Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung

Das hört sich doch nach einer guten Absicht an: Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail und das erste hier anzuführende Detail ist der „Nachweis“ des Lebensstils, der zu den Vergünstigungen berechtigt. Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten. Vielleicht wird der eine oder andere an dieser Stelle fragen: Was soll daran problematisch sein? Es ist doch nur ein Angebot, man muss die Bedingungen erfüllen und warum soll nicht jemand, der was für seine Gesundheit macht, besser gestellt werden, als diejenigen, die – vielleicht sogar mutwillig – ihre Gesundheit ruinieren in der Hoffnung, dass ihnen schon von der Allgemeinheit geholfen wird, wenn es aufgrund ihres Lebensstils zu Folgekomplikationen kommt, die möglicherweise eine aufwendige Behandlung mit den entsprechenden Kosten nach sich zieht?

»Verbraucher, die sich für eine Lebens- oder Krankenversicherung nach dem neuen Modell entscheiden, müssen Generali regelmäßig Daten zu ihrem Lebensstil übermitteln. Das funktioniert mithilfe einer App, die Vorsorgetermine dokumentiert, Schritte zählt oder sportliche Aktivitäten misst. Auch gesunde Ernährung gehört zum Paket«, berichtet Anne-Christin Gröger in ihrem Artikel über das neue Krankenversicherungsmodell der Generali und sie weist darauf hin, dass der Versicherungskonzern hinsichtlich der über Telemonitoring erfolgenden Kontrolle der Versicherten und ihres tatsächlichen Verhaltens mit dem südafrikanischen Versicherer Discovery kooperiert.

Die Generali Versicherungen selbst gehören nach eigenen Angaben zu den fünf größten Erstversicherern in Deutschland. Nicht nur Generali, auch Allianz, Axa und andere Versicherer arbeiten an solchen Projekten. Vorläufer dieses Ansatzes sind bereits in Betrieb – nicht wirklich überraschend in den USA: Einer der Vorreiter dort ist der Krankenversicherer United Healthcare. Dieses Unternehmen bietet Kunden schon seit drei Jahren einen Preisnachlass an, wenn sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten tun und das auch nachweisen können. Generali will jetzt auch hier in Deutschland diesen Weg beschreiten.

»In der ersten Stufe bekommen die Versicherten, die sich gesundheitsbewusst verhalten, Gutscheine für Reisen und das Fitnessstudio. Im nächsten Schritt sind Prämiennachlässe beim Versicherungsschutz möglich. Die neuen Angebote sollen in den nächsten zwölf bis 18 Monaten auch in Deutschland erhältlich sein«, so Gröger.

Der ganze Ansatz kommt auf den ersten Blick unverdächtig daher, denn keiner scheint gezwungen zu werden, dieses neue Versicherungsmodell in Anspruch zu nehmen. Alles freiwillig also. Aber nur auf den ersten Blick, denn hier liegt eines der großen Probleme begründet: Diejenigen, die mitmachen (wollen), bekommen Vergünstigungen. Man kann plausibel davon ausgehen, dass das eine hoch selektive Gruppe sein wird, Menschen also, die von sich wissen, dass sie die Erwartungskriterien erfüllen, um an dem Programm teilnehmen zu können, vor allem, wenn man weiß, dass das überwacht wird. Es handelt sich versicherungsökonomisch gesehen um die „guten Risiken“ und genau an die will die Versicherung ran und diese an sich binden, denn mit denen macht man trotz niedrigerer Beiträge ein Geschäft. Unter den anderen, die sich nicht beteiligen, sind auch die „schlechten Risiken“ für die Versicherung, also Menschen, die wissen, dass sie die Auflagen des Versicherungsmodells nicht werden erfüllen können oder die andere Informationen über ihren eigenen Gesundheitszustand haben. Für die aber wird die Versicherung teurer, denn sie sind ja tendenziell die Risikogruppe für die Versicherung. Langfristig das größte Risiko des neuen Systems: Wer nicht bereit ist, seine Daten preiszugeben, dürfte künftig einen deutlich höheren Preis für seine Versicherung zahlen. Und schon kehrt sich die vielgelobte „Freiwilligkeit“ praktisch in ihr Gegenteil um.

Auch Anne-Christin Gröger argumentiert in diese Richtung:

»Individualisierte Tarife bergen indes eine große Gefahr: Sie führen das Prinzip der Versicherung ad absurdum. Versicherer gleichen eigentlich verschiedene Risiken aus, zwischen vielen Kunden und auch über die Zeit. Das ist der Kern ihres Geschäfts. Mit den individualisierten Tarifen versuchen die Unternehmen nun, die „besten“ Risiken für sich zu gewinnen – in der Hoffnung, dass sich die Konkurrenten mit vielen „schlechteren“ Risiken herumschlagen müssen.«

Sie zitiert Felix Hufeld, den obersten Versicherungsaufseher bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), mit den folgenden Worten, die wie ein Menetekel daherkommen: „Wenn wir den Gedanken zu Ende denken, kann das letztlich zu einer Atomisierung des Kollektivs führen“. Dies würde nicht ohne schwerwiegende Folgen für den Versicherungsgedanken an sich bleiben.

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das ja „nur“ die private Krankenversicherung betrifft, die Gesetzliche Krankenversicherung für die meisten Menschen funktioniert nach dem Sozialversicherungsprinzip und da gibt es solche Dinge wie Kontrahierungszwang usw. Aber durchaus denkbar wären auch hier erhebliche Kollateralschäden durch eine Entwicklung, die in die skizzierte Richtung geht. Denn auch unter dem Dach des Sozialversicherungssystems gibt es immer wieder Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs und sehr gerne werden immer wieder die doch offensichtlichen Ungerechtigkeiten zitiert, die entstehen, wenn Menschen sich beispielsweise bewusst in schwere Gefahr begeben oder durch ihr Verhalten (z.B. Rauchen, Alkohol trinken usw.) zu hohen Kosten beitragen, die dann von der Solidargemeinschaft aller Versicherten mitfinanziert werden müssen, auch wenn sich die bislang ganz anders verhalten und gehandelt haben. Das wird dann hinsichtlich der möglichen Konsequenzen diskutiert unter dem Stichwort Ausgliederung aus dem gesetzlichen Leistungskatalog. Wenn man denn will, kann man ja Zusatzversicherungen abschließen, wird die Botschaft lauten – oder eben einfach das risikobehaftete Verhalten ändern, wenn man sich das nicht leisten kann. Und schon wieder würde scheinbare „Freiwilligkeit“ in einen faktischen Zwang transformiert.

Die fundamentale Kollision mit dem Versicherungsprinzip, vor allem mit dem besonderen Versicherungsprinzip in der Sozialversicherung, kann man sich auch anhand einer Analogie aus einem Sozialversicherungszweig verdeutlichen, hier der Arbeitslosenversicherung. Dort gibt es zwar eine ganze Reihe an Vorkehrungen gegen eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Leistungen, beispielsweise Sperrzeiten bei Eigenkündigungen wie auch die Zumutbarkeitsbestimmungen, denn natürlich ist diese Versicherung darauf angewiesen, dass der Risikofall so schnell wie möglich beendet wird, z.B. durch die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit. Aber zwei Dinge sind unstrittig: Es gibt weiterhin zahlreiche Möglichkeiten, durch eigenes Tun (bzw. Nicht-Tun) verhaltensbedingt den Schadensfall Arbeitslosigkeit herbeizuführen oder zu verlängern – und man bekommt trotzdem die Leistungen, die aus Beiträgen des Versicherungskollektivs finanziert werden. Für die Analogie zum Krankenversicherungsmodell wesentlich relevanter ist ein zweiter Punkt: Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist nicht gleich verteilt, sondern es gibt eine deutlich ausgeprägte Diskrepanz zwischen Regionen, Berufen, Branchen – und auch zwischen bestimmten Personengruppen. Beispiel: Während Beschäftigte in Branchen wie Bau oder noch schlimmer der Leiharbeit ein überdurchschnittliches Arbeitslosigkeitsrisiko haben und bei den Leistungen oftmals ein Vielfaches von dem „herausholen“, was sie eingebracht haben, gibt es auf der anderen Seite Branchen wie den öffentlichen Dienst, wo die Angestellten so gut wie beamtensicher arbeiten können, aber ebenfalls monatlich ihre Beiträge abführen (müssen). Wenn man nun die unterschiedlichen Kostenrisiken auf der Beitragsseite differenzieren würde anhand der Arbeitslosigkeitsrisiken, dann würde allerdings die Umverteilungsfunktion innerhalb der Versicherung alsbald zum Erliegen kommen. Und würde man die Grundkomponente des neuen Krankenversicherungsmodells übertragen auf die Arbeitslosenversicherung, dann müsste es zumindest eine Beitragsdifferenzierung geben für die, die an den persönlichen Merkmalen, die das Arbeitslosigkeitsrisiko beeinflussen, herumarbeiten. Auf diese Idee ist aus gutem Grunde bislang noch keiner gekommen.

Damit sind wir wieder angelangt bei dem Generali-Vorstoß. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass bei einer Umsetzung dieses Modells erhebliche personenbezogene und mit Blick auf Gesundheit höchst sensible Daten selbst geliefert und ausgewertet werden.

Jan Heidemann liefert in seinem Kommentar eine einfache und wirklichkeitsbezogene Empfehlung: Nicht mitmachen!

Auf der anderen Seite kommt man aber auch nicht darum herum, angesichts des fortschreitenden radikalen Individualisierung zu konstatieren, dass es sich bei dem Ansatz von Generali um ein sehr passendes Projekt handelt. Immer stärker fällt die Fokussierung auf den Einzelnen, seine Eigenverantwortung, seine Selbsthilfe(potenziale) auf – damit aber auch die Kehrseite dieser Medaille, die vor allem daraus besteht, dass der einzelne Mensch „Schuld“ hat an dem, was im widerfährt, weil wenn er nicht geraucht hätte, wenn er regelmäßig Nordic Walking betrieben hätte, dann … Aber gerade im Gesundheitsbereich ist es eben nicht so einfach, man erkrankt auch trotz Fitnessübungen und man muss dann eingebettet sein in eine starke Gemeinschaft, die auch dann eine Menge umverteilen muss.

Und seien wir ehrlich – die Betroffenen, die sich kümmern um ihre Gesundheit, haben doch schon so viele Vorteile. Sie leben länger (und das tendenziell gesünder), sie beziehen länger Rente usw. Das muss reichen.

Ergänzung (23.11.2014): Im „Tagesspiegel“ ist ein Gastbeitrag des ehemaligen Piraten-Politikers Christopher Lauer erschienen, der das neue Versicherungsmodell der Generali aufgreift und mit weiteren Entwicklungen zusammenführt: Der Morgen des Überwachungskapitalismus, so ist sein Beitrag überschrieben. Lauer weist darauf hin, dass der konkrete Vorstoß der Generali Versicherungen im Grunde ein weiterer Baustein sei für das, was er bereits im Sommer angesichts der Einführung der Apple-Watch und Apples „Health App“ vorausgesagt habe: Das Gesundheitssystem, wie wir es kennen, wird zertrümmert werden (er bezieht sich hier auf seinen FAZ-Beitrag vom 16.06.2014: Du bist zu fett? Dafür zahlst du!).
In seinem neuen Artikel bringt auch Lauer ein Grundproblem auf den Punkt, das ich in diesem Blog-Beitrag mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Passungsfähigkeit des Modells mit der „radikalen Individualisierung“ angedeutet habe:


»Die Idee der Krankenversicherung war es nie, dafür zu sorgen, dass sich Leute gesund verhalten. Sie war es, dass Leute nicht sterben, wenn sie krank werden. Die Solidarität wird jetzt durch die Identifikation eines vermeintlichen Individualversagens ersetzt.«


Und weiter:


»Und wenn man schon mal damit anfängt, den Preis der Krankenversicherung durch persönliche Daten zu individualisieren, warum dort haltmachen? … warum sollten dicke Menschen nicht mehr für ein Busticket bezahlen, wenn der Bus durch ihr Übergewicht doch mehr Kraftstoff verbraucht? Warum müssen die Dünnen die Dicken quersubventionieren?«


Warum aber verwendet er den Begriff „Überwachungskapitalismus“?


»Die Daten, die wir täglich produzieren, werden in Algorithmen gepumpt, deren Wirkmächtigkeit einfach mal so behauptet wird, und die Aussagen, die dieser Algorithmus dann trifft, werden als Realität deklariert. Willkommen im Überwachungskapitalismus.« Er weist darauf hin, dass dieser Begriff nicht von ihm stand, sondern er hat ihn übernommen:


»Der Begriff Überwachungskapitalismus wurde durch die US-amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff geprägt und von ihr wie folgt definiert: Die durch uns produzierten Daten sind Güter. Sie werden durch Überwachung produziert. Diese Überwachungsgüter haben einen Wert, sind also Überwachungskapital. Es entsteht ein Überwachungskapitalismus, in dem unser Verhalten zur Ware wird.«


Auch im „Economist“ wurde im September dieses Jahres kurz und knapp festgestellt: Überwachung ist das neue Geschäftsmodell der Werbung. 
Im weiteren Verlauf seines Beitrags formuliert Lauer dann einige gute Anfragen an den konzeptionellen Ansatz, der hinter dem Generali-Modell steht und die meinen Beitrag sehr gut ergänzen:


»Kommen wir … zurück zu Generali und seiner Krankenversicherung: Der Nutzen eines solchen Versicherungsmodells ist vor allem erst einmal eine Behauptung. Wie wird denn gesundes Verhalten definiert? Und aufgrund welcher Metrik? Ist Joggen automatisch immer gut? Ist es gut in einer Stadt wie Berlin, mit seiner hohen Feinstaubbelastung? Wie gesund ist ein Jogger, der beim Überqueren einer Kreuzung von einem unachtsamen Autofahrer umgemäht wird und dabei einen Schädelbasisbruch erleidet? Kann eine Rollstuhlfahrerin gesund sein, wenn Joggen das Maß für Gesund ist? Was ist gesundes Essen? Die Ökotrophologie, die Ernährungswissenschaft, ändert gefühlt alle fünf Jahre ihre Meinung darüber, ob man mehr Fett oder mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen soll, wodurch diese Zunft für mich eher in den Bereich der Essensastrologie rutscht. 1991 hatte man mit einem Body-Mass-Index von 27 noch Normalgewicht, 2000 änderte die Weltgesundheitsorganisation die Definition und schwupps endete Normalgewicht bei einem Body-Mass-Index von 25, über Nacht wurden Millionen von Menschen übergewichtig. Gleichzeitig gibt es Studien, die nahelegen, dass Menschen mit einem Index von 27 die höchste Lebenserwartung haben.«
Genau hier liegt ein massives Problem: Die Kriterien für gesund und ungesund sind oft willkürlich definiert, doch diese Kriterien formen Realität in dem Moment, in dem sie in Algorithmen gegossen werden. 


Was schlussfolgert Lauer aus seiner kritischen Sichtweise auf diese Dinge?


»Es wird Zeit für eine Verbotsdiskussion über überwachungskapitalistische Praktiken. Es spricht viel dafür. Eine Verbotsforderung hat nichts mit German Angst oder Technikfeindlichkeit zu tun. Vorstöße wie der von Generali nutzen schlicht Gesetzeslücken und mangelnde Regelungen aus, weil kein Gesetzgeber einen solchen Wahnsinn vorhersehen kann. Selbst wenn 100-prozentige Datensouveränität möglich wäre, jeder also über jede Datenverarbeitung informiert werden würde, einwilligen müsste und Daten-Missbrauch im Einzelfall mit hohen Strafen belegt würde: Ein auch nur in Teilen auf Individualversagen aufgebautes Gesundheitssystem zerstört die Solidargemeinschaft. Es dient dazu, all jene auszusortieren, die nicht in die willkürliche Metrik eines Algorithmus passen. Generali geht es nicht um ein besseres Gesundheitssystem, es geht darum, Kosten zu minimieren und Gewinn zu maximieren.«

Foto: hamburg-fotos-bilder.de / pixelio.de  

Wenn Symbolpolitik von der Bürokratie mit Leben gefüllt wird. Die Termingarantie für Krankenkassenpatienten – ein weiteres trauriges Lehrstück aus der Rubrik „Heftpflaster-Politik“

Gesundheit ist für viele Bürger ein Thema, das bei ihnen ganz weit oben steht. Alles, was sich um Gesundheit dreht, wird höchst sensibel verfolgt und viele reagieren allergisch, wenn Sie den Eindruck haben, dass ihre Versorgung im Krankheitsfall eingeschränkt ist bzw. werden soll. Die Politik weiß das sehr genau und ist aus durchaus verständlichen Gründen gerne bereit, mit Symbolpolitik die emotionale Ebene zu bedienen. Genau als eine solche muss man die Ankündigung der Großen Koalition werten, den Kassenpatienten nach immer wiederkehrenden Berichten über tatsächlich oder angeblich sehr lange Wartezeiten für einen Termin bei einem Facharzt. Das regt viele Kassenpatienten auf, befeuert durch den Verdacht bzw. Berichte, dass Privatpatienten mal wieder besser gestellt sind. Vor diesem Hintergrund erkannte man in der Politik die Möglichkeit, diese Gefühlsebene mit einer knackig daherkommenden Idee – nämlich den Betroffenen einen Anspruch auf einen solchen Behandlungstermin innerhalb einer Vier-Wochen-Frist zu gewähren – zu adressieren und das dann auch noch gleich ohne eigene Kosten, denn die Rechnung für die Kosten der Umsetzung sollten praktischerweise andere, in diesem Fall die Kassenärztliche Vereinigungen bezahlen. Und jetzt starten die Gesetzgebungsbürokraten offensichtlich durch.

Ausgangspunkt für das, was sich vor unseren Augen abspielt, waren die Vereinbarungen zwischen den Unionsparteien und der SPD, die im Koalitionsvertrag festgehalten wurden. Dort findet sich auf der Seite 54 der folgende Passus:

»Für gesetzlich Versicherte wollen wir die Wartezeit auf einen Arzttermin deutlich reduzieren. Sie sollen sich zukünftig bei Überweisung an einen Facharzt an eine zentrale Terminservicestelle bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wenden können. Diese vermittelt innerhalb einer Woche einen Behandlungstermin. Für den Termin soll im Regelfall eine Wartezeit von vier Wochen nicht überschritten werden. Gelingt dies nicht, wird von der Terminservicestelle ein Termin – außer in medizinisch nicht begründeten Fällen – zur ambulanten Behandlung in einem Krankenhaus angeboten. Die Behandlung erfolgt dann zu Lasten des jeweiligen KV- Budgets. Diese Terminservicestellen können in Kooperation mit Krankenkassen betrieben werden.«

Die tun was für uns und gegen die ungerechte Warterei in bzw. vor den Arztpraxen, so die Botschaft an den Wähler. Im Sommer dieses Jahres gab es dann eine erste Diskussion über die Umsetzung dieses Vorhabens.

Mittlerweile gibt es einen Arbeitsentwurf für das „Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“, in dem auch die Termingarantie geregelt werden soll. Daneben gibt es in diesem geplanten Gesetz viele weitere (und wesentlich wichtigere) Punkte – beispielsweise die Fortschreibung der seit Jahren erkennbaren schrittweisen Lockerung der klassischen, tradierten Dichotomie der Versorgungslandschaft in Einzelpraxen niedergelassener Ärzte hier und Krankenhäuser dort (vgl. dazu Entwurf für ein neues Versorgungsgesetz kursiert in Berlin sowie Ein Gesetz für junge Ärzte). Gerade die weitere Ermöglichung von teamorientierten Versorgungsstrukturen sind wichtige und richtige Schritte zur Sicherung und Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen.

Aber für die „Termingarantie“ gilt das nicht. Bereits im Sommer dieses Jahres wurde das Thema kontrovers und ablehnend diskutiert. In dem Beitrag Kassenärzte: Lange Wartezeiten sind nur ein Komfortproblem konnte man beispielsweise lesen:

»Nach einer aktuellen Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen hat es nur jedem Zehnten bei seinem letzten Arztbesuch mit der Terminvergabe zu lange gedauert. Und drei von vier Patienten legen Wert darauf, im Fall des Falles von ihrem Wunsch-Facharzt behandelt zu werden und nicht von irgendeinem Mediziner, der ihnen von einer Terminvergabestelle vermittelt wird.«

Der Befragung der Versicherten kann man weitere Details entnehmen: »Der Studie zufolge, für die mehr als 6000 Bundesbürger befragt wurden, erhielten 62 Prozent der Patienten im vergangenen Jahr innerhalb von drei Tagen einen Arzttermin. Allerdings gaben auch 24 Prozent an, beim letzten Versuch länger als drei Wochen auf eine Behandlung beim Facharzt gewartet zu haben. Zudem belegt die Umfrage, dass es sich dabei vor allem um ein Problem der gesetzlich Versicherten handelt. Von den Privatpatienten mussten sich nur vier Prozent länger als drei Wochen gedulden.« Für eine längere Wartezeit kann es viele Gründe geben – von einer Unterversorgung vor Ort über Organisationsprobleme in den Praxen, aber auch der Tatsache, dass man sich mehr Zeit nimmt für die Behandlung bis hin zu einer Überinanspruchnahme seitens der Patienten. In der Berichterstattung und in der Wahrnehmung vieler Versicherter geht es aber – ob bewusst oder unbewusst – überwiegend um die Annahme, dass den Kassenpatienten bewusst Zugänge zu einer fachärztlichen Behandlung verwehrt werden.

Wie dem auch sei – nun soll sie also kommen, die „Termingarantie“ und der Aufbau einer neuen Infrastruktur in Form der Terminvergabestellen. Immerhin werden dann Arbeitsplätze geschaffen, könnte man zynisch anmerken.

Aber der Teufel treibt sich bekanntlich sehr gerne im Detail herum. In diesem Fall im Detail der gesetzgeberischen Umsetzung. Und was sagt jetzt der kursierende Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium?
Termingarantie wird aufgeweicht, berichtet Timot Szene-Ivanyi. Rudert man also schon zurück? Hat man erkannt, dass bei einer Umsetzung die Lebensweisheit „Außer Spesen nichts gewesen“ Realität werden wird? Wenn dem so wäre … Tatsächlich aber bläht man das zweifelhafte Unterfangen noch mehr auf, denn:

»Die Verpflichtung der geplanten ärztlichen Servicestellen, jedem gesetzlich Versicherten einen Termin beim Facharzt  mit einer Wartezeit von maximal vier Wochen zu vermitteln, soll lediglich unter bestimmten Voraussetzungen gelten … Danach muss die Vier-Wochen-Frist nur dann eingehalten werden, wenn eine Behandlung  innerhalb dieses Zeitraumes tatsächlich auch  „medizinisch erforderlich“ ist. Eine Terminvergabe innerhalb der vier Wochen ist nach der Gesetzesbegründung zum Beispiel dann nicht nötig, „wenn keine Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand ohne Behandlung verschlechtert oder eine längere Verzögerung zu einer Beeinträchtigung des angestrebten Behandlungserfolges führt“. In diesem  Fall müssen die Service-Stellen einen  Termin nur noch in einer „angemessenen Frist“ vermitteln.«

Oh mein Gott – jeder, der sich ein wenig auskennt, weiß, was das bedeutet bzw. bedeuten kann. Man führt also nicht nur die an sich schon fragwürdige „Termingarantie“ ein, sondern verschlimmbessert die auch noch. Denn wann ist eine Behandlung wirklich „medizinisch erforderlich“ und wann nicht? Und wer entscheidet darüber? Auf welcher Grundlage? Und muss dann der Betroffene nicht auch die Möglichkeit zum Widerspruch bekommen? Eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Gesetzgebungsausleger und -interpretierer tut sich hier auf. Auf alle Fälle » bekommen die Servicestellen, die von den Ärzten und ihren Verbänden ohnehin strikt abgelehnt werden,  einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Bearbeitung der Anfragen von Patienten.« Das ganze Unternehmen wird – sollte das Gesetz werden – erst frühestens zum Herbst 2015 wirksam werden können, denn die Ärzte und die KVen haben nach Verkündigung des Gesetzes (was für das Frühjahr 2015 geplant ist) sechs Monate Zeit, bevor sie die Servicestellen umsetzen müssen.

Und warum ist der ganze Ansatz grundfalsch? Weil den Versicherten vorgegaukelt wird, dass sich an ihrer Versorgung etwas verändert, das aber nicht nur nicht passieren wird, sondern zugleich befördert die Politik auch ein fragwürdiges Verständnis von solidarischer Versorgung bei einem Teil der Versicherten:

  • Zum ersten Punkt: Wie schon die Versichertenbefragung gezeigt hat, finden die Versicherten eine Termingarantie zwar toll, aber „selbstverständlich“ in Form eines Wunschtermins bei ihrem Wunscharzt. Wir können uns schon rein gedanklich vor Augen führen, was mit vielen Terminvorschlägen der „Servicestellen“ passieren wird, wenn die Betroffenen erfahren, dass sie zu einem ganz anderen, ihnen unbekannten Arzt gehen müssen. Und diese Termine mussten dann vorher zwischen Servicestelle und der Arztpraxis vereinbart werden, wobei viele Termine dann abgesagt oder nicht in Anspruch genommen werden. Und auch die wohlfeile Regelung, dass man – wenn es nicht gelingt , irgendeinen Termin bei irgendeinem Facharzt zu bekommen – in das Krankenhaus gehen kann und sich dort ambulant behandeln lassen kann, wird zu Begeisterungsstürmen on den Kliniken führen, die offensichtlich mit dem Problem nicht ausgelasteter Kapazitäten konfrontiert sind. Ironie aus.
  • Zum zweiten Punkt: Wenn man konsequent mit Blick auf das eigentliche Problem gewesen wäre, dann würde man die eben auch vorhandene problematische Verhaltensweise eines Teils der Versicherten/Patienten nicht einfach völlig ausschließen. Denn viele Arztpraxen berichten, dass oftmals vereinbarte Termine seitens der Patienten nicht wahrgenommen, aber auch nicht vorher abgesagt werden. Das führt dann dazu, dass es auf einmal Leerzeiten gibt in den Praxen bzw. diese reagieren darauf, in dem sie das antizipieren und „doppelt“ besetzt einladen, was allerdings zu erheblichen Wartezeiten in der Praxis führen kann, weil weniger Termine ausfallen, als man erwartet hatte. Letztendlich – ob bewusst oder unbewusst herbeigeführter Kollateralschaden – verstärkt man die teilweise mehr als problematische Anspruchshaltung eines Teils der Versicherten/Patienten.

Fazit: Einfach mal sein lassen, diese ressourcenfressenden Selbstbeschäftigungsschleifen als Folge einer „Pflaster-Politik“, die man nur als Aktivitätssimulation bezeichnen muss, die aber in der Konsequenz eine Menge Nerven und Arbeitszeit kosten wird und sich lieber der tatsächlichen Verbesserung oder wenigstens Sicherstellung des noch vorhandenen Leistungsangebots widmen. Und da gibt es wahrlich genug zu tun.

Foto: © Stefan Sell

Auslaufmodell Amtsarzt? Die Gesundheitsämter in einem besonderen Sandwich-Dilemma zwischen (eigentlich) mehr Aufgaben und (faktisch) weniger Personal

Der öffentliche Gesundheitsdienst steckt in einer mindestens dreifachen Falle: In einer Demografie-, einer Attraktivitäts- sowie einer Aufgabenfalle. Das ist eine zentrale Botschaft der Jahrestagung der beiden Bundesverbände der Ärzte und Zahnärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst, BVÖGD und BZÖG. Dabei sollte man sich bewusst sein, welche vielfältigen und überaus wichtigen Aufgaben im öffentlichen Gesundheitsdienst zukommen (sollten). Die älteren Semester werden sich rückblickend auf ihre Kindheit und Jugend daran erinnern, dass die ärztlichen bzw. zahnärztlichen Schuluntersuchungen für alle Kinder eines Jahrgangs beispielsweise in den 70er Jahren eine Selbstverständlichkeit waren. Das kann man heute – wen überrascht das jetzt – aufgrund von Personalmangel nicht mehr sagen. Darüber hinaus muss man darauf hinweisen, dass die Amtsärzte wichtige Funktionen in überaus sensiblen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausüben müssen, man denke an dieser Stelle nur an ihre Funktion im Bereich der Seuchenbekämpfung, bei der Frage einer Zwangsunterbringung oder im Bereich der frühen Hilfen, um nur drei Beispiele zu nennen.

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