturperiode davon gesprochen hat, dass es die „Notwendigkeit einer Pflichtvorsorge“ geben würde, die man gegenüber den Selbständigen durchsetzen müsse, da das Risiko der Altersarmut nicht auf die Gesellschaft abgewälzt werden dürfe. Der im Frühjahr 2012 von ihr in die Diskussion eingebrachte geplante Zwang zur Alterssicherung wurde bereits wenige Monate später sang- und klanglos beerdigt (vg. hierzu beispielsweise schon im August 2012 Zwangsrente für Selbständige steht vor dem Aus).

Aber nur, weil man den Kopf in den Sand steckt angesichts der Widerstände und der auch vielen tatsächlichen technischen Schwierigkeiten – das Problem verschwindet ja deshalb nicht einfach von der Tagesordnung, wenn man darüber nicht mehr nachdenkt und nach Lösungen sucht.

Hartz IV: Von angeblich fehlenden Anreizen, arbeiten zu gehen, aber auch Tageskalorien in imaginären Warenkörben, die durch abgerundete Statistiken ersetzt wurden. Oder: Wie viel darf es denn sein?

So sieht sie aus in diesen Tagen, eine dieser so typischen Schlagzeilen der BILD-Zeitung. Und direkt darunter wird die Hauptbotschaft transportiert. »Experten kritisieren: Für viele Stütze-Empfänger lohnt es sich gar nicht mehr zu arbeiten.« Erneut, werden viele an dieser Stelle denken, spielt man die unten gegen die aus, die noch weiter unten stehen. Und der BILD-Mann Dirk Hoeren kommentiert die Berichterstattung seiner Zeitung so: »Auch zehn Jahre nach der Einführung bleibt Hartz IV ein Stein des Anstoßes. Für die einen ist es zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Für Millionen Arbeitnehmer, die das System Jahr für Jahr mit Milliarden Steuern am Laufen halten, ist es die Einladung zum bezahlten Nichtstun. Selbst Facharbeiter kommen beim Blick auf den Gehaltszettel ins Grübeln. Mit Hartz und Nebenjobs würden viele mehr herausbekommen.« Ach ja.

Die BILD-Zeitung hat hier etwas aufgegriffen und – formulieren wir es mal nett – „zielgruppengerecht“ zu verpacken versucht, was ein grundsätzliches Problem im und vor allem über das Grundsicherungssystem hinaus ist: Es geht um Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte. Ja, das hört sich technisch an, ist aber ein mehr als handfestes Thema. Für das Jahr 2012 hat dies Johannes Steffen, der das „Portal Sozialpolitik“ betreibt, in einer wahren Fleißarbeit, die alle Kreise und kreisfreien Städte umfasst, aufgearbeitet: Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte 2012. Wohngeld leistet kaum einen Beitrag zur Überwindung von »Hartz IV«. Worum geht es genau?

»Um sich aus der Harz-IV-Abhängigkeit zu lösen, müssen alleinstehende erwerbsfähige Leistungsberechtigte durch abhängige Beschäftigung eine bestimmte Entgelthöhe erzielen (bedarfsdeckende Bruttoschwelle). Die Chancen hierfür hängen neben vielen anderen Faktoren auch vom regionalen Lohnniveau ab (Durchschnittsentgelte). Die unterschiedliche Höhe der Bruttoschwellen wiederum wird maßgeblich bestimmt durch die regional stark schwankenden Kosten für Unterkunft und Heizung.«

Offensichtlich ist dieser allgemeine Zusammenhang: Bedingt durch hohe Kosten der Unterkunft in einer bestimmten Region kommt es zu hohen Bruttoschwellen, die aber in der Regel mit hohen regionalen Durchschnittsentgelten korrespondieren – und umgekehrt. Aber:

»Entscheidend sind aber nicht die absoluten Werte, sondern deren prozentuales Verhältnis: Je höher der Anteil der Bruttoschwelle im Verhältnis zum Durchschnittsentgelt aller Beschäftigten ausfällt, umso schwieriger wird sich insgesamt die Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit alleine durch Aufnahme bzw. Ausweitung abhängiger Beschäftigung auf dem regionalen Arbeitsmarkt gestalten.«

Steffen kommt zu diesem Ergebnis: »Im Bundesdurchschnitt betrug der Anteil des Schwellen-Brutto am Durchschnittsentgelt 52,2% (51,8% im Westen einschließlich Berlin und 60,5% im Osten). Je höher der Anteilswert ausfällt, um so schwerer wird es Leistungsberechtigten c.p. fallen, das erforderliche Entgeltniveau auf dem regionalen Arbeitsmarkt zu erzielen und sich dadurch aus der Hartz-IV-Abhängigkeit zu lösen.«

Beispiel: Das Durchschnittsentgelt lag 2012 in Westdeutschland (mit Berlin) bei 2.606 Euro im Monat. Der bedarfsdeckende Bruttomonatslohn für einen Alleinstehenden belief sich auf 1.349 Euro pro Monat. Genau dann ist die Schwelle erreicht, aber der man aus dem Hilfeanspruch rauswächst.

Johannes Steffen identifiziert eine zentrale Schwachstelle, die am Übergang zwischen Hilfebedürftigkeit und dem Bestreiten der Existenz aus eigenem Erwerbseinkommen zu verorten ist (und aus die die BILD-Zeitung natürlich nicht hinweist, würde es doch gewissermaßen eine Überforderung der Zielgruppe darstellen):

»Um die Chancen zur Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit durch die Erzielung von Erwerbseinkommen zu erhöhen, ist u.a. eine durchgreifende Reform des Wohngeldes erforderlich. Denn bei einem Arbeitsverdienst in Höhe der hier ermittelten Bruttoschwellen haben Single-Haushalte durchweg keinen Wohngeldanspruch mehr. Das Wohngeld leistet damit zur Zeit keinen Beitrag zur Überwindung der Fürsorgeabhängigkeit von alleinstehenden Erwerbstätigen. Ein erhöhtes Wohngeld würde die Bruttoschwellen hingegen merklich senken. Bestandteile einer Wohngeldreform müssten
– die Wiedereinführung des Heizkostenzuschusses und
– die Erweiterung der Werbungskosten bei der Wohngeldberechnung spiegelbildlich zur Ausgestaltung des Erwerbstätigen-Freibetrages im SGB II
sein. Der Erwerbstätigen-Freibetrag beläuft sich bei Alleinstehenden aufs Jahr gerechnet derzeit auf bis zu 3.600 Euro – die beim Wohngeld zu berücksichtigenden Werbungskosten sind hingegen auf 1.000 Euro begrenzt. Eine Harmonisierung der Beträge könnte vielen Beschäftigten den Gang zum Jobcenter ersparen.«

Das ganze Thema verdeutlich nicht nur die Komplexität des fragmentierten Hilfesystems, sondern auch zwei grundsätzliche Probleme im und um das Grundsicherungssystem herum:
Zum einen – so auch die simple Stoßrichtung des BILD-Ansatzes, versucht man die Niedriglöhner an der Grenze zur Hilfebedürftigkeit gegen die auszuspielen, die Hilfeleistungen beziehen. Mit der Botschaft, die auch Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft als „Experte“ zitiert unterstützt: Die Hartz IV-Leistungen seien zu hoch, um einen „Anreiz“ zu geben, zu den Bedingungen zu arbeiten, die da unten herrschen. Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen zu fragen: Ist das nicht vielmehr ein Problem, dass viele Menschen zu offenbar sehr niedrigen Löhnen arbeiten (müssen), von denen man seine Existenz nicht bestreiten kann oder kein fühlbarer Abstand zu den Transferleistungsempfängern mehr besteht?

Die weitaus folgenreichere Problematik: Der große Bereich der Niedrigst- und Niedrigeinkommen erklärt neben anderen Gründen auch, warum die Politik eine aus fachlicher Sicht möglicherweise gut begründbare Anhebung der Regelleistungen scheut wie der Teufel das Weihwasser. Denn eine Anhebung um 50 oder x Euro würde viele in den Aufstockungsbereich des Hartz IV-Systems reinziehen von der Anspruchsseite her gesehen.

Mit einer damit eng verbundenen Grundsatzfrage beschäftigt sich Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum und sie spricht einen wunden Punkt an bei der Frage, wie man das festlegt, was als „soziokulturelles Existenzminimum“ zu definieren ist und damit die Leistungen determiniert: »Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab.« Eine der zentralen Kritikpunkte in der Hartz IV-Diskussion ist immer wieder die – behauptete – zu niedrige Höhe der Regelleistungen. Aus fachlichen Gründen müssten die Leistungen höher ausfallen. Und erst vor kurzem war diese Frage Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, was in diesem Blog am 9. September 2014 behandelt worden ist: Das Bundesverfassungsgericht grummelt, beißt aber (noch) nicht. Zur Entscheidung über die Bestimmung der Höhe der Regelbedarfsleistungen im Grundsicherungssystem. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner jüngsten Entscheidung auch auf die von Caspari in ihrem Artikel angesprochene und durchaus fragwürdige Vermischung von Warenkorb- und Statistik-Modell bei der Bestimmung des Existenzminimums eingegangen, wenn auch nicht zur Freude der Kritiker am bestehenden System:

»Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der Verbrauchsstatistik nachträglich einzelne Positionen – in Orientierung an einem Warenkorbmodell – wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des Statistikmodells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle, sondern zwischen 132 € und 69 € weniger und damit lediglich 72 % bis 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenzsichernd anerkannt werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen.«

So weit das Bundesverfassungsgericht. Das sind eben nicht nur, wie es scheinen mag, technische Fragen, sondern letztendlich geht es um ein normatives Grundsatzproblem: Wie viel soll es denn sein und mit Blick auf die Interdependenzen mit dem Arbeitsmarkt und den dort herrschenden Verhältnissen verengt sich das dann auf die maßgebliche Frage: Wie viel darf es denn sein? Und diese Frage erklärt in sich dann schon die Antworten, die bislang (nicht) gegeben werden (können/dürfen).

Um abschließend wieder an den Anfang des Beitrags zurückzukommen: Die BILD-Zeitung und andere Interessierte sollten sich einmal die vorliegenden Daten beispielsweise des IAB zur „Konzessionsbereitschaft“ von Hartz IV-Empfängern anschauen, eine auch sehr niedrig entlohnte Arbeit an- und aufzunehmen. Dann erübrigt sich eine so billige Polemik nach unten.

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“. Das SGB II nicht nur als ein Aktenmonster für die Menschen vor und hinter den Schreibtischen in den Jobcentern, sondern auch für die Sozialgerichte, wo es sich zugleich als Mega-ABM entfalten konnte

Das SGB II, also die rechtliche Grundlage des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende, ist ein kompliziertes Ding. Letztendlich kann man das darauf zurückführen, dass es sich bei dem, was man umgangssprachlich als „Hartz IV“ tituliert, um ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen handelt. Was damit ausgerückt werden soll: Völlig unabhängig von der Frage, ob man ein Befürworter oder Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, muss man einen Tatbestand zur Kenntnis nehmen: Hätten wir ein solches, dann wäre die administrative Abwicklung einfach, weil man gerade nicht das tun müsste, was man in der Sozialhilfe- und Hartz IV-Welt aufgrund der dort vorherrschenden Konditionalität der Leistungen und ihrer Abhängigkeit von zugangsverengenden Inanspruchnahmevoraussetzungen tagtäglich machen muss: Prüfen, anrechnen, bewilligen und zurückfordern, kontrollieren und bescheiden, sanktionsbewährt fordern und nach Haushaltslage und eingebettet in rechtliche Restriktionen fördern, nach Ermessen handeln und sich in Widersprüche und Klagen verstricken, denn gleichzeitig soll ja auch das „soziokulturelle Existenzminimum“ gewährleistet werden.

Man wird so weit gehen können zu behaupten: Das SGB II muss an sich selbst verzweifeln, weil in dieses Gesetzeswerk von außen ein nicht auflösbares Dilemma implementiert worden ist, was dazu führen muss, dass das Hartz IV-System beständig hin und her pendelt zwischen den Polen einer weitreichenden Pauschalierung der Leistungen (die nicht nur zu Effizienzgewinnen auf der Verwaltungsseite, sondern auch zu deutlich höheren Freiheitsgraden bei den betroffenen Menschen führen könnte) und der Einzelfallgerechtigkeit, die sich gerade durch ihre oftmals gut begründete Abweichung von der pauschalierten Durchschnittswelt auszeichnet. Da sind Konflikte vorprogrammiert, die eben oftmals existenzieller Natur sind und entsprechend mit voller Härte bzw. Verzweiflung geführt werden. Und schon sind wir bei den Widersprüchen und den Klagen gegen Entscheidungen innerhalb des Hartz IV-Systems angekommen.

Bilder aus – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Aktenstapeln absaufenden Sozialgerichten angesichts der Vielzahl an Klagen gegen Entscheidungen im Grundsicherungssystem haben die vergangenen Jahre geprägt. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der Verfahren und immer wieder wurde auch darüber berichtet, wie viele dieser Verfahren zugunsten der Kläger ausgegangen sind. Und gerne wurde zur Illustration der „Klagewellen“ und der unglaublichen Quantität der Rechtsstreitigkeiten aus der „Hartz IV-Hauptsatdt“ des Landes berichtet, also aus Berlin. Einer Stadt, die angeblich arm, aber auch sexy sei. In der auf alle Fälle viele Menschen (im Dezember 2014 waren es fast 154.000 Berliner) am Tropf der staatlichen Fürsorge hängen (müssen), in der fast jedes dritte Kind in einem „Hartz IV-Haushalt“ aufwächst. Nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie sich das nunmehr abgeschlossene Jahr aus Sicht des Berliner Sozialgerichts dargestellt hat.

Da trifft es sich gut, dass das Berliner Sozialgericht eine solche Bilanzierung für das Jahr 2014 auf einer Jahrespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert hat. Die dort präsentierte Jahresbilanz 2014 wurde von einigen Medien aufgegriffen – da ist die Rede von Raus aus dem tiefen Tal der Hartz-Reformen, dem Aktenmonster Hartz IV oder ganz handfest formuliert: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage. Und wer lieber das Original bevorzugt, dem sei die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz am 14.01.2015 empfohlen. Bei ihr finden wir einige wichtige Hinweise:

»Kein Ereignis … hat die Sozialgerichtsbarkeit so einschneidend verändert wie das Inkrafttreten des SGB II vor 10 Jahren … Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und eine Zeit nach Hartz IV.« Bis 2005 habe die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer eigentlichen Bedeutung für Millionen Menschen ein „Nischendasein“ gefristet, auch in der juristischen Ausbildung, was sich mit Hartz IV fundamental geändert habe, so Schudoma. »Heute stellen die Sozialgerichte die größte Fachgerichtsbarkeit.« Was deutet sich hier an? Eine „Erfolgsstory“ aus Sicht der deutschen Sozialgerichtsbarkeit?

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“, so wird die Sozialgerichtspräsidentin in dem Artikel Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage von Thomas Loy zitiert. Mit Blick auf die in diesen Tagen überall als Auslöser für Berichterstattung beobachtbaren zehn Jahre Hartz IV: »Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet – statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren.« Noch mal: Wir reden hier nur über Arm-aber-sexy-Berlin. Und was des einen Leid, ist des anderen Freud, zumindest, wenn man diese Kategorie anlegt an das Sozialgericht als „Unternehmen“. Denn das hat „profitiert“. Schudoma macht das deutlich in einer zahlenmäßigen Verdichtung von zehn Jahre Hartz IV:

215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel.

Man kann es auch so ausdrücken:

»Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. „Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das“, sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 „nicht-richterliche“ Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her.« (Thomas Loy: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage).

Aber es gibt auch positive Nachrichten, die man schon in der Abbildung mit den Grafiken erkennen kann: Der Gipfel scheint überschritten worden zu sein, die Zahl der Klageverfahren ist rückläufig, wenn auch nur sehr langsam und von einem extremen Hoch. Zu der Entwicklung führt die Gerichtspräsidentin aus:

»Im ersten Jahr verzeichnete das Sozialgericht Berlin bereits 5.000 Hartz IV-Fälle. Im zweiten Jahr Hartz IV verdoppelte sich die Zahl der eingehenden Verfahren auf 10.000. Immer mehr Klagen in grünen Aktendeckeln türmten sich in den Geschäftsstellen. Grün – die Farbe von Hartz IV, entsprechend der bundesweit geltenden Aktenordnung. Bald überstürzten sich die Ereignisse … Schneller als erwartet war unser Vorrat an grünen Aktendeckeln erschöpft. Die Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Wir improvisierten: Statt grünen Aktendeckeln nahmen wir weiße, auf die wir grüne Punkte klebten. Die Hauptregistratur konnte weiter arbeiten. Meine Damen und Herren, 2010 erreichten uns dann über 30.000 SGB II-Fälle – in nur fünf Jahren hatten sich die Hartz IV-Eingangszahlen versechsfacht.«

Seit dem Höchststand im Jahr 2010 ist die reine Zahl an Klageverfahren rückläufig. Dazu Schudoma: »Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2.000 neue Hartz IV-Verfahren … Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.« Und das hängt eben auch und vor allem mit den bereits angesprochenen strukturellen Problemen innerhalb des Hartz IV-Systems zusammen. Auch hier sei Sabine Schudoma wieder zitiert:

»Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.«

Man sollte sich also von dem erkennbaren Rückgang nicht blenden lassen. Oder anders formuliert: »Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme, würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8 Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden«, so Johannes Supe in ihrem Beitrag Aktenmonster Hartz IV.

Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, bekommt in diesem Beitrag das vorletzte Wort zu zehn Jahre Hartz IV:

»Auch überall im Gebäude hat Hartz IV seine Spuren hinterlassen. Schutt, Staub, Baulärm sind im Haus allgegenwärtig. Bei uns fällt der Blick aus dem Fenster zum Hof auf eine Baustelle: Geschaffen wird dort eine neue Aktenhalle mit Platz für noch einmal 2 km Akten. Wo früher die Gerichtskantine lag, sitzen heute Hartz IV-Richter. Überall wurden Zwischenwände gezogen, um Platz für neue Büros zu schaffen.«

Und da sage noch mal jemand: Hartz IV habe keine Arbeitsplätze geschaffen. Das wenigstens ist widerlegt. Und man  kann sogar noch weitergehen und postulieren, es wurde auch ein neues Berufsbild geschaffen: Der „Hartz IV-Richter“.