Der Kapitalismus macht depressiv! Aber ist das wirklich so? Oder liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte?

Es ist eine dieser großen und auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbaren, plausiblen Erzählungen unserer Tage: Immer mehr Menschen werden durch die Bedingungen, denen sie in der modernen Arbeitswelt ausgesetzt sind, in den Burnout getrieben, viele schaffen es nicht, bis zum gesetzlichen Rentenentrittsalter durchzuhalten und werden – oftmals und in zunehmenden Maße – aus „psychischen Gründen“ als Erwerbsunfähige frühverrentet. Sichtet man die vielen Beiträge aus den letzten Jahren, dann kann sich der Eindruck verfestigen, wir leben in einer „erschöpften Gesellschaft“.
Das Thema hat selbst die Philosophie erreicht. Gleichsam paradigmatisch hierfür die Überlegungen von Byung-Chul Han, geboren in Südkorea, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin: Wie der Kapitalismus uns zu Selbstausbeutern macht, so lautet beispielsweise einer seiner Beiträge. Er hebt das Thema auf eine ganz große Bühne: »Die psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit. Sie sind ein pathologisches Zeichen, dass heute die Freiheit vielfach in Zwang umschlägt … Die perfide Leistungslogik … führt am Ende zum Kollaps. Wir denken, wir verwirklichen uns, wir optimieren uns, aber in Wirklichkeit beuten wir uns aus. Wogegen könnten wir protestieren? Es gibt ja niemanden, der mich zur Arbeit zwingt. Ich beute mich ja aus freien Stücken aus. Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet.« Das sind Worte, die vielen kritischen Geistern aus der Seele sprechen werden und ist es nicht zugleich ein Thema, das sich durch die Arbeitenvon Marx über Freud und die Frankfurter Schule bis hin zu den Beiträgen des jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck – um nur einige wenige zu nennen – zieht? Und auch aus einer ganz anderen Perspektive: Kennt nicht jeder von uns Beispiele von Menschen, die an der modernen Arbeitswelt verzweifelt sind, die schweren Schaden genommen haben?

Und zeigen nicht die Daten eindeutig eine enorme Ausbreitung der psychischen Erkrankungen sowie der durch sie verursachten nicht nur individuellen, sondern auch ökonomischen Schäden? »Wegen ihrer Psyche lassen sich deutsche Arbeitnehmer immer länger krankschreiben. Die Unternehmen kostet das Milliarden«, so beispielsweise Rainer Woratschka in seinem Artikel Depression wird zur Volkskrankheit. Es geht hier nicht um „die“ psychischen Erkrankungen, sondern um „nur“ um die Depressionen. Und es sind beunruhigend daherkommende Zahlen, von denen berichtet wird: Von 2000 bis 2013 sind Fehlzeiten aufgrund von Depressionen um fast 70 Prozent gestiegen. Der Anteil der Erwerbspersonen, die Antidepressiva verschrieben bekamen, hat im gleichen Zeitraum um ein Drittel auf sechs Prozent zugenommen. Diese Daten stammen aus einer Sonderauswertung der Techniker Krankenkasse (TK), die als „Depressionsatlas 2015“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (vgl. Techniker Krankenkasse (Hrsg.): Depressionsatlas – Auswertungen zu Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen, Hamburg 2015).

Eigentlich sind nur wenige davon betroffen – 1,6 Prozent der Menschen bekamen eine Krankschreibung mit der Diagnose „Depression“. Die, die es trifft, fallen aber sehr lange aus, im Durchschnitt 64 Tage. Das heißt, es ist eine sehr langwierige Erkrankung für den Patienten, verbunden mit hohen Ausfallzeiten für die Betriebe. 1,6 Prozent der Fälle waren dadurch für 7,1 Prozent aller gemeldeten Fehltage verantwortlich. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, erläutert die Auswirkungen auf der betrieblichen Ebene an einem Rechenbeispiel:

»Für ein Unternehmen mit 250 Mitarbeitern bedeutet dies, dass durchschnittlich vier ihrer Beschäftigten gut zwei Monate im Jahr fehlen. Berücksichtigt man noch den Urlaubsanspruch, bleibt also mindestens ein Arbeitsplatz allein aufgrund von Depressionen unbesetzt.«

Interessant ist natürlich ein differenzierender Blick auf die Zahlen – und da scheint es Hinweise zu geben, mit der sich die eingangs skizzierte These von der krankmachenden Arbeitswelt heute scheinbar belegen lässt: »Betroffen sind laut TK vor allem Berufe mit einem hohen Stresslevel und einer großen psychischen Belastung wie im Callcenter (2,8 Tage), in der Altenpflege (2,5), in Erziehungs- (1,6) sowie Sicherheitsberufen (1,4).« Das wurde aufgegriffen: Branchenspezifische Unterschiede legen nahe, dass Arbeitsbedingungen die Krankheit beeinflussen, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Fremdbestimmt im Job: »Ein hohes Stresslevel, wenig Selbstbestimmtheit und die prompte Reaktion auf die Bedürfnisse anderer: Das haben Berufe im sogenannten Dialogmarketing, also im Callcenter, in der Altenpflege und der Kinderbetreuung gemeinsam. Und noch eins – Beschäftigte dieser Branchen sind besonders häufig wegen der Diagnose Depression krankgeschrieben.«

Es gibt allerdings weitere Differenzierungen, die man aus den Daten ableiten kann und muss – zum einen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den Altersgruppen sowie zum anderen zwischen Regionen: »Frauen sind mit durchschnittlich 1,3 Tagen deutlich mehr aufgrund von Depressionen krankgeschrieben als Männer mit durchschnittlich 0,8 Tagen. Zudem nehmen die Fehlzeiten mit dem Alter deutlich zu. Erst ab dem 60. Lebensjahr sind die Werte wieder rückläufig«, so die TK. Und der Unterschied zwischen den Regionen hat es sogar in die Überschrift dieses Artikels gebracht: Hamburger bleiben am häufigsten mit Depression zuhause: »Hamburg hat 2013 demnach bundesweit die höchsten Fehlzeiten aufgrund von Depressionen verzeichnet. Dort entfielen demnach auf eine Erwerbsperson im Durchschnitt 1,42 Fehltage mit der Diagnose Depression. Auch in Schleswig-Holstein und Berlin lag der Anteil der arbeitsunfähig geschriebenen Versicherten um mehr als zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Baden-Württemberg wies dagegen mit durchschnittlich 0,84 Fehltagen die geringsten Fehlzeiten aufgrund dieser psychischen Erkrankung auf. Auch Bayern und Sachsen lag bei den durch Depression verursachten Fehltagen um rund zehn Prozent oder noch mehr unter dem Bundesdurchschnitt.« Bereits an dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen: Sind die Arbeitsbedingungen in Hamburg so viel krankmachender als in Baden-Württemberg, wenn man denn die Hauptthese im Kopf hat, dass es die kapitalistischen Bedingungen sind, die depressionsverursachend wirken.

Auch Martin Dornes und Martin Altmeyer stellen die Frage: Macht der Kapitalismus depressiv? Aber ihre klare Antwort, garniert mit einem Vorwurf, folgt sogleich: »Nein. Die gängige Sozialkritik ignoriert die empirischen Befunde.« Und ihre Gegenargumentation geht so:

»Wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen die Verbreitung von Krankheiten ermittelt wird, sogenannte epidemiologische Studien, zeigen zwischen 1947 und 2012 keinen Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Störungen. Es gibt keine konsistenten Belege dafür, dass diese Erkrankungen zugenommen hätten – weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Ärzte diagnostizieren heute jedoch häufiger psychische Störungen. Die ärztliche Praxis hat sich also verändert, aber nicht die Gesundheit der Menschen.«

Warum passiert das? Warum werden heute häufiger psychische Störungen diagnostiziert? Zum einen sehen sie das Wirken bestimmter Konjunkturen bzw. Moden gesellschaftlicher Thematisierung. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit für einzelne Krankheitsbilder kann ihr tatsächliches oder vermeintliches Auftreten beeinflussen. Darüber hinaus identifizieren sie drei wesentliche Gründe:

»Erstens wurden psychische Erkrankungen früher oft nicht erkannt, als körperliche Erkrankungen fehldiagnostiziert oder als Schicksalsschlag hingenommen. Hinter dem Anstieg der Diagnosen verbirgt sich zum Teil also die wünschenswerte Aufhellung eines Dunkelfeldes. Zweitens ist die Bereitschaft gewachsen, auch Befindlichkeitsstörungen in Krankheiten umzucodieren, weil sich unsere Sensibilitäten und Maßstäbe für seelische Gesundheit gewandelt haben. Drittens hat sich auch die medizinisch-psychiatrische Erhebungsmethodik verändert. Zwischen 1952 und 2014 hat sich die Zahl der unterschiedlichen Krankheitsbefunde, die ein Arzt oder Psychologe nach dem Diagnostischen Manual für psychische Krankheiten feststellen kann, nahezu vervierfacht, nämlich von 106 auf 400. Zugleich wurden die Schwellenwerte, ab denen Symptome eine Erkrankung belegen sollen, gesenkt.«

Den letzten Punkt illustrieren die beiden Autoren an einem Beispiel: »Um zum Beispiel bei einem Patienten eine Depression zu diagnostizieren, musste 1980 eine bestimmte Anzahl von Symptomen wie gedrückte Stimmung oder Schlafstörungen ein Jahr lang anhalten. Von 1994 an reichten für die gleiche Diagnose bereits zwei Monate mit Symptomen, und seit 2014 sind es nur noch zwei Wochen.« Das ist natürlich krass. Ein Jahr ist sicher viel zu lange, aber offensichtlich hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn zwei Wochen ist viel zu kurz.

Ein weiterer Aspekt, den Gesundheitsökonomen als Problem der angebotsinduzierten Nachfrage gut bekannt: versorgungsbedingte Verzerrungen. Dornes und Altmeyer dazu: »So besteht zum Beispiel ein gut belegter Zusammenhang zwischen der Versorgungsdichte und der Diagnosehäufigkeit. Die Stadt Würzburg etwa weist bundesweit die höchste Zahl an Kinderpsychiatern auf – und die höchste Zahl an ADHS-Diagnosen. Glauben wir deshalb, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität kämen dort wirklich häufiger vor als beispielsweise in Hamburg oder Berlin?«
Und dann feuern die beiden noch eine Salve ab gegen die Untergangspropheten, die nur die – allerdings vorhandene – destruktive Seite des Kapitalismus betonen:

»Die Suizidraten haben seit 1980 abgenommen, die Tötungsdelikte ebenfalls. Dagegen hat die subjektive Lebenszufriedenheit in drei Vierteln von 52 untersuchten Ländern, in denen entsprechende Studien durchgeführt wurden, zwischen 1981 und 2007 zugenommen. Da dieser Zeitraum mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus zusammenfällt, sollte die antikapitalistisch argumentierende Globalisierungskritik einmal innehalten. Anscheinend überwiegen die positiven Folgen ökonomischer und gesellschaftlicher Modernisierung deren negative Folgen, jedenfalls in der Mehrheit der untersuchten Länder.«

Man muss diese positive Sichtweise auf die gesellschaftliche Entwicklung nicht in toto teilen, aber man sollte solche Befunde nicht einfach negieren.

Einen kritischen Blick auf die These von einer Zunahme der Depressionen und die dann auch noch arbeitsweltbedingt wirft auch Saskia Gerhard in ihrem Artikel Depressionen werden sichtbarer, nicht häufiger. Neben vielen anderen Argumenten sei hier ein Passus zitiert, der anschließt an den eingangs gegebenen Hinweis auf die stark steigende Zahl an Menschen, die frühverrentet werden mit Bezug auf psychische Erkrankungen:

»Den Trend, dass die Zahl der diagnostizierten Depressionen zunimmt, bestätigten die neuen Zahlen – vor allem unter Frührentnern. „Vor 30 Jahren erfolgten acht Prozent der Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen, jetzt sind es mehr als 40 Prozent“, sagt Psychiater Hegerl. Mehr Depressive als früher gäbe es vermutlich nicht. In jedem Fall werden derartige Erkrankungen häufiger erkannt und behandelt. Auch würden solche Krankheitsbilder seltener hinter Diagnosen wie chronischem Rückenschmerz, Tinnitus oder Kopfschmerz versteckt.«

Fazit: Auf keinen Fall kann man Entwarnung geben, vor allem auch unter Berücksichtigung des Leids der einzelnen betroffenen Menschen, aber für eine gesellschaftspolitische Dramatisierung liefern die Daten auch keine Fundierung. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wieder einmal irgendwo in der Mitte.

Der föderale Berg kreißte und gebar eine … Krankenhaus-Reform. Ist das (mehr als) eine Reform-Maus?

Seit Monaten hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine Reform des stationären Sektors vorbereitet. Nunmehr liegen die Eckpunkte zur Krankenhausreform 2015 vor und man kann erkennen, in welche Richtung die Reise gehen soll, auf die man die Krankenhäuser schicken will – bzw. die, die noch übrig bleiben werden. Bereits ein erster Blick auf die Berichterstattung in den Medien vermittelt einen Eindruck von der geplanten Ausrichtung der Kliniklandschaft in Deutschland: Weniger Betten, mehr PersonalSchlechte Kliniken sollen weniger Geld bekommen oder Markt statt Plan. Auch zunehmend kritische Stimmen mischen sich in den Reigen der Artikel: Länderchefs sehen sich als Gewinner oder Ein Mega-Projekt mit vielen Haken. Im letztzitierten Artikel findet sic der folgende Passus: »Die Bund-Länder-Eckpunkte der Krankenhausreform belegen: Die Beharrungskräfte des föderalen Systems in der Gesundheitspolitik zehren am Reformwillen. Die Länder führen den Bund am Nasenring durch die Arena.« Und in dem Artikel „Wir haben den großen Wurf nicht geschafft“ heißt es: »Eine große Klinikreform sollte auf den Weg gebracht werden. Aber die auseinanderdriftenden Interessen von Bund und Ländern haben nur vorsichtig Veränderungen angestoßen. Das räumt auch CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn ein.«

Aber schauen wir uns in einem ersten Schritt einmal die wichtigsten Komponenten der nunmehr in ihren Grundzügen vereinbarten Krankenhausreform an:

  • Bereits im Entwurf des Koalitionsvertrages war er enthalten, wurde dann aber vor der Ziellinie wieder rausgestrichen, um jetzt – gleichsam durch die Hintertür – wieder aufzuerstehen: Der Strukturfonds, mit dem der Abbau von Überka­pazitäten, die Konzentration von Krankenhausstandorten sowie die Umwandlung von Krankenhäusern in nicht-akutstationäre lokale Versorgungseinrichtungen gefördert werden soll. Hierzu stellt der Bund 500 Mio. Euro aus dem Gesundheitsfonds (also aus Mitteln der Beitragszahler) zur Verfügung, wenn die Bundesländer ebenfalls die gleiche Summe, also weitere 500 Mio. Euro in den Topf werfen. Damit stehen folglich eine Milliarde Euro zur Verfügung. Die Krankenkassen können mitreden und nicht verausgabte Mittel können von den anderen Bundesländern abgerufen werden. Mit diesem Instrumentarium soll also der bereits ablaufende Prozess des Abbaus von Krankenhauskapazitäten vorangetrieben werden, während man gleichzeitig aber vor dem Problem steht, gerade in den ländlichen Regionen eine Basisversorgung aufrechterhalten zu müssen. Dafür will man nun endlich etwas zum Leben erwecken, was im neuen Krankenhausfinanzierungssystem schon von Anfang an angelegt war: Künftig sollen Sicherstellungszuschläge für die Vorhaltung von Kapazitäten gezahlt werden, die aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs mit den Fallpauschalen nicht kostendeckend finanzierbar, aber zur Versorgung der Bevölkerung notwendig sind.
  • Ein ganz großer Brocken kann subsumiert werden unter dem Begriff Qualität, wobei man das besser in Anführungszeichen setzen sollte, denn was genau nun gute oder schlechte Qualität im Krankenhausbereich ist und von wem und durch was die generiert wird, ist gar nicht so einfach, wie man beim ersten Hinschauen vermuten mag. Wichtigster Punkt: Es soll  eine qualitätsorientierte Vergütung in die stationäre Versorgung eingeführt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) soll bis zum 31.12.2016 einen Katalog von Leistungen erstellen, für deren Erbringung Zuschläge oder Abschläge vorzusehen sind. Der G-BA soll bis zum 31.12.2016 Qualitätsindikatoren zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität erarbeiten, die die Bundesländer als ihrer Krankenhausplanung nutzen können. Die Länder können jedoch auch eigene Indikatoren verwenden. Ebenfalls bis zum 31.12.2016 soll der G-BA vier planbare Leistungen festlegen, für die Krankenkassen und Krankenhäuser sogenannte Qualitätsverträge abschließen sollen. Hier geht es also erst einmal um den vorsichtigen Einstieg in eine Erprobung. Und schlussendlich gehört an dieser Stelle auch noch erwähnt: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) soll Krankenhäuser künftig unangemeldet kontrollieren können, um zu prüfen, ob die Häuser die Qualitätsvorgaben einhalten. Sicher wird der eine oder die andere fragen, wer den die überaus schwierige Frage beantworten soll, was gute und schlechte Qualität ist. Dazu wird eine neue Institution geschaffen: Das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen wurde bereits im Juni 2014 formal eingerichtet und soll 2015 seine Arbeit aufnehmen.
  • Eine für viele, die Bescheid wissen über die Situation in den meisten Krankenhäusern, zentrale Frage lautet: Wird es durch die Reform mehr Arbeitskräfte – vor allem in der Pflege – geben? Im Prinzip ja, so muss man antworten: Bund und Länder wollen ein Pflegestellenförderprogramm in Höhe von 660 Millionen Euro mit einer Laufzeit über drei Jahre einrichten. Damit sollen ausschließlich Pflegekräfte eingestellt werden, die „am Bett“ arbeiten. Die Kliniken müssen sich mit einem Eigenanteil von 10% beteiligen und der Nachweis der Mittelverwendung soll durch Testate von Wirtschaftsprüfern erfolgen. Für die Zeit nach den drei Jahren hofft man auf eine „Anschlussregelung“. Gleichzeitig versucht man Zeit zu gewinnen, in dem eine Expertenkommission prüfen, bis Ende 2017 prüfen soll, ob im DRG-System ein erhöhter Pflegebedarf von demenzkranken, pflegebedürftigen und behinderten Patienten sachgerecht abgebildet ist.
  • Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass man Maßnahmen zur Mengensteuerung von der Landesebene (heute durch die Absenkung des Landesbasisfallwerts, was dann alle trifft) auf die Ebene der einzelnen Krankenhäuser verlagern will. Allerdings erst „ab 2017“. Wieder Zeit gewonnen.
  • Bekanntlich haben wir schon seit nunmehr zehn Jahren ein neues Krankenhausfinanzierungssystem. Durch das Fallpauschalengesetz (FPG) vom 23. April 2002 wurden die diagnosebezogenen Fallpauschalen eingeführt. Dies war ab 2003 freiwillig anwendbar und ab 2004 verpflichtend. Der damalige Systemwechsel bestand darin, sich von den tagesgleichen, krankenhausindividuell vereinbarten Pflegesätzen zu verabschieden in Richtung auf ein ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystems. Aber alle Pauschalierung steckt in einem letztendlich nicht lösbaren Grunddilemma fest. Wenn die Pauschalierung der Vergütung der Krankenhausleistungen auf der Basis von durchschnittskostenkalkulierten Fallpauschalen basiert, dann sieht der gut aus, dessen Kosten unter dem Durchschnitt lagen und liegen, während der mit höheren Kosten in die Röhre schauen und Verluste machen muss. Und wenn er das nicht wirklich beseitigen kann, beispielsweise weil er in einer ländlichen Region als Krankenhausträger die gesamte Palette an Grundversorgungsleistungen vorhalten muss, auch wenn diese nicht ausgelastet werden können aufgrund der realen Fallzahl, dann muss man entweder den Betrieb wegen dauerhaft roter Zahlen einstellen oder aber man bekommt diese Sonderfunktionalität gegenfinanziert. Genau das war schon im Fallpauschalensystem angelegt und soll nun Realität werden: Künftig sollen Sicherstellungszuschläge für die Vorhaltung von Kapazitäten gezahlt werden, die aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs mit den Fallpauschalen nicht kostendeckend finanzierbar, aber zur Versorgung der Bevölkerung notwendig sind. Und wenn man schon dabei ist, dann versucht man die größten Löcher im bestehenden Fallpauschalensystem gleich mit zu stopfen: Für die Notfallversorgung soll es Zuschläge geben und für Zentren, in denen sich viele schwere und damit kostenträchtige Fälle häufen. Dazu gehören naturgemäß die Universitätskliniken, die dann zusätzlich auch noch Zuschläge für „besondere Qualität“ bekommen sollen. Und auch das ist interessant und lässt zugleich tief blicken, was die „durchschnittskostenkalkulierten Fallpauschalen“, die ja möglichst genau den wahren Aufwand abbilden sollen, angeht: Die Kalkulation der Fallpauschalen durch das Institut für das Entgeltsystem im Kranken­haus (InEK) soll künftig anhand von repräsentativ ausgewählten Krankenhäusern erfolgen. Das muss man zweimal lesen: Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme an der Kalkulation hat man bisher mit Daten gearbeitet, die nicht alle und auch nicht wenigstens einen repräsentativen Querschnitt der Kliniken abbilden. Das will man also ändern. Aber nicht zu schnell, denn erst einmal geht es jetzt darum, dass das InEK ein „praktikables Konzept für eine repräsentative Kalkula­tionsgrundlage“ erarbeiten soll. Das kann naturgemäß dauern.

Was fehlt eigentlich in diesem bunten Strauß an Maßnahmen?

An erster Stelle wäre hier zu nennen, dass man zwar ein „Pflegestellenförderprogramm“ in Aussicht stellt, aber das muss vor dem Hintergrund des Abbaus von mehreren zehntausend Pflegestellen in den zurückliegenden Jahren gesehen werden. Zentrale Kritik wäre hier: Notwendig wäre eigentlich eine gesetzliche Vorgabe der Mindest-Pflegepersonalbesetzung in den Krankenhäusern, was den pflegerischen Bereich angeht. Genau darum wollte man sich wieder einmal herumdrücken, denn dann wäre offensichtlich geworden, welche Mangelsituation wir derzeit gerade in der Pflege haben. Und das würde teuer werden, wesentlich teurer als das, was jetzt in Aussicht gestellt wird. Das neue Programm ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. »Denn hochgerechnet können damit nicht einmal 15.000 Pflegekräfte finanziert werden – für ein Jahr. Laut ver.di fehlen in den Krankenhäusern bundesweit aber 162.000 Beschäftigte, davon 70.000 in der Pflege«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Markt statt Plan. Das muss auch vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass sich die Realität in den Kliniken seit der schrittweisen Einführung des Fallpauschalensystems ganz erheblich gewandelt hat, was man auch der Abbildung am Anfang des Artikels entnehmen kann. Die Fallzahlen sind stetig gestiegen, die Zahl der Krankenhäuser und der Betten gesunken – und vor allem die Verweildauer hat erheblich abgenommen. Das war ja auch eine der zentralen Zielsetzungen der Finanzierungsreform. Aber das hat eben auch dazu geführt, dass die Pflegeintensität der Menschen, die in den Kliniken sind, ganz erheblich zugenommen hat. Kurz gesagt: Immer kürzer, immer pflegeaufwändiger. Und der Personalschlüssel wurde „natürlich“ nicht entsprechend angehoben. Deshalb gehen so viele Pflegekräfte auf dem Zahnfleisch – eine parallele Entwicklung haben wir auch gesehen in der stationären Altenpflege.

Die skizzierten Elemente der Krankenhausreform 2015 sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht mehr – so die Einschätzung nicht von irgendjemanden, sondern von Jens Spahn, dem gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – vgl. hierzu „Wir haben den großen Wurf nicht geschafft“. »Ein großes Manko sieht Spahn beim Thema Investitionsfinanzierung. Da hätte er sich mehr gewünscht als das Festschreiben des Investitionsniveaus auf dem aktuellen Stand.« Damit spricht er ein zweites großes Defizit an – und verweist auf die weiterhin ungelöste föderale Baustelle innerhalb des Krankenhausfinanzierungssystems. Konkret geht es um die Defizite der dualen Krankenhausfinanzierung. Vereinfacht gesagt sollte es so sein: Die Krankenkassen finanzieren die laufenden Betriebskosten, die Bundesländer finanzieren die Investitionen der von ihnen in den jeweiligen Krankenhausplan aufgenommenen Kliniken. Nur funktioniert diese Dualistik nicht wirklich, vor allem, weil die Bundesländer schlichtweg zu wenig Geld für die Investitionen zur Verfügung gestellt haben. Mit der Folge, dass die deutschen Kliniken vor einem Investitionsstau in zweistelliger Milliardenhöhe stehen. Und das wird von Jahr zu Jahr schlimmer (und unterm Strich auch immer teurer).

Ein Fazit kann man auch so formulieren:

„Im Moment gehen wir von der Auffassung aus, dass die vielen kleinen Schräubchen etwas ändern. Da bin ich mir aber nicht so sicher.“ (Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion).

Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung

Das hört sich doch nach einer guten Absicht an: Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail und das erste hier anzuführende Detail ist der „Nachweis“ des Lebensstils, der zu den Vergünstigungen berechtigt. Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten. Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle fragen: Was soll daran problematisch sein? Es ist doch nur ein Angebot, man muss die Bedingungen erfüllen und warum soll nicht jemand, der was für seine Gesundheit macht, besser gestellt werden, als diejenigen, die – vielleicht sogar mutwillig – ihre Gesundheit ruinieren in der Hoffnung, dass ihnen schon von der Allgemeinheit geholfen wird, wenn es aufgrund ihres Lebensstils zu Folgekomplikationen kommt, die möglicherweise eine aufwendige Behandlung mit den entsprechenden Kosten nach sich zieht?

»Verbraucher, die sich für eine Lebens- oder Krankenversicherung nach dem neuen Modell entscheiden, müssen Generali regelmäßig Daten zu ihrem Lebensstil übermitteln. Das funktioniert mithilfe einer App, die Vorsorgetermine dokumentiert, Schritte zählt oder sportliche Aktivitäten misst. Auch gesunde Ernährung gehört zum Paket«, berichtet Anne-Christin Gröger in ihrem Artikel über das neue Krankenversicherungsmodell der Generali und sie weist darauf hin, dass der Versicherungskonzern hinsichtlich der über Telemonitoring erfolgenden Kontrolle der Versicherten und ihres tatsächlichen Verhaltens mit dem südafrikanischen Versicherer Discovery kooperiert.

Die Generali Versicherungen selbst gehören nach eigenen Angaben zu den fünf größten Erstversicherern in Deutschland. Nicht nur Generali, auch Allianz, Axa und andere Versicherer arbeiten an solchen Projekten. Vorläufer dieses Ansatzes sind bereits in Betrieb – nicht wirklich überraschend in den USA: Einer der Vorreiter dort ist der Krankenversicherer United Healthcare. Dieses Unternehmen bietet Kunden schon seit drei Jahren einen Preisnachlass an, wenn sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten tun und das auch nachweisen können. Generali will jetzt auch hier in Deutschland diesen Weg beschreiten.

»In der ersten Stufe bekommen die Versicherten, die sich gesundheitsbewusst verhalten, Gutscheine für Reisen und das Fitnessstudio. Im nächsten Schritt sind Prämiennachlässe beim Versicherungsschutz möglich. Die neuen Angebote sollen in den nächsten zwölf bis 18 Monaten auch in Deutschland erhältlich sein«, so Gröger.

Der ganze Ansatz kommt auf den ersten Blick unverdächtig daher, denn keiner scheint gezwungen zu werden, dieses neue Versicherungsmodell in Anspruch zu nehmen. Alles freiwillig also. Aber nur auf den ersten Blick, denn hier liegt eines der großen Probleme begründet: Diejenigen, die mitmachen (wollen), bekommen Vergünstigungen. Man kann plausibel davon ausgehen, dass das eine hoch selektive Gruppe sein wird, Menschen also, die von sich wissen, dass sie die Erwartungskriterien erfüllen, um an dem Programm teilnehmen zu können, vor allem, wenn man weiß, dass das überwacht wird. Es handelt sich versicherungsökonomisch gesehen um die „guten Risiken“ und genau an die will die Versicherung ran und diese an sich binden, denn mit denen macht man trotz niedrigerer Beiträge ein Geschäft. Unter den anderen, die sich nicht beteiligen, sind auch die „schlechten Risiken“ für die Versicherung, also Menschen, die wissen, dass sie die Auflagen des Versicherungsmodells nicht werden erfüllen können oder die andere Informationen über ihren eigenen Gesundheitszustand haben. Für die aber wird die Versicherung teurer, denn sie sind ja tendenziell die Risikogruppe für die Versicherung. Langfristig das größte Risiko des neuen Systems: Wer nicht bereit ist, seine Daten preiszugeben, dürfte künftig einen deutlich höheren Preis für seine Versicherung zahlen. Und schon kehrt sich die vielgelobte „Freiwilligkeit“ praktisch in ihr Gegenteil um.

Auch Anne-Christin Gröger argumentiert in diese Richtung:

»Individualisierte Tarife bergen indes eine große Gefahr: Sie führen das Prinzip der Versicherung ad absurdum. Versicherer gleichen eigentlich verschiedene Risiken aus, zwischen vielen Kunden und auch über die Zeit. Das ist der Kern ihres Geschäfts. Mit den individualisierten Tarifen versuchen die Unternehmen nun, die „besten“ Risiken für sich zu gewinnen – in der Hoffnung, dass sich die Konkurrenten mit vielen „schlechteren“ Risiken herumschlagen müssen.«

Sie zitiert Felix Hufeld, den obersten Versicherungsaufseher bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), mit den folgenden Worten, die wie ein Menetekel daherkommen: „Wenn wir den Gedanken zu Ende denken, kann das letztlich zu einer Atomisierung des Kollektivs führen“. Dies würde nicht ohne schwerwiegende Folgen für den Versicherungsgedanken an sich bleiben.

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das ja „nur“ die private Krankenversicherung betrifft, die Gesetzliche Krankenversicherung für die meisten Menschen funktioniert nach dem Sozialversicherungsprinzip und da gibt es solche Dinge wie Kontrahierungszwang usw. Aber durchaus denkbar wären auch hier erhebliche Kollateralschäden durch eine Entwicklung, die in die skizzierte Richtung geht. Denn auch unter dem Dach des Sozialversicherungssystems gibt es immer wieder Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs und sehr gerne werden immer wieder die doch offensichtlichen Ungerechtigkeiten zitiert, die entstehen, wenn Menschen sich beispielsweise bewusst in schwere Gefahr begeben oder durch ihr Verhalten (z.B. Rauchen, Alkohol trinken usw.) zu hohen Kosten beitragen, die dann von der Solidargemeinschaft aller Versicherten mitfinanziert werden müssen, auch wenn sich die bislang ganz anders verhalten und gehandelt haben. Das wird dann hinsichtlich der möglichen Konsequenzen diskutiert unter dem Stichwort Ausgliederung aus dem gesetzlichen Leistungskatalog. Wenn man denn will, kann man ja Zusatzversicherungen abschließen, wird die Botschaft lauten – oder eben einfach das risikobehaftete Verhalten ändern, wenn man sich das nicht leisten kann. Und schon wieder würde scheinbare „Freiwilligkeit“ in einen faktischen Zwang transformiert.

Die fundamentale Kollision mit dem Versicherungsprinzip, vor allem mit dem besonderen Versicherungsprinzip in der Sozialversicherung, kann man sich auch anhand einer Analogie aus einem Sozialversicherungszweig verdeutlichen, hier der Arbeitslosenversicherung. Dort gibt es zwar eine ganze Reihe an Vorkehrungen gegen eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Leistungen, beispielsweise Sperrzeiten bei Eigenkündigungen wie auch die Zumutbarkeitsbestimmungen, denn natürlich ist diese Versicherung darauf angewiesen, dass der Risikofall so schnell wie möglich beendet wird, z.B. durch die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit. Aber zwei Dinge sind unstrittig: Es gibt weiterhin zahlreiche Möglichkeiten, durch eigenes Tun (bzw. Nicht-Tun) verhaltensbedingt den Schadensfall Arbeitslosigkeit herbeizuführen oder zu verlängern – und man bekommt trotzdem die Leistungen, die aus Beiträgen des Versicherungskollektivs finanziert werden. Für die Analogie zum Krankenversicherungsmodell wesentlich relevanter ist ein zweiter Punkt: Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist nicht gleich verteilt, sondern es gibt eine deutlich ausgeprägte Diskrepanz zwischen Regionen, Berufen, Branchen – und auch zwischen bestimmten Personengruppen. Beispiel: Während Beschäftigte in Branchen wie Bau oder noch schlimmer der Leiharbeit ein überdurchschnittliches Arbeitslosigkeitsrisiko haben und bei den Leistungen oftmals ein Vielfaches von dem „herausholen“, was sie eingebracht haben, gibt es auf der anderen Seite Branchen wie den öffentlichen Dienst, wo die Angestellten so gut wie beamtensicher arbeiten können, aber ebenfalls monatlich ihre Beiträge abführen (müssen). Wenn man nun die unterschiedlichen Kostenrisiken auf der Beitragsseite differenzieren würde anhand der Arbeitslosigkeitsrisiken, dann würde allerdings die Umverteilungsfunktion innerhalb der Versicherung alsbald zum Erliegen kommen. Und würde man die Grundkomponente des neuen Krankenversicherungsmodells übertragen auf die Arbeitslosenversicherung, dann müsste es zumindest eine Beitragsdifferenzierung geben für die, die an den persönlichen Merkmalen, die das Arbeitslosigkeitsrisiko beeinflussen, herumarbeiten. Auf diese Idee ist aus gutem Grunde bislang noch keiner gekommen.

Damit sind wir wieder angelangt bei dem Generali-Vorstoß. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass bei einer Umsetzung dieses Modells erhebliche personenbezogene und mit Blick auf Gesundheit höchst sensible Daten selbst geliefert und ausgewertet werden.

Jan Heidemann liefert in seinem Kommentar eine einfache und wirklichkeitsbezogene Empfehlung: Nicht mitmachen!

Auf der anderen Seite kommt man aber auch nicht darum herum, angesichts des fortschreitenden radikalen Individualisierung zu konstatieren, dass es sich bei dem Ansatz von Generali um ein sehr passendes Projekt handelt. Immer stärker fällt die Fokussierung auf den Einzelnen, seine Eigenverantwortung, seine Selbsthilfe(potenziale) auf – damit aber auch die Kehrseite dieser Medaille, die vor allem daraus besteht, dass der einzelne Mensch „Schuld“ hat an dem, was im widerfährt, weil wenn er nicht geraucht hätte, wenn er regelmäßig Nordic Walking betrieben hätte, dann … Aber gerade im Gesundheitsbereich ist es eben nicht so einfach, man erkrankt auch trotz Fitnessübungen und man muss dann eingebettet sein in eine starke Gemeinschaft, die auch dann eine Menge umverteilen muss.

Und seien wir ehrlich – die Betroffenen, die sich kümmern um ihre Gesundheit, haben doch schon so viele Vorteile. Sie leben länger (und das tendenziell gesünder), sie beziehen länger Rente usw. Das muss reichen.

Ergänzung (23.11.2014): Im „Tagesspiegel“ ist ein Gastbeitrag des ehemaligen Piraten-Politikers Christopher Lauer erschienen, der das neue Versicherungsmodell der Generali aufgreift und mit weiteren Entwicklungen zusammenführt: Der Morgen des Überwachungskapitalismus, so ist sein Beitrag überschrieben. Lauer weist darauf hin, dass der konkrete Vorstoß der Generali Versicherungen im Grunde ein weiterer Baustein sei für das, was er bereits im Sommer angesichts der Einführung der Apple-Watch und Apples „Health App“ vorausgesagt habe: Das Gesundheitssystem, wie wir es kennen, wird zertrümmert werden (er bezieht sich hier auf seinen FAZ-Beitrag vom 16.06.2014: Du bist zu fett? Dafür zahlst du!).
In seinem neuen Artikel bringt auch Lauer ein Grundproblem auf den Punkt, das ich in diesem Blog-Beitrag mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Passungsfähigkeit des Modells mit der „radikalen Individualisierung“ angedeutet habe:


»Die Idee der Krankenversicherung war es nie, dafür zu sorgen, dass sich Leute gesund verhalten. Sie war es, dass Leute nicht sterben, wenn sie krank werden. Die Solidarität wird jetzt durch die Identifikation eines vermeintlichen Individualversagens ersetzt.«


Und weiter:


»Und wenn man schon mal damit anfängt, den Preis der Krankenversicherung durch persönliche Daten zu individualisieren, warum dort haltmachen? … warum sollten dicke Menschen nicht mehr für ein Busticket bezahlen, wenn der Bus durch ihr Übergewicht doch mehr Kraftstoff verbraucht? Warum müssen die Dünnen die Dicken quersubventionieren?«


Warum aber verwendet er den Begriff „Überwachungskapitalismus“?


»Die Daten, die wir täglich produzieren, werden in Algorithmen gepumpt, deren Wirkmächtigkeit einfach mal so behauptet wird, und die Aussagen, die dieser Algorithmus dann trifft, werden als Realität deklariert. Willkommen im Überwachungskapitalismus.« Er weist darauf hin, dass dieser Begriff nicht von ihm stand, sondern er hat ihn übernommen:


»Der Begriff Überwachungskapitalismus wurde durch die US-amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff geprägt und von ihr wie folgt definiert: Die durch uns produzierten Daten sind Güter. Sie werden durch Überwachung produziert. Diese Überwachungsgüter haben einen Wert, sind also Überwachungskapital. Es entsteht ein Überwachungskapitalismus, in dem unser Verhalten zur Ware wird.«


Auch im „Economist“ wurde im September dieses Jahres kurz und knapp festgestellt: Überwachung ist das neue Geschäftsmodell der Werbung. 
Im weiteren Verlauf seines Beitrags formuliert Lauer dann einige gute Anfragen an den konzeptionellen Ansatz, der hinter dem Generali-Modell steht und die meinen Beitrag sehr gut ergänzen:


»Kommen wir … zurück zu Generali und seiner Krankenversicherung: Der Nutzen eines solchen Versicherungsmodells ist vor allem erst einmal eine Behauptung. Wie wird denn gesundes Verhalten definiert? Und aufgrund welcher Metrik? Ist Joggen automatisch immer gut? Ist es gut in einer Stadt wie Berlin, mit seiner hohen Feinstaubbelastung? Wie gesund ist ein Jogger, der beim Überqueren einer Kreuzung von einem unachtsamen Autofahrer umgemäht wird und dabei einen Schädelbasisbruch erleidet? Kann eine Rollstuhlfahrerin gesund sein, wenn Joggen das Maß für Gesund ist? Was ist gesundes Essen? Die Ökotrophologie, die Ernährungswissenschaft, ändert gefühlt alle fünf Jahre ihre Meinung darüber, ob man mehr Fett oder mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen soll, wodurch diese Zunft für mich eher in den Bereich der Essensastrologie rutscht. 1991 hatte man mit einem Body-Mass-Index von 27 noch Normalgewicht, 2000 änderte die Weltgesundheitsorganisation die Definition und schwupps endete Normalgewicht bei einem Body-Mass-Index von 25, über Nacht wurden Millionen von Menschen übergewichtig. Gleichzeitig gibt es Studien, die nahelegen, dass Menschen mit einem Index von 27 die höchste Lebenserwartung haben.«
Genau hier liegt ein massives Problem: Die Kriterien für gesund und ungesund sind oft willkürlich definiert, doch diese Kriterien formen Realität in dem Moment, in dem sie in Algorithmen gegossen werden. 


Was schlussfolgert Lauer aus seiner kritischen Sichtweise auf diese Dinge?


»Es wird Zeit für eine Verbotsdiskussion über überwachungskapitalistische Praktiken. Es spricht viel dafür. Eine Verbotsforderung hat nichts mit German Angst oder Technikfeindlichkeit zu tun. Vorstöße wie der von Generali nutzen schlicht Gesetzeslücken und mangelnde Regelungen aus, weil kein Gesetzgeber einen solchen Wahnsinn vorhersehen kann. Selbst wenn 100-prozentige Datensouveränität möglich wäre, jeder also über jede Datenverarbeitung informiert werden würde, einwilligen müsste und Daten-Missbrauch im Einzelfall mit hohen Strafen belegt würde: Ein auch nur in Teilen auf Individualversagen aufgebautes Gesundheitssystem zerstört die Solidargemeinschaft. Es dient dazu, all jene auszusortieren, die nicht in die willkürliche Metrik eines Algorithmus passen. Generali geht es nicht um ein besseres Gesundheitssystem, es geht darum, Kosten zu minimieren und Gewinn zu maximieren.«

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