Ein Scheitern mit klarer und frühzeitiger Ansage: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen. Und nicht wenige Integrationskursteilnehmer sind auf der Flucht

In wenigen Tagen werden sie stattfinden, die Bundestagswahlen 2017. Und „die“ Flüchtlinge werden ihre Spuren hinterlassen – bei den einen, die ihre generelle und Ablehnung in Stimmen für die AfD verwandeln werden, bei vielen anderen in Form eines schwer fassbaren, gestaltlosen, aber wirkkräftigen Gefühls, dass da was „aus dem Ruder“ gelaufen ist. Und natürlich gibt es auch die anderen, die sich engagiert haben und die, die sich noch engagieren. Die haben es aber seit Monaten schwer, ist doch insgesamt der Pegel der Verunsicherung und der Zweifel in diesem Land angestiegen. Dass das der Bundeskanzlerin nicht vollends um die Ohren fliegt, verdankt sich zu großen Teilen des Rückgangs der Flüchtlingszahlen in den vergangenen Monaten (und einer weit verbreiteten Nicht-Berichterstattung über das Themen in vielen Medien, nachdem die in der Anfangsphase gleichsam nur um dieses eine Thema herumgeeiert sind. Nicht, weil es keine geflüchteten Menschen mehr gibt, sondern die Asyl- und Schutzsuchenden haben es deutlich schwerer, bis nach Deutschland vorzudringen. Aber man sollte sich keinen Illusionen hingeben – einige schaffen das dann doch noch jeden Tag, denn die Schleuser haben ihre Routen umgestellt und auf Restriktionen an der einen Stelle durch entsprechende Ausweichmanöver reagiert.

Und zuweilen kommt das dann an die Oberfläche in einer Form, die sicherlich auch Gutmeinende irritiert, um das mal vorsichtig auszudrücken. Ein Beispiel aus diesen Tagen – das sich eignet, als Steilvorlage für die AfD zu wirken:

»Am Samstag stoppte die Polizei auf der A12 nahe Frankfurt (Oder) an der polnischen Grenze einen Lastwagen mit türkischer Zulassung. Im Laderaum befanden sich 50 illegal eingereiste Menschen. Die Flüchtlinge, darunter 17 Kinder, hatten keine Pässe und stammten laut eigenen Angaben aus dem Irak. Der türkische Lkw-Fahrer und sein aus Syrien stammender mutmaßlicher Helfer wurden unter Schleuserverdacht festgenommen.«

Selbstverständlich wurde den Menschen sofort geholfen, sie wurden versorgt und in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht.

Und nun das: »Jetzt berichtet der Leiter einer Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt, 48 der Migranten seien nicht mehr auffindbar. Bei einer Zimmerkontrolle seien nur ein Erwachsener und ein Minderjähriger angetroffen worden … Der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt geht davon aus, dass die Menschen auf eigene Faust zu Verwandten und Bekannten in anderen Orten Deutschlands weiterreisen, um dort Asyl zu beantragen.«

Und damit nicht nicht genug: »Einer Überprüfung zufolge hatte ein Großteil der Migranten Wochen zuvor in Rumänien und Bulgarien Asylanträge gestellt. Laut Dublin-Abkommen, das die Migrationspolitik der EU regelt, sind diejenigen Länder für Asylanträge zuständig, in denen die Antragsteller erstmals registriert werden.«

Das wird sicher das Grundverständnis ganz vieler Menschen stören oder bis zur Weißglut treiben. Ein weiterer Fall eklatanten Staatsversagens, das man ja schon in der Vergangenheit beobachten müsste auf höchster Ebene. Das alles findet man in diesem Artikel: Flüchtlinge aus Lastwagen verschwinden aus Erstaufnahme.

Aber darum soll es in diesem Beitrag gar nicht gehen. Sondern um ein Mosaikstein aus dem, was man so Flüchtlingspolitik nennt und der sich bezieht auf die Beschäftigung der betroffenen Menschen. Gerade hier hätte nach allem, was wir seit langem aus der Forschung und vor allem aus der Praxis wissen, enorm investiert und darauf geachtet werden müssen. Arbeit ist sicher ein nicht zu unterschätzender Faktor für eine (nicht) gelingende Integration in unsere Gesellschaft. Und vereinfacht gesagt – je länger die Menschen auf Beschäftigung warten (müssen), desto schwieriger wird es werden, sie sukzessive in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Vgl. dazu beispielsweise diesen Artikel: Jung, geflüchtet, auf der Suche nach Arbeit, in dem auch die Hindernisse angesprochen werden, dass durch zu langsam mahlende behördliche Mühlen der eine oder andere auf dem Weg in eine Ausbildung oder Beschäftigung aufgehalten wird. Dazu gehört auch die oft beklagte Tatsache, dass immer noch zu viele Flüchtlinge keinen Sprach- und Integrationskurs absolvieren konnten. Nicht angesprochen, dazu später aber mehr wird auch die Kehrseite der Medaille, dass es auch Flüchtlinge gibt, die sich den Angeboten aus ganz unterschiedlichen Gründen entziehen.

Vor diesem Hintergrund wird sich der eine oder andere erinnern, dass es doch vor einiger Zeit einen auf den ersten Blick lobenswerten Vorstoß der Bundesarbeitsministerin gegeben hat, dass Flüchtlinge möglichst frühzeitig und gerade vor dem Hintergrund langer Verfahrensdauern in Beschäftigung gebracht werden sollen. Sie hatte sich dazu ein eigenes Programm ausgedacht – „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM). Es handelt sich um Ein-Euro-Jobs, besser genauer: um 80-Cent-Jobs, also spezielle Arbeitsgelegenheiten.

Und nun muss man das hier zur Kenntnis nehmen: „Geht an Realität vorbei“: Städte- und Gemeindebund kritisiert Job-Programm für Flüchtlinge: »Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat das millionenschwere Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM) scharf kritisiert … Geschäftsführer Gerd Landsberg: „Das Arbeitsmarktprogramm geht in seiner jetzigen Form an der Realität und dem tatsächlichen Bedarf in den Kommunen vorbei.“ Die Grünen forderten das Bundesarbeitsministerium auf, das Programm schnellstmöglich zu beenden.«

Was ist das Problem? »Ursprünglich wollte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit dem im August 2016 gestarteten Programm 100.000 Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge schaffen. 2016 wurden von den eingeplanten Mitteln in Höhe von 75 Millionen Euro aber bislang nur rund 255 000 Euro abgerechnet. Für 2017 sind 200 Millionen Euro vorgesehen, von denen bis Ende Juli erst rund zehn Millionen Euro abgerufen wurden. Flüchtlinge sollten mit Jobs in und außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen in den Kommunen zum Gemeinwohl beitragen, beispielsweise Hilfstätigkeiten wie Putzen, Kochen, Gärtnern, Hausmeisterhilfen übernehmen und dafür 80 Cent pro Stunde bekommen. Der Bund sollte den Kommunen das Geld erstatten.«

Von der anderen Seite wird gegengehalten: »Das Bundesarbeitsministerium verteidigte das Programm. Wie ein Sprecher mitteilte, sei es „erfolgreich angelaufen“: Ende Juli 2017 seien gut 30.000 Plätze für FIM beantragt und hiervon rund 27.000 bewilligt worden. Allerdings benötige jedes Arbeitsmarktprogramm zu Beginn eine gewisse Anlaufzeit, so der Sprecher.«

Aber: ‪Viele Kommunen hatten FIM-Stellen angemeldet, aber oftmals nicht besetzen können. Und wahrlich – die Zahlen sind ernüchternd:

»Beispielsweise wurden in Hannover von 101 bewilligten Stellen nur 25 besetzt, in Osnabrück wurden von 67 Stellen 0 besetzt. In der Hansestadt Hamburg wurden bisher weder Plätze angemeldet noch besetzt.«

Die Grünen haben auf diese Befunde reagiert und die zu ziehende politische Konsequenz so formuliert:

Für die Grünen ist das Programm gescheitert und sollte nicht wie vom BMAS angedacht bis 2020 weiterlaufen (ab 2018 mit 60 Millionen Euro Budget). „Dort, wo einzelne Plätze geschaffen wurden, sollten sie unter der Regie der Kommunen weitergeführt werden“, sagte Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen. Vor Einführung der FIM habe es längst die Möglichkeit gegeben, in den Kommunen Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber anzubieten. „Das Programm des BMAS ist daher überflüssig und hat lediglich teure Doppelstrukturen geschaffen.“

Aber wie konnte es zu diesem desaströsen Ergebnis kommen? „Viele zu uns gekommene Flüchtlinge haben Interesse an Beschäftigungen, bei denen sie ein höheres Einkommen erzielen, als es bei den Ein-Euro-Jobs der Fall ist“, wird Gerd Landsberg vom Städte- und Gemeindebund zitiert.

In der Region Osnabrück wurde einmal genauer hingeschaut – denn auch  in Stadt und Landkreis Osnabrück sollten Ein-Euro-Jobs für Asylbewerber geschaffen werden. Doch von 67 bewilligten Plätzen wurde bisher keiner mit Flüchtlingen besetzt. Herausgekommen ist dieser Bericht: Warum Integrationsmaßnahmen scheitern: Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge in der Region ein Riesenflop.
Bislang 67 Plätze wurden angemeldet und auch genehmigt, in Osnabrück 53 Plätze für Arbeiten wie Putzen, Reparieren, Instandsetzen, Gärtnern, Renovieren in den Flüchtlingsunterkünften. Im Landkreis sollten 14 Plätze bei gemeinnützigen Einrichtungen, in Kliniken, der Tagespflege sowie in Vereinen besetzt werden. Bisher wurde kein einziger der sogenannten Ein-Euro-Jobs weder besetzt noch abgerechnet.

Dabei standen dem Kreisgebiet im letzten Jahr 200.000 Euro für die FIM-Maßnahmen vom Bund zur Verfügung, und dieses Jahr sind 500.000 Euro im Budget. Diese Gelder verfallen bei Nichtnutzung.

Wie also kommt es aus der kommunalen Sicht zu dem miesen Ergebnis. Beispiel Stadt Osnabrück:

»In Osnabrück könnten theoretisch 438 Flüchtlinge in FIMs arbeiten, doch laut Stadt fallen hundert Frauen von ihnen weg, weil die Arbeiten entweder Handwerkstätigkeiten und daher ungeeignet sind oder weil Putz- oder Kochtätigkeiten in den vor allem von Männern bewohnten Unterkünften zu Problemen führen könnten. Rund 200 weitere Personen befinden sich in Sprachkursen, und die hätten Vorrang.

Bleiben rund 138 übrig. Zudem würden die beschleunigten Asylverfahren dazu führen, dass es weniger Asylbewerber gebe, die man in FIMs stecken könnte.«

Und dann gibt es noch einen weiteren Hinweis:

»Wie der Landkreis mitteilte, mache die Aufwandsentschädigung von 80 Cent pro Stunde die FIM für den Kreis der infrage kommenden Personen uninteressant. „Viele Flüchtlinge wollen direkt ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen, um einen Verdienst zu generieren. Unmotivierte Teilnehmer wiederum sind für die Anbieter von FIM ein Grund, keine weiteren mehr anzubieten. Überdies ist in diesen Fällen auch der Verwaltungsaufwand hoch, wenn Leistungskürzungen wegen verweigerter Teilnahmen durchzusetzen sind“, sagt ein Landkreis-Sprecher. Auch die Stadt bestätigt, dass ein Großteil der potenziellen Bewerber aufgrund der geringen Bezahlung nicht motiviert sei.«

Und auch den folgenden Passus sollte man genau lesen – nicht wegen der angesprochenen Sanktionsfrage, sondern weil hier institutionelle Blockaden beschrieben werden, die es nicht gegen würde, wenn man wie schon vor längerem gefordert, die Betreuung und Zuständigkeit von Anfang an dem SGB II-System zugeschrieben hätte, in dem die meisten sowieso landen werden:

»Vom Sozialamt einer kreisangehörigen Stadt im Landkreis wurde ein Asylbewerber an eine Klinik vermittelt. Aufgrund der aus Sicht des Asylbewerbers geringen Aufwandsentschädigung von nur 80 Cent pro Stunde habe er die Maßnahme wieder aufgegeben, wie der Landkreis schildert. Nach Aufgabe der Tätigkeit erfolgte eine Anerkennung als Asylberechtigter und somit ein Wechsel zum Leistungsbereich Hartz IV. Sanktionen seien daher nicht mehr möglich gewesen. Zwei weitere Asylbewerber hatten Interesse an einer Arbeit bekundet. Auch hier erfolgte zwischenzeitlich eine Anerkennung als Asylberechtigte und somit ein Wechsel in den Leistungsbereich SGB II.«

Nun befinden wir uns im September 2017 und der eine oder andere Leser dieses Blogs wird sich fragen – ist das nicht alles schon seit längerem bekannt und auch vorhergesagt worden?

Richtig, so war das. Ein Blog ist eine Art Tagebuch, in dem man auch zurückblättern kann, um nachzuschauen, wie man etwas in der Vergangenheit eingeschätzt hat und was daraus geworden ist. Und zu den hier interessierenden „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ findet man in diesem Blog mehrere Beiträge.

Bereits am 12. Juni 2016 wurde beispielsweise dieser Artikel veröffentlicht: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Und der begann mit diesen einführenden Worten: »Immer wenn man denkt, noch kleinteiliger, gesetzestechnisch hypertrophierter und inhaltlich korinthenkackerhafter geht es nicht in der Sozialpolitik, wird man eines Besseren belehrt …  nun hat man sich die „Arbeitsgelegenheiten“ – umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet – vorgenommen. Und offensichtlich ist man bestrebt, hinsichtlich des Komplexitätsgrades wie auch mit Blick auf die inhaltliche Fragwürdigkeit einen veritablen Quantensprung hinzulegen.«
Und dort findet man diese Einschätzung des damals geplanten Programms, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen Medienberichte als ziemlich gute Prognose herausgestellt hat:

»Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.«

Das, was jetzt vor Ort in Form fehlender Teilnehmer beklagt wird, tauchte damals bereits auf:

»Und mit Blick auf die (potenziellen) Teilnehmer an diesen „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“: Es dürfen ausschließlich Asylantragsteller sein, aber unter Ausschluss derjenigen, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen und derjenigen, die zur Ausreise aufgefordert sind. Das nun wiederum hat fast schon den Charakter eines Schildbürgerstreichs, denn diese Gruppe müsste nach allem, was angekündigt wurde und wird, immer kleiner werden, hat das BAMF doch die Devise ausgegeben, die Anträge immer schneller abzuarbeiten und zu bescheiden, so dass auch der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das SGB II immer schneller erfolgen wird/müsste.
Man plant also Maßnahmen für eine Gruppe, die angeblich derzeit abgeschafft wird.«

Mein Fazit im vergangenen Jahr: »Unterm Strich werden hier eklatante Vermögensschäden seitens der öffentlichen Hand durch den enormen und sinnlosen Bürokratieschub produziert.« Sage also keiner, dass das Desaster nicht vorausgesehen wurde.

Und nur der Vollständigkeit halber sei auf die ersten Artikel in diesem Blog hingewiesen, in denen der ganze Ansatz mit den speziellen Arbeitsgelegenheiten als das skizziert wurden, was dann auch herausgekommen ist: Unsinn. Beispielsweise am 13. Februar 2016 (!) Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte. Dann schon genervter am 23. März 2016: Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? sowie am 24. Juni 2016 Kopfschütteln über 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge. Was muss man denn noch mehr schreiben?

Und abschließend zu der in diesem Beitrag erwähnten politischen Forderung der Grünen, das Programm einzustellen – das ist eigentlich schon längst passiert, was man diesem Beitrag vom 17. April 2017 entnehmen kann: Die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ werden still beerdigt und in den klammen Jobcentern ein wenig materialisiert. Und auch sonst hakt es vorne und hinten.

Das alles sei hier nur deshalb aufgerufen, damit sich die Verantwortlichen nicht dadurch zu exkulpieren versuchen, man hatte ja eine gute Absicht und konnte doch nicht wissen, dass es nicht klappt mit dem Ansatz. Doch, konnte man, wenn man denn gewollt hätte. Aber wieder einmal gehen die Verantwortlichen schadlos aus dem Gefecht, dem sie sich verweigert haben.

Abschließend aber auch noch der Blick auf ein anderes, wenn nicht das zentrale Feld der Integrationspolitik: Die Sprach- und Integrationskurse. Auch von dort werden teilweise höchst bedenkliche Nachrichten übermittelt.

»Nur etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die an einem Integrationskurs des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) teilnehmen, schließen diesen auch erfolgreich ab« – wobei Thomas Öchsner in seinem Artikel Sprachkurse zur Integration werden häufig abgebrochen zugleich darauf hinweist, dass die statistische Abbildung ungenau sei. »So werden beispielsweise auch Abmeldungen wegen Schwangerschaft, Krankheit oder eines Umzugs dort erfasst.« Aber auch: »Kritiker halten die Prüfungsbilanzen dennoch für aufgehübscht – speziell, was die Sprachkenntnisse betrifft.«

Zu den harten Zahlen kann man dem Artikel entnehmen:

»So nahmen nach Angaben des Bamf 2016 fast 340.000 Menschen erstmals an einem Integrationskurs teil. In diesem Zeitraum hätten aber nur „133.050 Teilnehmer den Integrationskurs erfolgreich absolviert“, teilte das Amt … mit. Große Unterschiede zwischen den Zahlen der Teilnehmer und der erfolgreichen Absolventen gab es auch schon 2014, als noch deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Hier berichtet das Bamf von mehr als 142.000 Teilnehmern und knapp 85.000 Absolventen mit Abschluss.«

Wie kann es zu diesen Diskrepanzen kommen? Öchsner zitiert in seinem Artikel Christoph Schroeder, der den Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache an der Universität Potsdam leitet und der bei aller Ungenauigkeit der statistischen „Nicht-)Erfassung zu dieser Bewertung kommt:

»Grob geschätzt, so der Universitätsprofessor, „dürfte aber etwa die Hälfte der Teilnehmer zum Sprachtest erst gar nicht antreten. Hier dürfen die Bundesregierung und das Bundesamt nicht länger wegschauen“, sagt Schroeder, der Mitglied im Rat für Migration ist.«

Und er legt den Finger auf eine weitere Wunde, die sich bei dem, was bei den Kursen rauskommt, auftut: »Von denjenigen, die am Sprachtest zum Kursende teilnehmen, schafften 2016 laut Bamf 35 Prozent nur das Sprachniveau A2. 56 Prozent schlossen mit dem eigentlich angestrebten höheren Level B1 ab.«

Fazit: »Schroeder hält die Prüfungsbilanzen mit Erfolgsquoten von gut 90 Prozent deshalb für „statistisch aufgehübscht“ – nicht nur, weil ein großer Teil der Kursteilnehmer zur Prüfung erst gar nicht angetreten sei. Er weist daraufhin, dass im Aufenthaltsgesetz als Maßstab das Sprachniveau B1 verwendet wird. Nur wer das erreiche, hätte ausreichende deutsche Sprachkenntnisse.«

Für Christoph Schroeder sind die Kurse „bislang leider wirklich kein Erfolgsmodell“. Eine mehr als ernüchternde Bilanz, wenn man um die zentrale Bedeutung ausreichender Sprachkenntnisse für eine irgendwann einmal gelingende Integration weiß. Hier brauchen wir offene und an der Wirklichkeit orientierte Diskussionen, bei denen auch die Flüchtlinge selbst nicht immer nur als Objekte des Handelns auftauchen, sondern auch deren Bereitschaft angesprochen werden muss, was für die Integration zu tun. Nicht immer ist irgendein abstraktes System schuld, das etwas nicht so funktioniert, wie es sein sollte. Wenn beispielsweise Frauen zurückgehalten werden oder sich selbst verweigern, an den Kursen teilzunehmen (was immer wieder vor Ort berichtet wird), dann muss darüber offen gestritten werden, ob man das so laufen lassen will.

Absenkung der Leistungen und weniger Rechtsschutz für Asylbewerber? Der Bundesinnenminister schielt politisch nach rechts – und „übersieht“ das Bundesverfassungsgericht?

Mit dem Hinweis darauf, dass wir in zwei Wochen die Bundestagswahl haben und nunmehr in die „heiße“ Phase des Wahlkampfs eingetreten sind, in dem noch mal überall versucht wird, potenzielle Wählerstimmen anzugraben, könnte man sich bei der folgenden Meldung zurücklehnen und diese zu ignorieren versuchen: De Maizière will Leistungen für Asylbewerber kürzen. »Bundesinnenminister de Maizière fordert eine europaweite Angleichung bei Flüchtlingen. Die deutschen Leistungen seien „im EU-Vergleich ziemlich hoch“«, wird da berichtet. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will eine Angleichung der Leistungen für Asylbewerber in Europa. In Deutschland seien diese Leistungen „im EU-Vergleich ziemlich hoch“, wird der Minister mit Bezug auf diesen Artikel zitiert: De Maizière für niedrigere Asylbewerberleistungen. „Das ist Teil des Sogeffekts nach Deutschland.“ Der Innenminister »räumte ein, dass auch die Lebenshaltungskosten in Deutschland höher seien als in anderen EU-Ländern wie beispielsweise in Rumänien. Im Rahmen einer EU-weiten Angleichung der staatlichen Leistungen für Asylbewerber halte er „entsprechende Kaufkraftzuschläge für einzelne Staaten“ für denkbar.« Aber eben weniger als die heute bekommen. Und noch eine zweite Schneise wird von ihm geschlagen: Er fordert » eine EU-weite Angleichung der Asylverfahren und einen einheitlichen Rechtsschutz.« Die Richtung, die hier eingeschlagen werden soll, ist klar: De Maizière beklagte, dass in Deutschland besonders viele abgelehnte Asylbewerber gegen die Entscheidung Klage vor Gericht einlegten. „Bei uns können abgelehnte Asylbewerber über diverse rechtliche Klagewege ihre Abschiebung hinauszögern, deutlich mehr als anderswo.“

Nun könnte man sich der Einschätzung unterwerfen, dass das alles ein mehr als durchsichtiges Wahlkampfmanöver sei, mit dem der Bundesinnenminister potenzielle Wähler aus der AfD-Ecke ködern will nach dem Motto: Seht ihr, auch die Union wird die Daumenschrauben gegenüber den Asylbewerbern anziehen, ihr müsst nicht die AfD wählen.

Man könnte sich aber auch aufregen und die Frage aufwerfen, was sich ein Bundesinnenminister, der ja der Verfassung und der Verfassungsrechtsprechung verpflichtet ist, erlaubt. Hat er nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu befolgen? Oder hat er die in diesem Fall vielleicht „übersehen“, was allerdings erhebliche Zweifel an seiner Kompetenz aufwerfen würde.

Denn das Bundesverfassungsgericht hat der Politik und damit auch dem Bundesinnenminister bereits im Jahr 2012 eine klare Ansage über das verfassungsrechtlich Gebotene ins Stammbuch geschrieben. Und die treuen Leser dieses Blogs werden sich dunkel erinnern, dass hier schon mal mit Blick auf einen Bundesminister angemahnt wurde, doch bitte die Rechtsprechung zu berücksichtigen, bevor man mit populistischen Forderungen an die Öffentlichkeit geht: Am 13. Oktober 2015 wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Schäuble allein zu Haus? Hartz IV für Flüchtlinge absenken, fordert der Bundesfinanzminister. Oder plaudert er nur ein wenig? Darin findet man diesen Passus, den man auch mit dem aktuellen Blick auf den Bundesinnenminister erneut wieder aufrufen muss:

»(Man hätte) von einem Bundesminister schon erwartet, dass er die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts kennt und berücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der hier interessierenden Causa mit einem wegweisenden Urteil bereits zu Wort gemeldet und vor allem dieser eine Satz aus der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2012 sollte auch dem Bundesfinanzminister bzw. seinen Zuarbeitern bekannt sein und seine Zitation könnte die weitere Auseinandersetzung mit den Gedankenspielereien des Ministers beenden:
»Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.« (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Randziffer 121).«

Und was damals für Schäuble galt, gilt für den Bundesinnenminister heute genau so. Die klare Botschaft der damaligen Entscheidung des BVerfG (vgl. dazu auch Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig): Es gibt die Verpflichtung zur Sicherstellung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Und das Gericht spricht hier von Existenzminimum im Singular, keineswegs im Plural. Die Vorstellung unterschiedlich abgestufter Existenzminima wird von den Verfassungsrichtern verworfen.

Und sie haben bereits damals das, was der Bundesinnenminister als (angeblichen) „Sogeffekt“ nach Deutschland bezeichnet, klar angesprochen – und als mögliche Legitimation einer Absenkung der Leistungen verworfen. In den Leitsätzen des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese eindeutigen Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und dann wird in der Entscheidung diese klar Ansage gemacht: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Fazit: Das, was der Bundesinnenminister (wieder und aus durchschaubaren Gründen) von sich gibt, ist durch die Rechtsprechung des BVerfG in keiner Weise gedeckt und auch nicht zulässig.

Und da hilft dann auch nicht der mögliche Hinweis, dass es doch eine neue Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) gibt, über die das Gericht unter so einer eindeutig daherkommenden Überschrift informiert hat: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich. Also doch? Wie immer muss man genau hinschauen (vgl. dazu auch den Beitrag Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte vom 14. Mai 2017):

»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R)«, so der Bericht in dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren.

Konkret ging es um den folgenden Sachverhalt: Der Asylantrag eines Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert. Das BSG hat dann zur Entscheidung ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Angesichts der Tatsache, dass der Mann bereits 2002 nach Deutschland gekommen ist und sich über Jahre seiner Mitwirkungspflicht entzogen hat, werden viele die Entscheidung des BSG nachvollziehen und begrüßen. Aber wie so oft im Leben ist es eben nicht immer so klar und eindeutig, wie man die Sympathien verteilt. Es kommt eben und er Regel immer auch auf den Einzelfall an – und da kann es Fälle geben, wo man zumindest ins Grübeln kommt, wenn man über die erforderlichen Mitwirkungspflichten nachdenkt. Schauen wir uns beispielsweise diesen aktuellen Fall an, der zugleich ein bezeichnendes Licht wirft auf das asylrechtliche Durcheinander, über das von vor Ort berichtet wird:

»Die Wismarer Bauunion ist stolz auf ihren Lehrling Reza Rezai. Doch der 30-Jährige soll nach Afghanistan abgeschoben werden«, kann man diesem Artikel entnehmen: Einser-Azubi auf der Abschiebeliste. Er wurde in Afghanistan geboren. »Nur einen Monat später gehen seine Eltern mit ihm in den Iran. Dort lebt Reza als Flüchtling, bis er 2014 über die Türkei nach Deutschland kommt. Sein Antrag auf Asyl wird damals abgelehnt. Auch der Gang vors Gericht blieb erfolglos.« Aber der Mann versucht sich zu integrieren – und macht eine Lehre zum Facharbeiter für Hochbau. Zwischenzeitlich hat er sein Facharbeiterzeugnis abgeliefert: sieben Einser und fünf Zweier. In einem Leistungswettbewerb holt er in seinem Ausbildungsjahrgang den ersten Platz. Eigentlich ein Vorzeigebeispiel, wie es laufen sollte und auch laufen kann. Und da gibt es doch die „3+2“-Regelung, wird der eine oder andere anmerken.

Diese Regelung besagt, dass ein Flüchtling, der eine Ausbildung in Deutschland begonnen hat und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, auch dann die Ausbildung abschließen und eine zweijährige Anschlussbeschäftigung ausüben kann, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist ein Ausbildungsvertrag, erfahren wir beispielsweise in diesen Erläuterungen. Dort findet man dann auch diesen Hinweis: »Für die Prüfung, ob die 3+2-Regelung zum Tragen kommt, sind die Ausländerbehörden zuständig.« Was aber in der Realität bedeutet, dass das ganz unterschiedlich geprüft und entschieden werden kann, je nach Ausländerbehörde. Was immer wieder beklagt wird.

Der Fall von Reza Rezai gestaltet sich kompliziert, folgt man der zitierten Berichterstattung. Hätte Reza seinen Antrag auf Ausbildungsduldung vor Beginn der Lehre zum Facharbeiter für Hochbau gestellt, sähe Rezas Welt heute anders aus – vielleicht.  Weil man das auch nicht vorhersagen kann. Aber der eigentliche Punkt ist ein Konstrukt, dem wir schon bei der neuen Entscheidung des Bundessozialgerichts begegnet sind im Fall des Kameruners: die (nicht erfüllte) Mitwirkungspflicht. Denn der eigentliche Asylantrag ist ja abgelehnt worden und Reza Rezai müsste zurück nach Afghanistan – und noch gilt das als „sicheres Herkunftsland“. »Die Abschiebungen – sie sind nur ausgesetzt. Denn Attentat folgt derzeit auf Attentat. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres sind bei Anschlägen nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 1.660 Menschen ums Leben gekommen, rund 3.600 wurden verletzt.«

Davon abgesehen, dass derzeit gar nicht abgeschoben wird, argumentiert der Landkreis anders: Reza Rezai sei angeblich seiner Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung seiner Papiere nicht nachgekommen.

»In der von der Botschaft erstellten Bescheinigung sei weder zu erkennen, ob Reza Dokumente beantragt habe noch ob für ihn eine Möglichkeit bestehe, einen Pass zu erhalten. Deshalb dürfe eine Ausbildungsduldung nicht erteilt werden – „die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen können aus Gründen, die Reza selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden.“ Übersetzt heißt das: Reza kann nicht abgeschoben werden, weil er keine Papiere hat.«

Auf der anderen Seite: »Wegen seiner Integrationsbemühungen sei indes von der Aussprache eines sonst erforderlichen Beschäftigungsverbotes zunächst abgesehen worden.« Und nun hat er sich nicht nur bemüht, sondern tatsächlich auch nachweisbar geliefert. Sogar mit hervorragenden Ergebnissen.

Was mit diesem Beispiel – und man könnte viele weitere, von denen berichtet wird, hinzufügen – erkennen kann: So einfach ist das gar nicht mit den Regelungen und auch die „Mitwirkungspflicht“ kann mal in dem einen oder anderen Licht erscheinen, wenn man genauer hinschaut. Wie dem auch immer sei – bei der Frage der Abschiebungen hat man es mit einem höchst explosiven Thema zu tun. Auf der einen Seite wird immer wieder berichtet über Fälle, bei denen nicht abgeschoben wird oder werden kann, auch wenn es sich um Kriminelle handelt, auf der anderen Seite werden gefühlt oftmals die wirklich abgeschoben, die man leicht erwischen kann und die dann auch oft noch mittlerweile gut integriert sind, was auch wieder großes Unverständnis bei vielen Bürgern hervorruft.

Man muss also, auch wenn das unangenehm ist, genau und differenziert hinschauen. Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel, wie wichtig einfache und klare und eindeutige rechtliche Regelungen sind und vor allem wären, weil es sie derzeit nicht gibt bzw. den Behörden vor Ort sehr weite Auslegungsspielräume eröffnen, die mal so, mal anders genutzt werden.

Abschließend wieder zurück zu dem primär wahlkampfbezogenen Vorstoß des Bundesinnenministers hinsichtlich einer Absenkung der Leistungen (und einer Ausdünnung des Rechtsschutzes) für alle Asylbewerber. Das wird es der bestehenden Rechtsprechung nicht geben können – aber der Minister steht auch international gesehen nicht allein mit dem grundsätzlichen Absicht, die Leistungen für bestimmte Personengruppen gezeigt abzusenken, um darüber Abschreckungseffekte zu erzielen. Man sollte sich aber immer darüber bewusst sein, dass man in der Regel „ganz unten“ anfängt, um sich dann „nach oben“ vorzuarbeiten.

Ein Beispiel für diese Diskussion kann man derzeit in Österreich besichtigen, wo ja auch demnächst gewählt wird und wo mit Sebastian Kurz ein Politiker die ÖVP gekapert und zu einem auf sich bezogenen Wahlverein transformiert hat, der zugleich durch Forderungen auffällt, die in dem hier interessierenden Kontext passen: Kurz will auch EU-Ausländern Sozialleistungen streichen, so ist einer der vielen Artikel überschrieben: »Zuwanderer sollen erst nach fünf Jahren Zugang zum Sozialsystem erhalten, Flüchtlingen soll die Mindestsicherung gekürzt werden«, so kann man das zusammenfassen, was dem noch jungen Mann da vorschwebt.
Er plädiert für eine österreichweit einheitliche Regelung der Mindestsicherung – die bislang übrigens am Widerstand der ÖVP-regierten Bundesländer gescheitert ist, also aus seiner eigenen Partei heraus. »Die Mindestsicherung für eine Bedarfsgemeinschaft soll dabei auf maximal 1.500 Euro begrenzt werden. So weit wie möglich soll der Fokus bei der Mindestsicherung auf Sachleistungen liegen. Bei Arbeitsverweigerung oder Schwarzarbeit sieht das ÖVP-Wahlprogramm erst ein intensives Coaching und dann signifikante Kürzungen der Sozialleistungen vor.«

Und auch die Zuwanderung von EU-Bürgern ist im Visier des Kandidaten: »Radikal ist das Programm in Bezug auf EU-Ausländer: Für Zuwanderer aus der Europäischen Union ist eine Streichung von Sozialleistungen vorgesehen, damit soll die Zuwanderung ins Sozialsystem gestoppt werden. Für Ausländer soll der Zugang zu Sozialleistungen in Österreich grundsätzlich erst nach fünf Jahren Aufenthalt möglich sein.«

Mit Blick auf die Asylbewerber kann man dem Wahlprogramm entnehmen:

»Für Asyl- bzw. subsidiär Schutzberechtigte soll es in den ersten fünf Jahren eine „Mindestsicherung light“ geben, diese beträgt 560 Euro pro Einzelperson und setzt sich aus 365 Euro Grundversorgung, 155 Euro Integrationsbonus und 40 Euro Taschengeld zusammen – geknüpft ist der Bezug allerdings an das Erreichen von Integrationszielen. Einen Übergang in die reguläre Mindestsicherung soll es nur geben, wenn in den ersten fünf Jahren eine reguläre Vollzeitbeschäftigung für mindestens zwölf Monate nachgewiesen werden kann.«

Man kann sich vorstellen, wie man die Sozialleistungen weiter differenzieren und kleinhäckseln könnte, wenn man mit so einem Ansatz wirklich weiterkommt.

Für Deutschland kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur festhalten, dass es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die einem solchen Ansinnen – noch – Widerstand entgegensetzen würde. Aber was ist schon sicher in den heutigen Zeiten?

Verloren in einer (mindestens) halbierten Realität. Statistiken über fehlende Schulabschlüsse bei Flüchtlingen und Inhalte jenseits der Überschriften

Die echten Zahlen – so der Aufmacher der BILD-Zeitung am 22. August 2017. Offensichtlich, so die Botschaft, wurden wir bislang über irgendeine Wahrheit getäuscht mit falschen Zahlen und nun erfahren wir endlich, wie es wirklich ist. 59 Prozent der Flüchtlinge 
haben keinen Schulabschluss – so kann man es in der Online-Ausgabe der Zeitung lesen. Ergänzt wird das dann durch den Seriösität vermittelnden Zusatz: Bundesinstitut rechnet offizielle Zahlen auch.“ Wenn das keine Nachricht ist: »Die Anzahl der arbeitssuchenden Flüchtlinge ohne Schulabschluss ist weit höher als bisher offiziell angegeben. Ausgerechnet eine Bundesbehörde hat die Daten der Bundesagentur für Arbeit kritisch überprüft … Pikant: Das BIBB hatte Zahlen einer anderen Bundesbehörde nachgerechnet – der Bundesagentur für Arbeit (BA).« Da stellt sich natürlich die Frage, was denn bislang hinsichtlich des Merkmals „kein Schulabschluss“ angegeben wurde. Schaut man in die BA-Statistik, dann wird man hier die folgenden Zahlen für den Juli 2017 finden: Insgesamt geht es um 492.043 Personen im Kontext von Fluchtmigration, darunter aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Irak, Somalia oder Eritrea. Von diesen werden 168.828 Personen „ohne Hauptschulabschluss ausgewiesen, was einem Anteil von nur 34 Prozent entsprechen würde – deutlich weniger als die von den BILD-Zeitung genannten 59 Prozent.

Wie kann es zu solchen Abweichungen kommen? Die BILD-Zeitung klärt uns auf – als ob sie eine geheime Statistik-Verschlierungssache aufgedeckt hat:

»Das BIBB hatte Zahlen einer anderen Bundesbehörde nachgerechnet – der Bundesagentur für Arbeit (BA). In deren Statistik zu den Bildungsabschlüssen der knapp 500.000 arbeitssuchenden Migranten fiel auf, dass rund 25 Prozent der Personen keine Angaben gemacht hatten.

Das BIBB hält es für „nicht unwahrscheinlich“, dass die Betroffenen die Angabe verweigerten, weil sie in Wahrheit keinen Abschluss haben. Daraufhin wurden sie vom BIBB der Gruppe derer ohne Schulabschluss zugerechnet. Ergebnis: Im Schnitt 59 Prozent der Arbeitssuchenden aus den wichtigsten Asylländern haben keinen Schulabschluss.«

Ganz offensichtlich bezieht sich die BILD-Zeitung auf diese Veröffentlichung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB):

Friedel Schier (2017): Welche schulische Vorbildung bringen Geflüchtete für die Berufsausbildung mit?, Bonn 2017

An dieser Stelle hat sich eine interessante Kontroverse entzündet. So versuchte sich der Bayerische Rundfunk als „Faktenchecker“ und widersprach der BILD-Zeitung, die ja behauptet, das BIBB habe nachgerechnet: »Stimmt nicht, heißt es dazu auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks beim BIBB. Es sei nicht Aufgabe des BIBB, Zahlen der Bundesagentur nachzurechnen, und weiter: „Die Aussage ’59 % der Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss‘ wurde seitens des BIBB nicht getroffen, da sie sachlich nicht richtig ist.“ (Bundesinstitut für Berufsbildung).« Das kann man dem Beitrag Wie viele Flüchtlinge sind ohne Schulabschluss? entnehmen.

Hier muss man allerdings kurz innehalten und einen Blick werfen in die Original-Veröffentlichung des BIBB. Und dort findet man dann tatsächlich diese Formulierung: »Wenn man in der BA-Statistik die Zahl der Personen ohne Abschluss zu den Personen ohne Angaben hinzurechnet, was aufgrund der besonderen Situation der Personen und des Fluchthintergrundes nicht unwahrscheinlich ist, verfügen gut 50 % der Schutzberechtigten über keine (abgeschlossene) Schulbildung.« Insofern hat die BILD-Zeitung an dieser Stelle nicht falsch berichtet.

Die Kritik aus den Reihen des Bayerischen Rundfunks wollte die BILD-Zeitung nicht auf sich sitzen lassen und auf Twitter entwickelte sich ein heftiger Schlagabtausch – vgl. dazu den Artikel Bild-Chef Reichelt vs. die Faktenchecker vom BR: das Problem mit einer Flüchtlings-Überschrift: »Bild-Chef Julian Reichelt und Bild-Politikchef Nikolaus Blome wehren sich öffentlich auf Twitter gegen einen Bericht des „Faktenfuchs“ vom Bayerischen Rundfunk. Die Faktenchecker hatten den Bild-Aufmacher vom Dienstag („So viele Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss“) kritisiert. Schaut man sich die Fakten an, haben beide Parteien in gewisser Weise recht. Die Bild-Schlagzeile bleibt für sich genommen aber hoch problematisch.«

Zurück zu den „Faktencheckern“ des Bayerischen Rundfunks: Sie haben ja beim BIBB nachgefragt und von dort dann diese Erläuterungen erhalten:

»Das BIBB rät in seiner schriftlichen Stellungnahme an den BR zur Vorsicht mit der Statistik. Die zugrunde gelegten Zahlen beziehen sich nämlich demnach gar nicht auf alle Flüchtlinge, wie man aufgrund der Überschrift in der „Bild“ glauben könnte, sondern lediglich auf diejenigen Flüchtlinge, die noch Arbeit suchen. Das heißt: Alle Flüchtlinge, die schon Arbeit gefunden haben – zum Beispiel weil sie eine gute Ausbildung haben – kommen in der Rechnung mit den genannten 59 Prozent ohne Schulabschluss gar nicht vor.

Die ursprünglichen Zahlen sind auch differenzierter. 121.458 Arbeitssuchende machten KEINE Angaben zu ihrer schulischen Vorbildung. Also wurden sie bei den Zahlen in der „Bild“ kurzerhand als Flüchtlinge ohne Schulabschluss gerechnet. Doch wenn jemand keine Angaben gemacht hat, muss das nicht zwangsläufig heißen, dass er keinen Schulabschluss hat.«

An diesem Punkt setzt auch die rechnerisch fundierte Wortmeldung von Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) vom 22.08.2017 an: BILD und die Flüchtlinge ohne Schulabschluss. Die Darstellung in der Abbildung basiert auf seinen Berechnungen in Abgrenzung zu den von der BILD-Zeitung ausgewiesenen Anteilswerten. Während BILD alle ohne einen Hauptschulabschluss mit allen Personen, für die „keine Angabe“ ausgewiesen wird, addiert und dann durch alle Arbeitsuchenden geteilt hat, geht Schröder hin und dividiert die Personen ohne Hauptschulabschluss durch die Personen insgesamt abzüglich derjenigen, bei denen „keine Angabe“ notiert ist. Dadurch erhält man das richtige Anteilsverhältnis bezogen auf die, für die konkrete Angaben vorliegen.

Und auch das IAB der Bundesagentur für Arbeit hat sich explizit zu der Kontroverse zu Wort gemeldet, unter dieser Überschrift: Annähernd zwei Drittel der Geflüchteten haben einen Schulabschluss – eine Überschrift, die nun ganz anders daherkommt als das, was BILD berichtet hat. Auch hier wird auf die bereits angesprochene methodische Schwachstelle hingewiesen, dass es viele Gründe gibt, warum in der BA-Statistik keine Angaben zum Schulabschluss vorliegen und man die dort eingeordneten Personen nicht automatisch der Gruppe ohne Schulabschluss zuschlagen kann und darf.

»Die Ursachen, warum keine Angaben zu den Schulabschlüssen vorliegen, sind vielfältig: fehlende oder nicht vollständige Angaben der Arbeitsuchenden, fehlende Zertifikate und andere Dokumente, Probleme der Zuordnung aufgrund unvollkommener Informationen über im Ausland erworbene Abschlüsse, ö. Ä. Im Durchschnitt liegen für gut 11 Prozent der Arbeitsuchenden keine Angaben zu den Schulabschlüssen vor, bei ausländischen Staatsbürgern ist der Anteil deutlich höher. Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung, dass Personen, für die keine Angaben zu den Schulabschlüssen vorliegen, über keine Schulabschlüsse verfügen, nicht korrekt.«

Hinzu kommt:

»Darüber hinaus bezieht sich die zitierte Statistik der BA nur auf die arbeitsuchenden Geflüchteten, nicht auf die Geflüchteten insgesamt. Da die erwerbstätigen Geflüchteten im Durchschnitt besser als die als arbeitsuchend registrierten Geflüchteten qualifiziert sind, ergibt sich folglich ein verzerrtes Bild, das die tatsächliche Qualifikation der Geflüchteten unterschätzt.«

Und dann zitieren sie eine andere Quelle mit anderen Ergebnissen zum Thema Schulabschlüsse: »In einer repräsentativen Erhebung … (IAB, BAMF, SOEP) geben 64 Prozent der Geflüchteten an, einen mittleren oder weiterführenden Schulabschluss zu besitzen.« Etwas genauer erfahren wir:

»Ein repräsentatives Bild über die Schulbildung der Geflüchteten lässt sich aus der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten ableiten. Die erste Welle dieser Erhebung umfasst 4.816 Geflüchtete im Alter von 18 Jahren und älter, die vom 1.1.2013 bis zum 31.1.2016 nach Deutschland zugezogen sind und im zweiten Halbjahr 2016 befragt wurden. Nach den Ergebnissen dieser Befragung verfügen 64 Prozent der erwachsenen Geflüchteten, die Angaben zu ihrer Schulbildung gemacht haben, über eine abgeschlossene Schulbildung. 25 Prozent haben mittlere, 35 Prozent weiterführende und 4 Prozent sonstige Schulabschlüsse erworben.

Es haben allerdings knapp 8 Prozent der Befragten keine Angaben zu ihrem Schulbesuch und -abschlüssen gemacht. Selbst unter der extrem unwahrscheinlichen Annahme, dass in dieser Gruppe niemand einen Schulabschluss erworben hat, beliefe sich der Anteil der Personen mit abgeschlossener Schulbildung in der Grundgesamtheit der erwachsenen Geflüchteten immer noch auf 59 Prozent. Es ist folglich sehr wahrscheinlich, dass zwischen 60 Prozent und zwei Dritteln der Geflüchteten einen Schulabschluss erworben haben.«

Nun mag der eine oder andere etwas verwirrt auf der Strecke bleiben – aber man kann und muss das hinsichtlich einer immer notwendigen Einordnung und Bewertung in einen realistischen Kontext stellen, der zudem verzerrt sein kann und ist durch bestimmte mitlaufende Interessen.

Man kann bilanzieren, dass die Überschrift auf der Titelseite der BILD-Zeitung schlichtweg falsch ist, aber seine Funktion sicher erfüllt hat: Es soll hängen bleiben, dass „die“ meisten Flüchtlinge nicht mal einen Schulabschluss haben. Auch wenn das ein genauerer Blick auf die Daten und deren Hintergründen wie hier gezeigt gar nicht hergibt.

Auf der anderen Seite könnte man der gleichsam entgegengesetzten Überschrift des IAB, dass zwei Drittel der Geflüchteten einen Schulabschluss haben, ebenfalls kritisch begegnen und darauf hinweisen, dass die sich auf eine Befragung ausgewählter Flüchtlinge in der zweiten Jahreshälfte handelt, die – bei aller Anerkenntnis der Forschungsleistung – immer und bei diesem Personenkreis sicher ziemlich stark mit Unsicherheit behaftet ist was die behauptete Repräsentativität angeht.

Aber selbst wenn wir die deutlich höheren Werte, die vom IAB in die Debatte geworfen werden, akzeptieren, muss man inhaltlich weitergehen und Anschlussfragen hinsichtlich solcher Bilanzierungen stellen:

»Insgesamt zeichnet sich also eine Polarisierung in der Schulbildung ab: vergleichsweise hohe Anteile von Personen, die weiterführende Schulen abgeschlossen oder besucht haben, stehen ebenfalls hohen Anteilen gegenüber, die nur eine Grundschule oder gar keine Schule besucht haben.«

Das wird vom IAB auch getan: »Auch bei denjenigen, die mittlere oder weiterführende Schulen besucht haben, muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund von Unterschieden in der Qualität und Struktur der Bildungssysteme Defizite bestehen, die eine besondere Förderung, etwa beim Übergang in Ausbildung und Hochschulbildung, erforderlich machen.«

Das ist der eine Punkt: Selbst die Angabe eines (formalen) Schulbildungsabschlusses suggeriert möglicherweise eine Vergleichbarkeit, die es so nicht geben kann. Logischerweise muss sich die Schulbildung im Irak oder in Syrien unterscheiden von der in Deutschland. Selbst und gerade eine absolvierte Hochschulausbildung bedeutet gerade nicht, dass man sich in einem ganz anders strukturierten Land wie Deutschland auf einem vergleichbaren Niveau bewegen kann.

Das gilt noch mehr für den – ob explizit oder implizit – in den Raum gestellten „Vorwurf“, viele Geflüchtete hätten ja noch nicht einmal eine Schulbildung. Es handelt sich hier in vielen Fällen um Menschen, die aus Kriegs- bzw. Bürgerkriegsländern geflüchtet sind (was auch in sicher nicht wenigen Fällen erklären mag, warum die keine ordnungsgemäße Dokumentation einer eventuell vorhandenen Schulbildung im Gepäck haben, weil das sicher nicht auf der Prioritätenliste mitzunehmender Sachen oben stand oder stehen konnte).

Möglicherweise schwingen bei dem einen oder anderen Enttäuschungen mit, dass es eben oftmals nicht „Fachkräfte“ gewesen sind, die im Zuge der Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland gekommen sind. Die Flüchtlingszuwanderung ist aber eben auch keine (gewesen), die nach diesem Kriterium selektiert hat, wie das beispielsweise bei gesteuerten Zuwanderungssystemen wie in Kanada der Fall ist. Das muss man eben unterscheiden, wenn man die Angekommenen beurteilt. Aber wenn man einem in den vergangenen Jahren in Afghanistan aufgewachsenen Menschen, der keine Schulbildung erfahren konnte in seinem Herkunftsland, hier bei uns aufnimmt, dann darf man sich nicht der Einsicht verschließen, dass es sehr langwierig und in nicht wenigen Fällen auch fast unmöglich sein wird, alle in unser System zu integrieren und ihnen zu einer Erwerbsarbeit zu verhelfen, die sie von den Infusionströpfen der Transferleistungen unabhängig werden lassen. Das bedeutet, dass viele der Flüchtlinge und ihre Angehörigen auf viele Jahre im Grundsicherungssystem verbleiben werden. Das nicht offen auszusprechen, befördert nur diejenigen, die gegen Flüchtlinge agitieren und Stimmung machen.

Der eigentliche Punkt ist dennoch und unausweichlich die Frage, wie man mit diesen Menschen umgeht, wenn man ihnen – und sei es auf Zeit begrenzt – den Aufenthalt in Deutschland zugesteht. Sprachkurse, Bildung und Ausbildung sowie Beschäftigung als notwendige Investitionen sind dann die mehr als naheliegenden Schlussfolgerungen, die man ziehen muss, selbst wenn einem diese Zuwanderung nicht gefällt. Gleichsam aus eigenem Interesse für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und dass da einiges schwer im Argen liegt, ist für jeden unvoreingenommenen Beobachter offensichtlich. Aber die unterlassenen Aktivitäten in diesem Bereich werden sich bitter rächen. Das aber ist ein neues Fass, das aufgemacht werden müsste, derzeit aber irgendwie kaum bis gar nicht mehr in der politischen Debatte auftaucht.

In diesem Kontext sei abschließend auf eine neue Studie hingewiesen, die genau darauf einen kritischen Blick wirft:

Jörg Bogumil, Jonas Hafner und André Kastilan (2017): Städte und Gemeinden in der Flüchtlingspolitik. Welche Probleme gibt es – und wie kann man sie lösen? Studie im Auftrag der Stiftung Mercator, Essen 2017

Martin Korte hat seinen Artikel über diese neue Untersuchung so überschrieben: Studie: Träge Bürokratie bremst Integration von Flüchtlingen und eine gute Zusammenfassung geliefert.
Die mangelhafte Zusammenarbeit von Verwaltungen und Behörden bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms behindert die Integration und verschlingt unnötig viel Zeit und Geld. Die Studie fordert die Bundesregierung auf, die Zuständigkeiten im Bereich Asyl und Integration neu zu ordnen.

»Bogumil untersuchte das Verwaltungshandeln der Kommunen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/2016 und stützte sich dabei vor allem auf Erkenntnisse der Städte Arnsberg und Bochum. „Wir haben ein Kompetenz- und Organisationsversagen festgestellt“ … „Dass daraus kein Staatsversagen geworden ist, verdanken wir den Kommunen, die mit Flexibilität und Improvisationskunst auf die Probleme reagiert haben.“«

Die Politik müsse vor allem das Zuständigkeits-Durcheinander im Bereich Asyl und Integration beenden. „Jeder macht das vermeintlich Richtige, aber niemand ist für den Gesamtprozess verantwortlich“, kritisierte Bogumil. Dazu als Beispiel die Sprachkurse:

»Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) organisiere den ersten Sprachkurs über seine Außenstellen, stimme sich dann aber nicht mehr mit den Anbietern vor Ort über Folgekurse ab. Ob Flüchtlinge weiter Deutsch lernen könnten, bliebe häufig deshalb dem Zufall überlassen. Beispiel Zeugnisse: Alle ausländischen Abschlüsse unterhalb des Gymnasiums werden von der Bezirksregierung Köln begutachtet. Weil die aber nicht genug Personal habe, dauere eine Beurteilung bis zu sechs Monaten. „Bürokratie bremst Integration“, sage Bogumil.«

Eine der Forderungen von Bogumil et al. betrifft einen Bereich, der auch schon in diesem Blog immer wieder angesprochen wurde:

»Das Asylbewerberleistungsgesetz solle abgeschafft werden. „Die aktuelle Regelung zum Leistungsbezug durch Geflüchtete bedeutet einen enormen Verwaltungsaufwand, obwohl tatsächlich nur sehr geringe Leistungsunterschiede bestehen“, so Bogumil. Eine generelle Öffnung von Hartz IV für Asylbewerber würde Abhilfe schaffen.«

Denn im Hartz IV-Bezug landen die meisten von ihnen sowieso. Dann kann man das dahinter stehende System auch von Anfang an mit der Aufgabe betreuen und darüber eine Gesamtverantwortung herstellen – aber natürlich nur, wenn man gleichzeitig die Jobcenter nicht nur quantitativ-personell, sondern auch qualitativ ausgestattet und entwickelt hätte oder das tun würde.

In der Bogumil-Studie wird konstatiert, dass die Kommunen Fehler ausbaden müssen, die Bund und Länder zu verantworten haben. »Doppelarbeit und mangelhafte Kommunikation sind die wichtigsten Defizite, die Bogumil ermittelt hat. Er kritisiert vor allem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Weil es nicht effizient arbeite, sei es dafür verantwortlich, dass zahlreiche Syrer vor den Verwaltungsgerichten mit ihren Klagen gegen abgelehnte Asylbescheide erfolgreich seien.«
Und eine solche Diagnose sollte nachdenklich stimmen; „Wir haben eine Misstrauensverwaltung“, sagt Bogumil. „Sie beruht einzig und allein darauf, Missbrauch zu entdecken und nicht zu helfen.“ Die Bürokratie fresse Zeit und Geld. Und sie belaste nicht nur die Flüchtlinge selbst, sondern auch ehrenamtliche Helfer, die angesichts zahlreicher verfahrenstechnischer Stolpersteine am Sinn ihrer Tätigkeit zweifelten.«

Die Angst vor den Millionen, die Rettung des Einzelnen und die problematische Ausblendung der Flüchtlingsfrage

Der folgende Text wird von vielen nicht gerne gelesen werden. Nicht nur, weil es um das Thema Flüchtlinge an sich geht, sondern um letztendlich unauflösbare Dilemmata des (Nicht-)Handelns. Es geht um einzelne Menschenleben, deren Schutz an allererster Stelle stehen muss, wenn man einen Rest an Ethik in sich trägt, zugleich geht es aber auch um den Blick auf gesellschaftliche Realitäten, die man nicht aufheben kann durch weltfremde Forderungen, will man nicht katastrophale Folgen in Kauf nehmen. Die aber auch so teilweise eintreten werden, wenn man explizit „flüchtlingspolitisch“ handelt. Das alles mit „Ambivalenz“ zu umschreiben, ist angesichts der existenziellen Dimension des Thema eine semantische Untertreibung. Aber es ändert nichts daran – man wird sich die Hände schmutzig machen müssen, so oder so.

Wir haben es mit Ängsten zu tun, mit verständlichen und nachvollziehbaren, aber auch mit aufgebauschten und produzierten Ängsten. Daraus erwachsen Stimmungen und mit ihnen politische Folgen. Nehmen wir als Beispiel den EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani, Nachfolger von Martin Schulz – und Italiener, was in diesem Fall zu wissen wichtig ist: „Wenn wir die Probleme in Afrika südlich der Sahara nicht gemeinsam lösen, dann werden in fünf, sechs Jahren Millionen Migranten kommen“, so wird er in diesem Artikel zitiert: Tajani warnt vor Millionen Flüchtlingen. Und auch an anderer Stelle wird Tajani, Politiker der konservativen Berlusconi-Partei Forza Italia, zitiert: ‚Millions of Africans‘ will flood Europe unless it acts now, warns European chief, as Paris evacuates huge migrant camp. »Europe is „underestimating“ the scale and severity of the migration crisis and „millions of Africans“ will flood the continent in the next five years unless urgent action is taken, a senior European official has warned.« Und was sollen das für Maßnahmen sein?

„Wir müssen so bald wie möglich ein Abkommen mit Libyen abschließen, so wie es bereits eines mit der Türkei gibt“, fordert der Parlamentspräsident. Ein umstrittener Vorschlag, der bereits vor Monaten auf den Tisch kam, von vielen europäischen Politikern aber wieder verworfen wurde, weil die politische Lage in Libyen viel zu instabil ist. Zudem spricht sich Tajani dafür aus, dass Flüchtlingslager in Afrika gebaut werden. Südlich der Sahara, dort wo viele Flüchtlinge herkommen. Mithilfe des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. „Man kann Lager in Niger bauen, in Nigeria und in der Zentralafrikanischen Republik“, fordert der Italiener. Und er steht damit nicht alleine, vgl. beispielsweise den Kommentar Europa braucht Türsteher von Ulrich Ladurner.

Unzweifelhaft wird er damit die Stimmungslage von vielen besorgten EU-Bürgern treffen, denen eine Abschottung der Festung Europa intuitiv einleuchtet als ein notwendiges Übel. Vor allem, wenn man mit Vorhersagen über „Millionen“ Afrikanern konfrontiert wird, die nur darauf warten, die europäische Seite des Mare Nostrum zu erreichen. Und viele ahnen, dass diese scheinbar einfache „Lösung“ auch deshalb attraktiv daherkommt, weil wir parallel mit einem grandiosen Versagen der EU als Staatengemeinschaft konfrontiert sind.

Ein Versagen, das schon die erste Phase der „Flüchtlingskrise“ vorangetrieben hat. Man denke zurück an das Jahr 2015. Auslöser der einsamen und einmaligen Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Öffnung der deutschen Grenzen waren die sich auf der Balkanroute stauenden Flüchtlinge, die nicht mehr oder nur erschwert weitergekommen sind. Mitverursacher dieser Entwicklung war ein Konstrukt unter dem Namen „Dublin-Verfahren“, aktuell gilt „Dublin III“: Dabei geht es konkret um die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

Vereinfacht gesagt: Da, wo die Flüchtlinge EU-Boden erreichen, soll auch das Asylverfahren stattfinden.

Durch das Dublin-Verfahren wird faktisch den südlichen EU-Staaten (insbesondere Malta, Italien, Spanien und Griechenland, aufgrund der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU) sowie Ungarn (aufgrund der Balkan-Route) eine größere Verpflichtung bezüglich der Registrierung und Erstaufnahme auferlegt als nördlicheren Ländern der EU.

Dieses System erzeugt natürlich enorme Ungleichgewichte zuungunsten der europäischen Randstaaten und bereits vor der deutschen Grenzöffnung im Jahr 2015 konnte man beobachten, wie betroffene Staaten wie Italien Flüchtlinge wissentlich nach Frankreich, Deutschland und andere nördliche EU-Staaten durchgewunken haben.

Nach der Episode mit dem deutschen Sonderweg ist man nunmehr wieder formal zurückgefallen in die Zeit vor 2015. Der Druck auf die Balkan-Route hat abgenommen, zum einen durch die rigorose Abschottung seitens der Ungarn, zum anderen aber auch aufgrund des fragilen Abkommens mit der Türkei, das den Zuwanderungsdruck auf Griechenland zumindest deutlich begrenzt hat. Verschoben haben sich infolgedessen die Hauptfluchtrouten und nunmehr kanalisiert sich der Weg der Flüchtlinge auf den „failed state“ Libyen und die Mittelmeer-Überfahrt von dort in Richtung Italien. Und die Italiener sind verständlicherweise gerade in den betroffenen Küstenregionen mehr als überfordert. Formal müssen sie das mit den Flüchtlingen alleine regeln, denn der – zwischenzeitlich angesichts der eigenen Betroffenheit auch von den Deutschen geforderte, noch 2013 vehement abgelehnte – solidarische Umverteilungsmechanismus auf europäischer Ebene wird innerhalb der EU offen von den osteuropäischen Staaten und versteckt auch von anderen Mitgliedsstaaten (die hoffen, dass damit der Kelch an ihnen vorübergeht) blockiert.

Was das konkret bedeutet beispielsweise für Sizilien, wo viele der Flüchtlinge anlanden, vermittelt diese Reportage von Philipp Eins: Flüchtlinge als Erntehelfer auf Sizilien – Für eine Handvoll Euro. Sie verdeutlicht zum einen die Überforderung in den Küstenstädten, zum anderen aber auch, wie die Flüchtlinge in eine illegale Ökonomie integriert werden.

Und gerade mit Blick auf die Zuwanderung aus Afrika herrscht das Bild von „Wirtschaftsflüchtlingen“ vor – also Afrikaner, die sich auf den Weg gemacht haben, um ein wirtschaftlich besseres Leben in Europa zu finden.

Es gibt hinsichtlich der Fluchtursachen durchaus davon abweichende Stimmen, dazu beispielsweise der Artikel War and violence drive 80% of people fleeing to Europe by sea, not economics von Hannah Summers: »The vast majority of people arriving in Europe by sea are fleeing persecution, war and famine, while less than a fifth are economic migrants«, so die Kernaussage einer neuen Studie (d’Angelo, A., Blitz, B., Kofman, E., Montagna, N. (2017), Mapping Refugee Reception In the Mediterranean: First Report of the Evi-Med Project, 16 June 2017). Allerdings muss man aufpassen, denn die Aussagen beziehen sich auf die Flüchtlinge des Jahres 2015: »More than 80% of an estimated 1,008,616 arrivals in 2015 came from refugee-producing countries including Syria, Afghanistan and Iraq, and a quarter of that number were children.« Aktuell geht es aber zunehmend um die Migration von Menschen aus afrikanischen Ländern.

Im wirklichen Leben ist eine wirklich trennscharfe Unterscheidung zwischen dem einen oder anderen Fluchtgrund mehr als schwierig und eben nicht immer eindeutig zu machen – aber die Unterscheidung an sich ist von größter Bedeutung für die (Nicht-)Akzeptanz der Flüchtlinge in den aufnehmenden Ländern. Die Mehrheit der Bevölkerung hat hier sehr eindeutige Gerechtigkeitsvorstellungen im Kopf. So belegen beispielsweise Befragungen in Deutschland, dass dort die Mehrheit der Bevölkerung zum einen die Auffassung vertritt, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ kein Zugang eröffnet werden sollte, zum anderen aber wird sehr klar die Position vertreten, dass Menschen, die vor politischer oder militärischer Gewalt fliehen müssen, Asylrecht genießen sollten. Aber mit einem nicht unbedeutenden Zusatz – der zu gewährende Schutz für diese Menschen wird nicht gleichgesetzt mit dem Recht auf Daueraufenthalt, dahinter steht die Vorstellung, dass die Menschen auch wieder zurückkehren sollten, wenn die Fluchtursachen beseitigt wären.

Wenn man das politisch umsetzt, wird die ganze Ambivalenz erkennbar: Man müsste bereit sein, bestimmte Flüchtlinge auf unbestimmte Dauer aufzunehmen und sollte dann aber versuchen, ihnen die Integration in die Aufnahmegesellschaft zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, beispielsweise durch einen schnellen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt des Landes. Und die Investition in Sprach- und Integrationskurse gehört dazu. Aber zu Ende gedacht kann auch nach Jahren des „Gastaufenthalts“ und bei vielleicht sogar erfolgreicher Integration die Option stehen, dass die betroffenen Menschen wieder zurück müssten in ihre Heimatländer, wenn dort die Fluchtursachen nicht mehr bestehen.

Aber die Zuwanderungswelle aus Afrika wird von vielen Menschen anders gewertet. Und sie ist angesichts der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Zahlen, mit denen die Menschen in Europa konfrontiert werden, mit ganz erheblichen Ängsten verbunden. Fragt man sie, wird man oft zu hören bekommen, dass Europa nicht in der Lage sei, die vielen Menschen, die aus bitterer Armut zu entfliehen versuchen, aufzunehmen. Es geht also nicht nur, aber eben auch immer um Quantitäten.

Die zentrale Mittelmeerroute von der libyschen Küste nach Italien ist spätestens seit der Schließung der Balkanroute wieder der wichtigste Weg für Migranten nach Europa. Gleichzeitig ist sie die gefährlichste Migrationsroute der Welt: 2015 kamen laut Missing Migrants, einem Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM), 153.842 Migranten auf diesem Weg nach Europa, (mindestens) 2.892 Menschen ließen bei der Überfahrt ihr Leben, sind ertrunken oder erstickt. 2016 waren es bei 181.436 Ankünften über die zentrale Mittelmeerroute (mindestens) 4.581 Tote. Ein Trend, der sich auch im laufenden Jahr fortsetzt – am 10. Juli 2017 wird auf der Website von Missing Migrants diese Zahl ausgewiesen: »2.297 migrant deaths in the Mediterranean in 2017.« Und das Jahr ist erst zur Hälfte vorbei. Und vor diesem Hintergrund geraten zunehmend die NGOs ins Visier, die versuchen, im Mittelmeer Flüchtlinge in Seenot zu retten und diese dann nach Europa zu bringen. Dazu Jan-Christoph Kitzler in seinem Beitrag Keine Beweise für Vorwürfe gegen NGO:

»Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird vorgeworfen, ihre Präsenz auf dem Mittelmeer zur Rettung von Migranten sorge dafür, dass sich immer mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. Fachleute nennen diesen Ansatz die „Pull-Factor-Theorie“. Der Vorwurf ist nicht neu und war ursprünglich nicht nur gegen die NGO gerichtet. Von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex wurde er bereits in Bezug auf die italienische Rettungsmission Mare Nostrum erhoben. Gil Arias, der damalige stellvertretende Frontex-Chef, sagte am 4. September 2014 im Justizausschuss des Europaparlaments, dass „die Schleuser mehr Menschen auf See schicken, in der Annahme, sie würden schon bald gerettet. Das sei billiger für sie, denn sie bräuchten weniger Treibstoff, weniger Essen, weniger Wasser, was gleichzeitig aber auch die Risiken für die Migranten erhöht“. Dieser Vorwurf wird nun den NGO auf dem Mittelmeer gemacht.«

An den nackten Zahlen – sowohl absolut wie auch relativ gemessen an allen geretteten Flüchtlingen – kann man den Bedeutungszuwachs der NGOs für die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer erkennen. Und schon sind wir mittendrin in einem fatalen Dilemma: Aus einer ethischen Perspektive kann und darf es keine Verweigerung menschenrettender Maßnahmen geben, ansonsten würde man sich der bewussten Tötung schuldig machen. Jeder Mensch hat das Recht, gerettet zu werden. Auf der anderen Seite sind die in der „Pull-Factor-Theorie“ angelegten ökonomischen Anreizeffekte auf den ersten Blick nicht von der Hand zu wischen. Natürlich „erleichtert“ man den Schleppern die Arbeit, wenn die wissen, dass man die „Kunden“ auch mit absolut seeuntauglichen Booten aufs offene Meer schicken kann, werden sie doch alsbald aufgesammelt. Und werden dann dahin gebracht, wo sie ja auch hinwollten, also an die europäische Küste. Aber, so Jan-Christoph Kitzler in seinem Artikel zu der Frage, ob die Einsätze der NGO für mehr Flüchtlinge sorgen:

»Eine Forschungsgruppe des Goldsmith-College der University of London hat den Vorwurf in zwei Studien überprüft: So konnte die Pull-Factor-Theorie für 2014/15 widerlegt werden, weil auch nach dem Ende von Mare Nostrum die Zahl einiger Migrantengruppen auf der zentralen  Mittelmeerroute anstieg … Die Zahl der ost- und westafrikanischen Flüchtlinge, die heute den Großteil der Migranten auf dem Weg von Libyen nach Europa stellen, ist hingegen stetig angestiegen: 2015 kamen 42% mehr Menschen aus Ländern wie Eritrea, dem Sudan, Nigeria oder Mali als 2014. Dieser Anstieg war bereits im Gange, bevor die NGO in großem Stil aktiv wurden.«

Was also musste passieren, wenn man die Menschen wirklich vor der Festung Europa stoppen wollte? Ein heikles Thema, Stephan Schulmeister hat das in seinem Beitrag Was ist christlich an der Schließung der Mittelmeerroute? einmal gedanklich durchgespielt und zeigt damit die logischen Konsequenzen auf, die zugleich auf die ethischen Untiefen des Themas verweisen:
Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Verhalten durch Anreize gesteuert wird, konstatiert Schulmeister für die Flüchtenden: »Man muss ihnen jede Hoffnung nehmen, dass sie über das Mittelmeer ein besseres Leben finden.«

Dazu, so Schulmeister, gab es bereits Vorschläge. Beispiel: »Man interniert sie auf Inseln wie Lesbos oder Lampedusa ohne Chance auf ein Weiterkommen. Die EU solle sich daher das „australische Modell“ zum Vorbild nehmen. Dazu müssten diese Inseln vorher zu „Niemandsland“ werden, denn in der EU gilt das Völkerrecht.« Geht rechtlich nicht. Auch die NGOs mit ihren kompensatorischen Rettungsaktivitäten sind ins Visier genommen worden: »Einstellung des „NGO-Wahnsinns“ der Rettung der Flüchtenden. Wenn jene, die in Nordafrika auf ihre Chance warten, erfahren, dass immer weniger Menschen gerettet werden, wird ihr Anreiz zur Flucht geschwächt.« Aber was, wenn die Verzweifelten dennoch hoffen und es versuchen? Und auch diese Option spricht er an: »Die Flüchtenden werden von der Frontex gerettet und nach Libyen, Tunesien oder Ägypten zurückgebracht. Doch diese Länder nehmen sie nicht, und sie in Ufernähe ins Meer zu werfen geht wegen der Hoheitsgewässer nicht (außerdem können die meisten nicht schwimmen).«

Vor diesem Hintergrund entwickelt er einen wahrhaft zynischen Gedankengang, mit dem man doch noch das eigentliche Ziel, die Menschen abzuhalten, erreichen können. Man muss sich jetzt anschnallen:

»Ausgangspunkt ist folgende Frage: Wann entfalten Ertrunkene die größte Abschreckungswirkung? Sterben sie einfach deshalb, weil sie von Rettungsbooten zu spät gefunden wurden, so wird dies die Hoffnung der Verzweifelten, dass sie es schon schaffen werden, kaum mindern. So sind 2016 etwa 5000 Menschen ertrunken, dennoch wird weiter geflüchtet.

Hätte man aber eine viel kleinere Zahl von Flüchtenden dadurch am Eindringen in EU-Hoheitsgebiet gehindert, indem man ihre Schlauchboote versenkt, so wäre die Abschreckungswirkung enorm gewesen. Denn wenn die EU so ihre Entschlossenheit demonstriert, die eigenen Grenzen zu schützen, gibt es keine Hoffnung für die Wartenden – Schlauchboote versenken ist ein Kinderspiel.

Gewiss: Aus moralischen Gründen kann kein Politiker diese effektivste Art, die Mittelmeerroute zu schließen, vorschlagen. Doch die Identitären würden die Aufgabe übernehmen – es geht ja um höhere Werte. Mehr als ein paar Boote und Luftdruckgewehre braucht es nicht, es dürfen nur keine Weicheier dabei sein. Zur Abschreckung müsste man die hässlichen Bilder via Internet verbreiten, doch dann kehrte Ruhe ein im Mittelmeer. Damit wäre auch den Schleppern ihr schändliches Handwerk gelegt – niemand wird sie bezahlen, um dann versenkt zu werden.«

Nur ein Phantasiegebilde? Dann sollte man diesen Artikel von Katja Thorwart lesen: Identitärer Bilderkampf: »Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff will die Identitäre Bewegung Stimmung gegen die Flüchtlingsrettung machen. Die visuelle Inszenierung solcher Aktionen spielt dabei eine zentrale Rolle.«

„Defend Europe“ ist der neueste Coup der Identitären Bewegung unter dem österreichischen Chefstrategen Martin Sellner. Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff gedenkt der als rechtsextrem eingestufte Verein, NGOs auf dem Mittelmeer zu „konfrontieren (…), um das Unrecht dort zu beenden, wo (…), Migranten das Seerecht beinhart ausnutzen und (…) Europa illegal fluten“, wie Sellner auf Facebook am 5. Juni formulierte.

Und aus dem Umfeld der Rechtsextremisten wird mittlerweile Vollzug gemeldet – auch wenn man den Wahrheitsgehalt solcher Meldungen nicht überprüfen kann: „Schlepperei beenden“: Identitäre haben ein Schiff.

Man sieht, aus gedanklichem Wahnsinn kann sehr schnell ein realer Irrsinn werden. Wieder zurück zu Schulmeister und seiner Argumentation: »Mit der harten Methode würden weniger Menschen ertrinken und mehr von einer Flucht abgehalten, also gerettet werden. Wahrscheinlich reichen schon ein paar Hundert Versenkte, um Tausenden jede Hoffnung zu nehmen und sie so zu retten.«
Und er beendet seinen Ausflug in die Untiefen der Konsequenz so:

»Im Idealfall wird ihr Schicksal andere abhalten, eine Flucht zu versuchen. Dann bleiben alle dort, wo sie wegwollen – besser geht’s nicht. Das Nachdenken über die Ursachen von Flucht, etwa über die Politik des Westens im Nahen Osten oder die Produktion des Klimawandels oder die Beschädigung der afrikanischen Landwirtschaft durch EU-Agrarexporte zu Dumpingpreisen, das überlassen wir dem Papst Franziskus und seinen Enzykliken. Eine moderne Politik auf neuen Wegen braucht das nicht.«

Ich kann auch nichts dafür. Ein deprimierendes Thema. Wahrscheinlich wird die Entwicklung – auch durch den Druck der zunehmenden Spannungen innerhalb der EU aufgrund des Versagens eines gemeinschaftlichen Politikansatzes – in die Richtung gehen, dass man mit allen Mitteln versuchen wird, Libyen zu einem Satelliten-Staat aufzubauen, um dort die Lager außerhalb der europäischen Zone aufbauen zu können (vgl. dazu bereits den Beitrag Flüchtlinge: Konturen der Festung Europa, zugleich die Unwahrscheinlichkeit einer europäischen Lösung und die kommenden Lager jenseits des Mittelmeers vom 29. Januar 2017).

Und bei uns? »Es ist Wahlkampf in Deutschland – aber die Flüchtlingsfrage spielt kaum noch eine Rolle. Dabei spitzt sich die Lage gerade zu, vor allem in Italien«, so Anna Reimann in ihrem Artikel Deutsche Wahlkämpfer ignorieren die Flüchtlingskrise: »Es ist offensichtlich: Mit dem Flüchtlingsthema ist politisch nichts zu gewinnen, deshalb wird es an den Rand gedrängt. Das machen sie nicht nur in der Kanzlerinpartei so, sondern auch bei der SPD steht die Flüchtlingsfrage nicht im Zentrum.«

Und seien wir ehrlich – auch in den meisten Medien spielt das Thema kaum (noch) eine Rolle, hin und wieder fragt mal der eine oder andere nach, wo denn eigentlich die Flüchtlinge geblieben sind, die schon nach Deutschland gekommen sind (vgl. dazu beispielsweise diesen Beitrag: Nicht einmal jeder zweite Flüchtling ist arbeitslos – jedenfalls nicht offiziell). Viele der „Altfälle“ schlagen jetzt im Hartz IV-System auf – und werden sort absehbar auf viele Jahre bleiben:. Hinzu kommen immer noch in den Großstädten Unterbringungsprobleme. So sind in Berlin noch 10.000 Asylsuchende in Notunterkünften untergebracht. Viele von ihnen leben seit anderthalb Jahren ohne Privatsphäre, ohne die Möglichkeit selbst einzukaufen, zu kochen, ihren Alltag zu gestalten.

Und es kommen jeden Monat neue Menschen dazu, auch wenn das kaum noch im Bewusstsein zu sein scheint: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden im ersten Halbjahr 90.389 neue Asylsuchende gezählt. Hochgerechnet auf das gesamte Jahr landet man bei rund 180.000 Schutzsuchenden. Und dann gibt es noch eine weitere Dimension, die derzeit eher nicht thematisiert wird: Das Auswärtige Amt schätzt, dass bald zusätzlich 200.000 bis 300.000 Syrer und Iraker infolge des Familiennachzugs zu Angehörigen in Deutschland reisen dürfen, so Manuel Bewarder in seinem Artikel Bis zu 300.000 Flüchtlinge in der Warteschleife.

Fakt ist: Derzeit kommen weiterhin Tausende Menschen Monat für Monat in Deutschland an. Das scheint zwar zu bewältigen zu sein, aber neue Krisen in Europa bahnen sich an – und die alten Herausforderungen sind längst nicht gelöst.

Das bedeutet: Es stimmt nicht, dass ein Durchkommen auf der Balkanroute oder über andere Landwege nach Deutschland nur noch im Ausnahmefall gelingt. Denn die Herkunft der Asylsuchenden in Deutschland – ein großer Teil stammt aus Syrien und dem Irak – legt nahe, dass diese Menschen eben nicht hauptsächlich von Afrika aus über das Mittelmeer nach Italien und von dort nach Deutschland gelangen. In Italien kommen nämlich zum allergrößten Teil Afrikaner an den Küsten an. Zugleich spitzt sich wie dargestellt die Situation in Italien weiter zu.

Ganz offensichtlich hofft vor allem die Union, dass sie das Thema und die damit verbundenen Emotionen bis zur Bundestagswahl am 24. September unter den Teppich kehren kann und auch die anderen Parteien (mit Ausnahme der AfD) haben wenig Ambitionen, sich mit Flüchtlingspolitik an die Oberfläche zu wagen. Das kann sicher eine Zeit lang funktionieren. Aber die Realität lässt sich nicht totschweigen auf Dauer.

Bleiben sie länger fern oder kommen sie an? Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Und die scheinbar besondere Rolle der Leiharbeit

Vielen Flüchtlingen und Migranten fehlt es an Sprachkenntnissen und beruflichen Qualifikationen. Das erschwert die Integration in den Arbeitsmarkt für einen langen Zeitraum, sagen Experten. Das kann man diesem Artikel entnehmen: Keine Spur vom Jobwunder: Chancen für Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind noch nicht rosig. Der anfänglichen Euphorie im Herbst 2015 hinsichtlich der möglichen Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Deutschland sei Ernüchterung gewichen, eine Studie der Europäischen Kommission und der OECD kommt gar zu dem Schluss, dass es bis zu 20 Jahre dauere, ehe Flüchtlinge das Beschäftigungsniveau von Inländern erreichten. In dem Artikel berichtet Dieter Hintermeier über einige Zahlen aus Hessen: »Von den rund 122.000 zwischen 2014 und 2016 nach Hessen eingereisten Menschen mit Fluchthintergrund kommen maximal 43.000 Menschen „kurz- bis mittelfristig“ für eine Erwerbstätigkeit in Betracht. Rund 11.000 Menschen mit Fluchthintergrund seien Ende Dezember vergangenen Jahres bereits in der Arbeitslosenstatistik aufgetaucht, ist von der hessischen Regionaldirektion der Agentur für Arbeit zu erfahren. Mit einem stärkeren Anstieg von arbeitslosen Geflüchteten rechnet die Agentur im zweiten Halbjahr 2017, wenn ein Großteil die Integrationskurse absolviert habe.« „Für einen Großteil der Menschen muss zunächst in Integrations- und Sprachkursen die Basis für eine berufliche Qualifizierung vermittelt werden. In den Bezirken der hessischen Arbeitsagenturen gibt es einzelne Beispiele für Menschen, die in eine Ausbildung oder auch eine Beschäftigung integriert werden konnten“, beschreibt Christina Funedda die aktuelle Situation.

Die Hindernisse für eine gelingende Arbeitsmarktintegration sind bekannt und oft beschrieben worden: Nur eine Minderheit der Flüchtlinge habe in Deutschland verwertbare berufliche Qualifikationen. Meist sei überhaupt kein Berufsabschluss vorhanden und es böten sich daher nur Helfertätigkeiten an. Hier sei es aber schwer, angesichts des Überangebots an Arbeitssuchenden einen Arbeitsplatz zu finden. Dazu müssten auch noch hinreichende Sprachkenntnisse vorhanden sein. Junge Flüchtlinge sollten möglichst für eine Ausbildung gewonnen werden. Aber auch hier müssen gewichtige Hindernisse berücksichtigt werden: Neben den vorhandenen Defiziten bei der deutschen Sprache sei die nicht selten unzureichende schulische Ausbildung ein echtes Problem.

Wenn das jetzt den einen oder anderen ernüchtert oder gar frustriert, dann mag so eine Überschrift helfen: IAB-Stellenerhebung: Geflüchtete kommen mehr und mehr am Arbeitsmarkt an. So haben Nicole Gürtzgen, Alexander Kubis und Martina Rebien ihre Auswertung aus dem IAB überschrieben. Zumindest die Überschrift hört sich doch viel besser an.

In dieser Studie geht es um einen ganz bestimmten Aspekt – um die (Nicht-)Erfahrungen, die Betriebe mit Flüchtlingen gemacht haben, wie die Autoren in einer Zusammenfassung berichten:

»Angesichts des langfristig sinkenden Arbeitskräftepotenzials in Deutschland könnten Geflüchtete künftig einen Beitrag zur Deckung des Fachkräftebedarfs leisten. Die hierfür notwendigen Sprach- und Qualifikationsmaßnahmen erfordern jedoch erhebliche Anstrengungen des Staates, der Betriebe und der Geflüchteten selbst. Auf Basis der repräsentativen IAB-Stellenerhebung werden hier erste Erfahrungen der Betriebe mit Geflüchteten der Jahre 2014/2015 dargestellt sowie Hemmnisse und mögliche Erfolgsfaktoren bei deren Arbeitsmarktintegration aus betrieblicher Perspektive untersucht. Die IAB-Stellenerhebung zeigt, dass bis zum vierten Quartal 2016 fast zehn Prozent der deutschen Betriebe bereits erste Erfahrungen mit den zugewanderten Geflüchteten der Jahre 2014/2015 gesammelt haben. Der entsprechende Anteil der Betriebe lag im zweiten Quartal 2016 noch bei sechs Prozent.«

Schauen wir uns die Befunde einmal genauer an (vgl. Gürtzgen/Kubis/Rebien 2017: 1):

  • Der Anteil der Betriebe, die Erfahrungen mit den Geflüchteten der Jahre 2014/2015 gesammelt haben, stieg von 6 Prozent im zweiten Quartal 2016 auf fast 10 Prozent im vierten Quartal 2016. Letztere entsprechen rund 211.000 Betrieben in Deutschland.
  • Im vierten Quartal 2016 haben etwa 3,5 Prozent der Betriebe (rund 84.000) bereits mindestens eine Geflüchtete oder einen Geflüchteten eingestellt.
  • Betriebe der Arbeitnehmerüberlassung haben mit einem Anteil von 25 Prozent überdurchschnittlich oft Erfahrungen mit Geflüchteten gesammelt; es folgen Betriebe im Gastgewerbe sowie im Bereich Erziehung und Unterricht.
  • 16 Prozent aller Betriebe planten im vierten Quartal 2016 die Einstellung von Geflüchteten; 8 Prozent planten eine Ausbildung.
  • Aus betrieblicher Sicht sind unzureichende Deutschkenntnisse derzeit der Hauptgrund für Einstellungshemmnisse von Geflüchteten.

Man muss bei der Interpretation der Werte also beachten, dass hier zwei Ebenen untersucht wurden – zum einen, ob Unternehmen überhaupt irgendeinen „Kontakt“ hatten zu Flüchtlingen, der kann auch darin bestehen, dass sich geflüchtete Menschen bei ihnen beworben haben. Wirkliche „Einstellungen“ konnten bei 3,5 Prozent der Betriebe festgestellt werden – wobei man das nicht als Einstellungen in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gleichsetzen kann und darf.

Das wird dann auch besonders deutlich an einer vom Durchschnitt deutlich nach oben abweichenden Zahl: »Bei dem Vergleich unterschiedlicher Branchen zeigt sich, dass im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mit gut einem Viertel der Betriebe besonders häufig Erfahrungen mit Geflüchteten gemacht wurden … Rund 13 Prozent der Arbeitnehmerüberlassungsbetriebe haben bereits eine Einstellung vorgenommen« (Gürtzgen/Kubis/Rebien 2017: 2). Nun ist es bereits in der „normalen“ Leiharbeit so, dass mehr als 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse in dieser Branche weniger als drei Monate dauern. Das wird bei den Flüchtlingen mit Sicherheit nicht anders sein, eher noch mehr.

Das hindert interessierte Kreise nicht, sofort auf diese Meldung aufzuspringen und sie für eine Kommentierung zu verwenden, die wie bestellt für die Branche daherkommt: Ausgerechnet Zeitarbeit, so Sven Astheimer in der FAZ: »Mit Maßnahmen gegen die Zeitarbeit lässt sich in der Politik gut punkten. Doch gerade diese Branche bietet Flüchtlingen die besten Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt. Ein Umdenken ist nötig.« Warum das?

Man muss sich etwas anstrengen, den Gedankengängen des Redakteurs zu folgen: Die Ergebnisse der IAB-Untersuchung kommen „einer schallenden Ohrfeige für die politisch Verantwortlichen gleich“. Denn die haben die arme Branche in den zurückliegenden Jahren (wieder etwas) stärker reguliert als Antwort auf „angebliche Missstände“, wie das Astheimer pikiert nennt. „Es ist … ausgerechnet die Zeitarbeit, welche Flüchtlingen die besten Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt bietet.“ Wieso „ausgerechnet“? Gerade die Leiharbeitsfirmen – von denen viele im unteren Qualifikationssegment unterwegs sind – haben mittlerweile erhebliche Rekrutierungsprobleme und natürlich sind eine Teil der Flüchtlinge für diese Unternehmen – die mit dem Verleih von Arbeitskräften ihren Profit machen – eine neue und zusätzliche Quelle der Personalbeschaffung. Und Astheimer steigert sich dann im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Liebeserklärung an die Branche hinein, wenn er die Bundesarbeitsministerin auffordert, sie solle sich mit Vertretern der Leiharbeitsbranche treffen und »sie zur Abwechslung fragen, wie sie ihre schwierige Arbeit mit Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen unterstützen kann.« Gut gebrüllt – da opfern sich diese Unternehmen tagtäglich auf, um geflüchteten Menschen und anderen im Hartz IV-System gestrandeten Menschen endlich zu ermöglichen, einen Fuß in die Arbeitswelt zu bekommen, da kann man ja wohl auch mal bedient werden von der Politik. Eine gelinde gesagt merkwürdige Argumentation – nicht nur, aber auch, wenn man sich die ernüchternde Bilanz der letzten Regulierungsrunde die Leiharbeit betreffend anschaut (vgl. dazu beispielsweise Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen vom 21. Oktober 2016 und Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird vom 19. April 2017. Die brauchen nun wirklich keine weitere Hilfestellung mehr für ihre Geschäfte).

Da lohnt dann wieder der Blick auf die Daten. Was beispielsweise in dem Beitrag Flüchtlinge am Arbeitsmarkt: Mehr als jeder Zwölfte in Leiharbeit, in dem die vorliegenden BA-Daten ausgewertet werden und der bereits am 14. Juni 2017 veröffentlicht worden ist, geleistet wird.
Knapp 664.000 erwerbsfähige Personen aus nichteuropäischen Asylherkunftsstaaten wurden im Mai 2017 von der Bundesagentur für Arbeit (BA) statistisch erfasst. Nach Anerkennung ihres Asylantrages dürfen Flüchtlinge uneingeschränkt in Deutschland arbeiten. Bei Arbeitslosigkeit und/oder Hilfebedürftigkeit erhalten sie zunächst Hartz-IV-Leistungen.

Die meisten Flüchtlinge arbeiteten laut BA-Statistik zum Stichtag 30.09.2016 im Gastgewerbe (16,8 Prozent). Auffallend ist jedoch, dass 8,5 Prozent, also mehr als jeder zwölfte Flüchtling, in Leiharbeit beschäftigt ist. Betrachtet man hingegen die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutscher Arbeitnehmer, spielt Leiharbeit quantitativ kaum eine Rolle: Nur 2,2 Prozent der deutschen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sind bei einer Arbeitnehmerüberlassung angestellt.

„Flüchtlinge kommen im Hartz-IV-System an – und auf dem Arbeitsmarkt“, so einer der Schlussfolgerungen in dem Artikel:

Ein Blick auf die Daten zeige, »dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von Personen aus Asylherkunftsländern insgesamt leicht zugenommen hat. Mittlerweile gehen 12,5 Prozent dieser Personengruppe einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Im März 2016 war es nur jeder Zehnte. Innerhalb der Bevölkerungsgruppe aus den acht stärksten Asylzuzugsstaaten sind die Anteile der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen allerdings sehr hoch. Im Vergleich zum Vorjahr ist vor allem die SGB-II-Quote der Bevölkerung aus Asylherkunftsländern massiv angestiegen: Waren im März 2016 erst rund ein Drittel abhängig von Hartz-IV-Leistungen, waren es im Februar 2017 schon mehr als die Hälfte.«

Das ist aber nur die „sichtbare“ Seite der Arbeitsmarkt-Integration von Flüchtlingen. Man darf an dieser Stelle nicht aus den Augen verlieren, dass es wie immer auch eine Schattenseite gibt, die naturgemäß weitaus schwerer zu durchdringen oder gar zu erfassen ist. Die Gegenüberstellung „Bleiben sie länger fern oder kommen sie an?“ erweist sich als das, was es in der Lebenswirklichkeit sein muss – kein Entweder-Oder, sondern ein Kontinuum der Übergänge dazwischen. Nur sind darunter auch Übergänge, die man nicht so gerne sehen möchte, was nichts daran ändert, dass es sie gibt und dass sie möglicherweise an Bedeutung gewinnen werden (müssen), wenn man in anderen Bereichen die Optionen verengt.

So gibt es – angeblich – viele, die es schaffen, auch ohne Aufenthaltsgestattung Geld zu verdienen.

»In jenem Graubereich der deutschen Volkswirtschaft, in dem die Dinge nicht mit einem Vertrag, sondern per Handschlag geregelt werden. Wo weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden und aus einem Anstellungsverhältnis schnell ein Ausbeutungsverhältnis wird: auf dem schwarzen Arbeitsmarkt. Fragt man bei Gewerkschaften und Flüchtlingsberatungsstellen, in welchen Branchen die Abgelehnten ihr Geld verdienen, hört man immer dasselbe: Sie mauern Häuser, putzen Hotelzimmer, waschen Teller, stechen Spargel, pflücken Erdbeeren, schrubben Container, entladen Schiffe, schneiden Hecken, waschen Autos, bauen Gerüste auf, räumen Lagerregale ein«, berichtet Caterina Lobenstein in ihrem Artikel Schwarzarbeit: Hätte, hätte, hätte.
Flüchtlingsberatungsstellen und Gewerkschafter sind sich einig, dass mit der Zahl der abgelehnten Flüchtlinge auch die Zahl der Schwarzarbeiter steigen dürfte. Dazu muss man wissen: Rund 40 Prozent der Asylanträge wurden im vergangenen Jahr nicht bewilligt. Das heißt: Hunderttausende Flüchtlinge müssten das Land eigentlich verlassen. Dass nicht alle gehen oder abgeschoben werden, ist jetzt schon klar. Weil sie krank sind zum Beispiel, weil sie keinen Pass besitzen oder weil sie vor Gericht ziehen und gegen ihren Asylbescheid klagen.

Und vor Ort sieht das dann so aus:

»Saskia Spath, die für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Flüchtlinge berät, erzählt, in Hamburg hätten schon wenige Wochen nach der Eröffnung der großen Flüchtlingsunterkünfte Lieferwagen vor den Heimen gestanden, um arbeitswillige Flüchtlinge auf Baustellen und zum Hafen zu fahren. „Die Strukturen sind da“, sagt Spath: die illegalen Jobvermittler, die Plätze und Straßen in den Randbezirken, auf denen morgens die Tagelöhner stehen und warten, bis jemand kommt, der Arbeit für sie hat. Die Beratungsstelle, in der Spath arbeitet, ist eigentlich nicht für Flüchtlinge gedacht, sondern für Polen, Rumänen oder Bulgaren, die nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder als billige Arbeitskräfte nach Deutschland zogen. Immer öfter aber kämen jetzt Leute, für die Spath und ihre Kollegen gar keine Übersetzer haben: Afghanen, Gambier, Eritreer.«
Nicht, dass darüber nicht berichtet wird: »Viele Geflüchtete arbeiten schwarz – weil sie keine reguläre Beschäftigung finden und ihre Familien unterstützen möchten. Unseriöse Jobvermittler profitieren davon«, so beispielsweise Zoya Mafouhd unter der Überschrift Schuften für zwei Euro die Stunde. Da ist beispielsweise der 30-jährige Mohammed, der in Damaskus Jura studiert hat.

»Jetzt arbeitet er schwarz auf einer Baustelle für vier Euro Stundenlohn. „Im juristischen Bereich konnte ich keine Anstellung bekommen, denn mein Abschluss wird hier in Deutschland nicht anerkannt“, berichtet Mohamed und nippt an seinem Tee. Gleichzeitig braucht seine Familie, die auf der Flucht in der Türkei hängengeblieben ist, Unterstützung. Einen Job als Tellerwäscher hat er schnell aufgegeben – dort bekam der gelernte Jurist nur zwei Euro die Stunde. Über einen Mitbewohner aus dem Wohnheim, wo Mohamed in einem Doppelzimmer lebt, kam er an den Job auf der Baustelle. „Jetzt verdiene ich zusätzlich zur Sozialhilfe, die mir der Staat bezahlt, immerhin etwas, das ich an meine Familie weiterleiten kann.“«

Und man soll sich nichts vormachen – sofort breiten sich die Strukturen der windigen Geschäftemacher aus: »Und so versuchen unseriöse Leiharbeitsfirmen und Jobvermittler, aus diesen Notlagen und der mangelnden Vertrautheit der Geflüchteten mit den Arbeitsgesetzen Profit zu schlagen. Sie gehen in die Flüchtlingsheime, um dort Leute für vertragslose Tätigkeiten zu ködern, und streichen dafür Vermittlungsgebühren in Höhe von mehreren hundert Euro ein. Im Gegenzug werden die Geflüchteten, die sich darauf einlassen, mit lächerlich niedrig bezahlten Jobs abgespeist – im Extremfall für 30 Cent die Stunde.«

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben – auf dem Arbeitsmarkt ist es wie mit Wasser, das auf Hindernisse stößt. Es sucht sich neue Wege. Und wieder einmal bewahrheitet sich die Erkenntnis, die von einigen schon am Anfang der großen Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 noch auf dem Gipfel der Euphorie kritisch vorgetragen wurde: Man sollte unabhängig von der Frage, ob und wie lange die Menschen bleiben werden/dürfen, Erwerbsarbeit ermöglichen und – wenn notwendig – auch öffentlich geförderte Beschäftigung in Verbindung mit schrittweisen Qualifizierungskomponenten durch echte Arbeit organisieren, gerade für die vielen jüngeren Flüchtlinge, von denen viele derzeit festhängen in einem Nirwana der (offiziellen) Nicht-Beschäftigung und der Suche nach Einkommensquellen. Und sei es allein, um sich eine Menge Probleme zu ersparen.