Elfenbeinturm gegen altes Zunftdenken? Zur Debatte über Teilqualifizierungen für Flüchtlinge

Man könnte es für eine dieser typischen und oftmals entnervenden, weil nicht wirklich weiterführenden reflexhaften Debatten halten: Aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft kommt ein Vorschlag zum Umgang mit einem drängenden gesellschaftlichen Problem – und die etablierten Akteure gehen sofort in Abwehrstellung und fahren mit der „Geht auf gar keinen Fall“-Planierraupe über das zarte Gewächs. Unter gegenseitigen, zuweilen öffentlichkeitswirksam inszenierten Vorwürfen im Spektrum von irrlichternde Theoretiker und eigennutzoptimierende Besitzstandwahrer verschwindet dann das Thema des Streits von der Bildfläche. Aber zuweilen macht man dann die Erfahrung, dass Teile dessen, über das gestritten wurde, zu einem späteren Zeitpunkt dann doch Eingang finden in die Gesetzgebung, natürlich in bearbeiteter, also modifizierter Form. Und hin und wieder erkennt man an dem Streit auch Grundsatzprobleme unserer gesellschaftlichen Konfiguration, die auch scheitern kann an einer sich verändernden Wirklichkeit. Diese einführenden Hinweise sollen für ein Thema sensibilisieren, dessen Behandlung in der öffentlichen Arena immer buntere Blüten treibt, was nicht verwunderlich ist angesichts der ganz handfest-praktischen Probleme des „Handlings“, wie aber auch der vielen Erwartungen – und das dann noch garniert mit einer enormen Emotionalisierung innerhalb der Bevölkerung, was wiederum die Politiker nervös werden lässt.
Es ist unschwer zu erraten, dass es hier um Flüchtlinge geht, konkreter um einen Teil der Flüchtlinge betreffend, die (möglichst schnell) in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen.

Was ist passiert? Aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München unter (Noch-)Leitung des  umtriebigen Hans-Werner Sinn ist hinsichtlich der von allen sicher gewollten Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen ein Vorschlag gekommen, wie man diese ermöglichen und beschleunigen könne. Schon für die erste Stufe, die gezündet wurde, hat man sich des politisch (und auch innerhalb der Wissenschaft) höchst kontrovers diskutierten Reizthemas „Mindestlohn“ angenommen. In einem Artikel mit der knackigen Überschrift Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit doziert er: »Viele Migranten sind schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme. Damit sie trotzdem eine Arbeit finden, bedarf es einer stärkeren Lohnspreizung in Deutschland.«
Der neue Vorstoß kommt nun von Ludger Wößmann, den Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. Der hat ausgeführt:

„Bei der beruflichen Qualifikation dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben“, sagt Wößmann. Ein großer Teil der Flüchtlinge komme mit geringen Qualifikationen. „Deshalb brauchen wir jetzt pragmatische Lösungen, um möglichst vielen Flüchtlingen eine Chance auf eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.“

Da kann man mitgehen. Aber die Frage ist natürlich immer, was versteht man unter pragmatischen Lösungen, wie sieht das konkret aus. Wößmann versucht das zu leisten, folgt man dem Artikel Flüchtlinge brauchen schnellen Zugang zu Kitas, Schulen und Berufsausbildung auf der ifo-Website:

»Dazu gehöre die einjährige Aussetzung von Hemmnissen wie Wartefristen und Vorrang-Prüfungen und die Gleichsetzung von Flüchtlingen mit Langzeit-Arbeitslosen bei der Ausnahmeregelung vom Mindestlohn, damit Unternehmen bereit sind, Flüchtlinge einzustellen. Für junge erwachsene Flüchtlinge sollten ein- bis zweijährige teilqualifizierende Berufsausbildungen kurzfristig massiv ausgebaut werden. „Wir können nicht alle Flüchtlinge zu Mechatronikern ausbilden, aber für teilqualifizierte Landschaftsgärtner oder Helfer in der Alten- und Krankenpflege könnte es am deutschen Arbeitsmarkt viel Potenzial geben“, sagt Wößmann.«

Das ist eine Steilvorlage für die Gewerkschaften, wie man sich vorstellen kann. Der DGB hat auch prompt reagiert: Keine „Schmalspur-Ausbildung“ für Flüchtlinge. Offensichtlich ist man im Gewerkschaftslager ziemlich angefressen, was die harsche Formulierung der stellvertretenden DGB-Vorsitzende Elke Hannack erklären mag:

„Was beim Mindestlohn nicht gelungen ist, versuchen arbeitgebernahe Bildungsforscher nun bei der Ausbildung durchzusetzen: Wichtige soziale Standards sollen geschliffen werden, um Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte auszubeuten. Flüchtlinge dürfen keine Auszubildenden zweiter Klasse werden. Die Folgen einer solchen Sonderregelung wären fatal: Unterhalb einer vollwertigen Ausbildung gäbe es dann noch einen parallelen Markt mit Häppchen-Ausbildungen, die die Menschen auf schlechte Arbeit in prekären Verhältnissen vorbereiten. Echte Perspektiven entstehen für Flüchtlinge so nicht. Zudem könnten ’normale‘ Ausbildungsplätze durch die Billig-Variante verdrängt werden.“

Aber die Gewerkschaften bleiben nicht allein in ihrer Ablehnung der Wößmann’schen Vorschläge. Sie bekommen Geleitschutz von der Arbeitgeber-Seite, kann man dem Artikel Teilqualifizierung für Flüchtlinge: Kritik vom ZDH und DGB entnehmen:

»Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) hält eine Teilqualifizierung von Flüchtlingen nicht für sinnvoll. „Die berufliche Ausbildung mit dem Ziel des Gesellenabschlusses ist eine ganzheitliche Ausbildung, die über die Dauer von in der Regel drei Jahren Theorie und Praxis umfassend miteinander verzahnt“, erläutert Hans Peter Wollseifer, Präsident des ZDH. Am Ende ihrer Lehrzeit seien die jungen Menschen fit für das Berufsleben. „Teilausbildungen können dies nicht leisten“, betont der Handwerkspräsident. Auch der ZDH ist der Meinung: Jungen Flüchtlingen wäre mit Teilqualifizierungen vor allem im Hinblick auf eine spätere Berufstätigkeit nicht geholfen. Zwar könnten im Vorfeld erbrachte Leistungen berücksichtigt und die Lehrzeit damit gegebenenfalls verkürzt werden. Wollseifer: „Für junge Flüchtlinge dürfte das aber nur in Ausnahmen der Fall sein, da hier in der Regel erst einmal die für einen guten Ausbildungsabschluss erforderlichen Deutschkenntnisse erworben werden müssen.“«

Da sind wir bei einem zentralen Punkt angekommen. Der Flaschenhals für eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt wird die Sprache sein. Und hier muss man sich zwei elementaren Herausforderungen stellen: Zum einen ist das Angebot an Sprachkursen angesichts der Menge an Flüchtlingen und damit der eigentlichen Bedarfe völlig unterdimensioniert, aber auch die Fachkräfte dafür lassen sich nicht per Knopfdruck produzieren. Zum anderen muss man sehen, dass diese unverzichtbare Vorbereitung für die meisten sich daran anschließenden Qualifizierungsbemühungen nicht nur (erst einmal) Geld kostet, sondern vor allem auch Zeit, die eine schnelle Integrationsperspektive doch arg eintrüben muss. Deutsch ist eine schwere Sprache und für viele Flüchtlinge eine besonders schwere. Wir mögen uns alle einfach mal spiegelbildlich vorstellen, wir würden in arabische Länder gehen (müssen) und sollten dann deren Sprache erlernen.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Natürlich ist es so, dass wir Zeit und erhebliche Investitionen aufbringen müssen, um einen Großteil der Flüchtlinge, die bleiben werden, vorzubereiten und schrittweise in Lohn und Brot zu bringen. Wir reden hier über mehrjährige Zeiträume. Natürlich wird es immer auch Branchen oder einzelne Tätigkeitsfelder geben, wo man Flüchtlinge, die keine oder nur marginale Deutsch-Kenntnisse haben, arbeiten lassen kann. Um nur ein Beispiel zu Illustration zu nennen: Man kann sich schon vorstellen, dass es eine solche Konstellation geben kann in einer Großküche eines Caterina-Unternehmens. Dort gibt es Arbeiten, für die man nicht wirklich Deutsch sprechen muss. Wenn man dort Flüchtlinge einstellen und beschäftigen würde, könnte und müsste man das sogar verbinden mit Sprachkursen, die parallel zur Arbeit zu absolvieren wären, ähnlich wie bei einer dualen Berufsausbildung die Praxisphasen im Betrieb und die Zeiten in der Berufsschule abwechselnd den Arbeits- und Lernalltag der Auszubildenden bestimmen.

Zugleich kann man sich aber auch vorstellen, was es bedeutet, wenn man hier aus scheinbar plausiblen Flexibilitätsüberlegungen die Anforderungen absenkt oder auf begleitende Qualifizierungsmaßnahmen sogar ganz verzichtet, denn die Betroffenen haben dann ja einen Job. Und wenn dann die Flüchtlinge, von denen sicherlich sehr viel hoch motiviert und bereit sind, jede Beschäftigung anzunehmen, auch noch „billiger zu haben“ wären, weil man bei ihnen den Mindestlohn ausgesetzt hat, dann wird klar, in welche Richtung aus einer nachvollziehbaren betriebswirtschaftlichen Logik heraus die Auswahlentscheidung der Unternehmen beispielsweise im Vergleich mit anderen Arbeitslosen ausfallen wird, was wiederum faktisch den Konkurrenzdruck in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes nach oben treiben wird.

Wir sind erst am Anfang einer langen Wegstrecke und man sollte neben allen Versuchen, im Einzelfall schnell und unbürokratisch vorzugehen und den einen oder anderen in Arbeit zu bringen, den Blick auf das Ziel einer nachhaltigen Integration nicht aus den Augen verlieren. Welche unterschiedlichen Maßnahmen eigentlich ergriffen werden müss(t)en, verdeutlicht beispielsweise die Auflistung in diesem Positionspapier des DGB: DGB Bundesvorstand: Teilhabechancen eröffnen. Zugänge in Bildung, Ausbildung, Studium und Qualifizierung für junge Flüchtlinge schaffen, Berlin, 14.09.2015.

Und der Beitrag soll beendet werden mit einem Blick auf die als zentrale Gelingensbedingung für eine erfolgreiche Integration in Arbeit von allen Seiten herausgestellten Sprachkurse. Hier erreicht uns eine frohe Botschaft:
„Sprachförderung als Basis für Integration in Arbeit“ – wer kann da nicht zustimmen? So ist eine Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit überschrieben. Und dann erfahren wir: Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) hat beschlossen, Sprachkurse für Flüchtlinge schnell und flächendeckend anzubieten. Gerade die sind dringend erforderlich, um überhaupt erst mal die Voraussetzungen zu schaffen für eine mögliche Integration in den Arbeitsmarkt. Viele Medien werden die frohe Botschaft unter die Leute bringen.

Da ist man fast geneigt, von einer kritischen Kommentierung abzusehen, nur um das Glück nicht zu stören. Aber dieser Impuls verblasst nach einem kurzen Moment. Eine kritische Anmerkung sollte wenigstens gemacht werden.

Um die einordnen zu können, zuvor ein Blick auf das, was da beabsichtigt ist:
Der Verwaltungsrate hat entschieden, dass die BA ihr Engagement bei der Sprachförderung »einmalig« ausweiten wird. Denn eigentlich ist das nicht ihre Aufgabe. Grundlage »dafür ist die geplante Rechtsänderung im SGB III im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes. Diese Änderung ermöglicht es der BA, zeitlich begrenzt Sprachkurse für Flüchtlinge zu fördern, wenn diese Kurse bis zum 31. Dezember 2015 beginnen.«

Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand, derzeit Vorsitzende des Verwaltungsrats, wird mit diesen Worten zitiert:

„Wichtig dabei ist: Es handelt sich bei der Förderung um zusätzliche Mittel, die wir aus unserer Interventionsreserve im Haushalt freigeben. Damit entstehen auch keine Nachteile in der Förderung für andere Arbeitsuchende.“

Bei so einer Argumentation nach dem Muster der Vorwärtsverteidigung könnte der Berufsskeptiker aus dem Stand-by-Modus erwachen und die Frage stellen, was sind denn das für Mittel und woher kommen die?

»Es wird erwartet, dass bis zu 100.000 Menschen von dieser ersten Sprachförderung profitieren können. Ziel ist es, erste Kenntnisse der deutschen Sprache zu vermitteln. Die voraussichtlichen Kosten der Förderung werden zwischen 54 Millionen und 121 Millionen Euro liegen – je nach Ausgestaltung der Maßnahmen und nach der Teilnehmerzahl, die in diesem Jahr erreicht werden kann.«

Eine ordentliche Summe, aber angesichts des Bedarfs und was man damit machen kann, sicher eine sinnvolle Ausgabe. Denn die Sprachförderung der Flüchtlinge ist eine ganz zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie ist ja nicht nur für die Aufnahme irgendeines Jobs eine wichtige Voraussetzung, auch andere wichtige Aspekte einer von den meisten Menschen angestrebten (und zunehmend von vielen Politikern auch immer stärker eingeforderten) Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft setzen Sprachkenntnisse voraus.

Wenn das so ist, dann muss dieses Angebot – das unbedingt noch deutlich stärker ausgebaut werden muss, um das hier unmissverständlich zu formulieren – aus Steuermitteln finanziert werden.
Jeder, der weiß, was sich hinter dem Begriff „Verschiebebahnhof“ verbirgt, ahnt, was jetzt kommt. Die Millionen fließen nicht aus der Schatulle des Bundesfinanzministers, die sich aus Steuereinnahmen speist, sondern es handelt sich um Beitragsmittel der Arbeitslosenversicherung. Diese werden für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – sagen wir es ruhig in der alten ordnungspolitisch fundierten Terminologie – zweckentfremdet. Für etwas, das gefälligst über Steuermittel finanziert werden müsste, sollte, hätte …

Aber haben wir nicht eben lesen können, dass es sich um zusätzliche Mittel handelt, also keine Nachteile für Arbeitslose entstehen?

Die Auflösung liegt in dem Begriff „Interventionsreserve“. Hierbei handelt es sich um Beitragsmittel der Versicherten, die man zurückgelegt hat, um im Falle einer neuen Krise auf dem Arbeitsmarkt über Geldreserven zu verfügen. Denn einen Bundeszuschuss gibt es für die BA nicht mehr, der wurde abgeschafft.

Man nimmt also Geld aus dem Sparschwein der Arbeitslosenversicherung, nur um den Bundesfinanzminister seine Glücksgefühle über die hingerechnete „schwarze Null“ nicht zu versauen, die sein Lebenswerk krönen soll.

Auch wenn Ordnungspolitik verstaubt und muffig daherkommt – das ist keine korrekte Finanzierung, wieso sollen nur die Beitragszahler für Sprachkurse zahlen? Und mal in die Zukunft gedacht: Wenn man die Reserven der Arbeitslosenversicherung plündert, wird man den Beitragssatz bei einer schlechteren Arbeitsmarktlage schneller erhöhen müssen. Wetten, dass dann wieder bitterlich geklagt wird über die steigenden „Lohnnebenkosten“, deren Anstieg „natürlich“ dringend über „Reformen“ abgebremst werden muss, damit die Arbeitgeber nicht „überlastet“ werden?

Die faktische Kraft des Formalen auf dem Arbeitsmarkt und die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen

Jeder, der sich nur ein wenig auskennt im Bereich der Arbeitsvermittlung, weiß um den Stellenwert des formalen Berufsabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die hier agierenden Arbeitgeber sind sehr stark abschlussorientiert, was bedeutet, dass das Vorhandensein eines, zuweilen irgendeines Berufsabschlusses als Flaschenhals beim Zugang zu einer, zuweilen irgendeiner Beschäftigung fungiert. Das ist dann nicht nur ein  Problem für die Arbeitsuchenden, die keinen solchen Abschluss haben, sondern auch für die, die beispielsweise während einer mehr oder weniger langen Zeit der Arbeitslosigkeit an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben, die mit einem Zertifikat des Maßnahmeträgers abgeschlossen wurden, denn viele (potenzielle) Arbeitgeber werten diese Zertifikate unterhalb eines formalen Berufsabschlusses sehr niedrig. Insofern kann ein fehlender Berufsabschluss auf dem deutschen Arbeitsmarkt wie ein – notwendigerweise ungerecht wirkendes – statistisches Ausschlussmerkmal den Zugang zu einem neuen Job blockieren, selbst wenn der Betroffene eigentlich über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. Aber er kommt gar nicht in die Nähe einer Chance, diese überhaupt zeigen zu können. Eine Studie aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat diesen an sich seit langem bekannten Sachverhalt neu aufgerufen und mit Daten zu belegen versucht.

»Eine Stelle findet leichter, wer einen formalen Abschluss vorweisen kann. Wie viel jemand tatsächlich kann, spielt dagegen oftmals eine überraschend geringe Rolle«, so die zutreffende Zusammenfassung des Hautergebnisses der neuen WZB-Studie  in dem Artikel Abschluss schlägt Können.

Die WZB-Studie im Original: Jan Paul Heisig und Heike Solga: Ohne Abschluss keine Chance. Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus. WZBrief Arbeit 19, Berlin, Januar 2015

Amory Burchard beschreibt die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie in dem Artikel Rechnen gut, Jobaussichten schlecht so: Ausgangspunkt ist die 2013 veröffentlichte OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), umgangssprachlich zuweilen als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet. PIAAC »misst, wie gut weltweit Menschen im erwerbsfähigen Alter lesen, rechnen und mit digitalen Medien umgehen können. Getestet wurden alltägliche Fähigkeiten, wie man sie etwa beim Einkaufen braucht, zur Interpretation von Statistiken oder um sich im öffentlichen Nahverkehr zurechtzufinden.« Ob nun 15-jährige Schüler untersucht werden oder eben Erwachsene – immer greift die OECD auf das gleiche Kompetenzstufenmodell zurück:

»Wer nur auf der ersten von fünf Kompetenzstufen lesen oder rechnen kann, also nicht in der Lage ist, etwas komplexere Aufgaben zu lösen, gehört der „Risikogruppe“ an, die weder im Alltag noch im Berufsleben gut zurechtkommen kann. In Mathematik gehören aktuell knapp 17,7 Prozent der deutschen Schüler dieser Gruppe an, beim „Erwachsenen-Pisa“ waren es 18,5 Prozent.«

Dass die Zugehörigkeit zu der „Risikogruppe“, bei der elementare Fähigkeiten fehlen, oftmals mit einer sehr hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit korreliert, überrascht nicht wirklich, sind doch in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Arbeitsplätze wegrationalisiert worden, auf denen früher diese Menschen Arbeit gefunden haben. Dazu findet man in die Studie die folgenden allgemeinen Hinweise:

»Seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren ist der Anteil an formal gering qualifizierten Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium in der Bevölkerung stark gesunken: 1978 waren noch etwa 36 Prozent der 25- bis 55-Jährigen in Westdeutschland gering qualifiziert. 2012 traf dies nur noch auf 17 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe zu. Zugleich haben sich die Arbeitsmarktchancen von formal gering Qualifizierten seitdem dramatisch verschlechtert – in Deutschland wie in fast allen Industrieländern. In Westdeutschland erhöhte sich die Arbeitslosenquote von Erwachsenen ohne Berufsausbildung oder Hochschulabschluss zwischen 1980 und 2010 von 5,9 auf 19,1 Prozent. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote von Personen mit Berufsausbildung von 2,1 auf 4,5 Prozent, die von Menschen mit Studienabschluss von 1,8 auf 2,0 Prozent an.« (Heisig/Solga 2015: 2)

Die Wissenschaftler vom WZB haben nun einen ganz besonderen Ausschnitt aus der in PIAAC untersuchten Gruppe der Erwachsenen betrachtet und bei diesen dann einen besonderen Blick geworfen auf deren mathematische Kompetenzen. Die WZB-Forscher schauten nur auf die Erwachsene, die keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und daher als formal gering qualifiziert gelten. Und dabei nur auf die Männer (zwischen 24 und 54 Jahren), denn die Arbeitsmarktchancen der Frauen ohne Berufsausbildung sind stark von ihrer familiären Situation beeinflusst und nicht nur bzw. weniger von der (formalen) Qualifikationsfrage. In dem Artikel Abschluss schlägt Können können wir lesen:

»Die formal Geringqualifizierten verfügen nicht alle zwangsläufig auch über geringe Kompetenzen in Mathematik. Im Durchschnitt erreichten sie in diesem PIAAC-Testbereich zwar schlechtere Ergebnisse, mit 17 Prozent kamen in dieser Gruppe der Geringqualifizierten jedoch relativ viele auf ein Kompetenzniveau, das eigentlich mit eher anspruchsvollen Tätigkeiten verbunden ist. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass sich in der Gruppe auch Studienabbrecher finden können, die keine Lehre angefangen haben.«

Wenn die Arbeitgeber kompetenzorientiert einstellen würden, dann müsste zumindest diese Untergruppe der formal Geringqualifizierten bessere Jobchancen haben, verfügen sie doch mit der Zuordnung zur Kompetenzstufe 3 über Fähigkeiten auf einem Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung zur Ausübung durchaus anspruchsvollerer Tätigkeiten ausreicht (Stufe 3 bedeutet, dass sie damit ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und räumliches Vorstellungsvermögen haben, sie können etwa Daten und Statistiken in Texten, Tabellen und Grafiken interpretieren und analysieren).

Die Realität sieht aber anders aus – zumindest in Deutschland: Denn »das Risiko der mathematisch Kompetenten, arbeitslos zu sein, (ist) mit 30 Prozent ebenso hoch wie bei den anderen Gruppen. International seien Deutschland und auch die USA damit Sonderfälle, betonen die Forscher. In allen anderen 22 Ländern, die an PIAAC teilgenommen haben, hätten Männer mit niedriger Qualifikation, aber besseren alltagsmathematischen Fähigkeiten, mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt«, so Amory Burchard in seinem Artikel. Wer keinen Berufs- oder Studienabschluss vorweisen kann, hat in Deutschland offenbar kaum Chancen, das mit seinem Können aufzuwiegen.

Die faktische Kraft des (Nicht-)Abschlusses wird auch an diesem besonderen Befund deutlich, den die Wissenschaftler herausstellen:

»Die Nichtbeschäftigungsquote von Männern mit Berufsausbildung, die höchstens die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist mit 24 Prozent ähnlich hoch wie die von gering qualifizierten Männern auf dieser Kompetenzstufe … Männer mit beruflichem Abschluss profitieren jedoch trotz ihrer geringen alltagsmathematischen Kompetenzen von ihren höheren Bildungsabschlüssen: Wenn sie erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt geschafft haben, arbeiten sie deutlich seltener als Un- oder Angelernte als formal gering qualifizierte Männer mit gleichen oder sogar höheren allgemeinen Kompetenzen.« (Heisig/Solga 2015: 5 f.)

Zusammenfassend bilanzieren Heisig/Solga (2015: 6): »Die Befunde unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Höhere alltagsmathematische Kompetenzen gehen für formal gering qualifizierte Männer in Deutschland – anders als in anderen Ländern – kaum mit besseren Arbeitsmarktchancen einher. Andererseits scheint auch der Nutzen von beruflichen Abschlüssen begrenzt zu sein, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Lesen wir zuerst die Schlussfolgerungen der beiden Wissenschaftler vom WZB:

»Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht. Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten, da deren Nutzen offenbar begrenzt ist, wenn die Grundkompetenzen sehr gering sind. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.«

Genau an diesen beiden Stellen zeigen sich erhebliche Defizite in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, denn diese ist vor allem mit Beginn der Umsetzung der so genannten „Hartz-Gesetze“ einem ganz anderen Entwicklungspfad gefolgt: „quick and dirty“, so könnte man zuspitzend die Ausgestaltung vieler „Aktivierungsbemühungen“ charakterisieren. Vor allem der Bereich der Förderung der beruflichen Weiterbildung war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man länger laufende und erst einmal kostspieligere Qualifizierungsmaßnahmen, die mit einem formalen Berufsabschluss enden, massiv nach unten gefahren hat zugunsten kurzer, billigerer Maßnahmen, die – wenn überhaupt – mit irgendeinem oftmals kaum oder gar nicht verwertbaren Zertifikat des Bildungsträgers abgeschlossen werden. Erst am aktuellen Rand beginnt auch die Bundesagentur für Arbeit, die Zahl der abschlussorientierten Maßnahmen langsam wieder nach oben zu treiben. Es stellen sich zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, deren derzeitige Nicht- oder Rudimentär-Bearbeitung auf das große schwarze Loch verweisen, mit dem wir hier konfrontiert sind:

  • Wir haben über eine Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die über keinen formalen Berufsabschluss verfügen. Hierbei handelt es sich oftmals um die, die am Anfang ihrer (Nicht)Erwerbsbiografie einen Ausbildungsplatz gesucht haben, damals aber aufgrund des Überangebots an Ausbildungsuchenden keinen Zugang haben finden können. Sie sind dann eben als Un- und Angelernte auf dem Arbeitsmarkt gelandet und pendeln oftmals zwischen irgendeiner Erwerbsarbeit und Phasen der Arbeitslosigkeit hin und her bzw. ein Teil von ihnen ist im Langleistungsbezug des Grundsicherungssystems gelandet. Hier müsste man – übrigens verstärkt durch den absehbaren Bedarf an Menschen auf der mittleren Qualifikationsebene – mit einem wirklich seinen Namen verdienenden Qualifizierungsprogramm ansetzen. Dafür muss man nur einmal den Blick zurück richten auf die Anfangsjahre des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), denn bis Mitte der 1970er Jahre gab es ein im Vergleich zu heute traumhaft attraktives Qualifizierungsprogramm für Erwachsene mit einem Unterhaltsgeld von bis zu 90% des letzten Nettoentgelts, wenn die Betroffenen bereit waren, in einen als zukunftsträchtig wahrgenommenen Beruf umzuschulen bzw. einen ersten Abschluss zu erwerben. Genau diesen Mut zur Investition müsste die Politik jetzt auch wieder aufbringen und entsprechend Geld in die Hand nehmen. Denn volkswirtschaftlich (und gesellschaftspolitisch) würde sich eine solche Investitionsoffensive in das Humanvermögen der Menschen mehr als lohnen, es würde sich um ein Vielfaches auszahlen, wenn man auf dem Schirm hätte, was die zu Facharbeitern, Handwerkern usw. umgeschulten bzw. qualifizierten Menschen über Jahrzehnte an Steuern und Sozialbeiträgen leisten werden bzw. könnten. Allerdings verweist das auf die Notwendigkeit einer „richtigen“ volkswirtschaftlichen Perspektive, denn der „return on investment“ wird eben nicht im nächsten Haushaltsjahr realisiert, sondern wir sind hier mit time-lags von mehreren Jahren zwischen Investition und den Rückflüssen konfrontiert. Aber: Noch nie war die Zeit an sich so günstig für einen solchen Paradigmenwechsel, wenn man sich anschaut, mit welchen Verwerfungen beispielsweise der Ausbildungsmarkt derzeit aufgrund der Umkehrung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert ist.
  • Darüber hinaus muss man aber auch angesichts der veränderten Zusammensetzung der Betroffenen inhaltliche Paradigmenwechsel bei der Qualifizierungsförderung vornehmen. Dies stellt vor allem auf den Faktor Zeit und auf den Faktor Lernarrangements ab. Viele der betroffenen Menschen brauchen – auch vor dem Hintergrund der in vielen Berufsausbildungen gestiegenen Anforderungen – mehr Zeit als bisher für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung. Die muss man auch förderrechtlich ermöglichen. Und gerade mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im SGB II benötigen wir eine Aufhebung der immer noch stark ausgeprägten Versäulung der Arbeitsmarktpolitik in entweder Beschäftigung oder Qualifizierung. Viele der hier Betroffenen können sehr wohl qualifiziert werden, allerdings nicht in den tradierten Lernsettings, de im Wesentlichen immer noch einer primär kognitiv, also schulisch determinierten Ausrichtung folgen. Qualifizierung durch echte Arbeit müsste irr der konzeptionelle Ansatzpunkt lauten. Dazu gibt es gerade aus der Praxis eine jahrzehntelange Evidenz, die allerdings gebrochen wird an der Realität des Förderrechts und der durch dieses bedingten Ausgestaltung der Maßnahmen. 

Summa summarum zwei richtig große Baustellen. Aber sie sind weitgehend leer, es sind derzeit keine größeren Aktivitäten erkennbar. Und wenn sich das nicht bald ändert, werden weiterhin viele Menschen aus dem bestehenden System ausgespuckt und auf Dauer auf ein Abstellgleis gestellt werden.

Berufsausbildungssystem: Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist weiter auf dem Sinkflug, ein „Übergangssystem“, das nicht einfach verschwinden wird und immer mehr, die studieren (wollen) und oft in „Mickey Mouse“-Fächern landen

Heute muss ein guter Tag gewesen sein für die Berufsausbildung in Deutschland – zumindest, wenn man als Beurteilungskriterium für eine solche Aussage die Betitelungen der Pressemitteilungen heranzieht: Gemeinsam die duale Ausbildung stärken, so erfahren wir es vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dass das nicht irgendwer will, sondern echte Schwergewichte, können wir dem nächsten Satz entnehmen: »Bund, Wirtschaft, Gewerkschaften und Länder schmieden neue Allianz für Aus- und Weiterbildung.« Die Zielsetzung kommt sympathisch rüber: »Die Partner der Allianz wollen gemeinsam die duale Berufsausbildung in Deutschland stärken und für die Gleichwertigkeit der betrieblichen und akademischen Ausbildung werben. Jedem ausbildungsinteressierten Menschen soll ein Pfad aufgezeigt werden, der ihn frühestmöglich zu einem Berufsabschluss führen kann. Die betriebliche Ausbildung hat dabei klaren Vorrang.«

Man hat sich einige Ziele gesetzt: »Die neue Allianz für Aus- und Weiterbildung löst den zum Ende des Jahres 2014 auslaufenden Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ab. Im Rahmen der Allianz will die Wirtschaft im kommenden Jahr 20.000 zusätzliche Ausbildungsplätze gegenüber den 2014 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Stellen sowie jährlich 500.000 Praktikumsplätze zur Berufsorientierung zur Verfügung stellen. Sie hat zugesagt, jedem vermittlungsbereiten Jugendlichen, der bis zum Beginn des Ausbildungsjahres im Herbst noch keinen Platz gefunden hat, drei Angebote für eine Ausbildung zu machen. Die Partner der Allianz wollen jetzt den Einstieg in die assistierte Ausbildung auf den Weg bringen; als ersten Schritt streben sie für das Ausbildungsjahr 2015/2016 bis zu 10.000 Plätze für die assistierte Ausbildung an; das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die gesetzlichen Grundlagen dafür auf den Weg bringen.« Den Text der neuen Allianz-Vereinbarung findet man hier. Es bewegt sich was – vor allem aber und das leider bei den tatsächlichen Zahlen. Die Abbildung verdeutlicht, was man den ebenfalls heute veröffentlichten Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Entwicklung auf dem so genannten „Ausbildungsmarkt“ entnehmen kann und muss: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge geht leider weiter den Bach runter.

Stephanie Matthes, Joachim Gerd Ulrich, Simone Flemming und Ralf-Olaf Granath vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) haben ihre Veröffentlichung über die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2014 so überschrieben: Duales System vor großen Herausforderungen. Und damit sind sie noch im Dunstkreis des politischen Korrekten, deuten aber an, was man auch anders formulieren könnte, wenn man darf: Wir stehen vor einer fundamentalen Erschütterung, wenn nicht Infragestellung einer seit Jahrzehnten vorhandenen Aufgabenteilung im großen System der Berufsausbildung mit unterschiedlichen Zugangswegen und Ausbildungsformaten. Im vergangenen Jahr, also 2013, haben erstmals mehr junge Menschen ein Hochschulstudium begonnen als eine duale Berufsausbildung. Man muss das auch vor dem Hintergrund solcher Meldungen sehen: 64 Prozent der Schüler in NRW erreichen Hochschulreife. Im Bundesdurchschnitt waren es zwar weniger, aber immerhin noch erhebliche 54,9%. Und die duale Berufsausbildung – um die uns in der Welt viele beneiden – und die sicherlich bei allen Schwierigkeiten und Defiziten innerhalb dieses vielgestaltigen Systems als eine der zentralen (bisherigen) Erfolgsfaktoren für die deutsche Volkswirtschaft zu identifizieren ist, gerät immer stärker unter (einen doppelten) Druck. Zum einen „von oben“, weil immer mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen, von denen früher viele eher eine duale oder fachschulische Ausbildung gemacht hätten. An den Hochschulen landen viele Studierende dann in einerseits völlig überfüllten Ausbildungsstätten mit den schlechtesten Personalschlüsseln überhaupt, zum anderen in einer „Hochschulwelt“, die sich stark verändert hat gegenüber dem, was viele früher als Hochschule erlebt haben. Dazu der Berufsbildungsexperte Felix Rauner von der Universität Bremen: »Wir zählen mittlerweile in Deutschland mehr als 2.000 Fächer in den Bachelor- und Masterstudiengängen. Dieses Angebot gleicht einem undurchschaubaren Dschungel von Spezialfächern, für die sich der Begriff der „Mickey Mouse“-Fächer eingebürgert hat« (vgl. „Wir brauchen eine Architektur paralleler Bildungswege“).

Aber auch „von unten“ kommt das (duale) Berufsausbildungssystem unter Druck. Man könnte ja angesichts des Wegbrechens potenzieller Auszubildender am oberen Rand auf den ersten Blick plausibel argumentieren, dass die Betriebe sich dann eben nach unten weiter öffnen müssen, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, denen bislang der Einstieg in die Berufsausbildung nicht oder nur mit einer erheblichen Zeitverzögerung gelungen ist. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Zum einen gibt es nicht wegzudiskutierende, teilweise erhebliche Verhaltens- und Motivationsprobleme bei manchen Jugendlichen. Zum anderen: Hinsichtlich der in Deutschland so wichtigen dualen und fachschulischen Berufsausbildung muss für die zurückliegenden Jahre ein die Integrationsprobleme der leistungsschwächeren Jugendlichen verstärkendes Moment gesehen werden: Die Anforderungen sind nicht nur in vielen Tätigkeitsfeldern gestiegen, sondern auch in den Berufsausbildungen. Gleichsam ein „klassisches“, weil unmittelbar anschauliches Beispiel wäre der Vergleich der Ausbildungsanforderungen beim Kfz-Mechaniker vor 15 oder 20 Jahren und den Inhalten, die heute in der Mechatroniker-Ausbildung zu bewältigen sind. Insgesamt kann und muss man auch für viele Ausbildungsberufe von einem (vor allem kognitiven) „Upgrading“ sprechen, das natürlich im Ergebnis dazu führt, dass es zu einer Zugangsverengung bei diesen Berufen kommen muss. Das führt zu einer kognitiven Anforderungserhöhung in vielen Berufsausbildungen (einschließlich des berufsschulischen Teils der Ausbildung) in Verbindung mit „kognitiven Blockaden“ bei einem Teil der Schüler und Schülerinnen.

Das alles passiert in einem Kontext, der durch eine der tiefgreifendsten Veränderungen des Berufsausbildungssystems gekennzeichnet ist:

Die vergangenen Jahren waren vor allem durch die alljährlich sich wiederholenden Bemühungen um die Gewinnung zusätzlicher Ausbildungsplätze im dualen System geprägt. Immer wieder war davon die Rede, dass es nicht genügend Ausbildungsstellen geben würde, um alle Schulabgänger mit einer beruflichen Erstausbildung zu versorgen. Zu viele Jugendliche und zu wenige Ausbildungsplätze – das war die in der Vergangenheit dominierende Kurzformel. Von besonderer Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung war die sich in diesem Zusammenhang immer stärker als besonderes Problem darstellende besondere Betroffenheit der Hauptschüler, die als die große „Verlierergruppe“ kommuniziert wurde – die Verfestigung dieser Sichtweise auf Hauptschüler hat sicher stark zum Akzeptanzverfall der Schulform Hauptschule mit beigetragen, auch wenn sich die Realität der Hauptschullandschaft in den einzelnen Bundesländern weitaus differenzierter dargestellt hat und immer noch darstellt.

Schaut man heute in die Berichterstattung über das Thema, dann muss man den Eindruck bekommen, die Situation in Deutschland ist eine komplett andere als noch vor wenigen Jahren. Als neue Kurzformel scheint sich spiegelbildlich zur bisherigen Perspektive zu etablieren: Zu wenige Jugendliche und zu viele Ausbildungsplätze. Die Medienberichte fokussieren einerseits auf in Einzelfällen schon grotesk daherkommende Versuche, überhaupt noch halbwegs akzeptable Interessenten für einen Ausbildungsplatz zu gewinnen, wobei dann die jungen Leute schon mal ein iPad oder einen Wochenendtrip nach London als Prämie kassieren können. Zum anderen aber wird immer wieder über das zweite Problem neben dem rein quantitativen Problem berichtet – die tatsächlich oder angeblich fehlende „Ausbildungsreife“ der potenziellen Auszubildende, wobei hier nur darauf hingewiesen werden kann, dass der Begriff der „Ausbildungsreife“ in maßgeblichen Teilen der Berufsbildungsforschung zu Recht als nicht sinnvoll erachtet wird. Aber er wabert immer wieder und sehr oft durch die öffentlichen Debatten – allerdings, wenn man ihn denn schon verwendet, in einem krassen Missverhältnis zu der tatsächlichen Ausformung von „mangelnder Ausbildungsreife“, denn ein solche wird unisono immer nur bei den Jugendlichen beklagt, es gibt sie aber auch spiegelbildlich bei so manchem Betrieb bzw. Arbeitgeber.

Was das zur Folge hat? Eine Konsequenz ist die, dass trotz der aus demografischen Gründen rückläufigen Zahl an (potenziellen) Auszubildenden die Parallelwelt des Übergangs von der Schule in den Beruf nicht einfach „verschwindet“, weil weiterhin zahlreiche junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen schnellen und guten Einstieg in das Berufsleben finden (können). Dabei wäre das eigentlich zu erwarten, denn die Effekte des demografischen Wandels (in Verbindung mit der bereits erwähnten erheblichen Verschiebung zugunsten des hochschulischen Ausbildungssystems) würden erst einmal dafür sprechen, dass sich das „Übergangssystem“ von alleine erledigt. Um welche Größenordnung es allein beim demografischen Wandel geht, verdeutlicht dieses Zitat  des BIBB anlässlich der Veröffentlichung der Entwicklung und der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge:

»Wesentliche Ursache für die nochmals gesunkene Zahl der Ausbildungsverträge ist der starke Rückgang der Zahl der nichtstudienberechtigten Abgänger und Absolventen aus allgemeinbildenden Schulen, die drei Viertel aller Auszubildenden stellen. Ihre Zahl sank nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 714.800 im Jahr 2004 auf 551.300 im Jahr 2014 … in den kommenden zehn Jahren wird die Zahl der Schulabgänger mit maximal mittlerem Schulabschluss um weitere 101.700 auf dann nur noch 449.600 zurückgehen.«

Und offensichtlich scheint das doch auch im Sinne eines Rückgangs der Eintritte in das so genannte „Übergangssystem“ zu wirken, denn die Abbildung verdeutlich, dass es zu einer erheblichen Bewegung gekommen ist. Im Jahr 2005 waren es noch deutlich mehr als 400.000 junge Menschen, die in den Übergangsbereich eingetreten sind, weil sie keinen direkten Zugang zu einer Berufsausbildung gefunden haben oder weil sie an einen (höheren) Schulabschluss herangeführt werden sollten. Auch wenn man einen deutlichen Rückgang der Zahl der Eintritte in den „Übergangsbereich“ erkennen kann – immer noch sind es mehr als 250.000 junger Menschen, die hier einmünden, also fast 27% aller Neuzugänge in das berufliche Ausbildungssystem. Um eine Einordnung dieser Zahlen zu ermöglichen: Das sind immer noch mehr junge Menschen, als insgesamt in das Schulberufssystem eintreten, das waren nur 212.000 Jugendliche, also da, wo beispielsweise Erzieherinnen oder das Pflegepersonal ausgebildet wird. Zum weiteren Vergleich: Eine duale Berufsausbildung haben im vergangenen Jahr 497.000 junge Menschen begonnen. Offensichtlich nimmt zwar rein quantitativ das Volumen der „Problemfälle“ im Sinne nicht vermittelbarer Jugendlicher parallel zum allgemeinen Rückgang der Zahl der Jugendlichen insgesamt ab, wobei man darauf hinweisen muss, dass es in den vergangenen zwei Jahren kaum noch Rückgänge bei der Zahl der Eintritte in das „Übergangssystem“ gegeben hat.

Fazit: Zwar reduziert sich die Zahl der Neuzugänge in das bestehende „Übergangssystem“, aber gleichzeitig kommt es zu einer Potenzierung der heute schon in vielen Maßnahmen zu beobachtende „Konzentration der Unerträglichkeit“ (auf beiden Seiten) durch eine Konzentration der (sozial)pädagogischen Schweregrade und damit zu einem absehbar weiter abnehmenden Wirkungsgrad der zersplitterten und punktuellen Förderlandschaft (weniger, aber die dann noch „schwerer“). Und dann muss man berücksichtigen, dass die meisten Fachkräfte, die im „Übergangssystem“ arbeiten, unter den schlechtesten Bedingungen überhaupt ihrer so schwierigen Arbeit nachgehen müssen – befristete Verträge, oftmals eine Bezahlung, die knapp oberhalb oder an den Hartz IV-Sätzen liegt und eine Landschaft, die durch eine sich ständig erneuernde fragile „Projektionitis“ charakterisiert ist.

Was mit diesen Ausführungen herausgestellt werden soll: Wir sollten nicht nur auf die rückläufige Zahl an tatsächlichen Ausbildungsverträgen schauen und im engeren Umfeld diskutieren. Dazu zählt letztendlich auch die heute proklamatorisch verkündete „Allianz für Aus- und Weiterbildung“. Wir stehen an einer ganz zentralen Wegscheide der Entwicklung und wenn man nicht wesentlich umfassender und beherzter an die Sache heran geht, dann werden wir erleben müssen, dass in den kommenden Jahren die „klassische“ Berufsausbildung bei uns (die eigentlich eine sehr moderne Veranstaltung ist) an die Wand gefahren wird, aber auch viele Hochschulen, an die nun immer mehr junge Menschen strömen, werden angesichts der Rahmenbedingungen und der Länderzuständigkeit schweren Schaden nehmen müssen. Und letztendlich – aber eigentlich sollte das im Mittelpunkt stehen – wird das erhebliche Auswirkungen haben auf die jungen Menschen.