Überlastet und unterfinanziert – die Notaufnahmen in vielen Krankenhäusern. Zugleich ein Lehrstück über versäulte Hilfesysteme. Und über einen ambivalenten Wertewandel

Das Gesundheitswesen in Deutschland ist a) in seiner faktischen Ausgestaltung nur historisch zu verstehen und b) nicht nur nach Einschätzung ausgewiesener Gesundheitspolitiker ein nicht-vergnügungssteuerpflichtiges „Haifischbecken“, im dem sich allerlei beißfreudige Interessengruppen tummeln, die ihre Reviere verteidigen. Man kann es auch so formulieren: Der Grad der „Versäulung“ der einzelnen Hilfesysteme ist im Gesundheitswesen immer noch sehr stark ausgeprägt und die Suche nach Ansatzpunkten für ein Aufbrechen der mit der Versäulung immer auch verbundenen Abschottung einzelner Leistungssegmente – man denke an dieser Stelle nur an die Versuche der Einführung einer „integrierten Versorgung“ an der Schnittstelle ambulant und stationär – füllt ganze Archive. Es wurde bereits angedeutet – die „Schnittstelle“ zwischen der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung war und ist heftig umstritten.

In der Idealwelt geht das so: Die niedergelassenen Vertragsärzte sind für die ambulante, sowohl haus- wie auch fachärztliche Versorgung zuständig. Und dazu gehören eigentlich auch Hausbesuche und vor allem die Sicherstellung der ambulanten Versorgung an Wochenende oder an Feiertagen. Dafür gibt es dann einen – regional immer noch sehr unterschiedlich organisierten – ärztlichen Bereitschaftsdienst, den die niedergelassenen Ärzte bestücken müssen. Entweder selbst oder dadurch, dass die Dienste an Ärzte vergeben werden, die das auf Honorarbasis machen. Aber neben diesen Bereitschaftsdiensten der niedergelassenen Ärzte gibt es dann auch noch die Notaufnahmen der Krankenhäuser, die rund um die Uhr geöffnet sind. Nun könnte man auf die Idee kommen, dass die beiden Hilfesysteme eigentlich nichts miteinander zu tun haben und für die Idealwelt würde das auch gelten, denn die Notaufnahmen der Kliniken wären hier zuständig für Unfallopfer oder schwerere Erkrankungen, während alle leichten und mittelschweren Fälle zu den Niedergelassenen gehen. Aber bekanntlich leben wir nicht in einer Idealwelt.

Und in der Realwelt wird man dann mit solchen Aussagen konfrontiert: „Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind vielerorts stark überlastet und absolut unterfinanziert. Sie werden immer stärker zum Lückenbüßer für die eigentlich zuständigen Bereitschaftsdienste der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und dabei durch die Vergütungsregelungen der KVen und Krankenkassen sowie einen 10-prozentigen gesetzlichen Investitionsabschlag auch noch diskriminiert“, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, anlässlich der Veröffentlichung eines Gutachtens zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus. Das teilt uns die Deutsche Krankenhausgesellschaft in einer Pressemitteilung mit, unter der Überschrift Milliarden-Defizit bei ambulanter Notfallversorgung.

Das angesprochene Gutachten kann man hier im Original einsehen:

MCK/DGINA: Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse – der Management Consult Kestermann GmbH (MCK) erstellt in Kooperation mit der Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e. V. (DGINA), Hamburg, 17.02.2015

»Bislang sei es bloße Fiktion, dass niedergelassene Ärzte alles regeln. Von den jährlich in Notaufnahmen der Kliniken versorgten 20 Millionen Patienten werden der DKG zufolge mehr als zehn Millionen ambulant versorgt. Ein Drittel der allgemeinen Notfallbehandlungen sei problemlos in ambulanten Praxen lösbar, so Baum. Allerdings gebe es offensichtlich Terminschwierigkeiten im KV-Bereich oder geeignete Anlaufstellen fehlten«, so Martina Merten in ihrem Artikel „Notaufnahmen werden zum Lückenbüßer“.

»Einem durchschnittlichen Erlös von 32 Euro pro ambulantem Notfall stünden Fallkosten von mehr als 120 Euro gegenüber. Mehr als 10 Millionen ambulante Notfälle mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall führten zu 1 Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten,« so die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf der Basis der Erkenntnisse aus dem Gutachten. Wie sind die Gutachter zu diesen Werten gekommen?

»Für das Gutachten, das die Management Consult Kestermann GmbH erstellt hat, stellten 55 Krankenhäuser Kosten- und Leistungsdaten von 612.070 ambulanten Notfällen zur Auswertung bereit. 37 Krankenhäusern machten fallbezogene Angaben zu den Erlösen. Hiernach betrugen die Fallkosten für einen ambulanten Notfall im Schnitt 120 Euro. Dem stand ein durchschnittlicher Erlös von 32 Euro gegenüber«, so Martina Merten in ihrem Bericht über die Studie, der in der Online-Ausgabe der Ärzte Zeitung erschienen ist. Aus diesen Angaben hat man dann bundesweit hochgerechnet.

Interessant sind die Ausführungen zu der Struktur der Behandlungen in den Notfallaufnahmen der Krankenhäuser, die man der Studie entnehmen kann:

»Die Aufnahmequote, d. h. der Anteil der Patienten in den Notaufnahmen, der vollstationär aufgenommen wird, beträgt durchschnittlich 38%. Weitere 10% der Notfallpatienten entfallen auf vorstationäre oder andere Behandlungsformen. Durchschnittlich 52% der Patienten werden ambulant versorgt, davon werden 80% gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigungen, 12% gegenüber den Berufsgenossenschaften und 8% privatärztlich abgerechnet. Die Notfallquote des gesamten Krankenhauses, d. h. der Anteil aller vollstationären Patienten des Krankenhauses, die über die Notaufnahmen aufgenommen werden, beträgt 51%. Im Vergleich zum Jahr 2012 verzeichneten die Notaufnahmen für das Jahr 2013 eine Fallzahlsteigerung von insgesamt 6%, die ambulanten Notfallbehandlungen gesetzlich versicherter Patienten nahmen sogar um 9% zu … Die Auswertung der Angaben zeigt, dass der allgemeine Kassenärztliche Bereitschaftsdienst nur eingeschränkt verfügbar ist. Mehr als zwei Drittel der Krankenhäuser geben an, dass die Öffnungszeiten der Notfallpraxen weniger als die Hälfte der sprechstundenfreien Zeiten abdecken. Ein fachspezifischer Bereitschaftsdienst wird vereinzelt zur Verfügung gestellt.« (MCK/DGINA 2015: 4-5)

Die Interessenvertretung der deutschen Krankenhäuser, die DKG, beklagt neben der „Kostenfalle“ auch die „Unterversorgung“ seitens des Bereitschaftsdienstes der niedergelassenen Ärzte: »Die ambulante Notfallversorgung werde schon lange nicht mehr durch die KVen sichergestellt, obwohl diese dafür zuständig seien. Selbst dort, wo Notfalldienste von den KVen organisiert seien, gingen die Patienten in die Ambulanzen der Krankenhäuser. Die Auswertung der Behandlungsfälle zeige, dass ein Drittel der Patienten von niedergelassenen Ärzten versorgt werden könnte. Viele Patienten suchten die Notaufnahmen der Krankenhäuser auf, weil im vertragsärztlichen Bereich kein geeignetes oder ausreichendes Versorgungsangebot für Notfälle vorhanden sei«, so die These der DKG in ihrer Pressemitteilung. Hier wird also die Überinanspruchnahme der Notfallaufnahmen der Kliniken auf eine defizitäre Ausgestaltung des eigentlich zuständigen Versorgungssystems zurückgeführt. Das kann und wird teilweise so sein – wobei die Ausgestaltung der Notdienste der Niedergelassenen sehr unterschiedlich ist. So gibt es Regionen, in denen die Bereitschaftsdienstzentralen nur an den Mittwoch Nachmittagen sowie an den Wochenenden ab Freitag Mittag besetzt sind, nicht aber unter der Woche nachts. In anderen Regionen ist das wieder anders organisiert.

Aber es gibt natürlich auch noch eine andere These, die es zu diskutieren lohnt und die abstellt auf den im Titel dieses Blog-Beitrags genannten „ambivalenten Wertewandel“. So könnte ein Aspekt des Wertewandels darin bestehen, dass die Ansprüche der Patienten deutlich gestiegen sind und sie die aus ihrer subjektiven Sicht optimale Behandlung haben wollen, die sie eher im Krankenhaus vermuten als beim ärztlichen Bereitschaftsdienst der Vertragsärzte, wo möglicherweise ein völlig fachfremder Arzt alle Patienten behandeln (oder dann doch weiterschicken) muss, während man im Krankenhaus die Erwartung haben kann, dass je nach Indikation gleich der „richtige“ Facharzt konsultierbar ist. Insofern würde die Nicht-Inanspruchnahme auch bei grundsätzlich vorhandener Infrastruktur stattfinden.

Die angesprochene Ambivalenz des Wertewandels bezieht sich darauf, dass es – folgt man vielen Berichten aus der Praxis – eine durchaus frag- oder zumindest diskussionswürdige Verschiebung der Inanspruchnahme einer Notfallaufnahmeeinrichtung bei einem Teil der Patienten gegeben hat hin zu einer Nutzung auch bei Beschwerden, die nun sehr weit weg sind von einem Notfall und wo man auch warten könnte auf die normalen Praxisöffnungszeiten. Teilweise kommen die Patienten in die Notfalleinrichtungen, um ansonsten aufzubringende Wartezeiten bei den normalerweise dafür zuständigen Haus- und Fachärzten zu umgehen. Und ebenfalls müsste man zu dieser problematischen Seite des Wertewandels auch die in letzter Zeit immer wieder vorgetragenen Berichte über völliges Fehlverhalten der Patienten und ihrer Angehörigen in den Notaufnahmen gegenüber dem dortigen Personal zählen (vgl. dazu nur als ein Beispiel aus der aktuellen Berichterstattung den Artikel Krankenhäuser klagen über Randale in Notaufnahmen). Allerdings soll dieser unangenehme Zweig hier nicht weiter verfolgt werden, auch weil es derzeit nicht erkennbar ist, ob es sich um lokale, punktuelle Phänomene handelt oder aber um ein tatsächlich zunehmendes Problem.

Was könnte man tun, um die beschriebenen Probleme zumindest zu verringern? In einigen Regionen gibt es das bereits seit längerem, was die Gutachter in ihrer Studie in den Schlussfolgerungen empfehlen: »Würden … regelmäßig Notfallpraxen der KV an Krankenhäusern eingerichtet und durch Vertragsärzte durchgehend außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten besetzt, könnten sich somit schätzungsweise 33 % der ambulanten Notfallpatienten anstatt in den Notaufnahmen der Krankenhäuser in den am gleichen Ort befindlichen Notfallpraxen der KV vorstellen. In Abhängigkeit der Gebietsbezeichnungen, der am organisierten Notfalldienst teilnehmenden Vertragsärzte, eventuell sogar etwas mehr« (MCK/DGINA 2015: 76).

Man könnte natürlich auch so eine Position vertreten: »Nach Ansicht von Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes, müssen die teuren Überkapazitäten der Kliniken dringend abgebaut werden – dann sei die stationäre Versorgung auch finanzierbar«, so Martina Merten in ihrem Artikel. Na klar, die Notaufnahmen der Kliniken laufen über und man baut Kapazitäten ab, dann können die Patienten auch nicht mehr in die Notaufnahme gehen. Das hat schon seine eigene bestechende Logik.

Der Kapitalismus macht depressiv! Aber ist das wirklich so? Oder liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte?

Es ist eine dieser großen und auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbaren, plausiblen Erzählungen unserer Tage: Immer mehr Menschen werden durch die Bedingungen, denen sie in der modernen Arbeitswelt ausgesetzt sind, in den Burnout getrieben, viele schaffen es nicht, bis zum gesetzlichen Rentenentrittsalter durchzuhalten und werden – oftmals und in zunehmenden Maße – aus „psychischen Gründen“ als Erwerbsunfähige frühverrentet. Sichtet man die vielen Beiträge aus den letzten Jahren, dann kann sich der Eindruck verfestigen, wir leben in einer „erschöpften Gesellschaft“.
Das Thema hat selbst die Philosophie erreicht. Gleichsam paradigmatisch hierfür die Überlegungen von Byung-Chul Han, geboren in Südkorea, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin: Wie der Kapitalismus uns zu Selbstausbeutern macht, so lautet beispielsweise einer seiner Beiträge. Er hebt das Thema auf eine ganz große Bühne: »Die psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit. Sie sind ein pathologisches Zeichen, dass heute die Freiheit vielfach in Zwang umschlägt … Die perfide Leistungslogik … führt am Ende zum Kollaps. Wir denken, wir verwirklichen uns, wir optimieren uns, aber in Wirklichkeit beuten wir uns aus. Wogegen könnten wir protestieren? Es gibt ja niemanden, der mich zur Arbeit zwingt. Ich beute mich ja aus freien Stücken aus. Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet.« Das sind Worte, die vielen kritischen Geistern aus der Seele sprechen werden und ist es nicht zugleich ein Thema, das sich durch die Arbeitenvon Marx über Freud und die Frankfurter Schule bis hin zu den Beiträgen des jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck – um nur einige wenige zu nennen – zieht? Und auch aus einer ganz anderen Perspektive: Kennt nicht jeder von uns Beispiele von Menschen, die an der modernen Arbeitswelt verzweifelt sind, die schweren Schaden genommen haben?

Und zeigen nicht die Daten eindeutig eine enorme Ausbreitung der psychischen Erkrankungen sowie der durch sie verursachten nicht nur individuellen, sondern auch ökonomischen Schäden? »Wegen ihrer Psyche lassen sich deutsche Arbeitnehmer immer länger krankschreiben. Die Unternehmen kostet das Milliarden«, so beispielsweise Rainer Woratschka in seinem Artikel Depression wird zur Volkskrankheit. Es geht hier nicht um „die“ psychischen Erkrankungen, sondern um „nur“ um die Depressionen. Und es sind beunruhigend daherkommende Zahlen, von denen berichtet wird: Von 2000 bis 2013 sind Fehlzeiten aufgrund von Depressionen um fast 70 Prozent gestiegen. Der Anteil der Erwerbspersonen, die Antidepressiva verschrieben bekamen, hat im gleichen Zeitraum um ein Drittel auf sechs Prozent zugenommen. Diese Daten stammen aus einer Sonderauswertung der Techniker Krankenkasse (TK), die als „Depressionsatlas 2015“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (vgl. Techniker Krankenkasse (Hrsg.): Depressionsatlas – Auswertungen zu Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen, Hamburg 2015).

Eigentlich sind nur wenige davon betroffen – 1,6 Prozent der Menschen bekamen eine Krankschreibung mit der Diagnose „Depression“. Die, die es trifft, fallen aber sehr lange aus, im Durchschnitt 64 Tage. Das heißt, es ist eine sehr langwierige Erkrankung für den Patienten, verbunden mit hohen Ausfallzeiten für die Betriebe. 1,6 Prozent der Fälle waren dadurch für 7,1 Prozent aller gemeldeten Fehltage verantwortlich. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, erläutert die Auswirkungen auf der betrieblichen Ebene an einem Rechenbeispiel:

»Für ein Unternehmen mit 250 Mitarbeitern bedeutet dies, dass durchschnittlich vier ihrer Beschäftigten gut zwei Monate im Jahr fehlen. Berücksichtigt man noch den Urlaubsanspruch, bleibt also mindestens ein Arbeitsplatz allein aufgrund von Depressionen unbesetzt.«

Interessant ist natürlich ein differenzierender Blick auf die Zahlen – und da scheint es Hinweise zu geben, mit der sich die eingangs skizzierte These von der krankmachenden Arbeitswelt heute scheinbar belegen lässt: »Betroffen sind laut TK vor allem Berufe mit einem hohen Stresslevel und einer großen psychischen Belastung wie im Callcenter (2,8 Tage), in der Altenpflege (2,5), in Erziehungs- (1,6) sowie Sicherheitsberufen (1,4).« Das wurde aufgegriffen: Branchenspezifische Unterschiede legen nahe, dass Arbeitsbedingungen die Krankheit beeinflussen, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Fremdbestimmt im Job: »Ein hohes Stresslevel, wenig Selbstbestimmtheit und die prompte Reaktion auf die Bedürfnisse anderer: Das haben Berufe im sogenannten Dialogmarketing, also im Callcenter, in der Altenpflege und der Kinderbetreuung gemeinsam. Und noch eins – Beschäftigte dieser Branchen sind besonders häufig wegen der Diagnose Depression krankgeschrieben.«

Es gibt allerdings weitere Differenzierungen, die man aus den Daten ableiten kann und muss – zum einen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen den Altersgruppen sowie zum anderen zwischen Regionen: »Frauen sind mit durchschnittlich 1,3 Tagen deutlich mehr aufgrund von Depressionen krankgeschrieben als Männer mit durchschnittlich 0,8 Tagen. Zudem nehmen die Fehlzeiten mit dem Alter deutlich zu. Erst ab dem 60. Lebensjahr sind die Werte wieder rückläufig«, so die TK. Und der Unterschied zwischen den Regionen hat es sogar in die Überschrift dieses Artikels gebracht: Hamburger bleiben am häufigsten mit Depression zuhause: »Hamburg hat 2013 demnach bundesweit die höchsten Fehlzeiten aufgrund von Depressionen verzeichnet. Dort entfielen demnach auf eine Erwerbsperson im Durchschnitt 1,42 Fehltage mit der Diagnose Depression. Auch in Schleswig-Holstein und Berlin lag der Anteil der arbeitsunfähig geschriebenen Versicherten um mehr als zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Baden-Württemberg wies dagegen mit durchschnittlich 0,84 Fehltagen die geringsten Fehlzeiten aufgrund dieser psychischen Erkrankung auf. Auch Bayern und Sachsen lag bei den durch Depression verursachten Fehltagen um rund zehn Prozent oder noch mehr unter dem Bundesdurchschnitt.« Bereits an dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen: Sind die Arbeitsbedingungen in Hamburg so viel krankmachender als in Baden-Württemberg, wenn man denn die Hauptthese im Kopf hat, dass es die kapitalistischen Bedingungen sind, die depressionsverursachend wirken.

Auch Martin Dornes und Martin Altmeyer stellen die Frage: Macht der Kapitalismus depressiv? Aber ihre klare Antwort, garniert mit einem Vorwurf, folgt sogleich: »Nein. Die gängige Sozialkritik ignoriert die empirischen Befunde.« Und ihre Gegenargumentation geht so:

»Wissenschaftliche Untersuchungen, mit denen die Verbreitung von Krankheiten ermittelt wird, sogenannte epidemiologische Studien, zeigen zwischen 1947 und 2012 keinen Anstieg von Depressionen und anderen psychischen Störungen. Es gibt keine konsistenten Belege dafür, dass diese Erkrankungen zugenommen hätten – weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Ärzte diagnostizieren heute jedoch häufiger psychische Störungen. Die ärztliche Praxis hat sich also verändert, aber nicht die Gesundheit der Menschen.«

Warum passiert das? Warum werden heute häufiger psychische Störungen diagnostiziert? Zum einen sehen sie das Wirken bestimmter Konjunkturen bzw. Moden gesellschaftlicher Thematisierung. Allein die öffentliche Aufmerksamkeit für einzelne Krankheitsbilder kann ihr tatsächliches oder vermeintliches Auftreten beeinflussen. Darüber hinaus identifizieren sie drei wesentliche Gründe:

»Erstens wurden psychische Erkrankungen früher oft nicht erkannt, als körperliche Erkrankungen fehldiagnostiziert oder als Schicksalsschlag hingenommen. Hinter dem Anstieg der Diagnosen verbirgt sich zum Teil also die wünschenswerte Aufhellung eines Dunkelfeldes. Zweitens ist die Bereitschaft gewachsen, auch Befindlichkeitsstörungen in Krankheiten umzucodieren, weil sich unsere Sensibilitäten und Maßstäbe für seelische Gesundheit gewandelt haben. Drittens hat sich auch die medizinisch-psychiatrische Erhebungsmethodik verändert. Zwischen 1952 und 2014 hat sich die Zahl der unterschiedlichen Krankheitsbefunde, die ein Arzt oder Psychologe nach dem Diagnostischen Manual für psychische Krankheiten feststellen kann, nahezu vervierfacht, nämlich von 106 auf 400. Zugleich wurden die Schwellenwerte, ab denen Symptome eine Erkrankung belegen sollen, gesenkt.«

Den letzten Punkt illustrieren die beiden Autoren an einem Beispiel: »Um zum Beispiel bei einem Patienten eine Depression zu diagnostizieren, musste 1980 eine bestimmte Anzahl von Symptomen wie gedrückte Stimmung oder Schlafstörungen ein Jahr lang anhalten. Von 1994 an reichten für die gleiche Diagnose bereits zwei Monate mit Symptomen, und seit 2014 sind es nur noch zwei Wochen.« Das ist natürlich krass. Ein Jahr ist sicher viel zu lange, aber offensichtlich hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn zwei Wochen ist viel zu kurz.

Ein weiterer Aspekt, den Gesundheitsökonomen als Problem der angebotsinduzierten Nachfrage gut bekannt: versorgungsbedingte Verzerrungen. Dornes und Altmeyer dazu: »So besteht zum Beispiel ein gut belegter Zusammenhang zwischen der Versorgungsdichte und der Diagnosehäufigkeit. Die Stadt Würzburg etwa weist bundesweit die höchste Zahl an Kinderpsychiatern auf – und die höchste Zahl an ADHS-Diagnosen. Glauben wir deshalb, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität kämen dort wirklich häufiger vor als beispielsweise in Hamburg oder Berlin?«
Und dann feuern die beiden noch eine Salve ab gegen die Untergangspropheten, die nur die – allerdings vorhandene – destruktive Seite des Kapitalismus betonen:

»Die Suizidraten haben seit 1980 abgenommen, die Tötungsdelikte ebenfalls. Dagegen hat die subjektive Lebenszufriedenheit in drei Vierteln von 52 untersuchten Ländern, in denen entsprechende Studien durchgeführt wurden, zwischen 1981 und 2007 zugenommen. Da dieser Zeitraum mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus zusammenfällt, sollte die antikapitalistisch argumentierende Globalisierungskritik einmal innehalten. Anscheinend überwiegen die positiven Folgen ökonomischer und gesellschaftlicher Modernisierung deren negative Folgen, jedenfalls in der Mehrheit der untersuchten Länder.«

Man muss diese positive Sichtweise auf die gesellschaftliche Entwicklung nicht in toto teilen, aber man sollte solche Befunde nicht einfach negieren.

Einen kritischen Blick auf die These von einer Zunahme der Depressionen und die dann auch noch arbeitsweltbedingt wirft auch Saskia Gerhard in ihrem Artikel Depressionen werden sichtbarer, nicht häufiger. Neben vielen anderen Argumenten sei hier ein Passus zitiert, der anschließt an den eingangs gegebenen Hinweis auf die stark steigende Zahl an Menschen, die frühverrentet werden mit Bezug auf psychische Erkrankungen:

»Den Trend, dass die Zahl der diagnostizierten Depressionen zunimmt, bestätigten die neuen Zahlen – vor allem unter Frührentnern. „Vor 30 Jahren erfolgten acht Prozent der Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen, jetzt sind es mehr als 40 Prozent“, sagt Psychiater Hegerl. Mehr Depressive als früher gäbe es vermutlich nicht. In jedem Fall werden derartige Erkrankungen häufiger erkannt und behandelt. Auch würden solche Krankheitsbilder seltener hinter Diagnosen wie chronischem Rückenschmerz, Tinnitus oder Kopfschmerz versteckt.«

Fazit: Auf keinen Fall kann man Entwarnung geben, vor allem auch unter Berücksichtigung des Leids der einzelnen betroffenen Menschen, aber für eine gesellschaftspolitische Dramatisierung liefern die Daten auch keine Fundierung. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wieder einmal irgendwo in der Mitte.

Der föderale Berg kreißte und gebar eine … Krankenhaus-Reform. Ist das (mehr als) eine Reform-Maus?

Seit Monaten hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine Reform des stationären Sektors vorbereitet. Nunmehr liegen die Eckpunkte zur Krankenhausreform 2015 vor und man kann erkennen, in welche Richtung die Reise gehen soll, auf die man die Krankenhäuser schicken will – bzw. die, die noch übrig bleiben werden. Bereits ein erster Blick auf die Berichterstattung in den Medien vermittelt einen Eindruck von der geplanten Ausrichtung der Kliniklandschaft in Deutschland: Weniger Betten, mehr PersonalSchlechte Kliniken sollen weniger Geld bekommen oder Markt statt Plan. Auch zunehmend kritische Stimmen mischen sich in den Reigen der Artikel: Länderchefs sehen sich als Gewinner oder Ein Mega-Projekt mit vielen Haken. Im letztzitierten Artikel findet sic der folgende Passus: »Die Bund-Länder-Eckpunkte der Krankenhausreform belegen: Die Beharrungskräfte des föderalen Systems in der Gesundheitspolitik zehren am Reformwillen. Die Länder führen den Bund am Nasenring durch die Arena.« Und in dem Artikel „Wir haben den großen Wurf nicht geschafft“ heißt es: »Eine große Klinikreform sollte auf den Weg gebracht werden. Aber die auseinanderdriftenden Interessen von Bund und Ländern haben nur vorsichtig Veränderungen angestoßen. Das räumt auch CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn ein.«

Aber schauen wir uns in einem ersten Schritt einmal die wichtigsten Komponenten der nunmehr in ihren Grundzügen vereinbarten Krankenhausreform an:

  • Bereits im Entwurf des Koalitionsvertrages war er enthalten, wurde dann aber vor der Ziellinie wieder rausgestrichen, um jetzt – gleichsam durch die Hintertür – wieder aufzuerstehen: Der Strukturfonds, mit dem der Abbau von Überka­pazitäten, die Konzentration von Krankenhausstandorten sowie die Umwandlung von Krankenhäusern in nicht-akutstationäre lokale Versorgungseinrichtungen gefördert werden soll. Hierzu stellt der Bund 500 Mio. Euro aus dem Gesundheitsfonds (also aus Mitteln der Beitragszahler) zur Verfügung, wenn die Bundesländer ebenfalls die gleiche Summe, also weitere 500 Mio. Euro in den Topf werfen. Damit stehen folglich eine Milliarde Euro zur Verfügung. Die Krankenkassen können mitreden und nicht verausgabte Mittel können von den anderen Bundesländern abgerufen werden. Mit diesem Instrumentarium soll also der bereits ablaufende Prozess des Abbaus von Krankenhauskapazitäten vorangetrieben werden, während man gleichzeitig aber vor dem Problem steht, gerade in den ländlichen Regionen eine Basisversorgung aufrechterhalten zu müssen. Dafür will man nun endlich etwas zum Leben erwecken, was im neuen Krankenhausfinanzierungssystem schon von Anfang an angelegt war: Künftig sollen Sicherstellungszuschläge für die Vorhaltung von Kapazitäten gezahlt werden, die aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs mit den Fallpauschalen nicht kostendeckend finanzierbar, aber zur Versorgung der Bevölkerung notwendig sind.
  • Ein ganz großer Brocken kann subsumiert werden unter dem Begriff Qualität, wobei man das besser in Anführungszeichen setzen sollte, denn was genau nun gute oder schlechte Qualität im Krankenhausbereich ist und von wem und durch was die generiert wird, ist gar nicht so einfach, wie man beim ersten Hinschauen vermuten mag. Wichtigster Punkt: Es soll  eine qualitätsorientierte Vergütung in die stationäre Versorgung eingeführt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) soll bis zum 31.12.2016 einen Katalog von Leistungen erstellen, für deren Erbringung Zuschläge oder Abschläge vorzusehen sind. Der G-BA soll bis zum 31.12.2016 Qualitätsindikatoren zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität erarbeiten, die die Bundesländer als ihrer Krankenhausplanung nutzen können. Die Länder können jedoch auch eigene Indikatoren verwenden. Ebenfalls bis zum 31.12.2016 soll der G-BA vier planbare Leistungen festlegen, für die Krankenkassen und Krankenhäuser sogenannte Qualitätsverträge abschließen sollen. Hier geht es also erst einmal um den vorsichtigen Einstieg in eine Erprobung. Und schlussendlich gehört an dieser Stelle auch noch erwähnt: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) soll Krankenhäuser künftig unangemeldet kontrollieren können, um zu prüfen, ob die Häuser die Qualitätsvorgaben einhalten. Sicher wird der eine oder die andere fragen, wer den die überaus schwierige Frage beantworten soll, was gute und schlechte Qualität ist. Dazu wird eine neue Institution geschaffen: Das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen wurde bereits im Juni 2014 formal eingerichtet und soll 2015 seine Arbeit aufnehmen.
  • Eine für viele, die Bescheid wissen über die Situation in den meisten Krankenhäusern, zentrale Frage lautet: Wird es durch die Reform mehr Arbeitskräfte – vor allem in der Pflege – geben? Im Prinzip ja, so muss man antworten: Bund und Länder wollen ein Pflegestellenförderprogramm in Höhe von 660 Millionen Euro mit einer Laufzeit über drei Jahre einrichten. Damit sollen ausschließlich Pflegekräfte eingestellt werden, die „am Bett“ arbeiten. Die Kliniken müssen sich mit einem Eigenanteil von 10% beteiligen und der Nachweis der Mittelverwendung soll durch Testate von Wirtschaftsprüfern erfolgen. Für die Zeit nach den drei Jahren hofft man auf eine „Anschlussregelung“. Gleichzeitig versucht man Zeit zu gewinnen, in dem eine Expertenkommission prüfen, bis Ende 2017 prüfen soll, ob im DRG-System ein erhöhter Pflegebedarf von demenzkranken, pflegebedürftigen und behinderten Patienten sachgerecht abgebildet ist.
  • Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass man Maßnahmen zur Mengensteuerung von der Landesebene (heute durch die Absenkung des Landesbasisfallwerts, was dann alle trifft) auf die Ebene der einzelnen Krankenhäuser verlagern will. Allerdings erst „ab 2017“. Wieder Zeit gewonnen.
  • Bekanntlich haben wir schon seit nunmehr zehn Jahren ein neues Krankenhausfinanzierungssystem. Durch das Fallpauschalengesetz (FPG) vom 23. April 2002 wurden die diagnosebezogenen Fallpauschalen eingeführt. Dies war ab 2003 freiwillig anwendbar und ab 2004 verpflichtend. Der damalige Systemwechsel bestand darin, sich von den tagesgleichen, krankenhausindividuell vereinbarten Pflegesätzen zu verabschieden in Richtung auf ein ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystems. Aber alle Pauschalierung steckt in einem letztendlich nicht lösbaren Grunddilemma fest. Wenn die Pauschalierung der Vergütung der Krankenhausleistungen auf der Basis von durchschnittskostenkalkulierten Fallpauschalen basiert, dann sieht der gut aus, dessen Kosten unter dem Durchschnitt lagen und liegen, während der mit höheren Kosten in die Röhre schauen und Verluste machen muss. Und wenn er das nicht wirklich beseitigen kann, beispielsweise weil er in einer ländlichen Region als Krankenhausträger die gesamte Palette an Grundversorgungsleistungen vorhalten muss, auch wenn diese nicht ausgelastet werden können aufgrund der realen Fallzahl, dann muss man entweder den Betrieb wegen dauerhaft roter Zahlen einstellen oder aber man bekommt diese Sonderfunktionalität gegenfinanziert. Genau das war schon im Fallpauschalensystem angelegt und soll nun Realität werden: Künftig sollen Sicherstellungszuschläge für die Vorhaltung von Kapazitäten gezahlt werden, die aufgrund des geringen Versorgungsbedarfs mit den Fallpauschalen nicht kostendeckend finanzierbar, aber zur Versorgung der Bevölkerung notwendig sind. Und wenn man schon dabei ist, dann versucht man die größten Löcher im bestehenden Fallpauschalensystem gleich mit zu stopfen: Für die Notfallversorgung soll es Zuschläge geben und für Zentren, in denen sich viele schwere und damit kostenträchtige Fälle häufen. Dazu gehören naturgemäß die Universitätskliniken, die dann zusätzlich auch noch Zuschläge für „besondere Qualität“ bekommen sollen. Und auch das ist interessant und lässt zugleich tief blicken, was die „durchschnittskostenkalkulierten Fallpauschalen“, die ja möglichst genau den wahren Aufwand abbilden sollen, angeht: Die Kalkulation der Fallpauschalen durch das Institut für das Entgeltsystem im Kranken­haus (InEK) soll künftig anhand von repräsentativ ausgewählten Krankenhäusern erfolgen. Das muss man zweimal lesen: Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme an der Kalkulation hat man bisher mit Daten gearbeitet, die nicht alle und auch nicht wenigstens einen repräsentativen Querschnitt der Kliniken abbilden. Das will man also ändern. Aber nicht zu schnell, denn erst einmal geht es jetzt darum, dass das InEK ein „praktikables Konzept für eine repräsentative Kalkula­tionsgrundlage“ erarbeiten soll. Das kann naturgemäß dauern.

Was fehlt eigentlich in diesem bunten Strauß an Maßnahmen?

An erster Stelle wäre hier zu nennen, dass man zwar ein „Pflegestellenförderprogramm“ in Aussicht stellt, aber das muss vor dem Hintergrund des Abbaus von mehreren zehntausend Pflegestellen in den zurückliegenden Jahren gesehen werden. Zentrale Kritik wäre hier: Notwendig wäre eigentlich eine gesetzliche Vorgabe der Mindest-Pflegepersonalbesetzung in den Krankenhäusern, was den pflegerischen Bereich angeht. Genau darum wollte man sich wieder einmal herumdrücken, denn dann wäre offensichtlich geworden, welche Mangelsituation wir derzeit gerade in der Pflege haben. Und das würde teuer werden, wesentlich teurer als das, was jetzt in Aussicht gestellt wird. Das neue Programm ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. »Denn hochgerechnet können damit nicht einmal 15.000 Pflegekräfte finanziert werden – für ein Jahr. Laut ver.di fehlen in den Krankenhäusern bundesweit aber 162.000 Beschäftigte, davon 70.000 in der Pflege«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Markt statt Plan. Das muss auch vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass sich die Realität in den Kliniken seit der schrittweisen Einführung des Fallpauschalensystems ganz erheblich gewandelt hat, was man auch der Abbildung am Anfang des Artikels entnehmen kann. Die Fallzahlen sind stetig gestiegen, die Zahl der Krankenhäuser und der Betten gesunken – und vor allem die Verweildauer hat erheblich abgenommen. Das war ja auch eine der zentralen Zielsetzungen der Finanzierungsreform. Aber das hat eben auch dazu geführt, dass die Pflegeintensität der Menschen, die in den Kliniken sind, ganz erheblich zugenommen hat. Kurz gesagt: Immer kürzer, immer pflegeaufwändiger. Und der Personalschlüssel wurde „natürlich“ nicht entsprechend angehoben. Deshalb gehen so viele Pflegekräfte auf dem Zahnfleisch – eine parallele Entwicklung haben wir auch gesehen in der stationären Altenpflege.

Die skizzierten Elemente der Krankenhausreform 2015 sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht mehr – so die Einschätzung nicht von irgendjemanden, sondern von Jens Spahn, dem gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – vgl. hierzu „Wir haben den großen Wurf nicht geschafft“. »Ein großes Manko sieht Spahn beim Thema Investitionsfinanzierung. Da hätte er sich mehr gewünscht als das Festschreiben des Investitionsniveaus auf dem aktuellen Stand.« Damit spricht er ein zweites großes Defizit an – und verweist auf die weiterhin ungelöste föderale Baustelle innerhalb des Krankenhausfinanzierungssystems. Konkret geht es um die Defizite der dualen Krankenhausfinanzierung. Vereinfacht gesagt sollte es so sein: Die Krankenkassen finanzieren die laufenden Betriebskosten, die Bundesländer finanzieren die Investitionen der von ihnen in den jeweiligen Krankenhausplan aufgenommenen Kliniken. Nur funktioniert diese Dualistik nicht wirklich, vor allem, weil die Bundesländer schlichtweg zu wenig Geld für die Investitionen zur Verfügung gestellt haben. Mit der Folge, dass die deutschen Kliniken vor einem Investitionsstau in zweistelliger Milliardenhöhe stehen. Und das wird von Jahr zu Jahr schlimmer (und unterm Strich auch immer teurer).

Ein Fazit kann man auch so formulieren:

„Im Moment gehen wir von der Auffassung aus, dass die vielen kleinen Schräubchen etwas ändern. Da bin ich mir aber nicht so sicher.“ (Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion).