Etwas mehr Licht auf die Umrisse der Menschen, die kommen. Zuwanderung von Flüchtlingen und EU-Ausländern nach Deutschland im Spiegel der Statistik

In dem Beitrag „Gute“ und andere Flüchtlinge, diese und solche Migranten? Differenzierungen bei Immanuel Kant, in der Bevölkerung und ihre mögliche Bedeutung für die (Nicht-)Integration vom 28. Mai 2016 wurde hier darauf hingewiesen, dass die bisherige Datenlage zu der nur scheinbar trivialen Frage, wie viele Menschen denn nun in den zurückliegenden Monaten zu uns gekommen sind, gar nicht so berauschend ist, wie man denken mag: »Überall kann man lesen oder hören, im vergangenen Jahr, also 2015, seien 1,1 Million Flüchtlinge zu uns gekommen. Diese Zahl wird abgeleitet aus den Bruttoerfassungen im sogenannten EASY-System, das der Erstverteilung von Asylbegehrenden dient. Nun ist das bekanntlich mit der Erfassung immer schon so eine Sache, besonders schwierig wird das natürlich in Ausnahmesituationen, wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben, als täglich tausende Neuankömmlinge den deutschen Staatsboden betreten haben und zu registrieren waren.«

Letztendlich steht dahinter das Grundproblem, das wir auch aus anderen Bereichen kennen: Brutto ist nicht gleich netto. Der Migrationsforscher Herbert Brückner vom IAB hat den eben nicht trivialen Unterschied verdeutlicht an einer überschlägigen Berechnung, ausgehend von den (immer noch) genannten 1,1 Mio. Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen seien. Unter Berücksichtigung der nicht-erfassten Zuzüge abzüglich der Doppelzählungen, Weiterreisen sowie der unterschiedlichen Ausreisen kommt er auf eine Größenordnung von 777.000 Menschen, die man als Nettozuwachs bei der Flüchtlingsbevölkerung ansetzen könne.« So die damalige, noch gar nicht so alte Irritation.
Nunmehr aber liegen neue Daten vor und zumindest die statistischen Bilder, die wir von den Umrissen der Menschen zeichnen können, die zu uns gekommen sind, bekommen in der letzten Zeit immer mehr Konturen. Denn es sind ja nicht nur die Flüchtlinge, die gekommen sind (und von denen derzeit nur noch einige wenige hier eintreffen), sondern wir müssen auch eine erhebliche „Binnenwanderung“ innerhalb der EU in Rechnung stellen, also die Zuzüge (wie auch die Fortzüge) von EU-Ausländern nach bzw. aus Deutschland.

Beginnen wir mit dem Blick von ganz oben auf das Zuwanderungsgeschehen des vergangenen Jahres. Datengrundlage hierfür ist die Berichterstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das »vierteljährlich den Wanderungsmonitor (veröffentlicht), der Informationen über den Aufenthalt ausländischer Staatsbürgerinnen und -bürger in Deutschland zum Zweck der Erwerbstätigkeit enthält. Dabei wird auch Bezug auf die Zuwanderung insgesamt genommen, um den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit besser in den Gesamtkontext des Wanderungsgeschehens einordnen zu können. Das Bundesamt greift für den Wanderungsmonitor auf statistische Auswertungen aus dem Ausländerzentralregister (AZR) zurück.«

In diesem Kontext hat das BAMF zum einen die Übersicht Erwerbsmigration nach Deutschland 2015 veröffentlicht, zum anderen das Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland 2015.

Im vergangenen Jahr (2015) sind 1.810.904 ausländische Staatsangehörige nach Deutschland zu- und 568.639 abgewandert. Der Wanderungssaldo belief sich auf 1.242.265 Menschen. Wir hatten in den vergangenen Monaten vor allem die Zuwanderung der Flüchtlinge im Blick und deren Bedeutung wird ja auch erkennbar, wenn man sich anschaut, wie der Wanderungssaldo der Staatsangehörigen aus Nicht-EU-Staaten nach oben schießt.

Aber auch die Zuwanderung von Staatsangehörigen anderer EU-Staaten ist angestiegen und hat 2015 im Saldo mit 382.449 einen neuen Höchststand erreicht. Mit So viele EU-Ausländer wie nie ziehen nach Deutschland oder Zuwanderung von EU-Bürgern nach Deutschland auf Rekordhoch sind die entsprechenden Meldungen überschrieben.

Die meisten Zuwanderer aus EU-Staaten kamen demnach mit 174.779 Menschen aus Rumänien, gefolgt von Polen (147.910) Bulgarien (71.709) und dem jüngsten EU-Mitglied Kroatien (50.646). Damit stammen fast vier Fünftel (533.000) der im vergangenen Jahr zugezogenen EU-Ausländer aus den osteuropäischen Staaten. Neben Rumänien, Bulgarien und Kroatien sind das Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.
Dies verdeutlicht einmal mehr die Anziehungskraft Deutschlands gerade auch im europäischen Raum mit seiner Freizügigkeit.
Mit gut 100.000 Menschen weitere 15 Prozent aus den südeuropäischen Staaten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien in die Bundesrepublik. Mit Ausnahme Italiens hat sich die Zuwanderung aus diesen Staaten, die durch die Schulden- und Finanzkrise angestiegen war, damit zuletzt wieder abgeschwächt.
Insgesamt leben in Deutschland 4,1 Millionen der laut der Statistikbehörde Eurostat insgesamt 18,5 Millionen EU-Migranten. Es folgen Großbritannien (3,1 Millionen), Frankreich (2,2), Spanien (2) und Italien (1,8).

Und auch die Bundesagentur für Arbeit stellt seit Juni 2016 detailliertere Statistiken die Menschen mit einem Fluchthintergrund betreffend zur Verfügung, hier gab es ja bislang nur sehr rudimentäre Daten: Migration und Arbeitsmarkt, so heißt die Seite der BA-Statistik.
Mit dem Berichtsmonat Juni 2016 beginnt die Berichterstattung über Personen im Kontext von Fluchtmigration, die bei Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind (vgl. auch die Hintergrundinformation Geflüchtete Menschen in den Arbeitsmarktstatistiken – Erste Ergebnisse). Als Personen im Kontext von Fluchtmigration oder kurz „Geflüchtete“ bzw. „Flüchtlinge“ werden Asylbewerber, anerkannte Schutzberechtige und geduldete Ausländer gezählt. Geflüchtete Menschen werden seit Juni 2016 auch in den Arbeitsmarktstatistiken detaillierter ausgewiesen.

Für die arbeitsmarktliche Einordnung der Zuwanderung relevant ist weiterhin der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) herausgegebene Zuwanderungsmonitor, vgl. beispielsweise die aktuelle Ausgabe für Juni 2016. Dort findet man Daten zur Erwerbsbeteiligung, zur Arbeitslosigkeit und zur Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen in den einzelnen Zuwanderergruppen.

Man kann aus den nun vorliegenden Daten einige wichtige grundsätzliche Ableitungen machen. Ganz offensichtlich ist die enorme Zuwanderung am aktuellen Rand, wobei man berücksichtigen muss, dass hinter den im Wanderungssaldo ausgewiesenen Zahlen weitaus höhere Bruttozahlen stehen. Beispiel: Wenn festgestellt wird, dass es 2015 einen Wanderungssaldo von 1,242 Mio. Ausländern gegeben hat, dann stehen dahinter 1,81 Mio. Zuzüge nach Deutschland sowie 567.000 Fortzüge aus Deutschland. Das sind schon erhebliche Zahlen, mit denen natürlich einige gerade auch sozialpolitische Herausforderungen verbunden sind, man denke hier nur an die Wohnraumversorgung oder gerade mit Blick auf die Zuwanderung der EU-Ausländer Aspekte der arbeitsmarkteichen Integration.

Die Zuwanderung wird ja nicht nur in Großbritannien von einem Teil der Bevölkerung negativ gesehen bzw. als Bedrohung empfunden. Auch in Deutschland sind die gesellschaftlichen Spannungen angestiegen, primär scheinbar fokussiert auf die Flüchtlinge vor allem aus Syrien und anderen Ländern, tatsächlich aber oftmals verwoben mit einer problembehafteten Wahrnehmung der Zuwanderung von EU-Bürgern, die ja aufgrund der Freizügigkeitsbestimmungen eine ganz andere Qualität hat als die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. An die Oberfläche gespült wird das  dann oftmals in skandalisierenden Berichten, beispielsweise über „Armutszuwanderung“ von Bulgaren und Rumänen oder die „Flucht in die deutschen Sozialsysteme“. Seltener bis gar nicht wird die andere Seite der Medaille den „besorgten“ Bürgern präsentiert, also die Tatsache, dass – wenn wir mal bei Rumänien und Bulgarien bleiben – Tausende dort ausgebildeter Ärzte und Ärztinnen bei uns in Deutschland arbeiten und manche Krankenhäuser (gerade im Osten des Landes) schließen müssten, wenn sie nicht auf ausländische Ärzte zurückgreifen könnten. Eine andere Form der „wohlstandskluftbedingten“ Zuwanderung wird nie als Problem thematisiert, weil zahlreiche deutsche Haushalte davon handfest profitieren – gemeint ist die Beschäftigung von geschätzt 150.000 bis 200.000 Haushalts- und Pflegekräften im Rahmen der sogenannten „24-Stunde-Pflege“ von Pflegebedürftigen in deren Haushalten.

Es wird also – nicht wirklich überraschend, aber eben mit einer sehr verzerrenden Wirkung – selektiert nach dem Nutzen der Zuwanderung. Problematisiert und zuweilen auch medial aufgeblasen werden die Fallkonstellationen, bei denen man den Eindruck vermitteln kann, hier kommen Menschen, um uns was „wegzunehmen“. Ist allerdings das Gegenteil der Fall, dann wird da kaum oder gar nicht drüber gesprochen. Und damit auch nicht über die Verwerfungen, die das in den Ländern verursacht, aus denen die oftmals gut qualifizierten, auf alle Fälle nutzbringenden Arbeitskräfte kommen.

Das hier angesprochene Grundproblem ist eines der ungleichen Verteilung und der daraus resultierenden Anreize, die zu Gewinnern und Verlierern führen. Als Beispiel sei hier diese Meldung aufgerufen: Grexit der anderen Art. »Mehr als 500.000 Menschen sind im Zuge der Finanzkrise seit 2008 aus Griechenland ausgewandert. Die meisten von ihnen sind jung und gut ausgebildet«, so die Quintessenz des Artikels. über ein Land, das insgesamt 11 Mio. Anwohner hat. »Laut einer Studie der griechischen Zentralbank wanderten zwischen 2008 und 2013 rund 427.000 Griechen im Alter zwischen 15 und 64 aus. 2014 kamen laut den Erhebungen der griechischen Statistikbehörde noch einmal knapp 90.000 hinzu.« Und auch das ist nicht überraschend: »Es seien hauptsächlich gut ausgebildete Menschen, die Griechenland verlassen. Der Großteil der Auswanderer ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das hat einen einfachen Grund: Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen übertrifft zurzeit 50 Prozent. Die meisten Auswanderer gehen nach Großbritannien, Deutschland und in die Vereinigten Arabischen Emirate, heißt es im Bericht.« Nun hat es Migration in Form von (temporärer) Auswanderung immer schon gegeben. »Die Auswanderungswelle habe einen qualitativen Unterschied im Vergleich zu der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals wanderten rund eine Million Griechen hauptsächlich nach Deutschland und Belgien als Industriearbeiter aus. Diesmal seien es Ärzte und Ingenieure sowie andere gut ausgebildete junge Menschen, die das Land verlassen.«

Das wird natürlich ein Land wie Griechenland nicht nur schwächen, sondern möglicherweise auf Dauer schwer schädigen. Dem stehen auf der anderen Seite Profiteure gegenüber, zu denen in vielen Fällen auch und gerade Deutschland gehört. Man schaue sich einfach nur die Abbildung mit der Altersverteilung der Zuwanderer nach Deutschland, die 2015 aus EU-Staaten gekommen sind, an. Fast jeder Dritte ist zwischen 25 und 35 Jahre alt und damit in einer für den Arbeitsmarkt hoch interessanten Altersgruppe.

Das alles kann man den vielen Statistiken entnehmen, die nun sukzessive ausdifferenziert werden und ein immer genaueres Bild von den Umrissen der Zuwanderung erlauben. Was weiterhin offen bleibt sind die gesellschaftspolitischen Debatten über das, was man aus diesen Zahlen ableiten kann. Die kann man zumindest etwas mehr faktenbasiert führen. Von der Frage, ob man das gut oder schlechter findet, ob man das will oder nicht, entlastet einen die Statistik aber nicht.

Kopfschütteln über 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge. Das BSG bremst die Jobcenter bei Sanktionen. Und RTL greift ganz tief nach unten

Man ist immer wieder unangenehm überrascht, was man sich in Berlin offensichtlich auszudenken in der Lage ist, um an sich schon mehr als komplexe Politikfelder noch komplizierter werden zu lassen. Im Zuge des derzeit im Bundestag behandelten „Integrationsgesetzes“ wurde bekannt, dass das Bundesarbeitsministerium in diesem Rahmen auch die Idee umsetzen will, 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge aus Bundesmitteln einzurichten. Am Anfang ging der kritische, aber wohlmeinende Beobachter noch davon aus, dass das so abläuft, dass der Bund das Geld den Kommunen gibt, denn die sind ja für die neu angekommenen Flüchtlinge und für die Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Antrag zuständig und im Asylbewerberleistungsgesetz gibt es im § 5 schon die Möglichkeit, Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet) durchzuführen, was in einigen Kommunen durchaus intensiv gemacht wurde und wird. Man hätte auch auf den schon eigentlich naheliegenden, allerdings systemüberwindenden Gedanken kommen können, dass das doch die machen können, die später sowieso für fast alle Flüchtlinge zuständig sind, also die Jobcenter, die ebenfalls Arbeitsgelegenheiten (§ 18d SG II) haben. Doch weit gefehlt.

Herausgekommen ist nun eine Metastasierung des an sich schon komplexen Gebildes, wenn der Gesetzentwurf Realität wird: »Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen)«, so meine Zusammenfassung in dem Beitrag  „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? vom 12. Juni 2016. Und das ist schon alles schlimm genug, aber man setzt offensichtlich noch einen drauf: Die neuen „Flüchtlings-Arbeitsgelegenheiten“ sollen anders als die normalen „Ein-Euro-Jobs“ nur mit einer Mehraufwandsentschädigung von 80-Cent pro Stunde versehen werden. Der zitierte Beitrag hat den Unsinn, der sich hier Bahn zu brechen versucht, analysiert und bewertet.

Das ist jetzt auch im Bundestag aufgeschlagen, wie Claudia Kade in ihrem Artikel Kopfschütteln über Nahles‘ Pläne für Flüchtlingsjobs berichtet:

»In einer Anhörung vor dem Arbeitsausschuss des Bundestags sprach der Vertreter des Deutschen Städtetages, Helmut Fogt, von einem „unverhältnismäßigen Aufwand“, wenn über die Mehraufwandsentschädigung einzeln abgerechnet werden müsse. Der Städtetag plädiert nach dem Protokoll der Sitzung vom vergangenen Montag dafür, die allgemein üblichen 1,05 Euro zu zahlen – „weil das auch administrativ wesentlich einfacher zu handhaben ist“.
Der Deutsche Landkreistag reagierte ebenfalls mit Unverständnis: Wenn Belege von Flüchtlingen gesammelt werden müssten als Nachweis dafür, dass ihnen ein Kostenaufwand entstanden sei, der über der Entschädigung von 80 Cent pro Stunde liegt, wäre der Aufwand höher als der Nutzen. „Die Belege müssten dann entsprechend im Sozialamt geprüft werden“, sagte die Vertreterin des Landkreistags, Irene Vorholz, in der Anhörung. „Sie müssten dokumentiert werden. Es muss dann eine Entscheidung getroffen werden.“ Deswegen sei ein einheitlicher fester Betrag von 1,05 pro Stunde sinnvoll, „ohne eine Abweichungsmöglichkeit in welche Richtung auch immer“.«

Wie weit weg die politischen Entscheidungsträger von der Wirklichkeit sind, verdeutlicht dieser Passus aus dem Artikel:

»Kerstin Griese, Vorsitzende des Arbeitsausschusses, wies die Kritik zurück. „Den Vorwurf neuer Bürokratie verstehe ich nicht“, sagte die SPD-Politikerin. „Denn die gemeinnützigen Träger, die die Arbeitsgelegenheiten stellen, kennen sich mit der Abrechnung bestens aus.“ Sie machten das bei den Arbeitsgelegenheiten für Hartz-IV-Bezieher ebenfalls, wenn es Bedarf gebe. „Ich mache mir keine Sorgen um Bürokratie.“«

Hier wird wieder einmal unterschätzt, was das an Aufwand (der in keiner Relation steht zu dem, was damit erreicht werden kann) vor Ort bedeutet.

Aber unabhängig davon ist als eigentlich entscheidender Einwand darauf hinzuweisen, dass dieses geplante Programm für 100.000 Arbeitsgelegenheiten für (noch nicht anerkannte) Asylberechtigte, wenn man es denn überhaupt für sinnvoll hält, eigentlich viel zu spät kommt, denn das BAMF weist darauf hin, dass in den kommenden Monaten die Zeiträume bis zur Asylantragstellung und dann bis zur Anerkennung bzw. Ablehnung des Asylantrags massiv verkürzt werden (können). Dann stellen sich die Herausforderungen vor allem in dem System, das für die anerkannten Flüchtlinge zuständig ist, also das SGB II und damit die Jobcenter. Vor diesem Hintergrund muss man auch die angestrebte Größenordnung (100.000 AGHs für Flüchtlinge) sehen, denn im gesamten Hartz IV-System gibt es bundesweit derzeit etwa 80.000 Arbeitsgelegenheiten, wohlgemerkt für alle Hartz IV-Bezieher.
Hinzu kommt, dass die Fixierung auf die geplanten 100.000 AGHs für eine (wahrscheinlich) immer weniger werdende  Klientel die an sich notwendige Ausrichtung auf die wirklich erforderlichen arbeitsmarktpolitischen Bemühungen bei den meisten geflüchteten Menschen unnötigerweise blockieren würde, also eine Verbindung von (möglichst betriebsnah aufgestellter) Beschäftigung, Qualifizierung, Sprachförderung.

Fazit: Einfach sein lassen, was da geplant wurde.

Auch im derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen „Integrationsgesetz“ geht es um „Fordern“ und „Fördern“ analog zum SGB II und es wird an dieser Stelle viele nicht überraschen, dass die Sanktionen als ein Element des Forderns nun auch im Integrationsgesetz eine wichtige Bedeutung bekommen sollen. Die nun sind im Hartz IV-System seit langem und grundsätzlich hoch umstritten und erst vor kurzem Gegenstand einer (vorläufigen) Nicht-Befassung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Frage, ob es verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist, das Existenzminimum zu beschneiden.

Hierzu gibt es nun ein neues Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), mit dem den Jobcentern gewisse Schranken gesetzt werden bei der Verhängung von Sanktionen: Keine Vereinbarung von Bewerbungsbemühungen ohne Vereinbarung zur Bewerbungskostenübernahme!, so und ausdrücklich mit Ausrufezeichen versehen ist die Pressemitteilung des BSG dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt, der eine typische Erfahrung vieler Hartz IV-Empfänger widerspiegelt:

»Der 1977 geborene, alleinstehende Kläger schloss mit dem beklagten Jobcenter in 201»1 und 2012 Eingliederungsvereinbarungen. Nach diesen war er verpflichtet, mindestens zehn Bewerbungsbemühungen pro Monat zu unternehmen und diese an einem Stichtag dem Jobcenter nachzuweisen. Das Jobcenter bot Unterstützungsleistungen zur Beschäftigungsaufnahme an; eine Regelung zur Erstattung von Bewerbungskosten des Klägers durch das Jobcenter enthielten die Eingliederungsvereinbarungen nicht. In den drei hier maßgeblichen Monatszeiträumen erfüllte der Kläger nach Auffassung des Jobcenters seine Verpflichtung zu den monatlichen Eigenbemühungen nicht, weshalb das Jobcenter jeweils feststellte, dass wegen diesen Pflichtverletzungen das Arbeitslosengeld II des Klägers für drei Monate vollständig entfällt (Dezember 2011 bis Februar 2012, Juni bis August 2012, September bis November 2012).«

Das wurde von dem Betroffenen nicht hingenommen und er hat dagegen geklagt. Das Sozialgericht hob die vom Kläger angefochtenen Sanktionsentscheidungen auf, das Landessozialgericht wies die Berufungen des Jobcenters zurück. Und es ging weiter zum BSG. Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat nun am 23. Juni 2016 die Revision des Jobcenters zurückgewiesen.

»Die Sanktionsentscheidungen sind schon deshalb rechtswidrig, weil der Kläger durch die Eingliederungsvereinbarungen nicht zu Bewerbungsbemühungen verpflichtet war. Die Eingliederungsvereinbarungen sind als öffentlich-rechtliche Verträge jedenfalls deshalb insgesamt nichtig, weil sich das Jobcenter vom Kläger unzulässige Gegenleistungen versprechen lassen hat. Denn die sanktionsbewehrten Verpflichtungen des Klägers zu den in den Vereinbarungen bestimmten Bewerbungsbemühungen sind unangemessen im Verhältnis zu den vom Jobcenter übernommenen Leistungsverpflichtungen zur Eingliederung in Arbeit. Diese sehen keine individuellen, konkreten und verbindlichen Unterstützungsleistungen für die Bewerbungsbemühungen des Klägers vor; insbesondere zur Übernahme von Bewerbungskosten enthalten die Eingliederungsvereinbarungen keine Regelungen. Dass gesetzliche Vorschriften die Erstattung von Bewerbungskosten ermöglichen, führt nicht dazu, dass die Eingliederungsvereinbarungen ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen von Kläger und Jobcenter aufweisen. Damit fehlte es jeweils an Verpflichtungen des Klägers zu Bewerbungsbemühungen und so bereits an den Grundlagen für die angefochtenen Sanktionsentscheidungen.«

Eine wichtige Entscheidung des BSG, wird hier doch ein Signal gegen die erkennbare und von vielen beklagte Asymmetrie im Verhältnis zwischen  den Leistungsberechtigten und den Jobcentern ausgesendet.

Zum Schluss eine zynische Thematisierung von Hartz IV: RTL: Neue Sendung mit Hartz-IV-Empfängern! Über das Vorhaben des Senders erfahren wir:

»Bei RTL wird bald die Sendung „Raus aus der Armut“ zu sehen sein. Die Teilnehmer des TV-Experiments werden Hartz-IV-Empfängern sein … Für das große TV-Experiment „Raus aus der Armut“ scoutet RTL momentan Familien, die seit längerem von Hartz IV leben, aber einen Weg aus der sozialen Abhängigkeit suchen. Interessenten können sich ab sofort bei dem Privatsender bewerben. Das Konzept der Sendung klingt jedenfalls interessant: Die Familien kriegen ihre jährliche Sozialhilfe auf einen Schlag ausgezahlt. Durchschnittlich liegt der Hartz-IV-Satz bei etwa 25.000 Euro … Mit dem Koffer voll Geld können die Familien tun und lassen, was sie wollen. Pikant: Dafür müssen sie ein Jahr auf ihre monatliche Sozialunterstützung verzichten! Ziel der Sendung soll es sein, dass sich die Kandidaten mit der hohen Geldsumme ein neues Leben aufbauen können. Am Ende sollen die Familien unabhängig von Hartz IV leben können, so RTL … Allerdings ist bereits jetzt schon abzusehen, dass „Raus aus der Armut“ vor allem die Zuschauer unterhalten soll. Es ist nicht auszuschließen, dass die Hart-IV-Familien ein Stück weit der Lächerlichkeit preisgegeben werden.«

Man kann das wirklich nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, womit wir irgendwie wider am Anfang dieses Beitrags angekommen sind.

Eine Finanzspritze für die Krankenkassen aus der gut gefüllten Schatulle des Gesundheitsfonds (im Wahljahr 2017), die Frage nach dem Geschmäckle und die wirklichen Systemprobleme

Die Finanzierung der Krankenkassen aus der Welt der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist ein immerwährendes Thema der Gesundheitspolitik. In der früheren Welt galt die Regel der paritätischen, also hälftigen Finanzierung durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber – wobei darauf hinzuweisen wäre, dass letztendlich die Arbeitnehmer die Sozialversicherungsbeiträge ökonomisch gesehen immer alleine zu stemmen haben, denn für die Arbeitgeber relevant sind immer die Gesamtpersonalkosten, zu denen eben auch die „Arbeitgeber“-Beiträge zählen. Nun hat es gerade hinsichtlich der Aufteilung der Finanzierungslasten eine ganz erhebliche Veränderung dergestalt gegeben, als dass der Arbeitgeberanteil eingefroren wurde und die zukünftigen Kosten- und daraus resultierend Beitragsanstiege allein von den Versicherten über die „Zusatzbeiträge“ aufzubringen sind, die zudem noch zwischen den Krankenkassen der GKV-Welt unterschiedlich sind je nach finanzieller Verfasstheit der einzelnen Kassen (vgl. dazu den Blog-Beitrag Die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen es alleine stemmen. Die Lastenverschiebung in der Sozialversicherung hin zu den Arbeitnehmern bekommt ein Update vom 16. Oktober 2015).
Diese Verschiebung und die damit verbundene Unwucht zuungunsten der Versicherten in der GKV wurde bereits in der Vergangenheit ausführlich kritisiert (vgl. dazu bereits am 14. Juni 2014 den Beitrag Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen). Nun aber erleben wir – möglicherweise – eine Flucht vor der Konsequenz dieses Umbaus des Finanzierungssystems angesichts der im kommenden Jahr anstehenden Bundestagswahlen.

Da gibt es den allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent, den sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch teilen, zumindest formal. Die eitragseinnahmen der Kassen sowie Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt fließen in den Gesundheitsfonds. Nach einem bestimmten Schlüssel erhält jede Krankenkasse daraus eine monatliche Zahlung. Wenn die sich daraus ergebenden Finanzmittel nicht ausreichen, dann muss die Kasse von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag nunmehr im Sinne eines prozentualen Aufschlags auf den allgemeinen Beitragssatz erheben. Im Schnitt liegen diese in diesem Jahr bei 1,1 Prozent.

Allerdings wird ein Anstieg zum Jahreswechsel 2017 vorhergesagt und bis 2018 könnte der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz bei 1,8 Prozent liegen.

Nun haben wir im Herbst des kommenden Jahres Bundestagswahlen – und da würden Beitragserhöhungen in der GKV, die zudem über den Mechanismus des Zusatzbeitrags ausschließlich von den Mitgliedern der Krankenkassen zu tragen sind, nicht so gut passen. Wie also kann man diese Situation a) vermeiden und b) das dann auch noch mit dem Flüchtlingsthema verknüpfen?

Was aber hat die Frage einer Beitragsanhebung mit dem Flüchtlingsthema zu tun? Diese Verknüpfung muss im Zusammenhang gesehen werden mit der Art und Weise der Finanzierung der Ausgaben für die gesundheitliche Versorgung der Menschen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Das wurde bereits grundsätzlich behandelt  in dem Beitrag Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität vom 21. Februar 2016.

Wir haben eine Zweiteilung im Sinne einer 15-Monats-Frist: Flüchtlinge werden in Bezug auf die Sozialsysteme nach einer Wartezeit von 15 Monaten normalen Arbeitnehmern gleich gestellt (zudem haben sie als Asylbewerber keinen Anspruch auf das volle Leistungsprogramm der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern nur auf eine abgespeckte Variante). Wenn sie keinen Job haben – was zunächst für die meisten Flüchtlinge gelten wird, haben sie Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Hartz-IV). Sie erhalten zudem die vollen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die Beiträge an die jeweilige Kasse zahlt der Bund.

Bereits seit längerem geistern nun Vorhersagen durch den öffentlichen Raum, was das für die GKV bedeuten könnte: Krankenkassen droht Milliardendefizit, so beispielsweise die Überschrift eines Artikels von Timot Szent-Ivanyi. Hintergrund dieser Einschätzung: »Die Höhe der vom Bund übernommenen Beiträge ist aber nicht ansatzweise kostendeckend. Derzeit zahlt der Bund für jeden Hartz-IV-Empfänger rund 90 Euro im Monat. Zwar fehlen noch verlässliche Zahlen, wie hoch die von Flüchtlingen verursachten Gesundheitskosten tatsächlich sind. Es gibt allerdings erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

Nun wachsen immer mehr Flüchtlinge in den normalen Schutzumfang durch die GKV hinein und man erwartet ab dem Spätsommer dieses Jahres eine deutliche Zunahme der Hartz IV-Empfänger, wenn das SGB II für die ehemaligen Flüchtlinge zuständig wird – und damit auch die Pauschale greift. Die Bundesregierung steht nun vor dem Szenario, dass sie im Wahljahr 2017 mit der Botschaft konfrontiert wird, dass die Krankenkassen die Zusatzbeiträge anheben müssen, um die nicht-gedeckten Kosten zu finanzieren (die, so der Vorwurf, durch eine zu gering dimensionierte Pauschale für Hartz IV-Empfänger verursacht werden, was allerdings nicht eindeutig belegt ist). Man kann sich in diesem Szenario vorstellen, wie das – ob zutreffend oder nicht – ausgeschlachtet werden kann von den politischen Kräften, die Stimmung machen gegen die Zuwanderung.

Vor diesem Hintergrund ist dann die „Lösung“ verständlich, die solche Überschriften signalisieren: Hermann Gröhe will für Flüchtlinge auf Gesundheitsfonds zugreifen oder auch Milliarden-Finanzspritze für die Krankenkassen: »Fachleute sagen den Krankenkassen für das kommende Jahr steigende Zusatzbeiträge voraus, unter anderem wegen der Flüchtlinge. Im Wahljahr wäre das heikel. Doch jetzt winkt eine riesige Finanzspritze.«

Und woher soll die kommen? Aus Steuermittel? Nein, aus dem Gesundheitsfonds, denn der ist gut gefüllt auch aufgrund der steigenden Beschäftigung und der Lohnerhöhungen in vielen Branchen.

»Die Reserven des Fonds sollten durch eine gesetzliche Regelung um 1,5 Milliarden Euro abgesenkt und das Geld den Kassen zur Verfügung gestellt werden, sagte ein Ministeriums-Sprecher … Der Gesundheitsfonds verfügt derzeit über Reserven von rund zehn Milliarden Euro. Um den Kassen mehr Geld aus der Rücklage zukommen zu lassen, muss die Regierung das Gesetz ändern. Mit der jetzt geplanten Summe von 1,5 Milliarden Euro sollen die Kassen dem Ministerium zufolge konkret bei den Kosten für Flüchtlinge sowie die Aufwendungen zum Aufbau einer Telematik-Infrastruktur unterstützt werden, wozu die Anwendungen rund um die elektronische Gesundheitskarte gehören.«

Und was sagen die Krankenkassen? Zum einen wollen sie mehr: So fordern Vertreter der GKV, die Reserven des Fonds über die vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro hinaus abzusenken. 6,5 Mrd. Euro und damit 35 Prozent einer Monatsausgabe seien als Rücklagen ausreichend, so dass man ausgehend von den 10 Mrd. Euro Reserven 3,5 Mrd. Euro ausschütten könnte.
Auf der anderen Seite gibt es dort offensichtlich ein mulmiges Gefühl, was die Verknüpfung mit den (angeblich) „steigenden Kosten durch die Flüchtlinge“ angeht, man ahnt wohl, um was für ein Reizthema es sich hier handelt. So muss man den Einwurf seitens des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung verstehen, über den da unter solchen Überschriften berichtet wurde:

»Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sieht vorerst keine Notwendigkeit, zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen zusätzliche Milliarden aus dem Gesundheitsfonds zu nehmen … Pfeiffer sagte weiter, im Moment könne noch nicht seriös abgeschätzt werden, wie viele Asylsuchende über den Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II) tatsächlich in die gesetzliche Krankenversicherung kommen. „Davon losgelöst kritisieren wir seit geraumer Zeit, dass die Beiträge für ALG-II-Empfänger generell nicht kostendeckend sind. Wenn es für Krankenkassen derzeit eine echte finanzielle Herausforderung gibt, sind es sicherlich in erster Linie die teuren Reformen des Gesetzgebers und nicht die Asylsuchenden”, fügte Pfeiffer hinzu« , so der Artikel Krankenkassen wollen kein Geld für Flüchtlinge.

Ganz offensichtlich möchte man diesen (vergifteten) Teil des Milliardengeschenks wieder an die Politik zurückreichen.

Und Doris Pfeiffer hat das eigentliche Systemproblem offen benannt – es sind nicht „die“Flüchtlinge, sondern es ist der von mehreren Seiten schon seit längerem vorgetragene Kritikpunkt, dass die Pauschale für Empfänger von Arbeitslosengeld II zu niedrig angesetzt ist (zu den Hintergründen vgl. genauer den Beitrag Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität vom 21. Februar 2016).

Und weitere relevante Systemprobleme der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen hier benannt werden, dann wird klar, dass die politisch motivierte, gefährliche Verengung des Problems auf „Flüchtlinge“ völlig unterkomplex ist und von den eigentlich zu diskutierenden Punkten ablenkt:

Neben der Unterfinanzierung der Kassenpauschale für die vielen Hartz IV-Empfänger sind die Zusatzbeiträge an sich aufgrund der mit ihnen einhergehenden einseitigen Verlagerung der Lasten zukünftiger Ausgabenanstiege auf die zahlenden Mitglieder zu nennen (bezeichnenderweise bekommt die Politik Muffensausen genau in dem Moment, wo dieser gewollte Mechanismus greifen würde und eine Bundestagswahl vor der Tür steht, was mehr als ein Geschmäckle hat). Hinzu kommt eine weitere einseitige Belastung, in diesem Fall der Patienten unter den Versicherten – die Zuzahlungen. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass Zuzahlungen nichts anderes bedeuten als das (teilweise) Vorenthalten einer Kostenerstattung durch die Krankenkasse. Und hier geht es nicht um Peanuts: Zuzahlungen von 3,6 Milliarden Euro sind für die Krankenkassen eine gewichtige Entlastung. Und dann ist da noch der Bundeszuschuss aus Steuermitteln zur Abdeckung der „versicherungsfremden Leistungen“ in der GKV, denn zum einen ist die angesetzte Summe nach Ansicht vieler Kritiker viel zu niedrig und dann wurde die auch noch in den vergangenen Jahren als Steinbruch für Haushaltseinsparungen des Bundes zweckentfremdet. Hinzu kommt die nur noch historisch zu verstehende Verengung der Finanzierungsgrundlagezum einen auf sozialversicherungspflichtiges Erwerbsarbeitseinkommen und zum anderen das dann auch noch bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze, deren Überschreiten dazu führt, dass jeder Euro darüber nicht herangezogen wird zur Finanzierung.
Bei einer System-Betrachtung wäre auch die Dualität zwischen GKV und PKV zu nennen, die dazu führt, dass sich nicht selten „gute Risiken“ aus der Solidargemeinschaft der GKV verabschieden können.

Wenn man diese Stichworte betrachtet, dann wird klar, dass die eigentliche Finanzierungsdebatte in der Krankenversicherung ganz anders aufgehängt werden müsste. Und dabei wären „die Flüchtlinge“ nur ein sehr kleiner Teil der Packung.

„Integrationsarbeit“ statt „80 Cent-Arbeitsgelegenheiten“? Und die Untiefen des Versuchs einer integrationsgesetzlichen Abbildung der Lebenswirklichkeit

Das Bundesarbeitsministerium bewirbt
auf der ministerialen Website
das anstehende Integrationsgesetz mit großen
Versprechungen: »Es fördert den schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt und die
Integration durch Arbeit. Dafür wird das Angebot an Integrations- und
Sprachkursen verbessert und ausgebaut.  Der Weg in eine Berufsausbildung
wird durch eine gezieltere Förderung und mehr Aufenthaltssicherheit eröffnet.
Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen
Arbeitsmarkt.« Die in dem Konzept enthaltenen zusätzlichen 100.000 Arbeitsgelegenheiten
wurden in dem Beitrag „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“
zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der
„Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger?
vom 12.
Juni 2016 bereits kritisch auseinandergenommen. In diesem Zusammenhang stellt
sich natürlich die Anschlussfrage, was man denn alternativ machen sollte und
könnte, um die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge zu fördern. Da gibt es
dann beispielsweise den Vorschlag der „Integrationsarbeit“ in expliziter
Abgrenzung zu dem geplanten Einsatz des Instrumentariums der
Arbeitsgelegenheiten. Dieser Vorschlag ist auch deshalb genauer anzuschauen,
weil er nicht etwa aus der Ecke der „üblichen Verdächtigen“ kommt, denen es vor
allem um Förderung und Ausweitung der arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten geht.
Denn der Verfasser, Steffen J. Roth, ist seit 2002 Geschäftsführer des die
Fahne der Ordnungspolitik hochhaltenden Instituts
für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln
. Roth hat 2002 promoviert
zum Thema „Beschäftigungsorientierte Sozialpolitik. Gemeinnützige Beschäftigung
als Brücke zwischen Sozialsystem und Arbeitsmarkt“ und daran schließen seine
aktuellen Überlegungen die „Integrationsarbeit“ betreffend an.

Roth hat sich jetzt unter dem vielversprechenden Titel Wie
die Integration der Flüchtlinge gelingen kann
in einem Gastbeitrag in der
FAZ zu Wort gemeldet. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist diese sicher von
vielen geteilte Diagnose:

»Ein großer Teil der Flüchtlinge wird dauerhaft bleiben oder
zumindest vorübergehend geduldet werden. Die wenigsten werden einen schnellen
Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Wenn wir in der Integrationspolitik keine neuen
Wege gehen, werden Hunderttausende leistungsfähiger und leistungswilliger
Menschen über Jahre hinweg Leistungen aus den Sozialsystemen beziehen werden,
ohne sich selbst und der aufnehmenden Gemeinschaft helfen zu können.«

Damit sind natürlich erhebliche Kosten verbunden und man
kann nun versuchen, auf der Ausgabenseite Mittel einzusparen oder aber »auf der
Ertragsseite Wege … erschließen, dank derer die Zuwanderer ihren Hilfebedarf
aus eigener Kraft reduzieren und der aufnehmenden Gesellschaft etwas
zurückgeben können.« Der letzte Punkt ist sein konzeptioneller
Anknüpfungspunkt.

Und dass wir Handlungsbedarf haben, begründet Roth auch mit
Bezug auf Argumentationslinien, die in der Arbeitsmarktpolitik seit Jahrzehnten
vorgetragen werden, um Investitionen beispielsweise in öffentlich geförderte
Beschäftigung eines Teils der Arbeitslosen zu legitimieren:

»Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist außerdem zu
erwarten, dass eine anhaltende Untätigkeit der Flüchtlinge negative Folgen auf
deren Integrations- und Beschäftigungsfähigkeit hat. Anhaltende unfreiwillige
Untätigkeit wirkt sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit der
Betroffenen aus und bewirkt Resignationseffekte … Studien zeigen darüber
hinaus signifikante Effekte auf Persönlichkeitsveränderungen, die einer
zukünftigen Beschäftigung entgegenstehen können.«

Man muss sich einfach mal jenseits aller sicherlich
hilfreichen Studien vorstellen, man wäre in ein fremdes Land geflüchtet, in
einer Sammelunterkunft untergebracht, Monate darauf wartend, überhaupt einen
Asylantrag stellen zu können, der dann noch bearbeitet werden muss. Und den
ganzen Tag nichts zu tun zu haben. Die Zeit totschlagen zu müssen. Man kann
sich selbst vorstellen, dass das ein nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes
krank machendes Setting ist.
Deshalb muss man alles versuchen, um die Betroffenen so
schnell wie möglich in Beschäftigung zu integrieren, so die Argumentation von
Roth, der dann von „Integrationsarbeit“ spricht – auch, aber nicht nur, als »Möglichkeit,
die zermürbende und lähmende Zeit des untätigen Abwartens zu beenden«. Was soll
„Integrationsarbeit“ sein?

»Sie bietet arbeitsfähigen Flüchtlingen eine breite Palette
Tätigkeiten, erschließt ihnen unmittelbar sinnstiftende und
integrationsfördernde Arbeit im Dienste der sie aufnehmenden Gemeinschaft. Da
die Tätigkeiten der Integrationsarbeit im schlechtesten Fall kostenneutral für
die öffentlichen Haushalte sein sollen und bestenfalls sogar Ersparnisse oder
Einnahmen generieren, können alle arbeitsfähigen Flüchtlinge an solchen
Maßnahmen teilhaben. Im Kern geht es darum, den Betroffenen Tätigkeiten zu
eröffnen, in denen ein Wert geschaffen wird, für den auch eine
Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung besteht. Da die Versorgung der Flüchtlinge
durch Sach- oder Geldleistungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes,
durch Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe gewährleistet wird, sollen die in
der Integrationsarbeit erwirtschafteten Leistungen und Entgelte prinzipiell
nicht den Teilnehmern persönlich, sondern der sie unterstützenden Gemeinschaft
zukommen.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwerfen, dass das doch
auch mit den geplanten Arbeitsgelegenheiten (AGH) angestrebt wird, sogar mit
dem Unterschied, dass die Teilnehmer an den AGH noch eine
Mehraufwandsentschädigung von 80 Cent bekommen sollen, in dem Modell von Roth
sind die nicht vorgesehen. Aber der erste Blick täuscht, denn wie bereits in
dem kritischen
Beitrag vom 12.06.2016
dazu ausführlich dargelegt, leiden die
Arbeitsgelegenheiten als Instrument unter dem bestehenden restriktiven
Förderrecht mit seinen Anforderungen wie Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse
und vor allem der Wettbewerbsneutralität.
Genau diese seit vielen Jahren in der
arbeitsmarktpolitischen Fachdiskussion zu Recht kritisierten Begrenzungen mit
ihren teilweise kontraproduktiven Effekten auf eine echte
Arbeitsmarktintegration werden auch von Steffen J. Roth aufgegriffen und in
Frage gestellt.
Dazu trägt er in seinem Beitrag einen interessanten
Gedankengang vor, der darauf abstellt, in welchen Blockaden wir uns derzeit
bewegen:

»Nehmen wir an, ein Flüchtling erfährt die Hilfsbereitschaft
einer Anwohnerin seiner Unterkunft, die ihn ehrenamtlich bei Behördengängen und
beim Erwerb der deutschen Sprache unterstützt. Nehmen wir weiterhin an, dieser
Flüchtling würde bei einem Spaziergang bemerken, wie sich ebenjene hilfsbereite
Person mit schweren Einkaufstaschen abmüht. Er entscheidet ohne zu zögern, der
Frau zu helfen, und bringt ihren Einkauf nach Hause. Sie bedankt sich
freundlich, bietet ihm einen Tee an, man unterhält sich. Im Gespräch erfährt
der Flüchtling, dass es der Frau schwerfällt, den Rasen zu mähen. Er bietet an,
diese Arbeit zu übernehmen. Die Frau willigt ein und freut sich zu beobachten,
wie emsig der junge Mann die Aufgabe erledigt. Bei der Verabschiedung drückt
ihm die Frau zehn Euro in die Hand. Der junge Mann lehnt höflich ab.
Schließlich wollte er sich für die zuvor erfahrene Hilfsbereitschaft
erkenntlich zeigen. Die Frau wiederum will die Tatkraft des jungen Mannes nicht
ausnutzen. Die beiden einigen sich schließlich darauf, dass die Frau die zehn
Euro dem Flüchtlingsnetzwerk vor Ort spenden wird.«

Und genau an dieser Stelle der bis hierher schönen
Geschichte betreten die bekannten Einwände die Bühne des Geschehens:

»Ein unromantisch-kritischer Geist wird … mahnend auf
eventuelle unerwünschte gesellschaftliche Folgen aufmerksam machen: Wieso
unterrichtet die Anwohnerin Deutsch und hilft bei Behördengängen? Verdrängt
solche ehrenamtliche Tätigkeit nicht professionelle Deutschlehrer und Anwälte
oder Sozialarbeiter? Und kann die Anwohnerin diese Tätigkeiten überhaupt auf
einem ausreichend hohen Niveau ausüben? Welche Folgen hat es, wenn der
Flüchtling der Frau beim Einkauf oder Rasenmähen hilft? Schließlich bietet der
örtliche Supermarkt einen kostenpflichtigen Heimlieferservice an. Vom Angebot
kommerzieller Gärtner ganz zu schweigen. Wieso bietet die Frau dem jungen Mann
ein Entgelt an? So ein entgeltlicher Leistungsaustausch kann als Schwarzarbeit
und Sozialversicherungsbetrug angesehen werden. Wieso lehnt der Flüchtling das
angebotene Geld ab? Unterwirft er sich nicht menschenunwürdig, wenn er
unentgeltlich arbeitet, und drückt er nicht das allgemeine Lohnniveau?«

Bei den Arbeitsgelegenheiten (z.B. bei den nach § 16d SGB
II) hat man diese Einwände institutionalisiert in Form der einschränkenden
förderrechtlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die möglichen
„Kollisionen“ mit dem „normalen“ Arbeitsmarkt oder Verdrängungseffekte auf dem
Arbeitsmarkt der Kommunen verhindert oder zumindest vermieden werden sollen,
wofür man allerdings einen hohen Preis zu zahlen hat hinsichtlich der
Sinnhaftigkeit und der Werthaltigkeit der dann noch verbleibenden
Einsatzfelder. Das hat Konsequenzen, auch Roth kritisiert die am Beispiel der
geforderten „Zusätzlichkeit“ mit der Schlussfolgerung, diese bedinge »ein
systematisches Verbot produktiver Einsätze. Je mehr eine Arbeit wertgeschätzt
wird, umso weniger genügt sie dem gesetzgeberischen Anspruch.«
Er plädiert für eine ganz andere Sichtweise auf
Zusätzlichkeit:

»Zusätzlich im volkswirtschaftlichen Sinne wäre im Gegenteil
jede Arbeitsleistung, die der Gesellschaft einen höheren Nutzen stiftet, als
sie an Kosten verursacht … Je produktiver die Teilnehmer in ihrer Tätigkeit
sind, desto höher der Zusatznutzen für die Gemeinschaft. Aus
gesamtwirtschaftlicher Sicht verdrängen die Maßnahmenteilnehmer keine reguläre
Beschäftigung, sie ermöglichen zusätzliche Leistungen.«

Auch die im bestehenden Recht verankerte Begrenzung auf kommunale
und steuerrechtlich als gemeinnützig eingestufte Träger wird von ihm
kritisiert.
Wie will Roth nun seine – im Vergleich zu den heute gegebenen
Arbeitsgelegenheiten deutlich erweiterte – „Integrationsarbeit“ umsetzen? Er
greift dabei auf einen Ansatz zurück, den wir schon seit vielen Jahrzehnten
kennen, in der alten Welt der Bundesanstalt für Arbeit waren das beispielsweise
die „ABM-Ausschüsse“ und heute gibt es im SGB II die „örtlichen Beiräte“ (nach
§ 18d SGB II):

Er plädiert dafür, dass ein »kommunales Gremium aus lokalen
Vertretern der Politik, der Gewerkschaften, der Unternehmen, der Kammern und
der Arbeitsagenturen über die Einsatzmöglichkeiten der Flüchtlinge bestimmen.
Je nach Struktur der Kommune können weitere Interessenvertreter aufgenommen
werden. Deren Kenntnisse der lokalen Begebenheiten können genutzt werden, um
Bedarfe zu identifizieren, die durch den Einsatz von Flüchtlingen gedeckt
werden können, ohne größere Verwerfungen zu provozieren.«
Die Kommunen sollten möglichst freie Hand haben, wie sie die
Integrationsarbeit konkret umsetzen. »Die Akteure vor Ort werden dabei mit
Augenmaß vorgehen und erkennbare Beeinträchtigungen etablierter Unternehmen vor
Ort genauso vermeiden wie wiederholte Arbeitseinsätze bei denselben
Auftraggebern gegen zu geringe Verleihgebühren. Es kann vor Ort darüber
entschieden werden, ob die Teilnehmer zusätzliche Anreize in Form von
Zertifikaten zur Dokumentation ihrer Tätigkeiten sowie privilegierten oder über
Bildungsgutscheine subventionierten Zugang zu weiterführenden Sprachkursen
erhalten.«
Das klingt natürlich für den einen oder anderen reichlich
ungenau und wenig normiert, aber das ist auch in anderen Konzepten ein
wesentliches Element für einen möglichst flexiblen und nicht die Luft
abschnürenden Förderrahmen (vgl. dazu beispielsweise die Vorschläge in Stefan
Sell: Hilfe zur
Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem
SGB II (neu)
. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Aus einer systematischen Sicht wäre das zu ergänzen um die
grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit der bestehenden institutionellen
Vielgestaltigkeit der Zuständigkeiten für Flüchtlinge, Asylbewerber,
Asylberechtigte, Geduldete usw. Dazu bereits mein Hinweis in dem Beitrag vom
12.06.2016: »Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System,
also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte
Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in
den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die
Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der
Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die
zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute
schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit
ihren Arbeitsagenturen ergeben.«
Und warum das so wichtig ist, dass man flexible und nicht zu
detailliert ausgestaltete Regelungen braucht, kann man auch an einem anderen,
benachbarten Beispiel aus dem großen Themenfeld Integration von Flüchtlingen in
Arbeit besichtigen. Konkret geht es um die Ermöglichung und Absicherung des
Zugangs von Flüchtlingen zu einer gerade auf dem deutschen Arbeitsmarkt so
wichtigen Berufsausbildung. Das geplante Integrationsgesetz der Bundesregierung
geht hier offensichtlich in die von vielen geforderte Richtung: Asylbewerber,
die bald nach ihrer Ankunft eine Berufsausbildung beginnen, sollen nicht durch
eine Abschiebung aus der Ausbildung herausgerissen werden. So hatten es
Wirtschaftsvertreter immer wieder gefordert, und so sieht es das geplante neue
Integrationsgesetz nun auch im Grundsatz vor. Denn ansonsten wären viele
Betriebe nicht bereit, Asylbewerber auszubilden, bevor ihre Bleibeperspektive
rechtssicher geklärt ist. Hinzu kommt: Wer erfolgreich seine Prüfung macht,
soll noch für zwei Jahre hierzulande in seinem Ausbildungsberuf arbeiten
dürfen. So positiv beginnt der Artikel Streit
über Abschiebeschutz für Lehrlinge
, dessen Überschrift aber schon andeutet,
dass es dann doch nicht so einfach kommt wie gedacht:

»Gewerkschaften, Arbeitgeber und Grüne halten die geplante
Neuregelung für nicht praxistauglich und fordern daher eine Nachbesserung. Sie
sieht vor, dass betroffene Lehrlinge unabhängig vom Grund des
Ausbildungsabbruchs sofort abgeschoben werden. Betriebe müssen den Abbruch der
Ausländerbehörde melden. Falls sie dies versäumen, droht ihnen ein Bußgeld von
30.000 Euro.«

Das grundsätzliche Problem lässt sich hier leicht erkennen:
Wenn man regelt, dass eigentlich aus anderen Gründen abzuschiebende Personen,
weil sie eine Ausbildung machen, nicht abgeschoben werden dürfen, stellt sich
sogleich die Folgefrage, wie denn mit dem Fall umgegangen werden soll, dass der
Betroffene die Ausbildung abbricht und damit der eigentliche Schutzgrund
wegfällt.
Die Arbeitgeber halten grundsätzlich eine Meldepflicht als
Vorkehrung gegen einen möglichen Missbrauch des Abschiebeschutzes für Auszubildende
für nachvollziehbar, stören sich aber an der im Gesetzentwurf vorgesehenen
Bußgeldandrohung. Eine bußgeldbewehrte Meldepflicht der Betriebe hingegen werde
das Verhältnis zwischen Ausbilder und Lehrling unnötig belasten und von einer
Ausbildung von Asylbewerbern und Geduldeten abschrecken.
Auch der DGB verneint nicht grundsätzlich, dass ein
Ausbildungsabbruch auch Folgen für den Abschiebeschutz haben solle, weist aber
darauf hin:

»Mit der geplanten Regelung werde aber nicht ausreichend
berücksichtigt, dass „ein Abbruch der Ausbildung häufig aufgrund schlechter
Bedingungen oder mangelnder Ausbildungsqualität erfolgt“. Deswegen sei
zumindest klarzustellen, dass sich ein Wechsel in einen anderen
Ausbildungsbetrieb nicht negativ auf die Duldung auswirke.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im
Bundestag, Brigitte Pothmer, wird mit dem Vorschlag zitiert, »Abbrechern eine
Frist von sechs Monaten einzuräumen, in denen sie sich um eine Ersatzausbildung
bemühen können. Pothmer weist darauf hin, dass schon bisher jede vierte
Berufsausbildung vorzeitig ende – aus vielfältigen Gründen, die auch mit dem
Ausbildungsbetrieb und der Berufswahl zu tun haben könnten.«
Dieses Beispiel zeigt erneut, dass der Teufel im Detail
versteckt ist und je genauer man bestimmte Fallkonstellationen zu regeln
versucht, um so mehr Folgeprobleme tun sich auf. Am 20. Juni 2016 wird es im
Bundestag eine Anhörung zum Integrationsgesetzentwurf geben und man darf
gespannt sein, ob man das beschriebene Problem einer Lösung und wenn ja,
welcher, zuführen kann. 

„Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger?

Immer wenn man denkt, noch kleinteiliger, gesetzestechnisch hypertrophierter und inhaltlich korinthenkackerhafter geht es nicht in der Sozialpolitik, wird man eines Besseren belehrt. Bereits der als Rechtsvereinfachung gestartete und als Rechtsverschärfung und -verkomplizierung gelandete Versuch eines gegenwärtig im Bundestag liegenden 9. SGB II-Änderungsgesetzes wäre hier einzuordnen (vgl. dazu den Blog-Beitrag Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016). Aber nun hat man sich die „Arbeitsgelegenheiten“ – umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet – vorgenommen. Und offensichtlich ist man bestrebt, hinsichtlich des Komplexitätsgrades wie auch mit Blick auf die inhaltliche Fragwürdigkeit einen veritablen Quantensprung hinzulegen.
Es geht um das geplante „Integrationsgesetz“ die Flüchtlinge betreffend (vgl. hierzu Gesetzentwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drucksache 18/8615 vom 31.05.2016).

Das neben dem Bundesinnenministerium federführende Bundesarbeitsministerium verkündet unter der Überschrift Das neue Integrationsgesetz fördert und fordert: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.« Das nun überrascht den einen oder anderen, vor allem aber den sachkundigen Beobachter der arbeitsmarktpolitischen Landschaft, denn die „Arbeitsgelegenheiten“ – im SGB II die letztendlich einzige verbliebene Form der öffentlich geförderten Beschäftigung – haben von ihrer Anlage bzw. ihrem vom Gesetzgeber gewollten Zuschnitt nun eher nicht die Aufgabe, dem deutschen Arbeitsmarkt irgendwie nahezukommen, sondern aufgrund der förderrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu § 16d SGB II, nach dessen Absatz 1 erwerbsfähige Leistungsberechtigte in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden können, »wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind.«) müssen sie sogar möglichst weit weg sein von dem, was in der „normalen“ Wirklichkeit des Arbeitsmarktes passiert, damit sie nicht gegen die Wettbewerbsneutralität (§ 16d Abs. 4 SGB II) verstoßen.

Und der Blick in das Gesetz belehrt uns auch darüber, dass es gar nicht das Ziel dieser Maßnahmen sein soll (und kann), die Teilnehmer möglichst schnell und direkt in den Arbeitsmarkt einzugliedern, so Absatz 1 des § 16 d SGB II: »Erwerbsfähige Leistungsberechtigte können zur Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich ist, in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden.«

Der entscheidende Punkt ist die Zielvorgabe „Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit“, also gleichsam eine der Integration in den „normalen“ Arbeitsmarkt vorgelagerte Aufgabe, die Heranführung, Vorbereitung und Unterstützung einer später mal hoffentlich stattfindenden Integration in Arbeit.

Immer wieder werden die „Ein-Euro-Jobs“ in Medienberichten kritisiert, dass die mit ihnen verbundenen Integrationsquoten sehr niedrig seien, folglich das Instrument als gescheitert anzusehen sei. Die Bundesagentur für Arbeit hingegen schreibt hierzu in ihrer Eingliederungsbericht 2014 zutreffend: »Die geringe Eingliederungsquote von Arbeitsgelegenheiten lässt sich auch darauf zurückführen, dass eine sofortige Integration in den ersten Arbeitsmarkt nicht das primäre Ziel dieser Maßnahme ist. Die Zielsetzung von Arbeitsgelegenheiten ist vielmehr die (Wieder-) Herstellung und Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit von arbeitsmarktfernen Personen.« (S. 10).
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund der Arbeitsgelegenheiten ist die Erwartung des BMAS, die geplanten 100.000 Plätze würden „erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt“ ermöglichen, nur als weltfremd zu bezeichnen.

Offensichtlich werden wir in diesem Bereich der Arbeitsmarktpolitik von allen Seiten mit massiven Wissenslücken konfrontiert. Zwei Beispiele: Unter der Überschrift „Geflüchtete engagieren sich bereits“ findet man ein Interview mit Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. Darin wird er u.a. mit diesen Worten zitiert: »Es ist noch nicht klar, wo diese Beschäftigungen angeboten werden sollen. Für die Privatwirtschaft könnten sie eine Möglichkeit sein, den Mindestlohn zu unterlaufen. Doch eine solche „Billiglohnabteilung Flüchtlinge“ wollen wir nicht.« Das könnte man mit guten Gründen nicht wollen, aber es erübrigt sich dahingehend, dass Arbeitsgelegenheiten gerade nicht in der Privatwirtschaft durchgeführt werden dürfen. In einem anderen Artikel – Neuer Billiglohnsektor in Planung – wird die Linke-Politikerin Sevim Jagdelen dahingehend zitiert, »mit den geplanten 100.000 Ein-Euro-Jobs werde ein Billiglohnsektor geschaffen, durch den die Lohnspirale weiter nach unten gehe. Flüchtlinge würden in Konkurrenz zur einheimischen Bevölkerung gesetzt.« Nein, das werden sie nicht. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn man den Mindestlohn für Flüchtlinge aussetzen würde. Aber nicht durch AGHs.  Noch schlimmer kommt so eine Einschätzung daher: In dem Artikel über den Entwurf eines Integrationsgesetzes unter der Überschrift Was halten Experten von den Reformen? wird auch Carola Burkert, immerhin die Leiterin der Arbeitsgruppe „Migration und Integration“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit so zitiert: »Den Vorschlag, niedrigschwellige Arbeitsgelegenheiten (sogenannte Ein-Euro-Jobs) aus Bundesmitteln zu finanzieren, sehe ich dagegen kritisch … solche Jobs (wurden) für Personen geschaffen, die keine Chancen haben, eine nicht-geförderte Stelle am sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu erlangen. Das erhoffte Ziel, dass es diesen Personen dann gelingen würde, im „ersten Arbeitsmarkt“ Fuß zu fassen, wurde jedoch nicht erreicht. Deshalb wurden die Ein-Euro-Jobs als Maßnahme zur Arbeitsmarkintegration abgeschafft.« Nein, das wurden sie nicht und eine Arbeitsgruppenleiterin im Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit sollte das auch wissen.

Angesichts der eklatanten Wissenslücken in diesem Bereich überrascht es denn auch nicht, dass in der bisherigen Berichterstattung der eigentliche Skandal nicht erkannt und vorgetragen wurde: Die neuen Arbeitsgelegenheiten eigener Art, wie sie mit dem Integrationsgesetz geplant werden, machen überhaupt keinen Sinn. Da werden 100.000 Plätze geplant, die man eigentlich nicht oder nur mit einer sehr kleinen Zahl besetzen kann. Darauf wurde bereits in diesen beiden Blog-Beiträgen kritisch hingewiesen: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte vom 13. Februar 2016 sowie Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? vom 23. März 2016.

Um zu verstehen, dass der Bund gerade dabei ist, „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zu schaffen, muss man sich leider mit den Zuständigkeiten befassen:

Für die Flüchtlinge am Anfang ist das SGB II, also das Hartz IV-System und mit ihm die Jobcenter, gar nicht relevant. Die Flüchtlinge schlagen erst dann im Hartz IV-System auf, wenn sie als Asylberechtigte anerkannt sind. Am Anfang sind bzw. wären sie theoretisch Asylbewerber – theoretisch deshalb, weil viele von ihnen  Monate warten müssen, bis sie überhaupt einen Asylantrag stellen können beim BAMF, bis dahin sind sie noch nicht einmal Asylbewerber. Da gilt dann aber das Asylbewerberleistungsgesetz. Und für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beispielsweise in den Erstaufnahmestellen und vor Ort in den Unterkünften sind die Bundesländer und Kommunen zuständig, wobei der Bund an der Finanzierung beteiligt ist, da er den Bundesländern dafür Gelder zur Verfügung stellt, die diese dann in ganz unterschiedlicher Form und Umfang an die Kommunen weiterleiten (sollen).

Nun gibt es im  im § 5 Asylbewerberleistungsgesetz einen Paragrafen, der genau so überschrieben ist wie der § 16 d SGB II: Arbeitsgelegenheiten.
Eingedenk der Ausführungen, die hier schon zu den Anforderungen an Arbeitsgelegenheiten im SGB II gemacht wurden, achte man genau auf die Ausformulierung des § 5 AsylbLG:

»In Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylgesetzes und in vergleichbaren Einrichtungen sollen Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden … Im übrigen sollen soweit wie möglich Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, bei kommunalen und bei gemeinnützigen Trägern zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde.«

Der aufmerksame Leser wird sofort gemerkt haben, dass was fehlt. Genau, die Wettbewerbsneutralität der Arbeitsgelegenheiten ist hier eben nicht verankert, was bedeutet, dass man durchaus wesentlich mehr machen kann als im SGB II aufgrund der dort eingebauten restriktiven Bedingungen. Also machen könnte, wenn man denn wollte, handelt es sich doch um keine Leistung mit Rechtsanspruch. sondern um eine Ermessensleistung. Und machen könnten das die Kommunen, denn die sind am Anfang für dieFlüchtlinge, die ihnen zugewiesen werden, zuständig und das Jobcenter erst dann, wenn die in den anerkannten Status wechseln, was aber ziemlich lange dauern kann, wie wir gesehen haben. 
Nun kann man durchaus so argumentieren: Viele Flüchtlinge leiden darunter, dass sie in den ersten Monaten hier bei uns keiner Arbeit nachgehen können. Insofern wäre Beschäftigung zu organisieren eine wichtige, wenn nicht zentrale Aufgabe, auch mit Blick auf die Folgekosten, die ein Nichtstun hier generieren können.  Vgl. dazu als ein Beispiel den Artikel Flüchtlinge: Gute Medizin allein reicht nicht zur Integration von Susanne Werner in der Ärzte Zeitung. Darin geht es primär um die schleppend bis gar nicht realisierte Gesundheitskarte für Flüchtlinge (vgl. zu diesem Thema den Blog-Beitrag Die Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung zwischen Behandlungsschein und Karte vom 15, Mai 2016). Bei Werner findet sich dieses Zitat:

„Wenn Asylsuchende zu lange von jeglicher Arbeit ausgeschlossen werden und nicht in die Gesellschaft integriert werden, macht sie das seelisch kaputt“, sagte Professor Barbara John vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Das sind alles Argumente für einen Ausbau der Beschäftigungsangebote. Insofern kann man doch nur ja sagen zu 100.000 AGH-Stellen für die Flüchtlinge. Aber neben der Tatsache, dass es sich in der heute dominierenden und durch das Förderrecht auch determinierten Verfasstheit des Instruments um eines handelt, das für viele Flüchtlinge eher kontraproduktiv ist, muss man verstehen, dass die Art und Weise, wie Berlin das umsetzen will, kontraproduktiv für eine möglichst gelingende Integration ist und zudem schwerwiegende Zuständigkeitsfragen aufwirft bzw. diese einfach negiert.

Wir haben derzeit zwei Formen von Arbeitsgelegenheiten – die nach § 5 AsylbLG und die nach § 16 d SGB II, also im Hartz IV-System. Die letzteren werden von den Jobcentern gemanagt. Bei den Kommunen gibt es hier und da AGHs für Flüchtlinge, in vielen gar keine, andere hingegen haben das Potenzial erkannt. In Frankfurt sind z.B. über 200 Beschäftigungsplätze von der Kommune geschaffen worden. Und seitens der Jobcenter ist die Zahl der AGHs in den vergangenen Jahren nach unten gefahren worden. Im Mai 2016 wurden deutschlandweit gerade einmal etwas mehr als 80.000 Beschäftigte in Arbeitsgelegenheiten gezählt. Vor diesem Hintergrund wären dann 100.000 zusätzliche AGH-Beschäftigte, wie jetzt vom Bund geplant, eine vergleichsweise sehr große Hausnummer. Gerade dann muss die Frage interessieren, für wen die geschaffen werden sollen und wer das umsetzt.

Und das eigentliche Problem ist eines dieser für Deutschland so typischen Schnittstellenprobleme: Wenn der Flüchtling als (noch nicht) anerkannter Asylbewerber oder im Vorstatus des noch nicht Asylantragsstellers unter den Fittichen der Kommunen ist, dann könnten die das heute schon vorhandene Instrumentarium des AsylbLG auch nutzen. Wenn sie das aber tun, dann können sie Maßnahmen machen, die teilweise weit über das hinausreichen, was die Jobcenter aufgrund der SGB II-Rechtslage machen können (beispielsweise kann man auf der Basis des bestehenden Rechts durchaus ie Beschäftigung mit Sprachschulungs- oder anderen Qualifizierungselementen kombinieren), was wiederum zu einem echten Problem wird, wenn der Betroffene während der Laufzeit der AGH (nach AsylbLG) in den Rechtskreis SGB II wechselt, denn die dürfen eigentlich nicht so weitgehend fördern wie derzeit im kommunalen Raum. Wenn sich die Jobcenter an die enge Gesetzesinterpretation halten würden, müssten viele Maßnahmen abgebrochen werden, weil sie nicht den Anforderungen entsprechen (können), die wir in dem kommunalen Rechtskreis haben.

Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die

a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.

Man will also ganz offensichtlich eine dritte Dimension der AGHs schaffen. Diese verwunderliche Regelung nennt man „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM)“, die als ein Arbeitsmarktprogramm des Bundes von der BA abgewickelt werden sollen.

Man muss sich über die Konsequenzen klar vor Augen führen – würde das so umgesetzt, dann bekommen wir einen Wachstumsschub in den bürokratischen Strukturen. Warum?
Die Zuweisung (und auch die eventuelle Sanktionierung) der Flüchtlinge in die Maßnahmen soll über die kommunalen Sozialämter erfolgen, die das AsylbLG administrieren. Zur Umsetzung müssten bei der BA entsprechende behördliche Strukturen aufgebaut, Einkaufsprozesse geplant und umgesetzt, Kontrollsysteme installiert werden. Bei den kommunalen Sozialämtern müssten für die Kommunikation mit der BA, die Zuweisung und die Sanktionierung ebenfalls Strukturen geschaffen werden.

Und mit Blick auf die (potenziellen) Teilnehmer an diesen „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“: Es dürfen ausschließlich Asylantragsteller sein, aber unter Ausschluss derjenigen, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen und derjenigen, die zur Ausreise aufgefordert sind. Das nun wiederum hat fast schon den Charakter eines Schildbürgerstreichs, denn diese Gruppe müsste nach allem, was angekündigt wurde und wird, immer kleiner werden, hat das BAMF doch die Devise ausgegeben, die Anträge immer schneller abzuarbeiten und zu bescheiden, so dass auch der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das SGB II immer schneller erfolgen wird/müsste.

Man plant also Maßnahmen für eine Gruppe, die angeblich derzeit abgeschafft wird.

Aber es kommt noch heftiger: Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge sind nur 80-Cent-Jobs, so hat Thomas Öchsner seinen Artikel überschrieben über eine geplante Regelung, die aus dem bereits skizzierten Absurdistan ein bürokratisches Absurdistan hoch zwei machen würde:

»Derzeit bekommen die mehr als 80 000 Ein-Euro-Jobber in Deutschland meist 1,05 Euro pro Stunde. In Einzelfällen können es auch knapp zwei Euro sein. Gezahlt wird dabei eine „Mehraufwandsentschädigung“, das Geld gilt nicht als Arbeitslohn oder Taschengeld. Auch Asylbewerber mit so einer auf maximal sechs Monate befristeten Arbeitsgelegenheit bekamen bislang 1,05 Euro. Der von Nahles und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vorgelegte Entwurf für das Integrationsgesetz sieht nun aber vor, asylsuchenden Teilnehmern künftig nur noch 80 Cent zu zahlen. Ausnahme: Der Ein-Euro-Jobber kann „höhere notwendige Aufwendungen“ im Einzelnen nachweisen«, so Öchsner.

Aber warum eine Kürzung von 20 Prozent bei der Mehraufwandsentschädigung? Sowohl bei der Begründung wie aber auch bei den aus so einer Regelung resultierenden Konsequenzen für die vor Ort, die das umsetzen müssten, werden wir Zeuge, was eine außer Kontrolle geratene Ministerialbürokratie anrichten kann, wenn sich ihr kleinteiliges Denken Bahn bricht:

»Die Bundesregierung argumentiert dabei so: Die allermeisten Asylbewerber werden in ihren Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften eingesetzt. Sie reinigen dann zum Beispiel Gemeinschaftsräume oder helfen bei der Essensausgabe. Dabei würden ihnen in der Regel nur geringe Mehrausgaben entstehen, „da die erforderlichen Arbeitsmittel, zum Beispiel Arbeitskleidung oder -geräte, von den Trägern der Einrichtungen gestellt werden und Fahrtkosten oder Kosten für auswärtige Verpflegung nicht anfallen“, heißt es im Entwurf für das neue Gesetz. Deshalb sei es gerechtfertigt, den pauschal ausgezahlten Beitrag auf 80 Cent je Stunde zu senken. Arbeite der Asylbewerber aber außerhalb solcher Einrichtungen und habe tatsächlich höhere Aufwendungen, etwa für Fahrtkosten oder spezielle Arbeitskleidung, könne er sich einen höheren Betrag auf Antrag auszahlen lassen.«

Abgesehen von dem enormen Verwaltungsaufwand, der ausgelöst wird durch die Regelung, bei allen abweichenden Fällen den höheren Betrag „auf Antrag“ auszahlen zu lassen – die Bundesregierung schlägt hier eine lächerliche Kapriole, denn sie definiert einen Ausnahmefall und macht den an anderer Stelle aber zum Normalfall. Eben hat sich zur Begründung der Kürzung ja noch argumentiert, dass die allermeisten Asylbewerber in den Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften eingesetzt werden im Rahmen der AGH. Aber zum neuen Programm erfahren wir:

Laut »der Richtlinie zum 100.000-Job-Programm ist aber geplant, dass maximal 25 Prozent der neuen Arbeitsgelegenheiten in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft anzubieten sind. Mindestens 75 Prozent sollen hingegen außerhalb solcher Unterkünfte ablaufen.«

Man widerspricht sich also selbst. Für diesen offensichtlich hanebüchenen Befund kann es nur zwei Erklärungsansätze geben: Entweder haben die Gesetzesentwurfsverfasser selbst den Überblick verloren und je nach Regelungsgegenstand potenzieren sie ihre kleinteiligen Regelungsversuche, so dass wir mit den Folgeschäden einer außer Kontrolle geratenen Ministerialbürokratie konfrontiert wären.

Oder aber jemand hat aus politischen Gründen die Ansage gemacht, man brauche vor dem Hintergrund des Aufstiegs der AfD und der Kritik an Flüchtlingsmaßnahmen eine Regelung, die beispielsweise bei dem, was die Betroffenen bekommen, erkennen lässt, dass Flüchtlinge dann in der Welt der Maßnahmen eine eigene, zweite Klasse an AGH-Beschäftigten sind.

Man muss sich den Wahnsinn einmal ausmalen: Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen).

Unterm Strich werden hier eklatante Vermögensschäden seitens der öffentlichen Hand durch den enormen und sinnlosen Bürokratieschub produziert.

Und was bei diesem ganzen Kuddelmuddel vergessen wird: Eigentlich liegt ein grundlegender Lösungsansatz auf der Hand, der aber noch nicht einmal diskutiert wird. Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System, also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit ihren Arbeitsagenturen ergeben.

Wenn man das verbinden würde mit einer radikalen Instrumentenreform im SGB II, die es den Jobcentern endlich ermöglichen würde, das sinnvolle Arsenal an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen flexibel und ohne die hypertrophierten förderrechtlichen Begrenzungen und den vielen hyperkomplexen Sonderprogrammen für extrem selektiv definierte „Zielgruppen“, die wir heute haben, umzusetzen, dann wäre eine deutliche Verbesserung erreichbar (vgl. zu der angesprochenen radikalen Instrumentenreform die Vorschläge in Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen).