Auf klassischen Pfaden in die Zukunft? Die Perpetuierung der Rollenverteilung im beruflichen Ausbildungssystem

In der Berufsbildung unterscheidet man drei Teil­bereiche: Der bedeutendste und größte Teilbereich ist die duale Ausbildung, in der theoretische und praktische Ausbildung in Berufschule und Betrieb miteinander kombiniert werden. In der vollzeitschulischen Ausbildung werden Schülerinnen und Schüler ausschließlich in Berufsschulen für das Berufsleben ausgebildet. Und dann gibt es da noch das so genannten „Übergangssystem“, in dem junge Menschen landen, die keinen direkten Zugang zu einer Ausbildung gefunden haben und dessen Heterogenität von berufsvorbereitenden Maßnahmen bis hin zum Erwerb eines (höheren) Schulabschlusses reicht (vgl. für eine Übersicht die Publikation Statistisches Bundesamt: Berufsbildung auf einen Blick, Wiesbaden 2013). Ein erstes Gefühl für die quantitative Bedeutung der drei Säulen der Berufsausbildung vermitteln die folgenden Zugangszahlen: »Im Jahr 2011 begannen 21% der Jugendlichen, die sich für eine Ausbildung entschieden, eine vollzeitschulische Ausbildung. 28% begannen mit Maßnahmen des Übergangssystems und 51% eine duale Ausbildung«, so das Statistische Bundesamt. Das Übergangssystem hat erkennbar an Bedeutung verloren, da sich die Lage am Ausbildungsmarkt entspannt und immer weniger Jugendliche um die knappen Ausbildungsplätze konkurrieren. 2006 landeten noch 36% der Jugendlichen im „Übergangssystem“, 2011 waren es „nur“ noch 28%. Auch wenn das hier nicht vertieft werden soll: Es sind immer noch mehr als 270.000 junge Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht in das „normale“ Ausbildungssystem einsteigen.

Nun ist das Berufsausbildungssystem aus mehreren Gründen unter einem erheblichen Druck. Zum einen macht sich nun auch in Westdeutschland die demografische Entwicklung bemerkbar in Form rückläufiger Zahlen an jungen Menschen, so dass also die Grundgesamtheit potenzieller Auszubildender sinkt. Dazu kommt eine gewaltige Verschiebung in Richtung immer (formal) höhere Schulabschlüsse. Hierzu schreibt das Statistische Bundesamt mit Blick auf das Jahr 2011: »Die Verteilung der erreichten allgemeinbildenden Schulabschlüsse änderte sich im Vergleich zu 2001 zugunsten der allgemeinen Hochschul- bzw. Fachhochschulreife. Dieser Anteil hat sich in den letzten zehn Jahren von 30 % auf 43 % erhöht. Der Anteil der Abgänge ohne Hauptschulabschluss hat sich hingegen von 8 % auf 4 % bzw. mit Hauptschulabschluss von 24 % auf 17 % verringert. Der Anteil der Realschulabschlüsse veränderte sich nur gering (von 38% zu 36%).«

Und immer mehr der jungen Menschen, die eine Hochschulzugangsberechtigung haben, nehmen dann auch ein Studium auf, fehlen damit aber für die Berufsausbildung, ob dual oder fachschulisch. Und auch wenn der Übergangsbereich rückläufig ist – man kann nicht davon ausgehen, dass sich das jetzt gleichsam „biologisch“ löst, also auch die Jugendlichen, die früher oder heute noch rausgefallen sind, in Zukunft alle vom Ausbildungssystem aufgenommen werden, denn in den zurückliegenden Jahren gab es natürlich auch in den meisten Berufen einen Trend zu höheren Anforderungen (das klassische Beispiel ist an dieser Stelle immer der Formenwandel vom Kfz-Mechaniker früherer Tage  zum heutigen Kfz-Mechatroniker), was aber dazu führt, dass ein Teil der jungen Menschen schlichtweg an den kognitiven Anforderungen der Berufsausbildung heute auflaufen (vgl. insgesamt zu diesen Themen die kompakten Beiträge in der neuen Publikation von Christine Henry-Huthmacher und Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Duale Ausbildung 2020. 14 Fragen & 14 Antworten, St. Augustin, 2013.

Im Jahr 2012 haben insgesamt 549.003 Jugendliche einen neuen Ausbildungsvertrag abgeschlossen. Dies waren 3,0 % weniger als im Vorjahr. Und die konnten im Prinzip aus einem wirklich breit gefächerten Strauß an Angeboten auswählen, denn das deutsche Berufsausbildungssystem konnte 2012 immerhin 345 Ausbildungsberufe auf die Waagschale werfen, im laufenden Jahr wurde diese Zahl auf 331 Berufe reduziert – obgleich immer auch neue Berufsbilder hinzukommen – vor allem durch Zusammenlegung mehrerer bisher selbstständiger Berufsbilder (als aktuelles Beispiel sei hier die „Fachkraft für Metalltechnik“ genannt, in die insgesamt 11 „Altberufe“ wie der „Revolverdreher“, der „Drahtzieher“ oder der „Schleifer“ aufgegangen sind; für das kommende Jahr ist die Zusammenlegung der drei Berufe „Bürokaufleute“, „Kaufleute für Bürokommunikation“ und „Fachangestellte für Bürokommunikation“ zum neuen Berufsbild „Kaufmann/Kauffrau für Büromanagement“ vorgesehen).

Obgleich es also eine wirklich stattliche Anzahl an Berufsbildern gibt, konzentriert sich das tatsächliche Ausbildungsverhalten in einem doppelten Sinne:

  • Zum einen haben wir eine erhebliche Konzentration der Berufsausbildung auf einige wenige Berufe – nimmt man die 10 am stärksten besetzten Ausbildungsberufe, dann tummeln sich dort 52,6% der weiblichen und 32,4% der männlichen Auszubildenden. 
  • Zum anderen sehen wir wie in der Vergangenheit eine geschlechtsspezifische Ungleichverteilung  zwischen den Berufen im Sinne einer Perpetuierung von „Männer“- und „Frauenberufen“ und das dann auch noch hoch konzentriert.

In der Abbildung sind die Top 20-Berufe, differenziert nach Männern und Frauen, dargestellt. Klar erkennbar, wenn man sich einmal auf die 10 am stärksten Berufe fokussiert: bei den männlichen Auszubildenden stehen mit Ausnahme des Kaufmanns im Einzelhandel und des Kaufmanns im Groß- und Außenhandel ausschließlich technisch-handwerkliche Berufe im Zentrum, während bei den weiblichen Auszubildenden nicht nur die Konzentration auf nur einige wenige Berufe noch stärker ausgeprägt ist als bei den männlichen Pendants, sondern die Berufe sind alle im Dienstleistungsbereich angesiedelt. Nun könnte man ja an dieser Stelle argumentieren: So what, sind wir nicht auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft? Dann ist das doch eine rationale Berufswahl. Schaut man sich allerdings die Berufe genauer an, die von den weiblichen Auszubildenden gewählt worden sind, dann muss aus arbeitsmarktlicher Sicht ein großes Fragezeichen gesetzt werden: Denn die Konzentration auf Berufe wie Medizinische Fachangestellte (früher Arzthelferin), Verkäuferin und Friseurin führt dazu, dass viele der Absolventinnen solcher Ausbildungen in Berufsfeldern landen, in denen sie sehr wenig verdienen werden, teilweise so wenig, dass der Weg in eine Partnerschaft zur ökonomischen Absicherung der eigenen Existenz vorgezeichnet ist und die eigene Berufstätigkeit wenn, dann nur als „Zuverdienstmodell“ realisierbar ist. Zugleich sind die Beschäftigungsrisiken in diesen Arbeitsmarktsegmenten sehr hoch.

Die Konzentration der jungen Frauen auf einige wenige, von außen betrachtet oftmals hoch problematische Berufsbilder ist mit Blick auf die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren konstant und ungebrochen – überspitzt könnte man formulieren, hier scheint fast schon eine anthropologische Grundkonstante zum Ausdruck zu kommen. Wie dem auch sei, aus arbeitsmarktlicher Sicht – und hier im Sinne einer Gleichzeitigkeit kollektiven wie auch individuellen Nutzens – wäre ein Aufbrechen der auskristallisierten klassischen Rollenverteilung bei der Berufswahl dringend angezeigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies gelingt, mag gering sein, versuchen sollte man es trotzdem.

Zur Diskussion über Probleme und Perspektiven der dualen Berufsausbildung in Deutschland

Kurz, knapp, bündig – eine neue Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Bedeutung der dualen Berufsausbildung:

Christine Henry-Huthmacher und Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Duale Ausbildung 2020. 14 Fragen & 14 Antworten, St. Augustin, 2013

Darin auch drei Beiträge von Stefan Sell:

Sell, S.: Wie sieht der Fachkräftebedarf bis 2030 aus?, S. 10-15

Sell, S.: Wie attraktiv ist zukünftig die duale Ausbildung? – Demografischer Wandel, Imageproblem und veränderte Schülerschaft, , S. 18-24

Sell, S.: Wie verändert man das Berufswahlverhalten junger Menschen? – Zu viele Jugendliche interessieren sich für zu wenige Berufe, S. 47-50

Der „Ausbildungsmarkt“ aus Sicht der Schönfärber

So eine Schlagzeile muss uns freuen: „Lehrstellen für alle„, so betitelt Inge Kloepfer ihren Artikel in der FAZ und jubelt weiter, damit es auch ja bei uns hängenbleibt: »Noch nie waren die Einstellungschancen für Lehrlinge so gut wie heute. Unternehmen locken mit vielen Anreizen. Selbst mittelmäßigen Schülern stehen die Türen offen.« In dieser Tonlage geht es weiter, denn wir erfahren, dass die Zeiten eines nahezu chronischen Lehrstellenmangels der Vergangenheit angehören, dass sich auf dem Ausbildungsmarkt vor allem wegen der sinkenden Jahrgangsstärken ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. Dann wird der neue DHIK-Präsident Eric Schweitzer zitiert, der für dieses Jahr von 70.000 nicht besetzten Ausbildungsstellen schwadroniert. Und für die jungen Menschen brechen jetzt goldene Zeiten an, folgt man der Argumentation in diesem Artikel: »Das Leid des einen ist die Chance des anderen. Aus Perspektive der Jugendlichen wird es immer besser. Schon heute werden fast alle gebraucht – nicht nur die leistungsstarken.«

Besonders putzig: Die Autorin führt dann an dieser Stelle McDonald’s als Beispielunternehmen an. Die machen gerade eine Kampagne namens „Du hast die Zukunft! Wir haben den Plan“ (sicher hat sich das eine coole, junge Werbeagentur ausgedacht, um die „Zielgruppe“ zu adressieren). Und warum machen die das? »Auffällig offensiv wirbt der Konzern um jeden Schulabgänger. Die Zahl der Azubis ist auch bei McDonald’s gesunken – allerdings nicht, weil das Unternehmen weniger ausbilden will. Von 1000 angebotenen Ausbildungsplätzen im Jahr 2012 konnten nur 700 besetzt werden.« Nun könnt es ja auch sein, dass die Nachwuchsrekrutierungsprobleme nicht nur etwas mit der rückläufigen Zahl an Schulabgängern zu tun hat, sondern dass es darüber hinaus ganz unternehmens- oder branchenspezifische Ursachen geben könnte, aber noch nicht einmal der Gedanke daran taucht in diesem Artikel auf.

Eine positive Salve nach der anderen wird abgefeuert – hier nur eine Auswahl: Besonders schwache Schulabgänger werden nachgeschult. Außerdem haben Lehrlinge bessere Aussichten als je zuvor, vom Betrieb auch übernommen zu werden. Die Bewerbungszeiten haben sich deutlich verkürzt. Außerdem gehen immer mehr Unternehmen dazu über, Bewerber nicht mehr in erster Linie nach Schulnoten zu beurteilen, sondern vor allem durch ein persönliches Gespräch. Studienabbrechern wird der rote Teppich ausgerollt. Ihnen werden verkürzte Ausbildungsprogramme angeboten.

In allem steckt ein wahrer Kern – natürlich muss die Arbeitsnachfrageseite reagieren und das möglichst flexibel, wenn das Arbeitsangebot knapp wird. Und klar sollte auch sein, dass sich die Marktposition der jungen Menschen nicht nur deswegen verbessert, weil es weniger von ihnen gibt, sondern weil immer mehr junge Menschen eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben und diese auch an völlig überfüllten Hochschulen einlösen (wollen). Das verringert dann noch mal die potenzielle Grundgesamtheit an Auszubildenden.

Aber es ist schon eine Zumutung, dass man in der Lage ist, einen solchen Artikel zu verfassen, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass es eben nicht so ist, wie der Artikel suggeriert – dass sich also die jungen Leuten gleichsam die Angebote aussuchen können, dass sie wie auf Rosen gebettet werden von den Arbeitgebern, dass sich das Problem des Mangels an Asubildung gleichsam „von alleine“, irgendwie biologisch gelöst hat. Denn die Autorin hätte zumindest darauf hinweisen müssen, dass es sehr wohl immer noch zahlreiche Schulabgänger gibt, die aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen Ausbildungsplatz finden können: Im vergangenen Jahr sind von den Schulabgängern immer noch 270.000 nicht in eine duale oder fachschulische Berufsausbildung eingemündet, sondern in das so genannte „Übergangssystem“, in dem viele von ihnen teilweise mehrere Jahre geparkt werden. Das Fatale an solchen Artikeln ist doch letztendlich, dass bei allen sicher zu würdigenden Verbesserungen der Ausbildungssituation der Eindruck verfestigt wird, es gibt diese anderen jungen Menschen gar nicht mehr. Und denn real davon betroffenen Jugendlichen wird der Eindruck vermittelt, es muss also in jeden Fall nur an ihnen liegen, dass sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Was sicher bei dem einen oder anderen auch der Fall ist, aber eben nicht bei allen.

Man darf die aktuell sichtbaren und sich angesichts der demografischen Entwicklung sowie der veränderten Berufswahl weiter zuspitzenden Knappheitsrelationen auf dem Ausbildungsmarkt nicht isoliert sehen von dem, was in den Jahren zuvor passiert ist, als die Angebots-Nachfrage-Relationen genau umgekehrt waren. Hierzu ein Beispiel aus dem Artikel „Das Elend mit der Umlage“ von Velten Schäfer:

»Margit Haupt-Koopmann, Arbeitsagenturchefin im Nordosten, sprach kürzlich Klartext: Rund 5000 Lehrstellen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern, doch nur 3000 potenzielle Bewerber … Laut Haupt-Koopmann pendeln mehr als 2000 junge Leute zur Ausbildung in benachbarte Bundesländer, so viele also, wie statistisch im Land fehlen. Anderswo kümmert man sich um sie: Laut Haupt-Koopmann gibt es Fahrschulzuschüsse und Hilfen beim Autokauf oder der Wohnungssuche. Im Nordosten dagegen gebe es „noch immer junge Leute, die trotz Lehrvertrags auf Unterstützung von uns angewiesen sind“. Was Haupt-Koopmann nicht erwähnt, ist eine andere Statistik: Den 2000 fehlenden Ausbildungsanwärtern standen im Land im Juni 2013 rund 8000 junge Arbeitslose zwischen 15 und 25 Jahren gegenüber – von denen viele keine Ausbildung haben, manche auch keinen Schulabschluss. Doch andere sind in den 2000er Jahren einfach ausgesiebt worden.«

Hier wird auf eine ganz zentrale Aufgabe der vor uns liegenden Legislaturperiode hingewiesen: Nicht nur die Bedingungen für die Ausbildung der neuen Schulabgänger verbessern und fördern, sondern den vielen, die zu Zeiten des Bewerberüberschusses der Zugang zu einer ordentlichen Berufsausbildung versperrt worden ist, sollt eine ordentliches Angebot gemacht werden, eine qualifizierte Berufsausbildung nachzuholen. Und hierfür brauchen wir keine warmen Worte wie jüngst vom BA-Vorstand Heinrich Alt, der mit diesen Menschen „Gespräche“ im Jobcenter führen möchte, sondern zum einen vernünftige finanzielle Unterstützung während der nachholenden Ausbildung (eine Investition, die sich um ein Mehrfaches auszahlen würde) sowie neue Konzepte für den berufsschulischen Teil der Ausbildung. Davon würde man gerne mal was hören.