Heute muss ein guter Tag gewesen sein für die Berufsausbildung in Deutschland – zumindest, wenn man als Beurteilungskriterium für eine solche Aussage die Betitelungen der Pressemitteilungen heranzieht: Gemeinsam die duale Ausbildung stärken, so erfahren wir es vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dass das nicht irgendwer will, sondern echte Schwergewichte, können wir dem nächsten Satz entnehmen: »Bund, Wirtschaft, Gewerkschaften und Länder schmieden neue Allianz für Aus- und Weiterbildung.« Die Zielsetzung kommt sympathisch rüber: »Die Partner der Allianz wollen gemeinsam die duale Berufsausbildung in Deutschland stärken und für die Gleichwertigkeit der betrieblichen und akademischen Ausbildung werben. Jedem ausbildungsinteressierten Menschen soll ein Pfad aufgezeigt werden, der ihn frühestmöglich zu einem Berufsabschluss führen kann. Die betriebliche Ausbildung hat dabei klaren Vorrang.«
Man hat sich einige Ziele gesetzt: »Die neue Allianz für Aus- und Weiterbildung löst den zum Ende des Jahres 2014 auslaufenden Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ab. Im Rahmen der Allianz will die Wirtschaft im kommenden Jahr 20.000 zusätzliche Ausbildungsplätze gegenüber den 2014 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Stellen sowie jährlich 500.000 Praktikumsplätze zur Berufsorientierung zur Verfügung stellen. Sie hat zugesagt, jedem vermittlungsbereiten Jugendlichen, der bis zum Beginn des Ausbildungsjahres im Herbst noch keinen Platz gefunden hat, drei Angebote für eine Ausbildung zu machen. Die Partner der Allianz wollen jetzt den Einstieg in die assistierte Ausbildung auf den Weg bringen; als ersten Schritt streben sie für das Ausbildungsjahr 2015/2016 bis zu 10.000 Plätze für die assistierte Ausbildung an; das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die gesetzlichen Grundlagen dafür auf den Weg bringen.« Den Text der neuen Allianz-Vereinbarung findet man hier. Es bewegt sich was – vor allem aber und das leider bei den tatsächlichen Zahlen. Die Abbildung verdeutlicht, was man den ebenfalls heute veröffentlichten Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Entwicklung auf dem so genannten „Ausbildungsmarkt“ entnehmen kann und muss: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge geht leider weiter den Bach runter.
Stephanie Matthes, Joachim Gerd Ulrich, Simone Flemming und Ralf-Olaf Granath vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) haben ihre Veröffentlichung über die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2014 so überschrieben: Duales System vor großen Herausforderungen. Und damit sind sie noch im Dunstkreis des politischen Korrekten, deuten aber an, was man auch anders formulieren könnte, wenn man darf: Wir stehen vor einer fundamentalen Erschütterung, wenn nicht Infragestellung einer seit Jahrzehnten vorhandenen Aufgabenteilung im großen System der Berufsausbildung mit unterschiedlichen Zugangswegen und Ausbildungsformaten. Im vergangenen Jahr, also 2013, haben erstmals mehr junge Menschen ein Hochschulstudium begonnen als eine duale Berufsausbildung. Man muss das auch vor dem Hintergrund solcher Meldungen sehen: 64 Prozent der Schüler in NRW erreichen Hochschulreife. Im Bundesdurchschnitt waren es zwar weniger, aber immerhin noch erhebliche 54,9%. Und die duale Berufsausbildung – um die uns in der Welt viele beneiden – und die sicherlich bei allen Schwierigkeiten und Defiziten innerhalb dieses vielgestaltigen Systems als eine der zentralen (bisherigen) Erfolgsfaktoren für die deutsche Volkswirtschaft zu identifizieren ist, gerät immer stärker unter (einen doppelten) Druck. Zum einen „von oben“, weil immer mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen, von denen früher viele eher eine duale oder fachschulische Ausbildung gemacht hätten. An den Hochschulen landen viele Studierende dann in einerseits völlig überfüllten Ausbildungsstätten mit den schlechtesten Personalschlüsseln überhaupt, zum anderen in einer „Hochschulwelt“, die sich stark verändert hat gegenüber dem, was viele früher als Hochschule erlebt haben. Dazu der Berufsbildungsexperte Felix Rauner von der Universität Bremen: »Wir zählen mittlerweile in Deutschland mehr als 2.000 Fächer in den Bachelor- und Masterstudiengängen. Dieses Angebot gleicht einem undurchschaubaren Dschungel von Spezialfächern, für die sich der Begriff der „Mickey Mouse“-Fächer eingebürgert hat« (vgl. „Wir brauchen eine Architektur paralleler Bildungswege“).
Aber auch „von unten“ kommt das (duale) Berufsausbildungssystem unter Druck. Man könnte ja angesichts des Wegbrechens potenzieller Auszubildender am oberen Rand auf den ersten Blick plausibel argumentieren, dass die Betriebe sich dann eben nach unten weiter öffnen müssen, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, denen bislang der Einstieg in die Berufsausbildung nicht oder nur mit einer erheblichen Zeitverzögerung gelungen ist. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Zum einen gibt es nicht wegzudiskutierende, teilweise erhebliche Verhaltens- und Motivationsprobleme bei manchen Jugendlichen. Zum anderen: Hinsichtlich der in Deutschland so wichtigen dualen und fachschulischen Berufsausbildung muss für die zurückliegenden Jahre ein die Integrationsprobleme der leistungsschwächeren Jugendlichen verstärkendes Moment gesehen werden: Die Anforderungen sind nicht nur in vielen Tätigkeitsfeldern gestiegen, sondern auch in den Berufsausbildungen. Gleichsam ein „klassisches“, weil unmittelbar anschauliches Beispiel wäre der Vergleich der Ausbildungsanforderungen beim Kfz-Mechaniker vor 15 oder 20 Jahren und den Inhalten, die heute in der Mechatroniker-Ausbildung zu bewältigen sind. Insgesamt kann und muss man auch für viele Ausbildungsberufe von einem (vor allem kognitiven) „Upgrading“ sprechen, das natürlich im Ergebnis dazu führt, dass es zu einer Zugangsverengung bei diesen Berufen kommen muss. Das führt zu einer kognitiven Anforderungserhöhung in vielen Berufsausbildungen (einschließlich des berufsschulischen Teils der Ausbildung) in Verbindung mit „kognitiven Blockaden“ bei einem Teil der Schüler und Schülerinnen.
Das alles passiert in einem Kontext, der durch eine der tiefgreifendsten Veränderungen des Berufsausbildungssystems gekennzeichnet ist:
Die vergangenen Jahren waren vor allem durch die alljährlich sich wiederholenden Bemühungen um die Gewinnung zusätzlicher Ausbildungsplätze im dualen System geprägt. Immer wieder war davon die Rede, dass es nicht genügend Ausbildungsstellen geben würde, um alle Schulabgänger mit einer beruflichen Erstausbildung zu versorgen. Zu viele Jugendliche und zu wenige Ausbildungsplätze – das war die in der Vergangenheit dominierende Kurzformel. Von besonderer Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung war die sich in diesem Zusammenhang immer stärker als besonderes Problem darstellende besondere Betroffenheit der Hauptschüler, die als die große „Verlierergruppe“ kommuniziert wurde – die Verfestigung dieser Sichtweise auf Hauptschüler hat sicher stark zum Akzeptanzverfall der Schulform Hauptschule mit beigetragen, auch wenn sich die Realität der Hauptschullandschaft in den einzelnen Bundesländern weitaus differenzierter dargestellt hat und immer noch darstellt.
Schaut man heute in die Berichterstattung über das Thema, dann muss man den Eindruck bekommen, die Situation in Deutschland ist eine komplett andere als noch vor wenigen Jahren. Als neue Kurzformel scheint sich spiegelbildlich zur bisherigen Perspektive zu etablieren: Zu wenige Jugendliche und zu viele Ausbildungsplätze. Die Medienberichte fokussieren einerseits auf in Einzelfällen schon grotesk daherkommende Versuche, überhaupt noch halbwegs akzeptable Interessenten für einen Ausbildungsplatz zu gewinnen, wobei dann die jungen Leute schon mal ein iPad oder einen Wochenendtrip nach London als Prämie kassieren können. Zum anderen aber wird immer wieder über das zweite Problem neben dem rein quantitativen Problem berichtet – die tatsächlich oder angeblich fehlende „Ausbildungsreife“ der potenziellen Auszubildende, wobei hier nur darauf hingewiesen werden kann, dass der Begriff der „Ausbildungsreife“ in maßgeblichen Teilen der Berufsbildungsforschung zu Recht als nicht sinnvoll erachtet wird. Aber er wabert immer wieder und sehr oft durch die öffentlichen Debatten – allerdings, wenn man ihn denn schon verwendet, in einem krassen Missverhältnis zu der tatsächlichen Ausformung von „mangelnder Ausbildungsreife“, denn ein solche wird unisono immer nur bei den Jugendlichen beklagt, es gibt sie aber auch spiegelbildlich bei so manchem Betrieb bzw. Arbeitgeber.
Was das zur Folge hat? Eine Konsequenz ist die, dass trotz der aus demografischen Gründen rückläufigen Zahl an (potenziellen) Auszubildenden die Parallelwelt des Übergangs von der Schule in den Beruf nicht einfach „verschwindet“, weil weiterhin zahlreiche junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen schnellen und guten Einstieg in das Berufsleben finden (können). Dabei wäre das eigentlich zu erwarten, denn die Effekte des demografischen Wandels (in Verbindung mit der bereits erwähnten erheblichen Verschiebung zugunsten des hochschulischen Ausbildungssystems) würden erst einmal dafür sprechen, dass sich das „Übergangssystem“ von alleine erledigt. Um welche Größenordnung es allein beim demografischen Wandel geht, verdeutlicht dieses Zitat des BIBB anlässlich der Veröffentlichung der Entwicklung und der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge:
»Wesentliche Ursache für die nochmals gesunkene Zahl der Ausbildungsverträge ist der starke Rückgang der Zahl der nichtstudienberechtigten Abgänger und Absolventen aus allgemeinbildenden Schulen, die drei Viertel aller Auszubildenden stellen. Ihre Zahl sank nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 714.800 im Jahr 2004 auf 551.300 im Jahr 2014 … in den kommenden zehn Jahren wird die Zahl der Schulabgänger mit maximal mittlerem Schulabschluss um weitere 101.700 auf dann nur noch 449.600 zurückgehen.«
Und offensichtlich scheint das doch auch im Sinne eines Rückgangs der Eintritte in das so genannte „Übergangssystem“ zu wirken, denn die Abbildung verdeutlich, dass es zu einer erheblichen Bewegung gekommen ist. Im Jahr 2005 waren es noch deutlich mehr als 400.000 junge Menschen, die in den Übergangsbereich eingetreten sind, weil sie keinen direkten Zugang zu einer Berufsausbildung gefunden haben oder weil sie an einen (höheren) Schulabschluss herangeführt werden sollten. Auch wenn man einen deutlichen Rückgang der Zahl der Eintritte in den „Übergangsbereich“ erkennen kann – immer noch sind es mehr als 250.000 junger Menschen, die hier einmünden, also fast 27% aller Neuzugänge in das berufliche Ausbildungssystem. Um eine Einordnung dieser Zahlen zu ermöglichen: Das sind immer noch mehr junge Menschen, als insgesamt in das Schulberufssystem eintreten, das waren nur 212.000 Jugendliche, also da, wo beispielsweise Erzieherinnen oder das Pflegepersonal ausgebildet wird. Zum weiteren Vergleich: Eine duale Berufsausbildung haben im vergangenen Jahr 497.000 junge Menschen begonnen. Offensichtlich nimmt zwar rein quantitativ das Volumen der „Problemfälle“ im Sinne nicht vermittelbarer Jugendlicher parallel zum allgemeinen Rückgang der Zahl der Jugendlichen insgesamt ab, wobei man darauf hinweisen muss, dass es in den vergangenen zwei Jahren kaum noch Rückgänge bei der Zahl der Eintritte in das „Übergangssystem“ gegeben hat.
Fazit: Zwar reduziert sich die Zahl der Neuzugänge in das bestehende „Übergangssystem“, aber gleichzeitig kommt es zu einer Potenzierung der heute schon in vielen Maßnahmen zu beobachtende „Konzentration der Unerträglichkeit“ (auf beiden Seiten) durch eine Konzentration der (sozial)pädagogischen Schweregrade und damit zu einem absehbar weiter abnehmenden Wirkungsgrad der zersplitterten und punktuellen Förderlandschaft (weniger, aber die dann noch „schwerer“). Und dann muss man berücksichtigen, dass die meisten Fachkräfte, die im „Übergangssystem“ arbeiten, unter den schlechtesten Bedingungen überhaupt ihrer so schwierigen Arbeit nachgehen müssen – befristete Verträge, oftmals eine Bezahlung, die knapp oberhalb oder an den Hartz IV-Sätzen liegt und eine Landschaft, die durch eine sich ständig erneuernde fragile „Projektionitis“ charakterisiert ist.
Was mit diesen Ausführungen herausgestellt werden soll: Wir sollten nicht nur auf die rückläufige Zahl an tatsächlichen Ausbildungsverträgen schauen und im engeren Umfeld diskutieren. Dazu zählt letztendlich auch die heute proklamatorisch verkündete „Allianz für Aus- und Weiterbildung“. Wir stehen an einer ganz zentralen Wegscheide der Entwicklung und wenn man nicht wesentlich umfassender und beherzter an die Sache heran geht, dann werden wir erleben müssen, dass in den kommenden Jahren die „klassische“ Berufsausbildung bei uns (die eigentlich eine sehr moderne Veranstaltung ist) an die Wand gefahren wird, aber auch viele Hochschulen, an die nun immer mehr junge Menschen strömen, werden angesichts der Rahmenbedingungen und der Länderzuständigkeit schweren Schaden nehmen müssen. Und letztendlich – aber eigentlich sollte das im Mittelpunkt stehen – wird das erhebliche Auswirkungen haben auf die jungen Menschen.