Das Betreuungsgeld und seine juristische Infragestellung: Zur Berichterstattung über die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Am 14.04.2015 fand die mündliche Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht anlässlich der Klage des Stadtstaates Hamburg gegen das Betreuungsgeldgesetz statt. Über die Hintergründe wurde in dem Beitrag Ach, das Betreuungsgeld. 150 Euro eingeklemmt zwischen dem Bundesverfassungsgericht, den nicht nur bayerischen Inanspruchnehmern, den ostdeutschen Skeptikern und logischen Widersprüche ausführlich berichtet. Ein großer Teil der Presseberichte über diese Anhörung vermittelt das Bild eines zweifelnden Senats des höchsten deutschen Gerichts: Karlsruher Richter rütteln am BetreuungsgeldVerfassungsgericht zweifelt an Rechtmäßigkeit von Betreuungsgeld, gar Juristisch durchgefallen oder – irgendwie ein wenig beleidigt daherkommend – Die Kneifer von Karlsruhe, um nur einige Beispiele aufzurufen.

Wolfgang Janisch beginnt seinen Bericht von der Anhörung in Karlsruhe so:

»Irgendwie hatte es für die bayerische Staatsregierung schon nicht gut angefangen. Zum Auftakt der Anhörung zum Betreuungsgeld stellte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof, dem Karlsruher Ritual entsprechend, die Anwesenheit im Gerichtssaal fest – und vergaß ausgerechnet den Freistaat Bayern. Also den Hauptbetreiber des Betreuungsgeldes und, aus bayerischer Sicht, den einzig aufrechten Verteidiger.«

Und seine Wahrnehmung vom Ablauf der mündlichen Verhandlung liest sich so:

»War der Bund überhaupt zuständig für die Einführung des Betreuungsgeldes? Ein Richter nach dem anderen meldete sich zu Wort, mit Fragen, die sich am Ende zu einem lauten und nicht mehr zu überhörenden Zweifel verdichteten: Das Betreuungsgeld ist wohl eher Ländersache – der Bund hat seine Kompetenzen überschritten.«

In die gleiche Kerbe schlägt auch der Artikel Verfassungsgericht zweifelt an Rechtmäßigkeit von Betreuungsgeld:

»Die Berichterstatterin des Verfahrens, Richterin Gabriele Britz, hatte betont, für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes müsste die Differenz der Lebensverhältnisse erheblich sein. Beispielsweise müsste der Ausbau von Kita-Plätzen in alten und neuen Bundesländern unterschiedlich stark vorangekommen sein. Verfassungsrichter Johannes Masing fragte, ob tatsächlich „problematische Entwicklungen“ zu befürchten wären, wenn das Betreuungsgeld nicht gezahlt würde.«

Allerdings gibt es – wenn man diesem Artikel folgt – auch Stimmen, die davon ausgehen, dass das BVerfG die Klage der Hamburger ablehnen wird bzw. muss:

»Staatsrechtler Ulrich Battis räumte der Hamburger Klage kaum Hoffnung auf Erfolg ein. „Ich rechne mit einer Abweisung“ … Auch der Staatsrechtler Christoph Degenhart hatte … Zweifel an dem Erfolg der Klage geäußert: Der Bund könne seine Gesetzgebungskompetenz in der Regel sehr weit auslegen, wenn es um öffentliche Fürsorge gehe.«

Insgesamt ist die Einschätzung hinsichtlich des Ergebnisses in diesem Artikel sehr zögerlich: »Mit einer Entscheidung wird in einigen Monaten gerechnet. Möglich ist, dass die Richter die Leistung kippen. Eine Tendenz ließen sie aber zunächst nicht zu erkennen.«

Da wird Dietmar Hipp in seinem Bericht unter dem Titel Juristisch durchgefallen schon deutlicher, denn so seine Wahrnehmung, »die kritischen Fragen von der Richterbank zeigten doch in eine klare Richtung: Das Betreuungsgeld war zwar 2013 das Ergebnis eines an sich nicht völlig unvernünftigen politischen Kompromisses innerhalb der damaligen schwarz-gelben Koalition … Aber gerade diese Kompromisshaftigkeit dürfte dazu führen, dass die Regelung durch die verfassungsrechtliche Prüfung fällt.« Interessant sind auch die Hinweise von Hipp auf die Verrenkungen des Kölner Staatsrechtsprofessors Michael Sachs für die Position der Bundesregierung. Der charakterisiert das Betreuungsgeld so:

»Eine „Anerkennungsleistung“ für Eltern, die diese staatliche Förderung für ihre Kinder nicht in Anspruch nehmen wollen – schließlich solle es ja auch keine „Zwangsbeglückung“ mit Kita-Plätzen geben. Politisch brachte er damit den Kompromiss auf den Punkt. Einen starken Eindruck bei den Verfassungsrichtern hinterließ das aber eher nicht.«

Das ist nun auch mehr als verständlich, denn das Betreuungsgeld – darauf habe ich schon im Vorfeld der Einführung dieser neuen Geldleistung kritisch angemerkt – durchbricht seine eigene und angebliche Logik einer „Anerkennungsleistung“ für die Eltern, also vor allem für die Mütter, denn die Leistung wird vollständig angerechnet auf eventuelle Grunsicherungsleistungen, also die Hartz IV-Eltern gehen schlichtweg leer aus.

Heribert Prantl kann in seiner Kommentierung die Enttäuschung nicht verbergen: Die Kneifer von Karlsruhe, so die Überschrift seines Textes.
Zuerst einmal muss man feststellen – auch Prantl hat bereits nach diesen ersten Stunden den Eindruck, dass die Entscheidung nur so ausfallen kann, wie sich die Gegner dieser Leistungen das erhoffen:

»Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Bundesgesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, kein Bundesgesetz zu erlassen. Dieser leicht abgewandelte Satz von Montesquieu bereitet dem Betreuungsgeld nun den Garaus: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner mündlichen Verhandlung wenig Zweifel daran gelassen, dass der Bund für diese Materie keine Zuständigkeit hat.«

Prantl kritisiert eine Verengung des Gerichts auf die Frage, ob der Bund zuständig ist und es sieht für eine inhaltliche Prüfung keine Veranlassung.

»Karlsruhe wird also, wie es aussieht, in Sachen Betreuungsgeld eine inhaltliche, eine materiell-rechtliche Entscheidung vermeiden; es wird sich damit begnügen, eine formelle, eine Verfahrensentscheidung zu treffen. Der familienrechtlichen Grundsatzentscheidung geht Karlsruhe aus dem Weg. Nein, das ist nicht salomonisch, das ist einem Verfassungsgericht nicht angemessen. Ein Verfassungsgericht ist nicht dafür da, vor schwierigen Entscheidungen zu kneifen.«

Katholische und andere Menschen. Das Bundesverfassungsgericht steht (weiter) fest an der Seite der Kirche. Es wird Zeit für eine grundlegende Änderung

Wieder eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts, die für Diskussionen sorgen wird: Katholische Kirche darf Wiederverheirateten kündigen: »Ein katholisches Krankenhaus darf einen Chefarzt entlassen, weil er nach seiner Scheidung erneut heiratete. Das entschied das Bundesverfassungsgericht.« Das Gericht selbst drückt das natürlich etwas anders aus und hat seine Pressemitteilung überschrieben mit: »Vertraglich vereinbarte Loyalitätsobliegenheiten  in kirchlichen Arbeitsverhältnissen unterliegen weiterhin nur eingeschränkter Überprüfung durch die staatlichen Gerichte.« Es geht um die Entscheidung BVerfG, 2 BvR 661/12 vom 22.10.2014. Die Verfassungsrichter bestätigten damit grundsätzlich den Sonderstatus der Kirchen, der die Entlassung von Angestellten aus „sittlich-moralischen“ Gründen erlaubt. Arbeitsgerichte dürften dieses „kirchliche Selbstverständnis“ nur eingeschränkt überprüfen, so der Grundtenor der Entscheidung. Zur Einordnung des neuen Urteils muss man wissen, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts damit ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, das die Kündigung eines Chefarztes im Krankenhaus eines katholischen Trägers nach dessen Wiederverheiratung für unwirksam erklärt hatte (vgl. hierzu Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10). 

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Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten

»So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber „zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen“ zu bewegen«, so Heribert Prantl in seinem Artikel Aufschrei gegen den Pflegenotstand. Das erscheint juristisch wagemutig und spektakulär, zugleich menschlich bewegend. Die Nöte der Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind und die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden, sind dem höchsten deutschen Gericht in einer 112-seitigen Klageschrift zugestellt worden. Hinter den Klägern steht der Sozialverband VdK. Dem VdK gehe es nicht darum, dass das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberisch tätig werden solle, was es gar nicht kann, sehr wohl aber das: »Wenn die Richter in Karlsruhe aber zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, muss der Gesetzgeber in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen«, so der Verband in seiner Pressemitteilung VdK-Verfassungsbeschwerde für menschenwürdige Pflege eingereicht. Ausgearbeitet wurde die Verfassungsbeschwerde vom Rechtsprofessor Alexander Graser, Ordinarius für Öffentliches Recht, Politik und Rechtsvergleichung an der Universität Regensburg, sowie dem Rosenheimer Rechtsanwalt Christoph Lindner. Um gleich jede Hoffnung auf kurzfristige Ergebnisse zu dämpfen: Das Verfassungsgericht wird erst einmal die Zulässigkeit der Beschwerden prüfen und sollte sie diese bejahen, dann kann sich die Dauer des Verfahrens strecken. Möglicherweise jahrelang.

Was nun genau wird in der Klageschrift vorgetragen? Dazu Heribert Prantl in seinem Artikel:

»Die Liste von deutschlandweiten Versorgungsmängeln, die die Klage aufzählt, ist lang. Moniert wird unter anderem die sogenannte Fixierung, also die Fesselung von Patienten, die zu oft auch ohne die notwendige richterliche Anordnung praktiziert wird; sie führt nicht selten zum Tod durch Strangulation. Rund 150.000 Menschen, so die Klage, dürften von „freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ dieser Art betroffen sein. Moniert wird die gezielte Ruhigstellung von Demenzkranken durch Psychopharmaka, um so Pflegepersonal einzusparen und die Einstufung des Betroffenen in eine höhere Pflegestufe zu erreichen. Moniert wird mangelnde Vorsorge gegen Druckgeschwüre bei bettlägerigen Patienten; mindestens 25.000 solcher „Dekubiti“ seien durch ordentliche Pflege vermeidbar. Moniert wird, dass viel zu viele Demenzkranke per Magensonde ernährt werden. Derzeit gibt es in Deutschland hunderttausend Patienten, die per „Schlauch im Bauch“ ernährt werden.«

Der VdK selbst hat seine Argumente für die Verfassungsklage auch in seinem Video-Beitrag zusammengefasst:

Und dann ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Punkt dieses Vorstoßes hin zu besseren Bedingungen der Pflege: »Leid wird es in Pflegeheimen immer geben. Das gesteht auch die Verfassungsklage ein. Was unvermeidbar ist, muss und darf der Staat dulden«, so Prantl mit Blick auf die Argumentation der Verfassungsklage. Aber wann ist diese Grenze der Unvermeidbarkeit von Leid überschritten? Wann endet die Duldung durch den Staat und wann beginnen die Schutzpflichten des Staates? Das wird schwierig werden.

Zwanzig Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung, so wird die VdK-Präsidentin Ulrike Macher in der Süddeutschen Zeitung zitiert, müsse endlich dafür gesorgt werden, dass Menschen in Würde altern können. Man erbitte vom Verfassungsgericht „Hilfe in schreiender Not“. Immerhin haben die Medien die Angelegenheit aufgegriffen, wieder einmal über die Pflege zu berichten und die Klage als Aufhänger dafür zu verwenden (vgl. nur beispielhaft den Hintergrund-Beitrag Verfassungsbeschwerde für menschenwürdige Pflege des Deutschlandfunks).

Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.
Warum das? Man könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bereits vor kurzem folgende Meldung in den Medien rezipiert wurde: Verfassungsklage für bessere Pflege abgeschmettert. Also bereits an der Schwelle der (Nicht-)Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde. Auch bei dieser Klage wurden ähnliche oder die gleichen Argumente vorgetragen, die man nun auch wieder in der vom VdK unterstützten Klage findet.

»Die Argumentation: Weil der Staat seit Jahren Missständen in deutschen Pflegeeinrichtungen tatenlos zuschaue, vernachlässige er seine Schutzpflicht gegenüber Pflegebedürftigen. Deren Rechte würden in vielerlei Hinsicht verletzt – zum Beispiel das auf Würde, auf Gleichheit, auf körperliche Unversehrtheit«, so der Artikel Für bessere Bedingungen: Heimchef zieht vors Verfassungsgericht. Auch dieser Punkt entspricht der Wahrnehmung vieler Pflegeexperten:

So müssen wegen Personalüberlastung Bewohner immer wieder warten, bis sie zur Toilette gebracht werden und bis ihnen Essen eingegeben wird. In Urlaubs- oder Krankheitszeiten sei es unmöglich, immobile Senioren ständig vorschriftsgemäß zu drehen. Die Folge: erhöhte Dekubitus-Gefahr, also Wundliegen. Rieger: „Eine Haftung als Heim muss daher ausgeschlossen werden, da es schlicht unmöglich ist, mit dem vorgegebenen Personal und den Mitteln die Vorschriften einzuhalten.“

Also gute und an vielen Stellen zutreffende Argumente – und dennoch wurde sein Ansinnen vom Bundesverfassungsgericht abschlägig beschieden. Dies allerdings weniger wegen der Inhalte oder eine fehlenden substanziellen Begründung, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wird formalistisch begründet: Am Montag, 18. August, hatte Armin Rieger seine Verfassungsbeschwerde für bessere Pflege abgeschickt, bereits kurze Zeit später bekam er die Mitteilung, dass sie nicht zugelassen wird. Begründung: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen ist Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.

Aber die formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG könnte sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen, da es sich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht.

Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?

Unabhängig von dem skizzierten – eher pessimistischen – Blick auf die Erfolgswahrscheinlichkeit des Unterfangens sind solche Aktivitäten – eingebettet in zahlreiche andere Vorstöße – wichtig, um das Thema Pflege weiter auf der Tagesordnung zu lassen. Denn so ein Streik, wie ihn diese Tage die Lokführer hingelegt haben, kann man sich im Bereich der Altenpflege wahrlich nicht vorstellen. Also muss man andere Kanäle suchen.